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Der Prophet

Eine Dichtung

(1901)

Niemand kannte ihn im Ghetto,
Und es hieß, er sei aus weiten
Fernen in das Land gekommen,
Um der Sehnsucht, die verglommen,
Neue Ziele zu bereiten.

Doch es spotteten die Juden
Und verhöhnten seine Lehren,
Und sie wollten des Propheten,
Dieses törichten Asketen,
Durch Verachtung sich erwehren.

Denn die meisten von den Juden
Hatten Furcht, wenn einer sagte,
Daß sie nichts als Sklaven wären,
Daß sie nur die Last des leeren
Selbstbetruges immer plagte,

Daß sie nur dem Gott des Goldes
Opfern, wenn die Knuten schwirren,
Und dann wieder still beglückt sind,
Wenn der Peitsche sie entrückt sind
Und die Ketten fernher klirren.

—————

Täglich wuchs der Haß im Volke.
Nur ein kleines Häuflein Armer
Scharte sich um seinen Sprecher,
Pries ihn als des Volkes Rächer
Und als seines Leids Erbarmer.

Und des Abends, wenn die letzte
Sonne aus den Wolken strahlte
Und mit ihren Feuerbränden
An des Tempels weißen Wänden
Rote Flammenzeichen malte,

Lauschten sie dem Lied des Weisen,
Der da sang: »Im tiefen Leide
Liegt die Zionsburg im Osten.
Ihre Zinnen, die verrosten,
Und wie Knistern morscher Seide

Geht es durch die Zedernwälder …
Weine, Tochter Zions, weine!
Deine Leier ist verdorben,
Deine Sehnsucht ist erstorben,
Deine nimmermüde reine

Glaubensstärke ist zerronnen,
Deine Mutterliebe schwindet,
Denn dein Volk ist siech geworden,
Und die abtrünnigen Horden
Sind schon längst für dich erblindet.

Weine, Tochter Zions, weine!
Aber deine Tränen sollen
Unser Mutterland verjüngen!
Neue Blüten werden dringen
Aus den feuchten Ackerschollen,

An des Libanons Gehängen
Wird die Zeder wieder grünen,
Kranke werden dort gesunden,
Und in weihevollen Stunden
Wird dein Volk die Frevel sühnen.« …

—————

Voll ertönten diese Laute,
Und das Echo gab sie wieder,
Und es schien, als glitten leise
Aus der Sterne Silberkreise
Diamantensplitter nieder

Und es glühten alle Rosen,
Und durch Wälder und durch Haine
Klang, wie eine Wundersage,
Des Propheten Judenklage:
Weine, Tochter Zions, weine …

—————

Jahre waren hingegangen.
Auf den satten Feldern regten
Sich viel tausend starke Hände,
Die, des Sommers reicher Spende
Froh, den Eisenpflug bewegten,

Während in des Ghettos Mauern
Der Prophet die Kinder lehrte,
Daß in Gleichheit nur auf Erden
Arm und reich geboren werden,
Die der gleiche Tod begehrte.

Und die Lernenden erstarkten,
Trugen des Propheten Worte
Immer weiter in die Welten,
Bis in Jakobs stolzen Zelten
Keine Hoffnung mehr verdorrte.

Und ein neues Volk erhob sich,
Reich an Liebe, reich an Kräften.
Gleich in Sitte, gleich im Kleide,
Frei von Furcht und stark im Leide
Wuchs es fort mit frischen Säften.

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