Hans Dominik
König Laurins Mantel
Hans Dominik

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Nordwestlich von San Fernando, hoch oben in den Bergen, lag das kleine Dörfchen Tlacala. Der Furo, mehr ein reißender Wildbach als ein Fluß, führte fast das ganze Jahr hindurch starke Wassermassen. Die ungeheuren Waldbestände hatten Veranlassung gegeben, diese Wasser in einem Staubecken zu fassen und hier ein Kraftwerk für den Energiebedarf der Holzindustrie zu errichten. Jetzt aber standen die Sägewerke still. Das Kraftwerk mußte anderen Zwecken dienen: Drostes neue Tankstation war hier errichtet. – –

Aus dem Maschinenhaus trat Droste. Gleich darauf begann das Summen der großen Dynamos. Er eilte in die Ladestation, schaute auf die Tafeln mit den Meßinstrumenten, nickte befriedigt. Trat kein unvorhergesehenes Hindernis ein, würde er morgen den ersten fertigen Treibstoff in die Barrels abfüllen können. Er gab im Büro seinen Leuten noch ein paar kurze Anweisungen, ging dann zu einem Hang, wo eine Flugjacht bereit stand.

»Nach La Venta!«

Nach dem Verlassen ihrer Insel war Maria Anunziata in die kleine Hazienda La Venta zurückgebracht worden. Ein Funkspruch von ihr hatte Droste am Morgen angezeigt, daß Edna Wildrake plötzlich überraschend von England dort angekommen, sein Besuch daher sehr erwünscht sei.

Hatte er auch die Schwester Wildrakes nur einmal gesehen, so war in ihm doch ein tiefer Eindruck von ihr zurückgeblieben. Aber die stillen Hoffnungen, die zunächst in ihm aufgetaucht, waren im Laufe der Zeit mehr und mehr verflogen. «Was Robert, ihr Bruder, in vertrautem Gespräch zwar nicht offen ausgesprochen, doch deutlich zu erkennen gegeben hatte: daß Edna eine offensichtliche Neigung zu Oswald Winterloo hege, hatte ihn alle wärmeren Gefühle für sie unterdrücken lassen. Und doch! Der Ruf Marias weckte frohen Widerhall in ihm. Würde Edna auch nie seine Geliebte sein, so vielleicht dereinst Herrin in Schloß Winterloo . . .

Hier glitten seine Gedanken ab. Unerklärlich – dieses lange Schweigen Vater Arvelins! Wie viele Wochen war's nun schon her, daß er die letzte Nachricht von ihm empfangen! Ob er krank war? Das dunkle Geheimnis um das Testament des alten Freiherrn . . .

Die Ereignisse der letzten Zeit, Schlag auf Schlag, hatten Droste nur wenig Zeit gelassen, über Winterloo, die Heimat, nachzudenken. Jetzt, in der Stille der Tengoberge, würde er Muße genug dazu finden. Vielleicht auch brachte Edna, die ja aus James Wildrakes Hause kam, Nachrichten aus Winterloo mit. Ging doch die Korrespondenz aus Deutschland stets über Truxton & Co. in London. – –

Droste traf die beiden jungen Mädchen in freudigster Stimmung. Von Kindheit an zusammen aufgewachsen, verband sie schwesterliche Liebe. Mit Vergnügen lauschte er Ednas Geplauder. Sie wußte auf eine so drollige Art von den beiden Kompagnons Truxton und Wildrake zu erzählen, daß er und Maria häufig laut auflachen mußten.

Jeder Schlag Wildrakes erregte bei den beiden alten Freunden laute Ausbrüche jubelndster Freude. Der Lord besuchte an Tagen, an denen neue Streiche Wildrakes bekannt wurden, alle befreundeten Klubs und konnte sich nicht genugtun, die Erfolge in den Himmel zu heben. Mehr als einmal entschlüpfte ihm dabei der Ausdruck »wir«, als hätte er teil an Wildrakes Plänen.

An derartige unvorsichtige Äußerungen anknüpfend, fand Tejo den Faden, der zu den Konterbandefahrten zwischen Tabago und Santa Maria führte.

James Wildrake, etwas weniger sanguinisch als Truxton, war gewohnt, die Siege seines Neffen im Kreise der Familie mit Edna zu feiern. Als am Tage nach der Schlacht von Esmeralda die Nachricht einlief, Kapitän Wildrake sei wieder in die Heimat zurückgekehrt, hatte Edna den Oheim bestürmt, ihr Fahrgelegenheit nach Venezuela zu verschaffen. Und vor zwei Tagen war sie glücklich angelangt!

Während Maria sich ein wenig zur Ruhe legte, ging Edna mit Droste unter den schattigen Bäumen vor dem Hause spazieren. Jetzt mußte Droste eingehend erzählen. Zwar kannte Edna schon das meiste aus Marias Mund. Doch immer wieder wollte sie hören, wie die vielen, der Welt zum Teil noch immer rätselhaften Erfolge des Bruders erreicht wurden.

»So werden in nächster Zeit harte Kämpfe zu erwarten sein?« meinte sie. »Brasilien wird doch sicher die größten Anstrengungen machen, die vielen Scharten auszuwetzen, die eure Klinge geschlagen hat.«

Droste nickte ernst. »Gewiß! Viel Schweres gibt es noch zu tun für Ihr Vaterland. Die Brasilianer sind dabei, sämtliche Reserven wieder einzuziehen.«

Mit einer unruhigen Bewegung wandte Edna den Kopf. »Die entlassenen Reserven? Allerdings – sie sind wieder unter der Fahne nötig – –«

»Viele werden nicht gerne dem Rufe folgen.« Drostes Blicke streiften das Mädchen, das im Geiste bei Hauptmann Winterloo weilte.

Auch Oswald würde wieder in das Heer eintreten müssen. Im ersten Teil des Krieges war ihm das Geschick günstig gewesen. Jetzt – tot oder verwundet . . . wer weiß, ob sie ihn je wiedersehen würde? – Tiefe Schatten hatten sich auf ihrem Gesicht gelagert. Stumm schritt sie an Drostes Seite weiter.

Der erriet ihre Gedanken nur zu wohl. Um ihnen eine andere Richtung zu geben, sagte er: »Ich bin besorgt darüber, daß ich so lange nichts aus der Heimat höre. Fast muß ich annehmen, Vater Arvelin sei erkrankt.«

»Oh, das täte mir leid!« erwiderte Edna. »Bin ich ihm doch von ganzem Herzen zu Dank verpflichtet, dem guten, alten Mann! Wo weilt er in Deutschland?«

»Nun, wo soll er anders sein als in Schloß Winterloo, seinem langjährigen Heim? Wie sieht's überhaupt in Deutschland aus, Fräulein Edna? Kommt's mir doch vor wie eine Ewigkeit, daß ich eine deutsche Zeitung in Händen hielt.«

»Ah, das trifft sich gut! Ich fuhr bis Jamaika mit dem deutschen Dampfer »Thuringia«. Hatte Gelegenheit, ein paar deutsche Zeitungen mitzunehmen. Ich habe sie im Hause. Vielleicht entdecken Sie in den alten Blättern noch einiges, was Sie interessiert.«

Bei ihrer Rückkehr fanden sie Maria noch schlafend. Leise setzten sie sich ins Nebenzimmer, und Droste durchstöberte die Zeitungen.

Plötzlich fuhr er erschrocken hoch. »Diese Nachricht hier, gnädiges Fräulein! Fürchterlich für mich – und noch viel mehr für Vater Arvelin!«

Edna las die angegebene Stelle. »Was? Schloß Winterloo, das Erbe von . . . Ihr altes Heim, zur öffentlichen Versteigerung angesetzt? In drei Tagen schon der Termin?«

Droste wollte antworten. Da . . . klang es nicht wie Stöhnen hinter ihm? Er eilte zur Tür, die in Marias Zimmer führte, schaute hinein. Niemand darin außer der Blinden, die mit leichtgeröteten Wangen wie in einem glücklichen Traum fest schlummerte.

»Was war das eben?« flüsterte Edna. »Als wenn jemand hier wäre . . . eine menschliche Stimme – ich hörte es deutlich!«

Mit unterdrücktem Aufschrei griff sie nach Drostes Arm. Die Tür, durch die sie vorhin gekommen und die sie hinter sich geschlossen hatte, ging knarrend auf.

Droste eilte dorthin. Niemand zu sehen! Einen Augenblick stand er nachdenklich, brach dann in ein Lachen aus. »Wären wir in meiner Heimat, würde ich sagen: Ein Spukhaus. Doch hier in La Venta?«

Edna, halb beruhigt, versuchte, in seine Heiterkeit einzustimmen. Ehe sie weitersprechen konnte, klang die Stimme der aufgewachten Maria. Erfrischt von dem Schlaf, führte sie die beiden lebhaft plaudernd vor das Haus, wo sie noch ein Stündchen beisammensaßen. Dann bestieg Droste seine Jacht, um nach Tlacala zurückzukehren.

*

Arvelin saß im Büro des Notars Hartwig. Morgen war der Termin der Versteigerung von Schloß Winterloo. Der Anwalt sah voll Teilnahme auf das Gesicht seines Besuchers. Wie stark hatte sich der im Laufe der letzten Monate verändert! Die Wangen eingefallen, die Augen tief in den Höhlen liegend, das faltige Gesicht grau, verfallen. Wie um ein Jahrzehnt gealtert, dachte der Notar. Gewiß, es mochte ihm schwerfallen, das Haus, das ihm jahrzehntelang Heim gewesen, auf immer verlieren zu müssen.

Um Arvelins Mund zuckte ein resigniertes Lächeln. Als ob er die Gedanken seines Gegenübers erraten hätte, sagte er mit müder Stimme: »Es ist nicht um mich, Herr Notar, daß ich so niedergeschlagen bin. Es ist nur die letzte Sorge um meinen alten Freund Winterloo. Sein Lebenswunsch, sein letzter Wunsch war, daß ein Winterloo, ein Träger seines Namens, im Schloß wohnen sollte . . . Und der war gefunden! Ich selbst holte ihn – hoffte, durch seine Gegenwart die Sterbestunde des Freundes zu erleichtern.« Der Doktor trat, wie von einer inneren Stimme getrieben, näher an Hartwig heran. »Glauben Sie, daß Winterloo in der Erwartung des ersehnten Erben sein Testament, das er vor meinen Augen geschrieben, vernichtet hätte?«

Der Notar legte Arvelin beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ein unglückliches Spiel des Zufalls! Anders kann ich's nicht nennen. Da Sie doch selbst, lieber Herr Doktor, keinen Verdacht hegen, daß die Harrachs das Testament beseitigten. Der Verstorbene mag es versteckt haben – vielleicht aus Furcht vor den neugierigen Augen dieses Franz Harrach. Weiß der Himmel, wann es zum Vorschein kommt! Und dann?«

»So wird also morgen Schloß Winterloo in fremde Hände kommen!« unterbrach ihn Arvelin. »Oh, diese Unwürdigen! Wie konnten sie das tun?«

»Ich hörte, die Harrachs wollen sich in Polen ankaufen. Nun, wir verlieren nichts an ihnen! Sind sie ja alles andere, nur nicht Deutsche!« – – –

Franz und Adeline Harrach saßen an der Mittagstafel. Adeline schob mißmutig das Besteck zur Seite, schaute ärgerlich auf ihren Bruder, der den Speisen kaum zusprach, ein Glas des schweren Weins nach dem anderen hinunterstürzte.

»Ich hätte mir unser letztes Mahl im Schloß vergnügter vorgestellt. Franz. Du tust ja, als hocktest du in einer Trauergesellschaft. Ist dir der Gedanke, Winterloo zu verlassen, plötzlich wieder leid geworden?« Sie lachte höhnisch. »Ich wüßte nicht, daß du viele glückliche Tage in diesem verwunschenen Schloß, wie du es zu nennen beliebst, verbracht hättest! Doch ich weiß, du kommst nicht los von dem Gedanken an das Testament.«

»Der Teufel soll das Schloß holen samt dem Testament!« brummte Franz vor sich hin. Er sprang auf, schritt unruhig hin und her.

Auch Adeline war aufgestanden, trat an ihres Bruders Seite. »Es ist wahr, Franz. Der Teufel mag die ganze Erbschaft holen! Auch ich kann mich, offen gesagt, nicht von einer gewissen Angst freimachen. Aber nein!« Sie legte die Arme um Franzens Schultern. »Es ist ja unmöglich! Unsere Furcht ist grundlos. Was dieser Alte, was wir selbst in wochenlangem Suchen nicht gefunden haben . . . Franz!« sie rüttelte ihn auf. »Seien wir stark! Werfen wir all die törichten Skrupel hinter uns! Das Testament wird niemand finden! Es existiert überhaupt nicht! Lüge alles, was der alte Mucker uns gesagt! Käufer sind genügend vorhanden. Wir werden für Schloß Winterloo einen guten Preis herausschlagen. Haben wir ihn in der Tasche und sind damit über die Grenze, dann soll's einer versuchen, uns das Geld wieder abzujagen!«

»Möchte der Blitz in das alte Nest schlagen, es bis auf die Steine verbrennen!« knurrte Franz. »Dann erst, dann erst würd' ich Ruhe haben. Das Testament – Adeline, du lügst! Es ist doch wahr, was der Alte gesagt hat! Es ist da! Befindet sich hier im Schloß!«

Adeline ließ die Hände sinken, sah schaudernd zur Seite. »Gräßlich!« flüsterten ihre blassen Lippen. »Ist's Trunkenheit, ist's Wahnsinn, was aus ihm spricht?« Mit lauter Stimme fuhr sie fort: »Du bist toll, Franz! Gott sei Dank, daß ich nicht ebensolch ein Narr bin. Du fürchtest, unser Nachfolger könne das Dokument finden?«

Ein starkes Klopfen an der Tür. Morawsky trat ein. »Die Steinmetzen werden ihre Arbeit im Mausoleum gleich beendet haben. Will der gnädige Herr nicht –?«

Ehe der Bruder eine Antwort fand, sprach Adeline: »Gehen wir in den Garten, zum Mausoleum! Die frische Luft wird uns guttun. Eigentlich ein eigenartiges Zusammentreffen: Just zur gleichen Zeit, da Winterloo in fremde Hände übergeht, schließt sich der Sarg des letzten Trägers des Namens für immer.«

»War übrigens gut, daß der Alte die Grabplatte noch selbst bestellt und bezahlt hat. Wär' mir nicht eingefallen, solch kostspieligen Mumpitz aus meiner Tasche zu stiften!«

»Gehen wir, Franz! Draußen werden die bösen Geister, die dir den Kopf verwirren, zum Schweigen kommen!«

»Was sagst du, Adeline? Böse Geister?« Er fuhr herum, das Weinglas, das er eben geleert, in zitternden Fingern. »Im Mausoleum böse Geister? Ja, du hast recht – sie treiben da ihr Wesen! – Bleiben wir hier! Man soll die Steinmetzen wegschicken, den Grabbau verschließen!«

»Franz! Schämst du dich nicht deiner Feigheit? Fürchtest Gespenster am hellichten Tag? Du kommst mit mir! Sofort!«

Energisch griff sie ihn am Arm, zog ihn aus dem Hause. Der kühle Wind, der durch den Garten strich, erfrischte ihre heißen Stirnen. Je weiter sie gingen, desto mehr wich der Druck, der auf ihnen lastete.

In der Nähe des Mausoleums begegnete ihnen der Steinmetzmeister. »Ah, da sind ja die Herrschaften! Ich bitte Sie, näherzutreten. Die Platte des Epitaphs ist gelegt.«

Franz wollte eine ausweichende Antwort geben, doch Adeline ließ ihm keine Zeit. Den Bruder mit sich führend, trat sie an der Seite des Handwerksmeisters in das Mausoleum ein.

Der Steinmetz wies auf die Platte. »Ich denke, sie ist nach Wunsch ausgefallen!« sagte er nicht ohne Stolz.

Adeline, die nur flüchtig hingeschaut, nickte zerstreut. »Schon recht, Meister! Lassen Sie sich im Schloß eine Erfrischung geben!«

Der Meister schritt zum Ausgang, wandte sich noch einmal um. »Die drei kleinen Deckplatten, die bisher auf dem Grabe lagen, hab' ich einstweilen an die Wand stellen lassen.«

Adeline winkte ihm ungeduldig ab. »Lassen Sie die Tür offen! Es ist dann heller hier.«

Der Steinmetz verabschiedete sich. Auch Adeline wollte sich zum Gehen wenden. Doch inzwischen hatte es draußen heftig zu regnen begonnen. Ein Gewitter brach los. Sie mußten einstweilen noch bleiben.

Adeline trat von der Tür zurück. Ein jäher Blitz ließ sie zusammenzucken. Gleichzeitig jagte ein Windstoß heulend um das Gebäude. Die schwere Eisentür des Mausoleums schlug mit donnerähnlichem Krachen zu.

Durch die Erschütterung war eine der drei an die Wand gelehnten Deckplatten umgefallen. Es dauerte Sekunden, ehe Adelines Augen sich an die verringerte Helligkeit gewöhnt hatten. Neben ihr hörte sie die ängstliche Stimme ihres Bruders heiser lästern.

»Fort, Adeline! Hier ist's unheimlich! Schon einmal – –«

Ja, fort von hier! dachte auch sie. Doch das furchtbare Unwetter . . . Sie überlegte – da fiel ihr Blick auf den umgestürzten Stein. Die Unterseite lag nach oben. Auf ihr, wie festgeklebt, etwas Weißes . . . Papier schien's zu sein.

Sie beugte sich, sah ein beschriebenes Kuvert – – die Schrift so merkwürdig bekannt . . . Sie bückte sich tiefer.

»Mein Testament!« las sie mit halblauter Stimme.

Von der Überraschung zurückgeschleudert, wich sie zur Wand. Dann, in lautem Freudenschrei, stürzte sie vorwärts, streckte in höchster Aufregung die Hände nach dem Umschlag aus, wollte ihn greifen – – schon berührten ihre Finger das Papier – da . . .

Sie taumelte, preßte ein Ächzen hervor. In stierem Suchen glitten ihre Augen wie die einer Wahnsinnigen am Boden, an den Wänden entlang . . .

»Das Testament!« knirschte sie. »Hier war es! Doch jetzt ist's fort! Franz, komm her – wir müssen es wiederfinden!«

Sie schaute sich nach dem Bruder um. Der hob in angstvoller Abwehr die Hände, wandte sich fluchtartig zur Tür. Mit gesträubtem Haar, totenblaß, stürmte er, wie von Furien verfolgt, hinaus – dem Schlosse zu.

Da verließ auch Adeline der Mut. Sie warf die Tür zu, hastete in wilder Eile dem Bruder nach.

*

Die Straße von Winterloo nach Neustadt lag im Halbdämmer. Die buschigen Weidenstümpfe am Grabenrand warfen gespenstische Schatten über die tiefen Wagenspuren. Eine kleine graue Gestalt schob sich, müde die Füße setzend, langsam vorwärts.

Die Nacht brach herein, als die ersten Häuser des Städtchens auftauchten. Von der Kirchturmuhr schlug die siebente Stunde. Der Wanderer schrak zusammen, blieb stehen. Für den Weg – eine gute Stunde sonst – hatte er die dreifache Zeit gebraucht. An einen Weidenbaum gelehnt, schöpfte er ein paarmal tief Atem.

Sollte das Gift in ihm sich schon so stark auswirken? Wieviel blieb ihm noch zu tun!

Seine Gedanken flogen zurück. Der Jugend kaum entwachsen, hatte ihn die Idee beherrscht, in die Tiefen der physikalischen Erkenntnis einzudringen, die bisher jedem Sterblichen verschlossen geblieben. Was die Natur in ihrer Weisheit hilflosen Lebewesen zu ihrem Schutz gegeben: sie dem Auge des Feindes unsichtbar zu machen – war dem Menschen, dem höchstentwickelten Lebewesen, versagt. Sollte es nicht möglich sein, Mittel zu finden, die auch ihm solchen Schutz gewährten, die Augen seiner Feinde täuschten und blendeten?

Das Mittel, in einer Lebensarbeit gesucht – er hatte es gefunden! Auf völlig anderem Wege als die Natur war er zum Ziele gekommen. Einen Kranz in schnellsten Schwingungen vibrierender Ätherenergie – wie einen Mantel legte er ihn um sich. Abgelenkt, umgelenkt umfluteten die Lichtstrahlen die zauberische Hülle, setzten dahinter ihren Gang in der alten Richtung fort, als wären sie nie auf ein Hindernis getroffen. Unsichtbar mußte so die Hülle machen, ihren Träger jedem menschlichen Blick entrücken.

Schritt vor Schritt hatte er darauf hingearbeitet, den Mantel, aus vibrierendem Äther gewoben, so zu formen, daß er die auftreffenden Strahlen in der gewünschten Weise weitersandte. Der erste Erfolg war schnell errungen. Ein kleiner, bequem mitführbarer Apparat gestattete es ihm leicht, kreisende Schwingungen um sich zu werfen, die das auftreffende Licht um ihn herumlenkten, seine Gestalt für das Auge der Menschen zu einem fast unsichtbaren Schemen machten. Aber jahrelange Arbeit kostete es ihn, die schwingende Energie so zu differenzieren, daß jeder ihn treffende Strahl ihn ungebrochen, unverschoben verließ. Jetzt erst war die Täuschung vollkommen, da das menschliche Auge das hinter ihm Liegende, von seiner Gestalt sonst naturgemäß Verborgene, ungeschwächt und unverzerrt erblickte.

Da kam der Krieg. Medardus, durch das Geschenk des alten Freiherrn, das Treibmittel, am Ziel seiner Wünsche, seine Erfindung zu erproben – oder war's das Roßmoreblut, das in seinen Adern rollte? – er stürzte in den Krieg, in all seine Gefahren.

Mit Angst und Bangen hatte Arvelin Drostes Konterbandefahrten mit angesehen. Wähnte seines Schützlings Leben täglich, stündlich bedroht. Er mußte bei Medardus sein, ihm helfen, ihn behüten – ihn, den Sohn William Hogans und Vivian Dohertys. Mußte einen Teil der Schuld abtragen, die seit jener Nacht am Weyman-River auf ihm lastete.

Die Schuld – vergeblich hatte er sich in sophistischen Überlegungen davon freizumachen versucht. Doch immer wieder der Gedanke in ihm: Was wollte an jenem letzten Abend William Hogan von Vivian?

Er selbst war ja bei der Aussprache Hogans mit seinem Vater, Lord Roßmore, unsichtbar zugegen gewesen, hatte ihre Unterredung mit angehört. William hatte den Bitten seines Vaters anscheinend nachgegeben, Vivian verraten. Und doch! Konnte sich sein Sinn nicht zum Guten gewandelt haben, als er den Felshang zu Vivian hinaufstieg? Konnte er nicht, trotz allem, in reiner Liebe die Absicht hegen, Vivians Hand zu gewinnen, die Schmach von ihr abzuwenden?

Und als er, Arvelin, unsichtbar hinter Vivian getreten, plötzlich sich Hogans Augen offen bot, der erschrak, den Hang hinunterstürzte – war's auf seiner Seite nur Mitleid, selbstlose Liebe gewesen? Oder nicht vielmehr Haß, geboren aus blinder Leidenschaft zu Vivian?

Dann war es seine Schuld, daß Vivian starb. Seine Schuld, daß ihr verwaister Sohn als Findling in fremdem Hause aufwachsen mußte. Seine Tat an Medardus zu sühnen, war sein einziger Gedanke seitdem. Um ihn zu beschützen, wie ein Gott es kaum besser vermocht, mußte er seine Erfindung weiter ausbauen. Er mußte imstande sein, den bergenden Mantel auch über ihn, über andere zu werfen. Ungeheuerlich schien ihm selbst die Aufgabe. Was einer neuen Lebensarbeit bedurfte, mußte in kurzer Zeit errungen werden. Wohl sah er bald den Weg. Doch der zeigte sich gesperrt durch eine Gefahr, die sein Leben bedrohen, vernichten konnte.

Die Energiemengen, die in seinem Zaubermantel schwangen, waren ja nur unendlich gering, und infolgedessen unschädlich. Eine winzige Stromquelle konnte den Mantel auf lange Zeit weben. Doch gefährlich wurde das Gewebe, wenn es zu weit geworfen werden mußte, wenn andere, größere Dinge zu tarnen waren. Dann bestand die Gefahr, daß der Träger der Stromquelle von verderblichen Rückschwingungen getroffen wurde, die, wie in früheren Jahrzehnten schon gewisse hochfrequente Schwingungen, schleichende organische Schädigungen hervorriefen.

Doch bald hatte er diese Schrecken überwunden. Sein Leben? Was galt's ihm, wenn er damit das teure Dasein von Medardus erkaufte? Ohne Furcht schritt er den Weg, die Augen nur zum Ziele gewandt, ohne Rücksicht auf die Gefahren, die ihn umlauerten, ihn packten, den Todeskeim in ihn senkten. Das verderbenbringende Gift im Mark, war er unter Anspannung aller Kräfte seines schon geschwächten Körpers immer bei Vivians Sohn gewesen, hatte ungesehen wie ein Schutzengel seinen Mantel um ihn gebreitet, wenn der Tod nahe schien.

Da ward er Zeuge des Gesprächs zwischen Medardus und Edna. Winterloo, ihre alte, teure Heimat, war von diesen Räubern, den Harrachs, zum Verkauf ausgeboten. Der letzte Wunsch seines alten Freundes, daß ein Winterloo Erbe, Besitzer des alten Stammschlosses sein sollte, hatte ihn hierhergetrieben – nach langem inneren Kampf zwischen den Pflichten, die beide ihm teuer und heilig.

Und nun: Seine Hand tastete zur Tasche. Ein Papier knisterte darin. Das Testament des Freundes! Endlich gefunden! Ein gütiges Schicksal lohnte seinen letzten Freundesdienst an dem Freiherrn, gab ihm das Dokument, das er im letzten Augenblick den gierigen Händen der Harrachs entriß. Und als hätte das bedeutungsvolle Schriftstück ihn gemahnt, raffte er sich auf, schritt weiter. – –

Als Arvelin am nächsten Morgen das gastliche Haus des Notars verließ, schien er um Jahre verjüngt. Hartwigs zuversichtliche Erklärung, daß alle Pläne Harrachs an diesem Dokument scheitern müßten, daß er sofort einen gerichtlichen Beschluß erwirken werde, das Gut des alten Freiherrn für die rechtmäßigen Erben sicherzustellen, hatte ihm neue Lebenskraft gegeben.

Vergeblich bemühte sich Hartwig, ihn zu halten. Eine innere Unruhe trieb ihn zur sofortigen Abreise.

*

Im Hof des Schlosses herrschte ein lärmendes Treiben. Eine Menge von Käufern und Neugierigen hatte sich versammelt, um der Versteigerung beizuwohnen.

Franz und Adeline standen am Fenster. Das Zimmer, in dem sie weilten, schon geräumt. Alles in Kästen und Kisten verpackt. Franz rieb sich die Hände. Alle Anzeichen waren günstig.

Unwirsch sah Adeline nach der Uhr. »Es wird Zeit, mit der Versteigerung zu beginnen! Mir brennt der Boden unter den Füßen. Nicht eher finde ich Ruhe, bis wir den Verkauf hinter uns haben.«

»Haha, Adeline!« lachte Franz. »Jetzt hat dich die Ungeduld gepackt, den Staub Winterloos von den Füßen zu schütteln. Das Testament – haha! Du fürchtest, es könnte noch in letzter Minute auftauchen, unsere Pläne über den Haufen werfen, daß wir als Bettler nach Dobra zurückkehren? Haha! Wie oft hast du mich früher ausgelacht, mich Feigling geschimpft! Jetzt bist du es, die zittert und bangt! Warum wolltest du auch durchaus in das verwünschte Mausoleum, diesen unheimlichen Bau? Es mögen arge Sünder unter den begrabenen Winterloos sein, daß sie heute noch als Gespenster um die Gräber spuken!«

Adeline durchquerte nervös das Zimmer. »Gespenster, Franz? Lächerlich! Glaubst du, ein Gespenst hätte mir das Testament aus der Hand gerissen? Gewiß, ich war stark erregt. Doch zu deutlich sah ich das Papier vor mir, erkannte ja auch die Schriftzüge des Oheims – –«

»Nerven, meine liebe Adeline! Schlimme Nerven, die du sonst mir immer vorgehalten hast! Haha! Wer sollte mir etwas aus der Hand nehmen, was ich sehe – und meine Augen sähen diesen anderen nicht auch?«

Adeline wandte sich ab. »Sind wir mit dem Erlös über die Grenze, will ich's glauben, daß meine Furcht grundlos und alles nur Einbildung gewesen. Einstweilen aber bleib' ich dabei: Das Testament«, – sie schrie das Wort laut heraus – »ist da! Ist – –«

Sie hielt jäh inne, deutete mit der Hand zum Fenster. »Der Notar Hartwig kommt über den Hof. Was will der hier?«

Franz zuckte die Achseln. »Irgendein Käufer wird ihn als Beistand mitgebracht haben.«

Adeline schüttelte den Kopf. Von einer Ahnung getrieben, trat sie auf den Flur, wo der Anwalt eben mit einem anderen Manne auf sie zukam. Auch Franz war seiner Schwester nachgegangen und stand auf der Türschwelle, als der Notar bei Adeline anlangte.

Hartwig deutete auf den mitgekommenen Herrn. »Ein Vertreter des Gerichts in Neustadt. Er hat den Auftrag, die Versteigerung zu untersagen.«

»Warum?« Franz trat einen Schritt näher heran. »Was soll das?«

»Das Testament des Freiherrn von Winterloo, in dem er seinen Neffen Oswald zum Alleinerben einsetzt, ist gefunden und an Gerichtsstelle hinterlegt. Hier eine Abschrift davon!«

Franz wollte nach dem Papier greifen, als ein wilder Aufschrei Adelines ihn innehalten ließ. Sie drohte zu Boden zu stürzen, sank ohnmächtig in seine Arme.

Während Franz um die Schwester bemüht war, trat Hartwig auf den Hof, sprach zu den dort Versammelten. Wenige Minuten später lag der weite Raum verlassen.

Schloß Winterloo wartete des rechtmäßigen Herrn.

*

Droste hatte sich eben zum Schlafen niedergestreckt, als ein Monteur von draußen seinen Namen rief. Ärgerlich kleidete er sich an, trat zur Tür.

Die Empfangsstation arbeitete nicht? Was konnte das bedeuten? Vor ein paar Stunden noch hatte er mit Wildrake gefunkt. Waren inzwischen atmosphärische Störungen eingetreten – oder künstliche Hemmungen?

Droste riß das Fenster auf, blickte hinaus, dunkle Nacht. Schwach nur drangen die Lichter im Stationsgebäude durch die Finsternis. Er machte sich auf den Weg dahin. Da – plötzliche Tageshelle!

Überrascht schaute er empor: Zwei Flugzeuge, von Hubschraubern gehalten, über ihm, die mit starken Scheinwerfern die ganze Station in blendende Helligkeit tauchten. Und nun vom Gebäude her wirres Schreien und Rufen.

In raschem Lauf eilte Droste dorthin, riß die Tür auf, prallte erschrocken zurück: Der Raum gefüllt von brasilianischen Soldaten, die seine Leute überwältigten und banden!

Schnell wollte er davonstürzen, da stieß er draußen auf einen Trupp Brasilianer, die, geführt von einem Offizier, ihn umringten und nach kurzer Gegenwehr gefangennahmen. Im Nu war er an Händen und Füßen gefesselt.

»Laßt ihn liegen!« rief der Offizier. »Wir müssen zu jenem Hause.« Er deutete auf den Bau, aus dem Droste gekommen. »Major Tejo ist schon dort. Der Leiter der Station soll da wohnen.«

Bei der Erwähnung von Tejos Namen war Droste, der halb besinnungslos gelegen, wieder zu sich gekommen. Er suchte seine Hände freizumachen. Die Fesseln an der einen Hand, nur lose geschlungen, gaben nach. Bald war er seiner Bande ledig. Doch vergebens spähten seine Augen nach einem Versteck. Die Scheinwerfer erschwerten das Entkommen. Doch ein Versuch mußte gewagt werden. Flink erhob er sich, stürmte in langen Sätzen dem Furo zu. Erreichte er das andere Ufer, den dichten Wald dort, so konnte er den Verfolgern vielleicht entrinnen.

Schon war er bis auf wenige Schritte an das Flußufer herangekommen, da krachte ein Schuß. Eine Kugel streifte seinen Kopf. Betäubt fiel er in schwerem Sturz den steilen Abhang hinunter.

Ein paar Augenblicke später stand Tejo neben ihm, in unverhohlener Freude über den glücklichen Fang. »Bringt ihn zu meinem Flugzeug, doch fesselt ihn gut! Die Beute ist zu kostbar.«

Während ein paar Soldaten Droste wegschleppten, ging der Major zum Stationsgebäude.

Ein Offizier trat ihm entgegen, hielt ihm ein Papier vor. »Wir haben den Montageplan nach der stehenden Anlage aufgenommen. Wenn wir alles mitnehmen, wird es nicht schwierig sein, sie zu Hause genau so aufzubauen.«

»Dann vorwärts mit dem Demontieren!« befahl Tejo. »Zwar haben wir keine Zeit zu verlieren, aber trotzdem muß die Arbeit so sorgfältig wie möglich gemacht werden!«

Ein paar große Transportflugzeuge senkten sich von oben in den Kegel der Scheinwerfer, setzten neben dem Stationsgebäude auf.

Eine Stunde danach waren alle wichtigen Teile der Drosteschen Anlage in den Lastschiffen verstaut. Boten aus Tlacala, die nach San Fernando eilten und dort Alarm schlugen, kamen viel zu spät.

In San Fernando war trotz vorgeschrittener Nacht alles in heftigster Erregung. Nachrichten vom Osten hatten gemeldet, die Brasilianer hätten mit einer riesigen Luftflotte im Hinterlande von Porto Cabello starke Kräfte abgesetzt, vom Lande her in Besitz genommen und dann im Rücken der Stadt nach Westen hin starke Befestigungsanlagen errichtet. »Eine brasilianische Kriegsflotte im Anmarsch auf die Küste!« lautete die letzte Hiobsbotschaft. Seitdem war man ohne Nachrichten. –

Was war geschehen?

Bei der Bearbeitung des Tejoschen Planes, einen Überfall auf die Station am Furo zu machen, hatte der brasilianische Generalstab beschlossen, Truppen in Nordvenezuela zu landen und dort den Minengürtel an der Küste durch Bombenabwurf zu zerreißen. Hatte man erst einmal festen Fuß gefaßt, dann sollten große Verstärkungen, schon bereitgestellt, in überraschendem Vormarsch den Norden abriegeln.

Diese Erwägungen gingen davon aus, daß unbedingt ein offensichtlicher Erfolg erzielt werden müsse, um das geschwächte Prestige Brasiliens zu stärken. Die Versorgung der brasilianischen Truppen konnte leicht über See her erfolgen.

Zur selben Zeit, da Tejo Drostes Station überrumpelte, erschienen vor dem kleinen Atlantikhafen starke brasilianische Luftstreitkräfte. In geschicktem Manöver verteilten sie sich in einer Linie, die dem Verlauf der Minensperre entsprach. Auf ein gegebenes Zeichen ließen die Flugzeuge mit Sprengstoff gefüllte Bojen ins Meer fallen, die sich innerhalb der venezuelischen Minenfelder verankerten. Diese Bojen waren mit Radiozündern versehen.

Als das geschehen, gab ein brasilianisches Schiff mit starker Sendeanlage eine Sprengdepesche nach unten, die sämtliche Bojen zur Entzündung brachte. Die explodierenden Bojen wiederum ließen gleichzeitig sämtliche Minen der Sperre über eine große Strecke hin hochgehen.

Unter Führung von ein paar Minensuchbooten steuerte jetzt ein brasilianisches Geschwader auf den Hafen Porto Cabello zu. Es brachte Verstärkungen für die aus den Transportflugzeugen gelandeten Kräfte, die ihren Brückenkopf nur mit harter Mühe gegen die angreifenden Venezueler hielten. Unter dem Schutz der Schiffsgeschütze gingen große Transportschiffe vor Anker, die im Laufe der nächsten achtundvierzig Stunden neue Truppen und beträchtliche Mengen Kriegsmaterial an Land setzten. Noch ehe die Venezueler Nachschub heranführen konnten, hatten die Brasilianer den Vormarsch nach Süden angetreten. Die starke brasilianische Luftflotte deckte die rechte Flanke. Und es konnte nur noch eine Frage von Tagen sein, daß die Invasionstruppen die Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien erreichten.

Eine Flut von Rundfunkmeldungen ergoß sich aus den brasilianischen Sendern über den ganzen Erdball. Sie übertrieben den unzweifelhaften Erfolg ihrer Truppen ins Maßlose. Schon glaubte man das Ende des Krieges nahe.

Über den Zweck des Überfalls auf die Station am Furo bei Tlacala und die näheren Umstände dabei verlautete jedoch so gut wie nichts. War es doch Hogans Wunsch, über das Drostesche Treibmittel so wenig wie möglich in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Auch über den ruhmvollen Anteil, den Tejo an den Ereignissen in Nordvenezuela hatte, war kaum etwas bekannt geworden. Lediglich seine Beförderung zum Obersten gab den wenigen Eingeweihten zu erkennen, daß man an höherer Stelle seine Leistungen gebührend würdigte. – –

Hogan saß mit Tejo zusammen in Brasilia und hatte ihm eben zu seiner Beförderung gratuliert.

»Ich hoffe, mein lieber Oberst, wir sind dem Frieden jetzt ein gutes Stück näher. Sollten Sie später vielleicht den bunten Rock für immer ausziehen wollen, so brauchen Sie mir nur ein Wort zu sagen! Leute wie Sie kann ich jederzeit gebrauchen. Doch nun zum Zweck unserer Zusammenkunft! Wie ich Ihrem Bericht entnehme, sind alle wichtigen Teile der erbeuteten Station in den militärischen Werken Campinas aufgebaut, und das Fehlende ist ergänzt?«

Tejo nickte.

»Es handelt sich also darum, die Apparate in Tätigkeit zu setzen, den Drosteschen Treibstoff bei uns selbst herzustellen. Sie werden sich am besten an das Laboratorio Nationale wenden, das Ihnen ein paar tüchtige Fachleute zur Verfügung stellen kann.«

Tejo wiegte zweifelnd den Kopf. »Mag sein, Senhor Hogan. Doch werden wir auch ohne solche Hilfe zu Rande kommen.« Tejo achtete nicht darauf, daß Hogan ärgerlich das Gesicht verzog. »Ich halte die Sache für ziemlich einfach. Der Punkt, um den sich die ganze Fabrikation dreht, ist ein Zusatzmittel, von dem wir ansehnliche Mengen in der Station am Furo fanden. Unklar allerdings ist mir einstweilen noch die Art der Zusammensetzung dieses Zusatzmittels. Um das zu ergründen, könnten Proben davon an eine Anzahl Laboratorien geschickt werden, mit dem Auftrag, sie genau zu analysieren. Doch das wird eine gewisse Zeit dauern. Ich will daher vorläufig mit den vorhandenen Vorräten den Betrieb aufnehmen und soviel wie möglich von dem Treibstoff fertigstellen. Unsere Flieger werden staunen!«

»Alle Schwierigkeiten wären behoben«, fiel Hogan ein, »wenn der deutsche Starrkopf bereit wäre, uns sein Geheimnis zu offenbaren. Es wurden ihm die bündigsten Versicherungen gegeben, daß ihm das Leben geschenkt, er nach Friedensschluß unbehelligt in die Heimat zurückkehren würde. Doch der eigensinnige Mensch scheint lieber sterben zu wollen, als die Erfindung preiszugeben.«

»Nun, es geht auch ohne ihn! Über die Fabrikation bin ich mir völlig im klaren. Die Hauptsache bei dem Verfahren ist eben das Zusatzmittel. Wird eine gewisse Menge davon unserem gewöhnlichen Treibstoff zugefügt, so gewinnt die Mischung eine geradezu wunderbare Speicherfähigkeit. Es wird dann möglich, mit Hilfe einfacher Metallelektroden elektrische Energie in einer fast unglaublichen Quantität in die Flüssigkeit zu laden – ähnlich etwa, wie man einen gewöhnlichen Bleiakkumulator laden kann, doch unendlich viel stärker und wirksamer. Die Untersuchung des erbeuteten Treibstoffes hat zweifelsfrei erwiesen, daß er den hundertfachen Energiegehalt unserer sonst gebräuchlichen Treibmittel besitzt. Daß man überdies die billige, aus Wasserkräften gewonnene Energie in dieser hochwertigen Weise zu speichern vermag, gibt der Drosteschen Methode eine geradezu epochemachende Bedeutung.«

»Nun gut! Wenn Sie's gern allein durchführen wollen – besten Erfolg! Doch was sagen Sie zu den letzten Nachrichten aus Nordvenezuela?«

Eine gleichgültige Handbewegung. »Ich lege den kleinen Fehlschlägen keine Bedeutung bei. Damit muß man ja immer rechnen. Daß größere venezuelische Truppenmassen in Aktion getreten sind, halte ich für ausgeschlossen. Ehe die da oben ankommen können, haben wir unsere Front derart verstärkt, daß sie sich die Köpfe blutig rennen werden.«

»Sind Sie dessen so sicher?«

»Unbedingt, Senhor Hogan! Sie vergessen, daß der stärkste Arm Venezuelas, Robert Wildrake, gelähmt ist. Seine Leistungen beruhten doch in erster Linie auf dem Treibstoff dieses Droste. Gewiß, er kann auch mit den gewöhnlichen Treibmitteln kämpfen. Doch dann fehlt ihm die aeronautische Überlegenheit, der ausgedehnte Aktionsradius, die Schnelligkeit – –« Tejo stockte, stand einen Augenblick nachdenkend. »Freilich – wir haben genug Beweise für die Frechheit dieses verzweifelten Burschen. Wenn ich mir vorstelle, wie er mit seiner ›Venezuela libre‹ vielleicht jetzt tatenlos brachliegen muß, so läßt sich wohl denken, daß er das Äußerste versuchen wird, um Droste zu befreien – den Helfershelfer, der ihm seine Stärke lieh.«

Hogan lachte laut auf. »Sie kennen wohl Florianopolis nicht, wo Droste gefangensitzt? Wären Sie mit den Sicherheitsvorkehrungen dieses Gefängnisses vertraut, dann würden Sie anders urteilen. Übrigens müßte Wildrake sich beeilen, denn das Urteil – im Vertrauen gesagt – ist bereits heute mittag gesprochen. Der Befreier müßte also vor Ablauf der nächsten achtundvierzig Stunden kommen, wenn er den Gefangenen noch lebend antreffen will!«

Ein Morseschreiber begann zu arbeiten. Hogans Mienen verfinsterten sich. Er riß den Streifen ab, gab ihn seinem Besucher.

»Nun?« fragte er kurz, als auch Tejo gelesen hatte.

»Allerdings – diese Nachricht klingt recht betrüblich. Es droht anscheinend die Gefahr, daß unsere quer über Venezuela gespannte Front durchbrochen wird. Ich muß sagen, ich stehe da vor einem Rätsel. Hoffe jedoch bestimmt – –«

»Rätsel, mein lieber Oberst?« Hogans Stimme hatte einen ironischen Ton. »Rätsel haben wir leider in diesem Krieg genug raten müssen. Auch ich vertraue, daß es unserer Heeresleitung gelingt, das Schlimmste abzuwenden. Denn ein Rückschlag müßte die Kriegsmüdigkeit bedenklich steigern.«

*

Die Nachrichten vom Kriegsschauplatz in den nächsten vierundzwanzig Stunden waren wenig tröstlich. Zwar suchte die brasilianische Heeresleitung die Größe der Niederlage zu verschleiern, doch ward jedem Einsichtigen klar, daß der Durchbruch so gut wie vollendet war, daß alle Versuche der Armee, die Front wieder zu schließen, an dem hartnäckigen Widerstand der venezuelischen Truppen scheiterten.

Hogans Stimmung verschlechterte sich mit dem Fortschreiten des Tages immer mehr. Er wollte sich eben zur Abendmahlzeit niedersetzen, da wurde ihm eine Depesche gebracht.

»Schwere Explosion in Campinas. Versuchslaboratorium dreiundzwanzig in die Luft geflogen. Die darin befindlichen Menschen tot – –«

Seine Schultern sanken zusammen, als hätte ein furchtbarer Schlag sie getroffen. Mit wütenden Flüchen schleuderte er das Papier zu Boden – Flüche über Tejo – – kein Wort des Bedauerns, des Mitleids mit dessen plötzlichem Ende.

»Die Analysen!« schrie er laut. »Hätte ich wenigstens die! Doch Tejo wollte ja die Proben des Zusatzmittels erst in der nächsten Woche abschicken. Gerechte Strafe nur für seinen übertriebenen Ehrgeiz! Was mußte er sich mit solchen Dingen abgeben? Der – –« Eine Flut von Schimpfworten prasselte aus seinem Munde. »Umsonst das ganze Unternehmen da unten! Die Station weggenommen – die Apparate, die ganze Einrichtung, das Zusatzmittel in unseren Händen – – wie es geplant, so gelang's! Jetzt ist der ganze Erfolg zunichte durch den Aberwitz dieses Toren!«

Sein Blick richtete sich wieder auf das Telegramm. Er hob es auf, las es abermals, schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ist es denkbar? Mir das?«

Er warf sich in den Stuhl, schloß die Augen, lag tief atmend. Seine Herrschaft über die mächtigsten Ölvorkommen der Welt schien durch diese höllische Erfindung aufs stärkste bedroht. Hundertfache Leistung mußte das Teufelszeug entwickeln – – das bedingte eine um ebensoviel verringerte Nachfrage nach Öl. Ein paar kleine Außenseiter waren in der Lage, den minimalen Bedarf jederzeit zu decken. Gewiß – später würde der Verbrauch sich wieder steigern. Doch seine Macht, sie war dahin –!

Ein Diener brachte die Abendzeitungen, legte sie vor Hogan auf den Schreibtisch. Mit einer Gebärde des Unmuts wollte er sie zur Seite schieben. Da fiel sein Auge auf ein paar dicke Schlagzeilen.

»Der Deutsche Medardus Droste, Genosse des Verbrechers Wildrake, ist vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden. Die Hinrichtung wird morgen stattfinden.«

Hogan zuckte die Achseln. Was da weiter über Droste stand, war ganz offensichtlich von oben her inspiriert. Er lachte über die schwülstigen Ergüsse. Wurde doch hier der Person des Verurteilten eine Wichtigkeit beigelegt, die den Massen ohne Kenntnis der näheren Umstände vollkommen unverständlich bleiben mußte. Offenbar wollte man die durch Schlappen aufgebrachte Bevölkerung beruhigen.

Noch einmal überflog er die Depesche von vorhin, saß lange in angestrengtem Nachdenken.

»Noch ein letzter Versuch!«

Er drückte auf einen Knopf, befahl dem Diener: »Meinen Wagen, sofort!«

*

Das erst kürzlich vollendete Gefängnis in Florianopolis, wohin man Medardus Droste gebracht hatte, war mit den besten neuzeitlichen Sicherheitsvorrichtungen versehen. »Eher ein Entweichen aus der Hölle als aus Florianopolis!« hatte der Baumeister lachend sich gerühmt, als es fertig stand. Auf Tejos Veranlassung waren die schier unüberwindlichen Sicherungen, mit denen Drostes Zelle versehen war, noch verstärkt worden.

Die zweite Morgenstunde brach an. Ein Kraftwagen hielt vor dem Tor. Der Posten wollte den Besucher brüsk zurückweisen. Doch der übergab ihm einen Brief, der sofort dem Gefängnisleiter zu bringen war.

Nach geraumer Weile erschien der persönlich, von ein paar Wachtleuten begleitet. »Ah, Senhor Ho . . .«

Ein Wink ließ ihn verstummen. »Sind Sie bereit, mich zu dem Gefangenen zu führen?«

»Gewiß, Sir! Es ist zwar grundsätzlich verboten, nachts einem Fremden das Tor von Florianopolis zu öffnen. Doch der Brief entbindet mich ja von meiner Instruktion.«

»Es liegt mir daran, den Gefangenen allein zu sprechen.«

»Kann geschehen! Er ist so stark gefesselt, daß keinerlei Gefahr für Ihre Person besteht.«

Vor der Zelle reichte der Gefängnisleiter Hogan eine starke Lampe, ließ ihn eintreten, schloß die Tür hinter ihm zu.

Der Gefangene lag auf einer Pritsche, Hände und Füße in schweren Ketten. Die Hände noch überdies an einer Eisenstange quer über der Brust befestigt. Im Schein der Lampe studierte Hogan die Züge des Mannes. Sie waren von Leid und Qual verwüstet. Blutlose, eingefallene Wangen, tief in den Höhlen liegende Augen, wirr das Haar, die linke Kopfseite mit Pflastern und Binden verklebt.

»Sie sind Medardus Droste, Freund und Helfer Kapitän Wildrakes?«

Mit leiser Kopfbewegung bejahte der Gefesselte.

»Sie sind im Besitz des Geheimnisses, einen Treibstoff von außergewöhnlich großem Energiegehalt herstellen zu können?«

Der Gefangene nickte wieder.

»Auch das Tauchflugboot Wildrakes ist Ihr Werk?«

Nochmals ein Nicken.

»Wie kamen Sie dazu, sich diesem Wildrake zur Verfügung zu stellen, ihm seine Schandtaten zu ermöglichen – statt Ihre Erfindungen der Menschheit zu schenken – zu friedlichen Zwecken?«

Lange wartete Hogan auf die Antwort. Droste warf den Kopf unruhig hin und her. Seine gekrauste Stirn verriet, wie er mit sich kämpfte. Mit leiser Stimme begann er zu sprechen.

»Der Platz des Gerechten, Starken soll an der Seite des Schwachen, Unterdrückten sein, – hat man mich stets gelehrt. Euer Kampf gegen Wildrakes Vaterland – was ist er anderes als ein Krieg der Habgier, eine übermütige Vergewaltigung der Schwachen? Die Menschheit – –« Ein verächtliches Lächeln spielte um die Lippen des Gefangenen.

»Ah! Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie Ihr Geheimnis niemals bekanntgeben wollen? Das wäre ja – – doch ich verstehe Sie. Sie wollen den Preis recht hochtreiben – haben Pläne, Beherrscher der Energiequellen der Welt zu werden – –«

Hogan sah nicht den grimmigen Blick, den Droste ihm zuwarf. Mit einem häßlichen Lachen fuhr er fort: »Nun, diese himmelstürmenden Ideen haben Sie wohl begraben. Morgen früh wird Ihnen das Urteil des Kriegsgerichts verkündet werden. Es lautet auf Tod durch den Strang.«

Hogan starrte auf das Gesicht des Gefangenen. Keine Miene verzog sich darin, keine Muskel zuckte.

»Nur ein Mittel gäb's für Sie, der Hinrichtung zu entgehen. Offenbaren Sie uns das Geheimnis Ihres Treibmittels!«

Der Gefangene schwieg. Zornig trat Hogan näher an ihn heran, wiederholte noch einmal die Worte.

»Nie! – . . . Niemals werdet ihr's erfahren, und müßte ich tausendfachen Tod erleiden!« Droste hatte, soweit die Fesseln es ihm gestatteten, das Haupt erhoben, sah Hogan durchdringend an. Unbeugsame Willenskräfte in Augen und Mienen.

Hogan vermochte diesen Blick nicht auszuhalten. Ärgerlich wandte er sich ab. Er sah ein, jedes Wort hier war vergebens.

»So stirb denn, du Narr!« zischte er wütend, wollte zur Tür – –

Da – der Klang einer Stimme im Raum . . . einer Stimme, die ganz anders war als die des Gefangenen. Eine Stimme, die dicht neben ihm, zu ihm sprach.

»Der ›Narr‹, der morgen stirbt, William Hogan, ist dein Sohn! Heute vor dreißig Jahren gebar ihn Vivian Doherty in der Hütte des alten Fischerweibes . . . an seiner Hand der andere Ring, den du seiner Mutter gabst, der Siegelring mit dem Roßmore-Wappen – –«

Beim Klang der Stimme war Hogan wie erstarrt stehengeblieben, das Haar gesträubt, die Augen voll Entsetzen.

Niemand war hier. Er allein mit dem da drüben. War's ein Geist? War's eine innere Stimme in ihm selbst?

Der andere Ring, den er Vivian geschenkt – –? Mit raschem Sprung stand er an Drostes Seite. Faßte dessen kettenumschlossene Rechte, drehte sie dem Lichte zu. Am Ringfinger ein glänzender Goldreif. So fest saß er an der Hand, daß ihn die Häscher nicht hatten lösen können.

Das springende Pferd im Roßmore-Wappen! Hogan riß die Lampe hoch, hielt sie dicht über das Gesicht des Gefangenen, starrte in leuchtend blaue Augensterne – –

»Vivians Augen!« wollte er schreien. »Medardus – mein Sohn?!«

Die Lampe entglitt seinen Händen. In schwerem Fall schlug Hogan zu Boden. – –

Ungeduldig wartete der Leiter des Gefängnisses. Immer wieder zog er die Uhr. Endlich konnte er sein Befremden nicht länger meistern. Er schloß die Tür auf, die knarrend zurückglitt. Doch an der Schwelle stockte sein Fuß: Die Zelle war dunkel! – – Dunkel?

In wilder Hast stürzte er zu einem der Wärter, entriß ihm die Lampe, eilte zurück. Da vor ihm, auf dem Boden, lag Hogan – –

»Alles herbei!« rief er zur Tür hinaus. »Ein Unglück!«

Im Nu war die Zelle von Wärtern gefüllt. »Hebt den Mann hier auf! Er ist ohnmächtig geworden.«

Da fiel sein Blick auf die Pritsche. »Der Gefangene?! Wo ist er? Entflohen?!«

Das Lager war leer! Ein einziger Schrei aus allen Kehlen.

Binnen weniger Minuten waren sämtliche Wachen alarmiert. Unmöglich konnte der Befreite das Gebäude bereits verlassen haben. – Bis zum Morgengrauen dauerte die Suche. Doch ein Ergebnis brachte sie nicht. Wie von Geisterhand entführt, blieb der zum Tode Verurteilte verschwunden.

Mit wankenden Knien, zitternder Stimme meldete der Leiter von Florianopolis, daß der Gefangene Droste aus seiner Zelle entwichen sei. Die Meldung lief auf höhere Anordnung alsbald an alle Behörden weiter, mit der Aufforderung, nach dem Flüchtling zu fahnden, ihn dingfest zu machen.

Im Publikum wurde die Nachricht wenig beachtet. Die Heeresberichte der venezuelischen Armee, in der brasilianischen Presse stark retuschiert, allgemach aber über das Ausland her ihr wahrer Inhalt bekannt, nahmen die Aufmerksamkeit voll in Anspruch.

Danach war die Invasion gescheitert. Ein Teil der Brasilianer hatte die Waffen gestreckt. Die übrigen Truppen waren in verlustreichen Gefechten auf Porto Cabello zurückgewichen, wo sie unter einer Feuerglocke der Schiffsartillerie sich sammelten. Noch hoffte man, daß Porto Cabello für eine spätere größere Aktion als Brückenkopf gehalten werde, da meldeten englische Flieger, die zwischen den britischen Inseln und Venezuela verkehrten, daß die Reste der brasilianischen Armee in Porto Cabello wieder eingeschifft würden.

Die Niederlage, jetzt in ihrer vollen Bedeutung erkannt, wirkte niederschmetternd. Ein paar kleinere Erfolge konnten nichts daran ändern. Die Riesenverluste an Menschen und Kriegsmaterial im ganzen fachten den Funken der Friedenssehnsucht, der in unzähligen Herzen glomm, zu immer stärkerer Glut an.

Die Stimmung in Brasilia, der Regierungsstadt selbst, beleuchtete der plötzliche Rücktritt des Kriegsministers. Sein Nachfolger, General Suco, galt als Tornos Freund.

Torno – die ganze Last der verfahrenen Situation ruhte auf seinen Schultern. In einer Konferenz im zentralen Regierungspalast unter Vorsitz des Präsidenten hatte er mit dürren, klaren Worten vorgeschlagen, den Krieg so schnell wie möglich zu liquidieren. Noch einmal waren die Meinungen heftig aufeinandergeplatzt. Die Gegenpartei unter Führung des Marineministers wollte nur unter Vorbehalt zustimmen. Ein paar größere militärische Erfolge Brasiliens seien unumgänglich notwendig, um das erschütterte Prestige zu festigen und den brasilianischen Unterhändlern für die Friedensverhandlungen eine sichere Basis zu schaffen. Ein Vertreter der Opposition deutete an, daß wohl William Hogan als wichtiger Exponent der brasilianischen Interessen nicht übergangen werden dürfe.

Vergeblich aber hatte Torno im Anschluß an die Konferenz versucht, mit Hogan Rücksprache zu nehmen. War er auch seiner Sache in sich selbst sicher, so interessierte es ihn doch, wie Hogan, der mehrfach schon seine Stellungnahme verändert, jetzt nach diesen schweren Schlägen über die Zukunft dachte. Eine Mitteilung aus Hogans Hause von dessen Arzt ließ jedoch ein persönliches Zusammentreffen untunlich erscheinen.

*

Ganz Venezuela stand unter dem Eindruck des großen Sieges bei Valencia. Hier war in tagelangem, erbittertem Ringen der Durchbruch durch die brasilianische Front gelungen. Die weiteren Erfolge erhöhten noch den Freudentaumel. Der Einzug der venezuelischen Truppen in Porto Cabello – kein Feind mehr im Norden des Landes. Im ganzen Lande nur ein Schrei: Zu den Waffen! Denn auch in der venezuelischen Armee waren schwere Verluste zu beklagen. Die Lazarette überfüllt – Freund und Feind durcheinander. Das verhältnismäßig kleine ärztliche Personal arbeitete bis zum Umsinken.

Auch in San Fernando waren Massen von Verwundeten in behelfsmäßigen Lazaretten gesammelt. Trotzdem die Stadt nicht allzu weit von der Kampflinie entfernt lag, hatte sie wenig durch die kriegerischen Ereignisse gelitten. Gleich nach der Schlacht war auch Edna Wildrake nach San Fernando geeilt, um als Pflegerin zu helfen. Und in Anbetracht ihrer Übung in der praktischen Krankenfürsorge nahm man ihre Dienste weit über ihre Kräfte in Anspruch.

Übermüdet von langen Nachtwachen, hatte sie sich eines Tages eben zu kurzem Schlummer niedergelegt, da hörte sie draußen auf dem Flur lautes Weinen und Flehen einer Frauenstimme. Sie versuchte vergeblich, es zu überhören, sich Schlaf zu erzwingen – – irgend etwas in ihr ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Wie einem Zwange folgend, hob sie die matten Glieder, schritt hinaus.

Eine ältere Frau, Angehörige der besseren Stände, wie es schien, sprach mit dem Lazarettverwalter. Es war zu erkennen, daß sie eine Bitte vorgebracht, die er ihr mit rauhen Worten immer wieder abschlug.

Edna trat näher an die beiden heran. »Was ist, meine liebe Frau, daß Sie so traurig sind? Kann ich Ihnen helfen?«

Beim Klang von Ednas Stimme hatte die Frau aufgehorcht, trat schnell zu ihr. Die Hände flehend erhoben, überschüttete sie das junge Mädchen mit einer Flut von Bitten, Klagen, wirrem Stammeln.

Edna sah den Verwalter fragend an.

»Sie will zu einem Brasilianer, der verwundet hier eingeliefert wurde. Er ist jedoch als Spion erkannt, den man vor einiger Zeit auf frischer Tat verhaftete und der dann kurz vor der Hinrichtung plötzlich entfloh.«

Die alte Frau brach von neuem in Schluchzen aus. »Nein – er ist unschuldig! Niemals hat er daran gedacht, Spionage zu treiben! Ich – ich selbst bin schuld an allem! Oswald wollte zu mir kommen, mich besuchen. Der Waffenstillstand war ja längst geschlossen – –«

Bei dem Worte »Oswald« war Edna zusammengezuckt. Der Name, hier in Nordvenezuela bei ihren Landsleuten kaum bekannt, ließ sie aufmerken.

Hastig trat sie an die Frau heran. »Oswald nannten Sie Ihren Sohn? Wie heißt er weiter? Wie heißen Sie?«

»Winterloo«, kam es tonlos von den zitternden Lippen der alten Dame.

»Winterloo!« Wie ein Schrei flog das Wort aus Ednas Mund. »Oswald Winterloo?! Er ist hier? Verwundet, gefangen?« Sie rüttelte den Lazarettverwalter am Arm. »Wo ist dieser Offizier? Schnell! Führen Sie mich zu ihm!«

Der Beamte zuckte die Achseln. Edna stampfte wütend auf. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?« sagte sie in hochfahrendem Ton. »Ich heiße Edna Wildrake. Als einem Venezueler sollte Ihnen der Name nicht unbekannt sein!«

Der Verwalter trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Es ist unmöglich, Señorita! Verzeihen Sie mir! Ich darf es nicht. Strengster Befehl, niemand zu dem Inhaftierten zu lassen. Schon einmal ist er uns entwischt!«

Sporengeklirr vom Ende des Ganges. Oberst Ceralbo, Kommandant von San Fernando, kam in Begleitung seines Adjutanten daher. Als er die ihm wohlbekannte Schwester Robert Wildrakes erblickte, beugte er sich in ritterlicher Ehrerbietung über ihre Hand.

In hastigen Worten erzählte sie ihm, was hier vorging. Bei dem Namen »Winterloo« verdüsterten sich seine Mienen.

»Sie verschwenden Ihre Güte an einen Unwürdigen, Señorita! Ich bin leider genötigt, Ihnen diese Bitte abzuschlagen.«

Fassungslos taumelte Edna zurück. »Einen Unschuldigen wollen Sie morden?!« schrie sie, unfähig, sich zu beherrschen.

Der Adjutant versuchte, sie zu beruhigen. Doch sie wies ihn unwillig ab. »So gewähren Sie wenigstens Aufschub, Herr Oberst, bis ich mich an den Diktator Guerrero persönlich gewendet habe.«

»Gern, Doña Edna! Das kann ich ohne weiteres verantworten. Es wird also dem Hauptmann Winterloo nichts geschehen, bevor Guerrero selber entschieden hat!«

Edna ergriff die Hand des Obersten mit festem Druck. Eilte dann zu Oswalds Mutter, die ihr, vor Glück und Freude weinend, um den Hals fiel. Edna wehrte den in Dankbarkeit überquellenden Liebkosungen nicht, klammerte sich selbst an die Schultern der Schluchzenden. Oswald verwundet, gefangen! Hier in San Fernando, wo ihm schon einmal der Tod vor Augen gestanden! Als Spion verurteilt – –

Die Knie wankten unter ihr. Unschuldig verurteilt, der Geliebte! Konnte, durfte sie ihn in den Tod gehen lassen? Niemals! schrie es in ihr. Mit eigenem Leibe wollte sie ihn decken, wenn die Häscher ihn holten – wenn selbst ihres Bruders Stimme vor Guerrero ungehört verhallte.

Langsam wurde sie der Schwäche ihrer Glieder Meister. »Wir wollen zu ihm! Wer sollte es wagen, Robert Wildrakes Schwester zu verwehren, eine Mutter zu ihrem todgeweihten Sohn zu führen? Geleiten Sie uns zu dem Gefangenen!« herrschte sie den Aufseher an.

Der schritt ihnen voran zu dem Untergeschoß des Gebäudes, eines früheren Presidios, das man jetzt im Kriege zum Lazarett umgewandelt hatte. Der untere Teil des Gebäudes war kasemattenartig ausgebaut. Im Hintergrund eines langen, gewölbten Ganges schloß der Aufseher eine Tür auf, deutete mit stummer Gebärde den beiden Frauen an, daß hier der Gefangene weile.

Der Raum war von meterdicken Mauern umschlossen. Nur ein kleines Fenster in der Decke ließ spärliches Licht herein. Beim Öffnen der Tür hatte sich der Gefangene von seinem Lager aufgerichtet. Den linken Arm in der Binde, den Kopf mit blutigen Tüchern umhüllt, schaute er nach dem Eingang.

Oswalds Mutter trat ein. Sekundenlang gingen ihre Augen suchend durch den Raum. Nur allmählich gewöhnten sie sich an das Dämmerlicht.

»Mutter!«

Der Gefangene war aufgesprungen. Ein lauter Schrei aus dem Munde der Mutter – dann schlossen sich ihre Arme umeinander. Lange standen sie so. Dann machte sich Oswald frei, drückte sein Gesicht an das der Mutter, küßte ihre tränenüberströmten Wangen, sprach zu ihr.

Und nun klang langsam, stockend auch die Stimme der Mutter. Jetzt machte sie ihre Rechte frei, deutete nach der Tür, rief: »Oh, kommen Sie doch zu uns, daß wir Ihnen danken!«

Eine Weile noch zögerte Edna. Erst als auch Oswald nach der unbekannten, gütevollen Helferin rief, überschritt sie die Schwelle. Trat, die eine Hand vor die Augen gepreßt, vor ihn hin – fühlte sie wie im Traum, daß eine Männerhand die ihre ergriff und innig drückte.

Da, unfähig, ihre Beherrschung länger zu bewahren, ließ sie die andere Hand sinken – –

Nur das eine Wort »Edna« hörte sie noch. Dann lag sie in seinen Armen.

*

Von Juan Avilla, dem alten Administrator, begleitet, kehrte Maria Anunziata von einem Ritt durch die Felder nach La Venta zurück.

»Kommen Sie mit mir, Señor Avilla! Vielleicht, daß das Radio uns neue Nachrichten gebracht hat. Schon tagelang keine Mitteilung von Edna – – von Robert ganz zu schweigen!«

Am Arm des Verwalters betrat sie das Stationszimmer. Ihr Begleiter schüttelte traurig den Kopf. »Keine Radionachricht – auch kein Brief, Doña Maria! . . . Man hat uns, scheint's, völlig vergessen hier!«

Maria ging in ihr Zimmer. Mißmutig warf sie sich auf ein Sofa. Vergessen? . . . Ja! Sie, die Blinde, und der alte Avilla waren unnütz! Nirgends zu gebrauchen, indes alle Kräfte des Vaterlandes sich spannten, in letzter Anstrengung den Feind aus dem Lande zu werfen. Nicht einmal das war ihr vergönnt: sich in die Schar der freiwilligen Helferinnen zu reihen, um die Wunden zu lindern, die die Waffen geschlagen.

Und doch drängte alles in ihr aus der tatenlosen Stille La Ventas hinaus. Oh, könnte sie doch mitarbeiten, zu einem kleinen Teile nur, an den hehren Aufgaben des Befreiungswerks! Doch ihre Blindheit zwang sie zu dieser qualvollen Entsagung.

Laut aufschluchzend, schlug sie die Hände vors Gesicht – und die Tränen erleichterten ihr Herz. Das wenigstens vermochten sie noch, die blinden Augen: zu weinen, um Schmerz und Kummer freizumachen, den Druck der Seele zu lösen –

Sie preßte ein Tuch vor ihr Antlitz, um den Tränenstrom zu hemmen. Ihre Lider schlossen sich. Und ihre Sinne suchten die Bilder ihrer Lieben vor ihr geistiges Auge zu bannen. Robert – – Edna – – Mit ganzer Seele umfing sie die Gestalten, wie die Erinnerung sie ihr vorspiegelte. Die anderen Vertrauten – nie hatte ihr sehendes Auge sie erblickt –: Droste, Barradas, Calleja und die übrigen Freunde.

Doch nein! Den einen hatten ihre Augen gesehen: den alten grauen Mann, der damals auf der Insel zu ihr gekommen war. Kaum eine Stunde seit jenem Tage, wo sie nicht an dies Erlebnis sich erinnerte. Ihre Gefährten, mochten sie auch im stillen über jene rätselvollen Vorgänge sich Gedanken machen, hatten wie in geheimer Scheu kaum je wieder darüber gesprochen. Doch sie – hier in La Venta zum ständigen Alleinsein verdammt – zergrübelte ihr Hirn mit drängenden Fragen.

Was war damals mit ihr, mit ihren Augen geschehen? Jene unverständlichen Worte des Alten: »Tote Augen einer Blinden sehen, was allen Sterblichen verhüllt«, wollten ihr nicht aus dem Kopf. Und erst recht nicht die anderen: »Der Tag wird kommen, wo deine jetzt toten Augen wieder lebendig alle Schönheit der Welt genießen!«

Inbrünstig hatte sie sich an diese Verheißung geklammert. Hatte jeden Morgen, den Gott werden ließ, in bangem Erwachen begrüßt. Das Licht des Tages – würden ihre Augen es endlich, endlich wieder erblicken? Aber jede neue Sonne brachte neue Enttäuschung – –

Sie rang die Hände in klagevoller Bitternis. »Wüßt' ich nicht, daß du doch unser Freund, so möcht' ich dich verwünschen, du alter grauer Mann, der du mir die Seele mit Hoffnungen erfülltest, aus denen nur Qual statt Freude erwuchs. Wie an eine göttliche Botschaft glaubte ich an deine Verkündung. Aber niemals wohl, nie werde ich das Augenlicht wiedergewinnen. Oh, wäre ich nie geboren!«

Mit wehem Jammerlaut vergrub sie ihr Antlitz in die Hände. Da zuckte sie zusammen: Eine Stimme klang an ihr Ohr – sanft wurden ihre Hände weggezogen. Sie schlug die Augen auf. Der Freudenruf, den sie ausstoßen wollte, erstarb – –

»Der alte graue Mann – ja, er ist hier! Du siehst recht, Maria! Doch die Zeit ist nahe, wo du auch anders sehen wirst – sehen mit lebendigen Augen! Denn deine Augen sind nicht tot. Leid und Kummer nur verdunkelten ihren Spiegel. Freude und Glück deiner Zukunft werden sie wieder erhellen!«

Marias Hände umklammerten die des Fremden. Ein Strom von Kraft und Zuversicht flutete auf sie über. Wie überwältigt von einem Übermaß beseligender Wonne, sank sie zurück, schlummerte ein.

*

Ein Kraftwagen aus San Fernando hielt vor dem Tor von La Venta. Wildrake stieg aus, eilte ins Haus. Riß die Tür zu Marias Zimmer auf, rief jubelnd in den halbdunklen Raum: »Der Sieg ist unser, Maria! Der Feind bietet Waffenstillstand an!«

Die Worte des Geliebten trafen Maria, aus tiefem Schlaf aufgeschreckt, so unvermittelt, daß sie einen bangen Schrei ausstieß. Ihr Oberkörper schnellte jäh empor, sank wieder zurück. Krampfige Schauer durchbrandeten ihren Körper, ihre Seele bebte in schwerster Erschütterung; wie von inneren Qualen gepeinigt, wanden sich ihre Glieder.

Mit einem Ausruf der Angst, des Mitgefühls beugte sich Wildrake über sie. Unter seinem liebevollen Zuspruch verebbte der Sturm. Sie wurde ruhiger. In einem Strom von Freudentränen befreite sich ihre Seele. Sie trocknete die Tränen, schlug die Augen auf – – schloß sie wieder – – schlug sie von neuem auf.

Ihre Lippen gerieten in zitternde Bewegung. Sie wollte sprechen, doch die Zunge versagte den Dienst. Den Blick auf Wildrake gerichtet, schaute sie ihn in namenlosem Entzücken an.

»Roberto – Geliebter! Komm näher zu mir, daß ich dir besser ins Auge schauen kann – deine Züge, die lieben, wiedererkenne, so wie ich sie vor so langer Zeit gesehen –!«

Wildrake setzte sich dicht neben sie, blickte sie unsicher lächelnd an.

Maria legte ihm die Hand auf den Mund. »Nicht sprechen, Roberto! Wer weiß, wie lange der Traum noch dauert? Diese köstlichen Augenblicke will ich nutzen – mich satt sehen . . ., dein Gesicht, deine Gestalt mit vollem Auge zu umfangen!« Sie strich ihm durch das lockige Haar. »Ach, Roberto! Dein schönes dunkles Haar! Hier schimmert's grau, du. Ja, die vielen Sorgen, die Leiden um das Vaterland – und um mich –!«

Wildrake zuckte zusammen und blickte sorgenvoll nach der Geliebten hin. War sie krank? Sie wollte die grauen Streifen an seinen Schläfen sehen?

». . . und dein Gesicht – so schmal und hager ist's geworden!«

Roberto wollte ihr zärtlich über die Stirn streichen, doch sie ergriff seine Hand, drückte sie an ihre Lippen, mit leisem Freudenruf. »Mein Ring, Robert! Du trägst ihn immer noch an dem Finger, über den ich ihn damals streifte – in jener Stunde des Glücks, da du um mich geworben hast! – Glücklich jene Stunde – glücklicher diese, wo ich dich wieder sehe! Ja, Roberto!« Sie stammelte es in verhaltenem Jauchzen. »Ich sehe dich wieder! Du schüttelst den Kopf, blickst angstvoll besorgt? Glaubst, ich wäre – – Nein! Ich bin völlig gesund! Gesünder als je! Meine Augen, nicht blind mehr, sehen dich ja!«

Durch die Gestalt des Mannes ging ein Zittern. Unfähig, Beherrschung zu wahren, fühlte er heiße Tränen über seine Wangen rollen. Oh, diese jammervolle Stunde! schrie es in ihm. Ihr Geist umnachtet?

»Nicht weinen, Roberto! Freuen sollst du dich – freuen mit mir! Meine Augen sind nicht mehr tot. Sie sind lebendig – sehen dich, sehen alles um mich her: das Zimmer, die Strahlen der Sonne, die durch die Läden hindurch sich am Boden spiegeln. Doch warum ist's nicht heller hier? öffne die Läden, daß ich sie ganz wiedersehe, die Sonne, die Spenderin alles Lichts!«

Unter ihren Worten stand Wildrake taumelnd auf, schritt zu dem Fenster, wollte es öffnen, blieb stockend stehen.

Was Maria da sprach – war's denn möglich? Täuschung nur, Ausbruch ihrer kranken Phantasie – oder doch Wahrheit? Dann – die Hand, die den Laden öffnen wollte, fuhr zurück; – dann wäre das helle Sonnenlicht Gift für die kaum Genesene. Er wandte sich um, eilte wieder zu Maria. Die streckte ihm die Arme entgegen, schaute ihn mit frohen Augen an.

»Maria!« stieß er heiser hervor. »Diese Stunde – die unglücklichste – oder die glücklichste meines Lebens –! Ich muß Gewißheit haben!«

Er riß ein Papier aus der Tasche, hielt es vor ihre Augen. »Kannst du lesen, was hier steht, Maria?«

Das Papier schwankte in seinen bebenden Händen. Maria nahm's ihm aus der Hand. »Ein Brief – an Herrn Admiral Robert Wildrake –!« Mit einem Jubelruf zog sie den Geliebten an ihre Brust. »Admiral?! Mein Roberto! Du bist Admiral geworden?«

Da löste sich die lähmende Spannung des Mannes. Der Schrei höchsten Glücks, der sich aus seinem Herzen ringen wollte, erstickte in dem Kuß, in dem sich ihre Lippen fanden.

*

Eine Flugjacht eilt in großer Höhe über Brasilien nach Norden der Amazonasmündung zu. Unter ihr schwindet jetzt die Küste. Die blauen Fluten breiten sich drunten.

Im Pilotenstand ein kleiner alter Mann. Er läßt das Schiff tiefer gehen, stellt die automatische Steuerung auf Kurs Nord zu Nordwest, prüft noch einmal alle Teile der Einrichtung. Dann wendet er sich, geht in die Passagierkabine.

Auf einem Wandbett ein Fluggast in tiefem Schlaf. Der Alte umfaßt mit einem langen Blick die Züge des Schlummernden, als könne er sich nicht sattsehen – dann legt er ihm sanft seine Hand auf die Schulter und küßt ihn.

Der Schläfer scheint zu erwachen. Er schlägt die Augen auf, schaut um sich – schließt sie wieder, deckt sie mit den Händen zu.

Der Traum, der schöne Traum, der ihn umfängt, soll nicht verschwinden vor der furchtbaren Wirklichkeit! Er ist ja im Gefängnis, in Ketten geschlossen! Morgen soll er hingerichtet werden – –

Doch weiter ging der Traum: Arvelin, Vater Arvelin war bei ihm! In seinen Armen wurde er den Kerkermauern entrückt – hinaus in die goldene Freiheit . . . Und was hatte er in der Zelle zu jenem Fremden gesprochen? »Der Narr, der morgen stirbt, William Hogan, ist dein Sohn!« . . . das andere, von einer Vivian – das hatte er nicht verstanden . . .

Der Liegende beginnt aufzuhorchen. Ein Rauschen unter ihm, so vertraut der Klang – wie wenn die Meereswogen unter ihm brausten. Langsam hebt er den Kopf, dann den Oberkörper. Wo ist er? Keine Kerkerwände? Die Hände frei? An ihren Gelenken die Striemen der Fesseln noch deutlich zu sehen – –

Ein Flugzeug, das ihn trägt? Wer ist's, der –? Das Rauschen unter ihm ist stärker geworden. Er springt auf, geht zum Fenster, schaut hinaus.

Das Meer? Kein Land zu sehen. Er stürzt zum Pilotenstand, reißt die Tür auf – prallt zurück.

Leer der Raum! Wo ist der Pilot?

Seine Augen suchen in allen Winkeln der Jacht. Niemand da außer ihm! Er stürzt zum Steuer. Die automatische Steuerung ist eingestellt. Und die Route auf dem Kartentisch, rot eingezeichnet, führt von Florianopolis nach Nordvenezuela. »San Fernando« liest Droste bei scharfem Hinsehen.

Er nimmt das Besteck, stellt den Stand der Jacht fest. Ist das nicht alles Täuschung, Trugbild verstörter Phantasie, so muß er in Kürze die Gestade von Carupano sehen. Er greift zu einem Glas, blickt angestrengt nach Süden. Dort jetzt ein grauer Strich, der größer und größer wird –! Fast hätte er aufgeschrien, denn es sind die ihm wohlbekannten Umrisse der Küste, die da vor ihm auftauchen!

Noch ein Blick auf die Steuerung, dann wankt er in die Kabine, fällt auf das Bett. Nicht länger tragen ihn die zitternden Knie. Sein Auge fällt auf eine Flasche. Er schenkt sich ein, trinkt. Der feurige Wein belebt seine Kraft.

. . . Kein Traum mehr jetzt alles: Er ist frei! Das Übermaß der Freude, des Glückes läßt ihn halb bewußtlos zurücksinken.

Als er wieder zu sich kommt, ist die Sonne ein gutes Stück nach Westen weitergegangen. Er eilt in den Führerstand, schaut nach unten.

Die Kämme der Küstengebirge von Venezuela liegen hinter ihm. Zu seinen Füßen breitet sich ein großer Urwald. Er reißt das Glas vor die Augen: Dort grüßen die Türme von San Fernando!

Ein kurzes Überlegen – dann stellt er das Steuer um in Richtung auf La Venta. Sieht wenige Minuten darauf dessen weiße Mauern aus dem dunklen Grün der Bäume leuchten.

Doch je näher das Ziel, desto größer die Schwäche in ihm. Mit zitternden Händen bedient er die Apparate – sieht nicht mehr, wie beim Nahen der Flugjacht Menschen aus dem Hause kommen, ihm erwartungsvoll entgegenwinken – –

Er fühlt noch eben, wie die Jacht aufsetzt. Die Tür wird von außen aufgerissen. Wildrakes Stimme schreit ihm in höchster Überraschung entgegen: »Medardus Droste, wo kommst du her?«

Da schwindet der Rest seiner Besinnung . . .

*

Seit Tagen kam außer dem Arzt niemand mit William Hogan in Berührung. Aus Florianopolis nach Hause gebracht, war er in ein schlimmes Fieber verfallen.

Der Arzt wußte sich keinen Rat. Eine seelische Erschütterung schwerster Art mußte Hogan getroffen haben. Sein Zustand war schwankend: Stunden tiefster Lethargie wechselten mit wilden Fieberdelirien. In unzusammenhängenden, unverständlichen Worten schrie er nach seinem »Sohn«. Nannte ihn bald Medardus Roßmore, bald Medardus Hogan. Man solle ihn zu ihm bringen!

Der Arzt hatte mit José, Hogans langjährigem Diener, gesprochen. Der schüttelte den Kopf. Sein Herr hatte nie einen Sohn gehabt. Die Ehe mit Maria Potter war kinderlos.

Dann wieder, als übermanne ihn die Ungeduld, wollte der Kranke aus dem Bett springen, wollte selbst zu Medardus, seinem Sohne, eilen. Wurde er dann mit Gewalt wieder aufs Lager gebracht, so fing er an zu jammern und zu klagen.

». . . Medardus ist krank – gefangen! Er muß sterben, wenn ich ihn nicht befreie – rette –!«

In anderen Stunden wieder rief er nach seiner geliebten Vivian. Worte liebevollster Zärtlichkeit wechselten dann mit beschimpfenden Anklagen seiner selbst.

Schauerlich klang's, wenn er immer wieder schrie: »Ich bin dein Mörder, Vivian! Doch du wurdest gerächt! Freudlos, glücklos mein Leben an der Seite Maria Potters – ihr Schoß unfruchtbar – keinen Erben konnte sie mir schenken. Der, den du, Vivian, mir gabst – wo ist er? – Komm zu mir, Medardus, daß ich dich umarme! All meinen Reichtum will ich dir . . . Nein! Meine Liebe – nicht den Reichtum – – denn nur Unglück brachte er mir!

Was ich empfing aus Maria Potters Hand, vermehrte ich tausendfach. Wäre Reichtum Glück – tausendfach glücklicher hätte ich ja werden müssen! Statt dessen: Nicht reicher – ärmer an Glück bin ich geworden von Tag zu Tag. Oh, über euch Toren, die ihr William Hogan, den reichsten Mann Brasiliens, beneidet! Wüßtet ihr, wie leer und einsam mein ganzes Leben hier vom ersten Tage an war!

Die einzigen glücklichen Stunden in meinem Leben waren die mit Vivian Doherty. Doch die Erinnerungen daran vergiftete das Bewußtsein meiner Schuld – der furchtbaren Schuld, die mich nie zur Ruhe kommen ließ, die mich gepeinigt, gestraft hat, wie ärger nicht die Hölle es kann!

Als einziger Trost, mein Unrecht zu sühnen, bliebe, daß ich Vivians Sohn vor aller Welt als William Hogans Erben anerkenne. Wenn der die Arme um mich schlänge, mich ›Vater‹ nennte – – vielleicht könnt' ich dann den Rest meiner Tage weniger freudlos, weniger kummervoll verbringen. Medardus, mein Sohn! Komm zu deinem Vater!«

Flehend stammelten seine Lippen es immer wieder. »Medardus! Wer taufte dich so? Medardus, der Name des Gründers des Geschlechts von Roßmore – wer gab ihn dir? Wer wußte von meiner Liebe zu Vivian Doherty? Wer weiß, daß Medardus mein Sohn ist?

Die Stimme, die im Gefängnis zu mir redete – war's die eines Menschen? Nein! Keiner außer mir und Medardus weilte in der Zelle. War's eine innere Stimme, die die Worte sprach: ›Der Narr, der morgen stirbt, William Hogan, ist dein Sohn!‹«

Der Ring am Finger des Gefangenen – der Wappenring der Roßmore? – Kein Sterblicher hat von jener Stunde gewußt, da Vivian in seinen Armen gelegen, sein geworden war – und er ihr den Ring als Unterpfand der Treue gegeben – –

Der Ring, jetzt ein furchtbarer, unerbittlicher Mahner seiner Schuld – wie kam er an die Hand des zum Tode Verurteilten?

Mit einem Wehruf der Qual sank Hogan erschöpft in die Kissen. – – –

»Unmöglich, mein Herr! Senhor Hogan ist krank, kann keinen Besuch empfangen.«

Der Diener José sprach's zu einem alten, unscheinbaren Manne, der in der Halle des Hauses vor ihm stand.

»José, wenn Ihnen das Wohl Ihres Herrn am Herzen liegt, so lassen Sie mich zu ihm!«

Der Diener schüttelte bekümmert den Kopf. »Unmöglich, mein Herr!«

Der Alte zögerte, nahm dann einen Ring aus der Tasche, gab ihn dem Diener. »Bringen Sie diesen Ring zu Ihrem Herrn! Der Überbringer warte seiner Bitte, ihn zu sehen.«

Erstaunt trat der Diener einen Schritt zurück. Die Worte des Alten – wie sonderbar klangen sie! Sein Herr sollte bitten, daß dieser unscheinbare, kümmerliche Besucher zu ihm käme?

Wie unter einem Zwang nahm er den Ring, schritt nach oben. –

»Er soll zu mir kommen! Sofort!« gellte die Stimme Hogans. »Wo ist der Mann, der den Ring brachte? Warum kommt er nicht?«

Der Kranke war aus kurzem Schlummer erwacht. Der Ring, an den er eben noch gedacht, lag nun plötzlich in seiner Hand?! Er sah das Roßmore-Wappen wieder vor seinen Augen?

Verschwunden alle Schwäche. Unfähig, seine Geduld zu meistern, schrie er immer wieder: »Er soll zu mir kommen!«

Stand das Ende bevor? Oder war sein Herr genesen? Spornstreichs rannte José die Treppe nach unten.

»Kommen Sie, mein Herr! Rasch – rasch – sonst stirbt Senhor Hogan! . . . Was ist's? Was bedeutet der Ring? – Kommen Sie schnell!«

Er lief dem Besucher voraus. Hogan hatte sich in den Kissen aufgerichtet, blickte zur Tür.

»Der Herr, der den Ring brachte – hier ist er, Senhor Hogan!«

José deutete auf den alten Mann, der jetzt langsam ins Zimmer trat und an Hogans Bett sich niedersetzte.

Der Diener ging hinaus, schloß die Tür . . . Blieb stehen – bereit, jeden Augenblick sie wieder aufzureißen, um seinem Herrn zu Hilfe zu kommen.

Doch aus dem Zimmer drang nur die Stimme des seltsamen Gastes, der in ruhigem, gemessenem Tone sprach und immer weitersprach . . .

Jetzt endlich auch Hogans Stimme. Doch wie ganz anders klang sie! Klang, wie José sie in den vielen langen Jahren, die er hier bedienstet war, noch nie gehört zu haben glaubte. Klang so weich, so glücklich – wie von erlösendem Weinen unterbrochen – –

Ja! William Hogan weinte. Seine Arme waren um die Schulter des Alten geschlungen, seine Lippen stammelten Worte des Glücks, der Freude.

Leise klinkte José die Tür auf, sah in frohem Staunen auf die beiden. Der Herr bedurfte seiner nicht! Unhörbar, wie er eingetreten, glitt er wieder zurück.

Hörte noch, während die Tür sich schloß, den Ausspruch des Alten: »Nicht mehr lange, dann wirst du Vivians Sohn in deine Arme schließen!«

*

La Venta lag im Schein der Morgensonne. Unter einem schattigen Baum des Gartens ruhte Droste in einem Liegestuhl. Maria breitete zum Schutze gegen die Morgenkühle sorgsam eine Decke um den Freund.

Ein paar sorgenvolle Tage lagen hinter ihnen. Droste war, kaum von Wildrakes Armen aus dem Flugzeug in das Haus gebracht, in eine Nervenkrise verfallen. Zu groß der plötzliche Umschwung seines Geschickes, als daß nicht auch seine starke Natur schwer erschüttert worden wäre. Die liebevolle Pflege Marias und Wildrakes ließ ihn den Anfall glücklich überstehen. Seit gestern hatte sich sein Befinden so gebessert, daß er heut zum erstenmal ins Freie gebracht werden konnte.

»Versuche jetzt ein Stündchen zu schlafen, Medardus! Dann werden wir wiederkommen, dich erfrischt und wohl finden!« sagte Wildrake.

Mit freundlichem Winken ließen sie Droste allein. Der schloß die Augen, versuchte zu schlafen . . .

Unmöglich! Die Stürme, die in den letzten Tagen über ihn hinweggebraust, waren noch nicht verebbt. Immer wieder hafteten seine Gedanken an den Worten, die in der Zelle an sein Ohr gedrungen.

»Der Narr, der morgen stirbt, William Hogan, ist dein Sohn!«

. . . William Hogan sein Vater? Seine Erinnerungen gingen zurück nach Winterloo. Er wußte, daß der Name »Droste« ihm von seinen Pflegeeltern gegeben worden. Wie er wirklich hieß, ahnte ja niemand. Als Kind war er, einziger Überlebender eines untergegangenen Schiffs, in einem unbemannten Boot von den Wogen ans Land geworfen worden. Das einzige Zeichen, das eine Erkennung möglich machte, blieb ein Wappenring, den ihm, als er erwachsen war, Vater Arvelin als sein Eigentum gab. Wo war der geblieben? Hatte man ihm bei seiner Einlieferung ins Gefängnis den Ring weggenommen? Seine Augen starrten sinnend über die grüne Rasenfläche.

Da kam ein Mann auf ihn zugegangen, eine hohe, kräftige Gestalt, die Schultern wie vom Alter leicht gebeugt. Eine dunkle Erinnerung stieg in Droste auf. Dieses Gesicht, diese Augen – hatte er sie nicht schon einmal gesehen? Fragend schaute er den Fremden an, der vor ihm stehengeblieben war und ihn unverwandt betrachtete.

Unwillig wollte Droste ihn anrufen, doch er unterließ es, als er die Veränderung sah, die sich auf dem Gesicht des Fremden vollzog. Ein paar Tränen rollten langsam über dessen Wangen. Der Mund zuckte wie in verhaltener Wehmut. Die Hände, bisher krampfhaft ineinandergeschlungen, lösten sich, streckten sich Droste entgegen. Wankend trat der Fremde neben ihn, kniete an seiner Seite, bettete den Kopf an seine Schulter.

»Medardus, mein Sohn! Ist's möglich, daß mir solch Glück noch blüht, meine Arme um Sohnes Schultern zu schlingen?«

Droste machte eine scheue Bewegung, als wolle er sich wegwenden – hielt inne. Wieder klang jener rätselhafte Ruf in der Zelle an sein Ohr. Eine Stimme in seinem Innern ließ ihn erschauern. Und schweigend duldete er, daß der Fremde seine Arme um ihn legte und in zitternder Rührung zu ihm zu sprechen begann.

Die ersten Worte ihm kaum verständlich. Eine Mischung von Selbstanklagen und von Vorwürfen gegen einen anderen. Dazwischen wieder und wieder der Name »Vivian Doherty«.

Droste erfaßte nicht den Sinn des Gestammelten. Nur dieser eine Name, der immer wieder zu ihm drang, klang in seiner Seele weiter.

»Vivian . . . Mutter!« kam es flüsternd von seinen Lippen.

Die Arme, die ihn umfaßten, schlangen sich fester, inniger noch. »Ja! Vivian ist deine Mutter! Ich . . . bin dein Vater! Wir hatten einander Treue geschworen. Ich liebte sie, wie ich in meinem Leben nie wieder einen Menschen geliebt habe. Und doch hielt ich ihr nicht die Treue um schnöden Geldes willen!«

Von seiner Erregung übermannt, hielt der Fremde einen Augenblick inne. Fuhr dann mit kaum hörbarer Stimme fort: »Den Ring hier« – Er zog den Goldreif mit dem Roßmore-Wappen von seinem Finger – »gab ich einst deiner Mutter als Unterpfand meiner Treue – die ich brach. Ein Wesen, von Gott gesandt, brachte ihn mir wieder als Beweis für seine Worte, daß mir Vivian Doherty einen Sohn geboren, den man Medardus taufte. Er hatte ihn von Vivians Hand genommen, die sterbend mir verzieh, um ihn dereinst ihrem Sohn zu geben, wenn er ein Mann geworden. Du trugst den Ring viele Jahre bis zu der Nacht vor dem Morgen, an dem du – –«

Die Stimme versagte ihm. Sein Kopf lag an Drostes Schulter. Der hielt sich, überwältigt von dem, was da auf ihn eindrang, kaum noch aufrecht. Der Fremde hier neben ihm sein Vater? William Hogan, der ihnen allen schlimmster Feind gewesen? Konnte das Schicksal das wollen? Den Mann, den er stets gehaßt, sollte er Vater rufen?

Vater! Wie ganz anders klang dies Wort, wenn er an Arvelin dachte! Seine Gedanken flogen zu ihm hin . . . Doch war es nicht, als stände der gütig lächelnd an seiner Seite und redete ihm vertrauensvoll zu?

»Ja, es ist wahr, Medardus: William Hogan ist dein Vater! Wird er dich auch nicht mehr lieben können als ich, so laß seine Liebe deshalb nicht unerwidert! Gib ihm, was dein Herz zu geben vermag! Laß die Stimme des Blutes, das dich mit ihm verbindet, nicht ungehört verhallen, wenn sie zu dir spricht!«

Ich Blut von William Hogans Blut?! Droste erbebte, wandte sich scheu seinem . . . Vater zu. Und sah zwei Augen, die ihn bittend in ängstlicher Erwartung anschauten. Unwillkürlich hob Droste die Rechte – und William Hogan ergriff sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Rührung und Freude, preßte den Finger, der Vivians Ring trug, an seine Lippen.

Droste durchrann ein seltsames, ungekanntes Gefühl: Vatermund, der ihn zum erstenmal geküßt – –

Doch es war der Aufregung zuviel für ihn. Wie betäubt sank er zurück. Seine Augen schlossen sich, ein glückliches Lächeln umspielte seinen Mund. – –

Erstaunt blickten Maria und Wildrake, als sie zurückkamen, auf den Fremden neben ihrem Gefährten. Wildrake wollte fragen – da erhob sich der Unbekannte.

»Ich bin William Hogan – und dieser hier ist mein Sohn, der fortan Medardus Hogan heißen wird!«

*


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