Hans Dominik
Die Spur des Dschingis-Khan
Hans Dominik

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Vor einem mit Plänen bedeckten Tisch saß General Bülow, neben ihm der russische Oberst Popoff. Wie zwei Schachspieler bewegten sie kleine, bunte Nadelfähnchen auf den Karten hin und her. Ihr lebhafter Disput bewies, daß sie sich über die endgültige Stellung der Fähnchen keineswegs einig waren.

Seitdem die Lage an der chinesischen Grenze sich zuzuspitzen begann, hatte das Hauptquartier in Petersburg den Obersten mit einigen anderen Offizieren dem Generalstabe der E. S. C. Truppen attachiert. Für den Kriegsfall unterstanden die militärischen Streitkräfte der E. S. C. dem vereinigten europäischen Oberkommando.

Der früher so lange Zeit hindurch als Ideologie abgetane Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa war unter dem Druck der Weltgeschehnisse wenigstens zu einem Teil verwirklicht worden. Zwar war kein Staatsgebilde im Sinne der amerikanischen Union zustande gekommen. Aber die Solidarität der europäischen Völker fand bei voller Wahrung der nationalen Selbständigkeiten und Eigenarten wenigstens dadurch Ausdruck, daß bei Fragen der großen Weltpolitik nicht jeder einzelne kleine Staat, sondern Europa als geschlossenes Ganzes auftrat und handelte.

Hinter den Kulissen war freilich ein steter Kampf um die Stellung des primus inter pares. Rußland glaubte in erster Linie Anspruch darauf zu haben. Dabei kam ihm zustatten, daß der Schwerpunkt der militärischen Angelegenheiten in Petersburg lag, da Rußland mit Rücksicht auf sein großes Gebiet und dessen historisch providentielle Lage gegen Osten die numerisch größte Heeresmacht unterhielt.

Schon unter dem Kommando des Generals Effingham war das Verhältnis zum Petersburger Hauptquartier nicht reibungslos gewesen. Der temperamentvolle Bülow war fast ständig auf Kriegsfuß mit dem Oberkommando. Dessen Anordnungen erfolgten stets unter dem Gesichtspunkt, unbedingt die sibirischen Grenzen zu schützen, während Bülow in erster Linie darauf bedacht war, die turkestanische Grenze zu sichern.

Für Rußland waren die gewaltigen Gruben- und Industrieanlagen im Gebirgsstock des Altai von größter Wichtigkeit. Ihre Vernichtung durch etwa plötzlich vorstoßende Luftstreitkräfte der Gelben war daher mit allen Mitteln zu verhindern. Die starken Kriegsgeschwader Rußlands waren deshalb nach den Anordnungen des Petersburger Oberkommandos ausschließlich zur Sicherung der sibirischen Südgrenze angesetzt und nur die schwächeren Geschwader der anderen europäischen Staaten zur Verteidigung der turkestanischen Grenzen bestimmt.

Gegen diese Kräfteverteilung kämpfte Bülow schon seit langem. Immer wieder versuchte er es durchzusetzen, daß die Hauptkräfte auf die turkestanische Linie konzentriert wurden.

Die Gebirgszüge des Thian-Schan, Alatau und Tarbagatai boten an sich eine gewaltige, kaum überschreitbare Schutzmauer. Jedoch nur so lange, als es gelang, die drei Durchgangspforten abzuriegeln. Der Übergang von Kaschgarien nach Ferghana war verhältnismäßig leicht durch Sprengung der Kunstbauten an der Gebirgsbahn Kaschgar–Osch zu sperren. Viel größere Schwierigkeiten bot die dsungarische Pforte, jenes Tor, durch das sich schon einmal im Mittelalter die mongolischen Schwärme über Europa ergossen hatten. Der dritte gefährliche Punkt aber blieb die chinesische Angriffsbastion, das Ilidreieck.

Ein großartig angelegtes Bahnnetz, das von Chami aus strahlenförmig zur Grenze führte, gab hier den Gelben Gelegenheit, ihren Nachschub schnellstens durch die offenen Pässe zu leiten.

Der Kirgisenaufstand im Siedlungsgebiete hatte Europa notgedrungen den Anlaß gegeben, seine Streitkräfte im Osten zu verstärken. Während die russischen Abteilungen in Sibirien in volle Bereitschaft gebracht wurden, sammelten sich jenseits des Urals Teile der vereinigten westeuropäischen Heere.

Aber die immer noch divergierenden Einflüsse der verschiedenen europäischen Kabinette ließen gründliche und umfassende Maßnahmen, wie die Lage sie erfordert hätte, nicht zu. Ein überraschender Angriff von chinesischer Seite nach Westen hin hätte mit den vorhandenen Mitteln nicht lange aufgehalten werden können. Bülow verlangte daher immer wieder, daß wenigstens das Gros der russischen Luftflotte zur Verteidigung der turkestanischen Grenze angesetzt würde.

Jetzt, nach einem letzten langen Kampf mit dem Obersten Popoff sah er das Vergebliche seiner Bemühungen ein.

»Meine Meinung von Ihnen, Herr Oberst, ist viel zu hoch, als daß ich annehmen könnte, Sie billigten die Pläne des Hauptquartiers. Ihre Gegenargumente trugen so wenig den Stempel der Überzeugung, daß es eines besseren Beweises für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht bedarf. Wenn nicht in kurzer Zeit erhebliche Verstärkungen aus Westeuropa ankommen, stehe ich hier auf einem verlorenen Posten. Gnade Gott den Siedlern und ihrem Land!«

»Sie sehen zu schwarz, Herr General«, erwiderte der Oberst, indem er seine Verlegenheit nur schlecht verbarg. »Ist es doch noch ganz ungewiß, ob und wann die Gewitterwolke zur Entladung kommt. Übrigens sind, wie mir vor kurzem gemeldet wurde, starke deutsche Truppenmassen vom Ural her im Anfliegen. Darunter viel Spezialtruppen für den Gebirgskrieg.«

»Natürlich! Deutsche Soldaten allzeit vorneweg!« brummte Bülow vor sich hin.

»Sichern Sie hauptsächlich das Ilital, Herr General. Für das Irtyschtal können Sie im Falle der Not auf russische Verstärkungen rechnen.«

»Das Ilital! Sehr schön, Herr Oberst«, entgegnete Bülow in bitterem, sarkastischem Ton. »Ich könnte es, wenn ich mehr Flugschiffe hätte. So werde ich voraussichtlich das Siebenstromland preisgeben müssen.«

Sein Adjutant trat ein und überbrachte ihm eine Karte. »Georg Isenbrandt« las er. Ging hinaus, um ihn zu empfangen.

Der streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn.

»Immer noch die gefurchte Stirn, Herr General?«

»Man verliert die Lust, Herr Isenbrandt, wenn man immer wieder gegen Unvernunft und Eigennutz anrennt.«

»Kommen Sie mit mir, Herr General! Zu einem kleinen Gang ins Freie. Vielleicht sehen Sie danach etwas freundlicher aus.«

»Gern, Herr Isenbrandt. Trotz der sommerlichen Wärme kann es mir draußen auch kaum heißer werden als hier drinnen über der Karte.«

Sie verließen die Stadt und schlugen den Weg zu einer kleinen Anhöhe ein, von der man nach allen Seiten einen freien Blick hatte. Weithin sichtbar dehnte sich die in voller Frühlingspracht stehende Landschaft vor ihnen aus. Nicht umsonst galt das Siebenstromland als die Riviera Westsibiriens. Lange ruhten die Blicke der beiden auf dem gottgesegneten Flecken Erde da vor ihnen.

»Wieder war mein Kampf umsonst, Herr Isenbrandt, dieses Paradies vor dem Untergang zu bewahren. Der Russe will keine Vernunft annehmen. Solange es geht, werde ich es zu verteidigen suchen. Aber ich weiß bestimmt, daß ich eines Tages das ganze Gebiet bis zum See hin räumen muß. Bei Telek will ich den Gelben ein Thermopylen errichten. Denn ich glaube nicht, daß ich es länger als eine Woche halten kann. Ist dann nicht genügend europäische Hilfe da, dann werden die gelben Horden über die Leichen der Verteidiger hinwegstürmen. Die Bewohner müßten schon jetzt zur Räumung veranlaßt werden. Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte uns das alles ersparen könnten. Vermögen Sie nicht noch einen letzten Schritt zu tun?«

Er blickte auf und sah, daß Isenbrandt ihm kaum zugehört haben konnte. Dessen Auge hing wie weltverloren an den fernen grauen Kämmen des Gebirges. Minuten verstrichen. Dann fielen die Worte von Isenbrandts Lippen:

»Nein, Herr General! Nein! Nichts wird von dem geschehen, was Sie befürchten!«

»Sie sagen? . . . Herr Isenbrandt! . . . Was? . . . Was sollte es verhindern? Haben Sie andere, bessere Nachrichten aus dem Hauptquartier als ich?«

Isenbrandt schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr General! Mit eigener Kraft, ohne Hilfe der andern werden wir das Land schützen und den Feind abwehren.«

Georg Isenbrandt sprach nicht weiter, als müsse er sich besinnen. Den General drängte es zu fragen. Aber ein Blick auf die Züge des Ingenieurs ließ die Frage verstummen. Da begann dieser wieder zu sprechen. Fast befehlsmäßig klangen seine Worte.

»Sie werden, Herr General, alles, was an schnellen Flugzeugen zu Ihrer Verfügung steht, ohne Rücksicht auf die Ladefähigkeit hier in Wierny konzentrieren und zu kleinen Geschwadern zusammenstellen. An dem Tage, an dem es gilt . . . ich werde ihn bestimmen . . . werden Sie von einem Orenburger Schiff der Kompagnie die Ladungen für diese Geschwader empfangen. Die Geschwader werden die Grenze überfliegen. Jedes Geschwader bekommt vor dem Abflug sein bestimmtes Ziel . . . und das Ziel wird sein . . . Wasser . . . ob See . . . ob Fluß . . . Wasser überall dort, wo gelbe Streitkräfte in größeren Mengen marschieren oder versammelt sind . . .«

»Wasser? . . . Wollen Sie dampfen? . . . Dynothermdampf?«

Isenbrandt überhörte die Frage.

»Kämpfe sind nur anzunehmen, wenn es zur Erreichung des Zieles unvermeidlich ist.«

»Das dürften nicht viele sein, die gegen die Übermacht ihr Ziel erreichen.«

»Ich rechne zehn Prozent«, kam es kalt von den Lippen Isenbrandts. »Das wird genügen.«

»Und dann? . . . Was wird dann geschehen?« drängte der General, indem er an Isenbrandt herantrat.

»Es wird geschehen . . .«

Einen Augenblick stand Georg Isenbrandt wieder wie geistesabwesend. Dann neigte er seinen Mund zu dem Ohr des Generals und sprach zu ihm . . . flüsternd, als fürchte er, der Wind könne die Laute an menschliche Ohren tragen.

Und während er sprach, trat ein Grauen in die Augen des Generals. Sein Fuß zuckte, als wolle er zurückweichen vor diesem Manne . . . diesem Unheimlichen. Sein Herz schlug, wie es in der schwersten Schlacht nie geschlagen. Er fühlte, wie ein Zittern von seinen Füßen nach oben stieg, wie seine Knie wankten.

Sein Auge starrte auf die frühlingsprangende Landschaft, als sähe er die fürchterlichen Bilder der Vernichtung, des Todes . . . des weißen Todes . . . und dann war es still an seinem Ohr.

Mit Gewalt raffte er sich zusammen. War das ein Mensch, der zu ihm gesprochen? . . . War es ein Gott? . . . Ein Teufel? . . .

Er warf einen schrägen Blick hinüber zu dem anderen. Der stand starr. Wie aus Marmor gehauen die bleichen, kantigen Züge. Die Augen regungslos in die Ferne gerichtet. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt.

»Es wird geschehen, wie Sie es befehlen«, kam es da von den Lippen des Generals.

»Noch heute! Sofort! Lassen Sie die Befehle hinausgehen! Kommen Sie!«

Sie schritten der Stadt zu. Erst im Gehen gewann der General seine alte Ruhe wieder. Was ihm im ersten Augenblick so unfaßbar, so furchtbar erschien, das und seine Folgen hatte sein Geist jetzt voll erfaßt. Sein Schritt wurde schneller, je näher sie der Stadt kamen. Jetzt drängte es ihn, das befohlene Werk zu beginnen.

»Ja, Herr Isenbrandt, jetzt kann ich ja unbesorgt die Kräfte hier am Ili verstärken, um endlich dem Bandenwesen ein Ende zu machen. Die Kirgisen wechseln hin und her, als ob es keine Grenze gäbe. Das soll jetzt aufhören.«

»Sie können das unbesorgt tun . . . Untersuchen Sie die Gefangenen recht genau! Stellen Sie fest, wieviel reguläre chinesische Truppen unter diesen irregulären Banden sind. Ich fliege in einer Stunde nach Orenburg . . . das heißt offiziell. Ihre Telegramme erreichen mich unter meiner alten Geheimadresse in Berlin.«

* * *

»Der Kaiser . . . der Sohn des Himmels . . . tot.«

Um die Mittagstunde war es dem chinesischen Volke kundgegeben worden. Bis in die entferntesten Teile des Landes hatte der Telegraph die Nachricht verbreitet. Ein schwüles Zucken war durch die Glieder des Riesenreiches gegangen. Und während noch die Herzen der Millionen unter dem Eindruck der Ereignisse standen, kam die zweite Botschaft:

»Schanti, Toghon-Khan, der Herzog von Dobraja, ist Regent.«

Da regte es sich stärker, lauter im Lande. Veraschte Glut wollte sich wieder entfachen. Gefesselte Hände zerrten an ihren Banden. Gefesselte Zungen wollten sprechen. Und dann war es wieder still wie am Tage zuvor.

In der Nacht, die dazwischen lag, hatte die Faust des Schanti schon zugegriffen. Was gegen ihn war, befand sich in den Händen seiner Häscher. Die Stimmen der führerlosen Gefolgschaft wurden schwächer, und dann verstummte alles vor der Wucht der neuen Losung:

»Krieg den Europäern!«

Wie ein Steppenfeuer lief es durch die weiten Ebenen des Reiches und entflammte alle Geister.

Wer hatte die Parole ausgegeben? Niemand wußte es. Die neue Regierung schwieg. Schwieg auch, als die Vertreter der fremden Mächte sie interpellierten.

Und dann schallte es weiter und fand sein Echo auf der ganzen Erde . . . Krieg!?

Es war um die sechste Morgenstunde desselben Tages. Toghon-Khan saß im großen Beratungszimmer des Palastes. Die fensterlosen Wände waren bedeckt mit großen und kleinen Karten. Die langen, niederen Tische waren verborgen unter den Stößen von Papieren und Plänen.

Die kleine Gestalt des Regenten verschwand fast in dem großen Sessel, in dem sie zusammengesunken lag. Er schien zu schlafen. Die Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepreßt. Die ganze Nacht hatte er allein in dem Raume zugebracht. Ruhelos war er von einer Karte zur anderen geschritten, immer wieder die Stellung der kleinen Nadelfähnchen prüfend und vergleichend, immer wieder Zahlenkolonnen zusammenstellend und gegeneinandersetzend.

Bis endlich die Worte sich von seinen Lippen lösten:

». . . So muß es gehen! . . . So wird es gehen . . . so geht es!«

Dann hatte er sich in den Sessel geworfen und versucht, in kurzem Schlaf Erholung zu finden . . . Um sieben Uhr waren seine Generale zu ihm befohlen.

Doch vergeblich suchte er den Schlaf. Die Flut der rastlos arbeitenden Gedanken ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Druck der übermenschlichen Verantwortung peitschte seine Nerven immer von neuem auf. In ihm war das Leben, die Macht, die Zukunft des größten Volkes der Erde verkörpert.

Mit halbgeschlossenen Lidern blickte er vor sich hin. Der Schlaf wollte die Herrschaft über ihn gewinnen. Nur noch undeutlich sah er die Papiere auf den Tischen . . . weiße Flächen . . . weite, weiße Flächen . . .

Da . . . seine Hände umkrampften die Lehnen, sein Oberkörper beugte sich vor.

Schnee! . . . Schnee? . . .

Er fiel in den Sessel zurück und preßte die Hände auf die Augen.

Was war das damals am Tage des Einzuges des Kaisers? Schwerer Schnee aus lichtem Frühlingstag . . . Hatte er nicht selbst die Flocken auf seiner Hand zergehen sehen? Bis auf die eine, die am Ringe des Dschingis-Khan solange haften blieb . . . und seinen Glanz trübte.

War es ein Zeichen des Himmels? War alles Menschenwerk? . . . Werk dieses einen da drüben? Dann . . .

Mit jähem Ruck riß er sich empor, die Augen weit geöffnet. Das Weiße vor ihm gewann feste Gestalt, es waren die weißen Papiere, die dort auf den Tischen lagen. Nervös fuhr er sich über die Augen.

Hinweg mit der Furcht! . . . Menschenwerk? . . . Nein! Kein Mensch würde jemals so tief in die Geheimnisse der Natur eindringen . . . Kein Mensch jemals die Folge der Zeiten verändern können.

»Zuviel habe ich gearbeitet in den letzten Wochen . . . zuviel war es, was meine Nerven spannte. Ruhe brauche ich . . . die Ruhe wird kommen, wenn der Würfel gefallen ist.« Seine Faust schlug auf das Papier. »Weg damit! . . . Zur Tat!«

Er drückte auf den Bronzeknopf. Ein Adjutant trat ein.

»Die Generale!«

Sie traten in den Raum. Die in so vielen Kämpfen erprobten Führer. Die Feldherren des großen Kubelai-Khan. Seine Kampfgenossen.

Sie verneigten sich tief . . . vor dem Ringe des Dschingis-Khan, der auf der Hand des Regenten gleißte. Toghon-Khan setzte sich. Schweigend nahmen die anderen ihre Plätze ein.

»Unser großer Herr, der allmächtigste Kaiser . . . die Kinder seines Reiches werden die Kunde vernehmen, daß er zu seinen Ahnen gegangen ist. Alle Herzen der Guten werden trauern und weinen . . . und klagen.«

Lautlos neigten die Generale die Häupter. Der Regent fuhr fort:

»Die wenigen Bösen, sie dürfen die Trauer der Guten nicht stören. Ihre Zunge muß verstummen. Ihre Hände müssen daniedergehalten werden . . . Habt ihr dafür gesorgt?«

Sein Blick glitt prüfend über die Versammelten.

»Es ist geschehen!« kam die Antwort.

»So sind unsere Hände frei, um das große Werk, das der Kubelai-Khan begann, zu vollenden?«

»Sie sind es!«

»Das Schiedsgericht über das Ilidreieck hat gegen uns entschieden! . . . Heute nacht kam die Nachricht zu meinen Händen. Daß es so kommen würde, wußtet ihr alle. Ein teures Glied des Reiches, ein Land unserer Stammesgenossen, umstritten in tausend Kämpfen, soll von uns gerissen werden. Wir werden das nicht dulden!«

Er machte eine Pause und blickte in die Runde. Nur das Funkeln der Augen verriet ihm die Bewegung, die in allen lebte.

Der Regent fuhr fort:

»Die Antwort an Europa, in der wir dem Schiedsgericht die Anerkennung verweigern, liegt bereit. Wir könnten es darauf ankommen lassen, ob sie es wagen, sich ihre Beute mit Gewalt zu holen. Ich bezweifle es sehr. Die Kompagnietruppen wären zu schwach. Die Russen allein denken nicht daran . . . und das vereinigte Europa?«

Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Der große Kaiser tat diese Frage stets mit einer Handbewegung ab. Er, der das Ziel seines Lebens darin sah, alle verstreuten Kinder der gemeinsamen mongolischen Mutter zu vereinen.

Seine Pläne waren zur Entscheidung reif, als ihn die Kugel traf. Als er auf seinem Sterbebett lag und um die Zukunft des Himmlischen Reiches bangte, da suchte er nach einem, der stark genug wäre, sein Werk zu vollbringen. Und er sprach mit mir . . . und er gab mir den Ring . . . und ich schwur ihm, das Werk zu tun.

Die Zeit ist gekommen! Morgen fällt die Entscheidung in Amerika. Sie wird das Signal sein für den Kampf aller Rassen gegen die Weißen. Wir stehen nicht allein.

Die Europäer haben es gewagt, uns eine Drohnote zu schicken, weil Brüder von uns den um ihre letzten Lebensmöglichkeiten kämpfenden Kirgisen zu Hilfe geeilt sind. Ich habe ihnen geantwortet, daß das Unrecht auf ihrer Seite liegt, und meinerseits gedroht, auf die Seite der Unterdrückten zu treten, wenn die grausamen Verfolgungen nicht sofort aufhören. Als Antwort hat man gestern über zweihundert dieser Freiheitskämpfer an der Grenze des Kuldschagebietes erschossen. Neuer Hohn zu altem Hohn!

Unsere Geduld ist erschöpft! Wir werden marschieren!«

Unbewegt, ohne das geringste Mienenspiel hatten die Generale den Worten des Regenten gelauscht, hatten jede Regung, jede Bewegung unterdrückt.

Die letzten Worte »Wir marschieren!« zerbrachen alle diese Bande einer gekünstelten Ruhe.

Laute Rufe der Zustimmung schallten dem Regenten entgegen. Im Nu war er umringt.

»Du bist Toghon, der große Diener des Kaisers . . . der Vollbringer seiner Pläne . . . wir folgen dir, wohin du uns führst . . . wir gehen, wohin du uns zu gehen befiehlst . . .«

Ein unmerkliches Lächeln ging über die Züge des Regenten. Der erste Schritt war gelungen. Der Ring an seiner Linken regte sich. Er würde am Tage des Sieges an die Rechte gleiten.

Der Regent wartete still, bis wieder Ruhe im Saale herrschte. Dann sprach er weiter:

»Unsere schwarzen Bundesgenossen werden Kräfte und Mittel unserer Feinde fesseln. Europa wird reichlich in Afrika zu tun bekommen. Die amerikanische Industrie wird in den nächsten Wochen ruhen . . . die russische ein Ziel unserer Luftkräfte sein. Das winzige Europa wird gegen Asien allein stehen. Wer kann da am Siege zweifeln?«

Die siegesfunkelnden Augen der Generale gaben ihm Antwort.

»Morgen wird Europa eine Botschaft übergeben, die alles Gebiet bis zum Aral und Ural für unser Land erklärt!«

Einen Augenblick war es still. Die Größe des Planes ließ die Hörer erstarren. Dann brachen sie los. Sie drängten sich um ihn. Sie knieten vor ihm. Sie küßten sein Gewand und seine Hände.

Mit geschlossenen Augen stand Toghon-Khan, berauscht von dem Gedanken an den Glanz der Zukunft. Dann schritt er zum Tisch und griff einen Stoß der Papiere.

Es waren die Operationsbefehle. Mit kurzen, knappen Worten gab er jedem seine Befehle. In zwei gewaltigen Heeressäulen sollte die gelbe Macht durch das Ilital und die dsungarische Pforte in das Siedlerland einbrechen, während eine dritte nach Norden in Sibirien einfiel, um das russische Industriegebiet am Altai abzuschnüren.

Dann zog er sie vor die Karten, erläuterte ihnen die Stellungen der Nadelfähnchen, zeigte ihnen alle Stellungen und Schwächen der Gegner, bis jeder seine Aufgabe genau erkannt.

Der große Plan war in seinen Grundzügen von einer klassischen Einfachheit. Die komplizierten Details zu seiner Ausführung waren bis aufs kleinste vom Generalstab ausgearbeitet.

»Jetzt kennen Sie Ihre Aufgaben und Befehle. Die Stäbe werden das Weitere veranlassen, übermorgen, am 8. Juli, stehen Sie in Feindesland.«

* * *

In den Morgenstunden des 6. Juli hatte der Wahlkampf in Louisiana begonnen. Je weiter der Tag fortschritt, desto größer wurde die Erregung. Noch niemals seit dem Bestehen der Union hatte eine Wahl die Gemüter so aufgepeitscht und in Spannung versetzt wie diese.

Immer dichter stauten sich die Massen vor den Wahllokalen. Von allen Seiten wurden die neu Ankommenden von den Werbern der beiden Parteien umringt und bearbeitet.

In den Lokalen selbst häuften sich die Zwischenfälle und Proteste. Hundertmal kam es vor, daß Wähler mit falschen Legitimationen zurückgewiesen wurden. Aber Tausende von Malen mochte die Täuschung geglückt sein.

Grotesk komisch waren teilweise die Wege, auf denen die Legitimationen ihre Besitzer gewechselt hatten. Daß sehr viele längst Verstorbene persönlich an der Wahlurne erschienen, war noch das wenigste. Viele andere lagen zwar nicht unter der Erde, aber in irgendwelchen Kneipen bewußtlos unter den Tischen, nachdem sie vorher freiwillig oder auch nachher unfreiwillig ihren Rausch mit ihrer Legitimation bezahlt hatten.

Auch zahlreiche Fälle, in denen die Wähler gewaltsam an der Ausübung ihres Wahlrechts verhindert waren, wurden bekannt. Wo es nicht gelingen wollte, sich der fremden Legitimationen für die eigenen Zwecke zu bemächtigen, waren Wähler kurzerhand ihrer Freiheit beraubt worden.

Alle diese Dinge waren in der politischen Geschichte der Union keineswegs neu. Aber sie traten diesmal mit einer Dreistigkeit und in solcher Zahl in die Erscheinung, daß das Wahlergebnis von vornherein die Anfechtung der unterliegenden Partei herausfordern mußte. Nur eine ungeheure Stimmenmehrheit für eine der beiden Parteien hätte dieser wirklich einen einwandfreien Sieg dokumentieren können.

Als die sechste Abendstunde die Wahl abschloß, war ganz New Orleans auf den Beinen, um so bald als möglich etwas von den Ergebnissen des Wahlkampfes zu erfahren. In dem Zeitungsviertel stauten sich die Massen. Wie die Resultate aus den einzelnen Teilen des Staates einliefen, wurden sie in leuchtenden Darstellungen sofort zur allgemeinen Kenntnis gebracht.

Als die elfte Stunde herannahte, unterschieden sich die Stimmenzahlen für den schwarzen und den weißen Kandidaten nur um wenige Hunderte, die wechselnd bald auf der einen, bald auf der anderen Seite mehr waren. Der Louisiana Advertiser hatte für seine Darstellung die Bilder zweier Barometer gewählt, in denen je eine weiße beziehungsweise schwarze Säule den jeweiligen Stand der Stimmenzahlen anzeigte. Der Mississippi Herald zeigte zwei galoppierende Rennreiter, die auf einem Schimmel beziehungsweise Rappen saßen. Diese Darstellung der mit voller Kraftentfaltung rennenden Tiere wirkte noch aufregender als die erstgenannte.

Bald lagen die Pferde Hals an Hals, bald blieb das eine, bald das andere etwas zurück. Jeder Vorsprung wurde von den Anhängern mit tausendstimmigen Beifallsrufen quittiert, jedes Zurückbleiben mit wütendem Geschrei begleitet.

Findige Unternehmer hatten sich sofort als Buchmacher aufgetan und konnten riesige Einnahmen verzeichnen. Je näher die Stunde der Entscheidung kam, desto größer wurden die Einsätze, desto größer die Erregung über die Ungewißheit des Ausganges.

Von 11 Uhr 30 Minuten an hatte es den Anschein, als würde es ein totes Rennen, so dicht standen die beiden Reiter im Bilde nebeneinander. Da, 11 Uhr 45 Minuten, fiel ganz unerwartet die Entscheidung. Mit einem gewaltigen Ruck schob sich der Rappe vor dem Schimmel durchs Ziel. Das Ziel war durch die Hälfte der gesamten Wählerzahl des Staates gegeben und in dieser bildlichen Darstellung durch einen leuchtenden Pfosten markiert. Wer es überschritt, mußte die absolute Majorität haben.

Die Spannung der vieltausendköpfigen Zuschauermenge entlud sich zuerst in einem orkanartigen Gebrüll. Das lebhaftere Blut der Schwarzen machte sich in afrikanischer Urwaldweise Luft. Sie tanzten, sangen und verhöhnten die Gegner. Dazwischen mischten sich Choräle und laute Dankgebete von gläubigen schwarzen Seelen.

Die Weißen blieben die Antwort auf die Herausforderung nicht schuldig. Auf Worte folgten Schläge. Hier im Zeitungsviertel blieb es bei einfachen Handgemengen. Im Hafenviertel kam es zu richtigen Straßenschlachten mit Verwundeten und Toten.

Die wenigen, die noch weiter auf das Lichtspiel achtgaben, sahen, wie der Rappe gleich nach der Erreichung des Zieles stehengeblieben war, während der Schimmel noch weiter bis unmittelbar an das Ziel heran aufrückte. Bis in die späte Nacht hinein dauerten die Siegesorgien in der aufgeregten Stadt.

Der Morgen des nächsten Tages brachte die Ernüchterung. Jetzt lagen die genauen offiziellen Zahlenergebnisse vor. Der Sieg Josua Bordens gründete sich nur auf eine äußerst geringe Mehrheit. Nahm man die offenkundigen Unregelmäßigkeiten des Wahlaktes dazu, so blieb kein Zweifel, daß der noch in der Nacht abgegangene Protest der Unterlegenen große Aussicht auf Erfolg hatte. Bei der aufs äußerste gereizten Stimmung des ganzen Landes konnte die Regierung, selbst wenn sie es gewollt hätte, gar nicht daran denken, diese Wahl zu bestätigen.

Wenn sie trotzdem die Wahl nicht sofort kassierte, so lag es daran, daß die Vertreter der schwarzen Bevölkerung in eindringlichster, ja drohender Weise auf die ernsten Folgen einer Nichtbestätigung hinwiesen.

Die Erregung hielt die Massen auf den Straßen. Wo immer Zeitungstelegramme zu lesen waren, wurden sie von Scharen Neugieriger umlagert. In den Außenvierteln erneuten sich die Schlägereien des vergangenen Tages. Aber waren sie gestern spontan entstanden, so zeigte sich jetzt ganz unverkennbar eine auf beiden Seiten vorhandene Organisation.

Noch wilder wurden die Szenen, als in der Stunde des Geschäftsschlusses Schreckensnachrichten aus Afrika in die Menge platzten. Ihre Wirkung war am größten auf die Schwarzen.

Aufstand der schwarzen Minenarbeiter im Randgebiet! . . . Aufstand der Schwarzen im Industriegebiet des Sambesi! . . . Neue Aufstände im nordafrikanischen Minengebiet! . . .

Diese ersten lakonischen Alarmnachrichten wurden schnell durch ausführliche Meldungen vervollständigt.

Im südafrikanischen Randgebiet war es zuerst losgegangen. Die schwarzen Grubenarbeiter hatten sich um einer geringfügigen Ursache willen zusammengerottet und die an Zahl schwächeren Weißen vertrieben oder erschlagen. Die aufständischen Haufen hatten erst einmal die Grubenanlagen demoliert. Dann waren sie in die nächsten kleineren Städte gezogen. Hier war es ihnen gelungen, die verhältnismäßig schwachen Polizeitruppen zu verjagen. Danach hatten sie dort eine wahre Schreckensherrschaft etabliert. Nur die Großstädte waren bisher von ihnen verschont geblieben, aber auch sie schienen bedroht.

In Marokko hatte sich der vor kurzem ausgetretene Brand plötzlich wieder entfacht. Wie im Nu hatte das Feuer sich von jenen alten Punkten aus über das ganze nordafrikanische Minengebiet verbreitet. In Marokko, in Tunis, in Algier, überall, wo die europäische Industrie mit schwarzen Arbeitern die Bodenschätze förderte, loderte der Aufstand.

Jede Stunde brachte neue Hiobsposten. Vernichtung von Gruben, von Fabriken . . . von gewaltigen, dort aufgestapelten Rohstoffmengen. Massendesertionen schwarzer Truppen . . . Übergang ganzer Regimenter zu den Aufständischen . . . Schwere Kämpfe mit den weißen Truppen, bei denen diese fast aufgerieben wurden.

Die Feuer, die im Norden und Süden Afrikas aufloderten, schlugen im Sambesigebiet zusammen. Die großen Kraftwerke gesprengt! . . . Die Energiequelle für das ganze Industriegebiet verschüttet. Die riesigen Turbinen zerstört, in denen die zehn Millionen Pferdestärken der Sambesifälle zur Nutzarbeit gezwungen wurden. Eine gewaltige, den Europäern dienstbare Industrie auf unabsehbare Zeit lahmgelegt. Die geringe weiße Bevölkerung durch Massaker restlos aufgerieben.

Den Telegrammen folgten ausführlichere Berichte. Sie ließen die Größe der Gefahr erst im vollen Umfange erkennen.

Der Bericht über den Untergang der großen Sambesizentrale brachte grauenvolle Einzelheiten. Die Aufrührer waren nicht ohne Sachkunde vorgegangen. Zu sehr waren sie in die Technik der Weißen eingeweiht. Sie hatten das alte Mittel des Dynamits gegenüber Maschinen verschmäht, diese Sprengstoffe für die weißen Gegner reserviert.

Durch die eigene Energie waren die Maschinen vernichtet worden. Die Aufrührer hatten einfach die Regulatoren festgebunden und die großen mit den Turbinen gekuppelten Stromerzeuger vom Netz abgeschaltet. Ihrer Last beraubt, infolge des Nichtarbeitens der Regulatoren der vollen Wasserzufuhr ausgesetzt, waren die fünfhunderttausendpferdigen Maschinenaggregate auf eine phantastische Tourenzahl gekommen und dann durch die Zentrifugalkraft in tausend Fetzen zerrissen worden.

Erst danach hatten die Aufständischen zum Dynamit gegriffen. Wo dort oben an den Fällen die Wassermassen in Felskanälen gefaßt und abgeleitet wurden, hatten sie enorme Dynamitladungen mit Aufstoßzündern hineingeworfen. Wo immer eines dieser unheilschwangeren Pakete irgendwo anstieß, gingen Explosionen von zerstörender Gewalt los. So wurden die großen Maschinenhallen zu Trümmerhaufen, die in den Urfels gesprengten Druckwasserkanäle durch unendliche Geröllmassen verschlossen. Die Arbeit vieler Jahre war hier in einer Stunde zerstört.

Auf die Kraftquellen folgten die Industriezentren. In sinnlosester Weise wurden hier die Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbsquellen für Millionen auf Jahre hinaus . . . für immer . . . für Europa zerstört.

Europa stand über Nacht da wie ein Fabrikbesitzer, dem eine wichtige Anlage unversichert bis auf die Fundamente niederbrennt.

Wo die Weißen in fliegender Hast in Südafrika einen bewaffneten Widerstand organisierten, wurden sie von den übermächtigen, wohlausgerüsteten schwarzen Massen überwältigt und niedergemacht. Einzelheiten von bestialischer Scheußlichkeit fehlten auch hier nicht.

Die Nachrichten aus Europa gaben wenig Trost. Anscheinend stand man dort den Ereignissen ratlos gegenüber.

Wo immer auf der Welt der Weiße seine Herrschaft aufgerichtet, schien sie zu wanken. Für das in dieser Frage besonders interessierte Amerika wären diese Nachrichten mehr als hinreichend übel gewesen. Der Abend des gleichen Tages brachte eine Kunde, deren Auswirkungen hier in den Staaten noch schlimmer werden sollten.

Die Regierung in Washington versagte der Wahl von Josua Borden zum Gouverneur des Staates Louisiana die Bestätigung. Als Grund gab sie an, daß die sicher nachgewiesenen Ungesetzlichkeiten beim Wahlvorgange kein klares Bild über die wirkliche Volksmeinung ergaben.

Wenn auch die Regierung es klugerweise vermieden hatte, sich auf jene so viel angefeindete Bill zu stützen, so war es doch der weißen Bevölkerung sofort klar, daß die Gegenpartei den Regierungsbescheid trotzdem auf die Bill hindrehen würde. Wie befürchtet, geschah es. Kaum war der Bescheid bekannt, als im ganzen Gebiete der Union eine maßlose Agitation gegen die Regierung und gegen die Weißen ausbrach. In den Teilen der Union, in denen die farbige Bevölkerung sehr stark war, kam es schnell zu Gewalttätigkeiten.

Noch in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli wurden in New Orleans alle Regierungsgebäude von farbigen Kräften besetzt. Im Morgengrauen befand sich die Stadt in den Händen einer schnell errichteten provisorischen Regierung. Die letzten Flugschiffe, die New Orleans mit weißen Flüchtlingen in der Richtung nach Norden oder Nordosten verließen, überflogen die Zonen schwerer Kämpfe zwischen Weißen und Farbigen.

* * *

Aus Asien her drang am Morgen des 8. Juli eine neue Schreckenskunde durch die weiße Welt. Chinesische Truppen hatten an verschiedenen Stellen die Grenze überschritten. Das Ende Europas schien gekommen. Durch die schwarzen Aufstände in der ganzen Welt jeder anderen Hilfe beraubt, stand es allein dem gelben Riesenreiche gegenüber und mußte unterliegen.

Schon in der Nacht zum 8. Juli waren gelbe Luftgeschwader weit vorgestoßen. Ihre Bomben hatten wichtige Anlagen des Siedlergebietes bis zum Ural hin zerstört. Bis in die Industrieanlagen des Ural waren sie vorgebrochen und hatten schwere Vernichtungen hinter sich zurückgelassen.

Die Luftstreitkräfte der Weißen schienen zu schwach und zu machtlos zu sein, denn man hörte wenig oder gar nichts von Luftkämpfen. Man wußte wohl, daß das große russische Luftgeschwader die südsibirische Grenze verteidigte. Aber man hörte kein Wort von Angriffen nach jenem Ziele. Der gelbe Stoß ging glatt nach Westen. In der Luft schienen die Gelben in diesem Kampfe unwidersprochen die Oberhand zu haben. Mit Zagen erwartete man die ersten Nachrichten vom Zusammentreffen der Landstreitkräfte.

Am Abend des 7. Juli saßen der General Bülow und Georg Isenbrandt in dessen Quartier in Wierny.

Der General gab Bericht.

»Der Übergang von Kaschgar ist für große Truppenmassen unpassierbar. Die Reste des Telekdammes sind zur Verteidigung ausgebaut, so gut es in der kurzen Zeit möglich war. Die Berge zu beiden Seiten sind von unserer Artillerie besetzt. Ein Durchbruch durch das Ilital ist unmöglich. Wenn keine Umgehung gelingt, hält diese Stellung, bis die Verstärkungen heran sind.

Die dsungarische Pforte« – der General machte eine zweifelnde Bewegung –, »sie steht offen! Was auf unserer Seite dahinterliegt, ist auf dreihundert Kilometer geräumt. Die Russen haben weder Mann noch Schiff abgegeben.

Die Kompagnieluftkräfte sind, wie Sie anordneten, in Wierny konzentriert. Abwehrmaßnahmen sind an den technisch wichtigen Stellen schnell organisiert worden, aber ich überschätze ihre Bedeutung nicht. Das Land ist gegen Luftangriffe so gut wie wehrlos. Die dsungarische Pforte steht offen. Dort ist der Weg auf dreihundert Kilometer frei.«

Georg Isenbrandt nickte.

»Gut . . . sehr gut . . . Herr General. Sie sagten dreihundert Kilometer . . . warum nicht noch etwas weiter?«

»Weil dort die besten Aufnahmestellungen waren!«

Georg Isenbrandt sann einen Augenblick.

»Gut! Es wird auch so gehen. Das Orenburger Schiff ist gekommen?«

Der General nickte.

»Die Übernahme seiner Ladung wird in einer Stunde beendet sein . . . Herr General! Diese Luftflotte hält sich alarmbereit. Ich vermute, daß in drei Stunden die Zeit, ihren Auftrag auszuführen, für sie gekommen sein wird.«

»Ich staune über die Genauigkeit Ihrer Nachrichten, Herr Isenbrandt!«

Um Isenbrandts Lippen spielte ein dünnes Lächeln.

»Gold wirkt auf beiden Seiten gut. Gegen Gift hilft nur Gegengift. Das ist eine alte Regel.«

Er brach seine Rede jäh ab und wandte sich der Wand zu, wo plötzlich der automatische Funkenschreiber zu arbeiten begann. Seine Augen überflogen die Zeichen auf dem herausquellenden Papierstreifen.

»Hallo! Die Gelben fliegen ab . . . schon? . . . Unsere Dispositionen ändern sich. Die Geschwader, die ihre Ladung genommen, fliegen sofort nach ihren Zielen!«

Der General eilte in das Nebenzimmer. Durch seine Adjutanten ließ er die telephonischen Befehle hinausgeben. Dann kam er zurück.

Georg Isenbrandt hatte inzwischen die Depesche zu Ende entziffert.

»In der Morgendämmerung werden die chinesischen Landstreitkräfte die Grenze überschreiten. An der sibirischen Grenze nur mit schwachen Kräften. Der Hauptstoß dort erfolgt später.«

General Bülow warf einen Blick auf die Karte.

»Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte dort im Norden unbeschäftigt stehen und hier bitter fehlen. Wieviel Siedlerblut und -gut wird uns diese russische Hartnäckigkeit kosten?

Georg Isenbrandt hatte sich erhoben.

»Herr General, ich gehe jetzt zu den Standplätzen unserer Flugschiffe. Sobald das letzte Geschwader von hier fort ist, fliege ich nach Norden zum Saisan-Nor. Wir treffen uns später in Semipalatinsk in Ihrem Hauptquartier.«

* * *

Am Abend des 7. Juli war Toghon-Khan in Khami angekommen. Hier liefen die Nachrichten von allen Stellen seiner Front ein.

Georg Isenbrandt hatte seinen Plänen durch die Errichtung des Dammes von Telek ein schweres Hindernis entgegengesetzt. Wohl war es seinerzeit gelungen, den Damm durch die Hochwasserkatastrophe und die verräterische Sprengung zum größeren Teil zu zerstören. Aber auch die gewaltigen Reste des Riesenbauwerkes boten den vorstoßenden chinesischen Streitkräften noch ein schwer überwindliches Hindernis. Wenn die Kompagniekräfte ihrerseits eine plötzliche Schmelze in den Ilibergen verursachten, wenn die plötzlich zu Tal gehenden Wassermassen sich auch nur vor den Dammruinen stauten, war das Tal für jede größere Truppenmenge kaum passierbar. Die Gebirge des oberen Ilitales waren daher schon seit Wochen unter einer derartigen Bewachung durch gelbe Luftstreitkräfte, daß an ein Schmelzen in größerem Stile nicht gedacht werden konnte.

Trotzdem war der Weg durch das untere Ilital außerordentlich erschwert. Nur wenn es gelang, die Kompagniestellungen an den Berglehnen zu umgehen, den Damm selbst zu nehmen und in seine Trümmer breite Durchfahrten einzusprengen, war die Passage für größere Heeresmassen möglich. An diese Aufgabe hatte der Regent seine besten Truppen aus den mongolischen Randgebirgen gesetzt. Von der Schnelligkeit, mit der hier der Vorstoß gelang, hing viel vom Erfolg des ganzen Krieges ab.

Anscheinend viel einfacher gestaltete sich der Durchbruch im Irtyschtal. Durch seinen Nachrichtendienst hatte der Regent erfahren, daß die weißen Truppen jenes Tal beinahe bis Semipalatinsk hin geräumt hatten. Vergeblich hatte er mit seinem Stabe die Gründe für diese Bewegung zu erforschen gesucht. Er wußte zur Genüge, daß er an dem General von Bülow einen erfahrenen, verschlagenen Gegner hatte. Daß hinter dieser unerklärlichen Maßnahme eine Finte stecken müsse, sah er ein. Aber welche?

Nur mit halbem Herzen schloß er sich der Ansicht seiner Generalstäbler an, die den Standpunkt vertraten, daß die Kompagniekräfte sich dorthin und auch noch weiter zurückziehen würden, bis starke europäische Truppen zu ihrer Aufnahme da wären. Seine Besorgnis war so groß, daß er noch in letzter Stunde große Teile der Nordarmee auf die dsungarische Pforte dirigierte. Weil aber die Eisenbahnen und sonstigen Verkehrsmittel schon durch die Transporte nach dem ersten Plane voll in Anspruch genommen waren, mußten diese zusätzlichen Streitkräfte in der Hauptsache marschieren.

Im Laufe des 8. Juli kamen die Meldungen der gelben Luftstreitkräfte nach Khami. Vorflug ohne Widerstand!

Der Regent vernahm es mit Verwunderung. Gerade an der Grenze hatte er den stärksten Widerstand der vorzüglichen Kompagniekräfte erwartet.

Bombardements der Siedlungen!

Er geriet in Unruhe. Wo steckten die Kompagniekräfte? Das kampflose Vordringen verstärkte sein Mißtrauen immer mehr . . .

Wo konnte die Kompagnieflotte stecken?

Die nächsten Meldungen brachten ihm Antwort. Eine Antwort, die freilich an Klarheit viel zu wünschen übrigließ.

Kleine Geschwader weit verteilt, überall in der Dsungarei! Aus unsichtbaren Höhen stießen sie, wie gemeldet wurde, herab.

Mit einem Gefühl der Erleichterung nahm der Regent die Meldungen auf. Die Entsendung vieler kleiner Geschwader schien darauf hinzudeuten, daß sie die Aufgabe hatten, den Anmarsch durch Bombenabwürfe zu stören. Die merkwürdige Tatsache, daß diese Geschwader allen Kämpfen fast ängstlich auswichen, mußte diese Auffassung bestärken.

Er hatte genug Luftkräfte in der Reserve, um diesen verstreuten Kompagniegeschwadern entgegenzutreten. Jetzt endlich glaubte der Schanti, den gegnerischen Plan zu durchschauen. Zeit gewinnen! Den Vormarsch in der Dsungarei erschweren und an der Front durch langsames Zurückgehen verzögern.

Der nächste Tag brachte Nachrichten von allen Seiten. Nachrichten, die wohl geeignet waren, den Regenten in seiner Auffassung der Lage zu bestärken.

Die Meldungen vom linken Flügel seiner Kräfte lauteten nicht günstig. Die Übergänge in das Ferghanatal waren durch Sprengungen und künstliche Hindernisse so erschwert, daß nur die Möglichkeit geblieben war, die Truppen in Transportkreuzern vorzubringen. Nur einem Teil dieser Kreuzer war es gelungen, Truppen unversehrt zu landen. Plötzlich waren hier starke Kampfschiffe der Kompagnie aufgetreten und hatten der gelben Flotte schweren Schaden zugefügt. Es sah gerade so aus, als ob die Luftstreitkräfte der Kompagnie hier bewußt Versteck gespielt hätten, um nach dem Durchflug der leichten gelben Luftkräfte nach Westen die schweren Panzerkreuzer, welche die Truppen-Konvois begleiteten, mit unverbrauchten Kräften anfallen zu können. Die Lage der dort gelandeten chinesischen Truppen war besorgniserregend, da sie sofort in schwere Kämpfe mit den gegnerischen Truppen verwickelt wurden. Aber schließlich war der Stand der Dinge im Ferghanatal für die Gesamtlage nicht von großer Bedeutung.

Die weiteren schlechten Nachrichten aus dem Ilital hatte Toghon-Khan beinahe erwartet. Daß der General von Bülow hier in der Linie des Telekdammes einen scharfen Widerstand leisten würde, war für den alten Mongolenfeldherrn eine Selbstverständlichkeit. Deshalb hatte er ja seine Kerntruppen dort angesetzt. Aber die Stärke des Widerstandes überraschte ihn.

Die Berichte, soweit sie bisher vorlagen, meldeten ungeheure Verluste der Angreifer. Wenn Bülow seinerzeit Georg Isenbrandt gegenüber von einem Thermopylen gesprochen hatte, das er hier errichten wolle, so bewiesen diese Meldungen, wie ernst er seine Worte gemeint hatte. Auch die Truppen, welche die chinesische Heeresleitung zur Umgehung der Telekstellung angesetzt hatte, kamen nur Schritt für Schritt und unter schwersten Opfern vorwärts. Ein Forcieren des Durchbruches an dieser Stelle würde in jedem Falle ungeheure Verluste erfordern und im Erfolg zweifelhaft bleiben.

Der große Erfolg mußte im Irtyschtale gesucht werden. Die breite dsungarische Pforte erlaubte es, viel stärkere Kräfte vorzuwerfen. Waren sie hier erst einmal bis zum Siedlerland durchgedrungen, wo eine freie Entfaltung der Front möglich wurde, dann war die Ilistellung der Gegner so im Rücken bedroht, daß sie unhaltbar wurde.

Aus dieser Gesamtlage ergab es sich, den Vormarsch durch das Irtyschtal mit größter Schnelligkeit und stärksten Kräften zu betreiben. Noch am Abend dieses Tages ergingen die Befehle nach allen Seiten, und im Laufe der Nacht begab sich der Regent mit seinem Stabe von Khami nach der dsungarischen Grenze. Hier erreichten ihn am frühen Morgen des 10. Juli die Meldungen, daß seine Spitzen den Gebirgszug zwischen Ust Kamenogorst und Arkatsk gegen schwachen feindlichen Widerstand genommen hätten. Wo einst einhundertvierzehn Kosaken unter dem General Licharew den Feinden widerstanden und ein Bollwerk gegen die gelbe Flut errichteten, da waren die so viel stärkeren Truppen der E. S. C. jetzt fast kampflos gewichen.

Das strategische Spiel schien gewonnen. Weit offen stand das Völkertor, durch welches sich seit Tausenden von Jahren die asiatischen Stämme nach Westen ergossen hatten.

Als die Sonne über die Bergkämme des Altai heraufkam, stand Toghon-Khan allein am Ufer des Irtysch, den die Mongolen Kara Erthis nennen. Sinnend schaute er den gen Westen strömenden Wellen des jungen Flusses nach. Hinter ihm war das Land sicher. Die ungünstigen Nachrichten von der Südfront wurden durch die Meldungen wettgemacht, daß die Luftgeschwader in seinem Rücken teils niedergekämpft, teils vertrieben seien.

Vorwärts ging es mit der Sonne. Er brauchte nur seinem Schatten zu folgen. Kaum hundert Schritte vor ihm lag der Grenzgraben. Er wandte sich um und winkte sein Pferd herbei. Mit einem Schwunge saß er im Sattel.

Vorwärts! Nach ein paar Sätzen hielt er am Grenzgraben. In diesem Augenblick loderten links und rechts von seinem Wege mächtige Scheiterhaufen auf, die seine Getreuen aus umgestürzten Grenzpfählen errichtet hatten. Mit einem stolzen Lächeln quittierte der Regent die Huldigung.

Ein Spornstoß! Sein Roß sprang in einem mächtigen Satz über den Graben. Ein Ruck in den Zügeln, das Pferd stand wie aus Erz gegossen.

Er war auf erobertem Boden. Von allen Seiten umbrauste ihn der Jubel der vorüberziehenden Truppen.

Toghon-Khan saß starr auf seinem Pferde. Die schwarzen Glutaugen weit offen nach Westen gerichtet. Der Ring an seiner Linken schien zu glühen. Seine Sinne wanderten.

Aus den Truppen, die da neben ihm in modernster Ausrüstung vorwärts hasteten, wurden die Krieger der goldenen Horde, wie sie der große Dschingis-Khan vor acht Jahrhunderten nach Westen geführt hatte.

Er sah sie vorwärtsstürmen. Er sah sie die weiten Steppen Vorderasiens überschwemmen. Er sah, wie die uralten Königreiche unter ihren Tritten zusammenbrachen. Er sah, wie sie ihre Rosse an den blauen Wassern des Hellespontes tränkten, wie sie die Donau stromaufwärts zogen, über das Balkangebirge gingen . . . und bis in das Herz Europas stießen.

Ihm nach!

Seine Sporen stießen gegen die Flanken seines Pferdes.

Wütend stürzte das edle Tier vorwärts. Erst nach einer Weile brachte er es in seine Gewalt zurück. Er war erwacht.

Sein Auge überflog eine Abteilung marschierender Artillerie. Sein Auge hing an den glitzernden Rohren. Die Geschütze waren von chinesischen Konstrukteuren gebaut. Ihre Leistungen waren von einer bisher unbekannten Größe, und er wußte, daß Europa dergleichen nicht hatte. Die Artillerie war seine alte Waffe. Die Batterien dort neben ihm . . . waren sie nicht auch sein eigenes Werk? Wie würde diese neue Waffe den weißen Gegner treffen?

Ein kalter, frischer Wind fuhr ihm über das Antlitz. Er hob den Helm und badete seine heißen Schläfen in dem erquickenden Luftzug.

Vorwärts! Vorwärts! . . . Ihm nach!

Er beugte den Kopf über seine Linke. Wie rotes Feuer erglänzte der Ring des Dschingis-Khan in den Strahlen der Morgensonne. Seine Lippen berührten das Gold. Ein Schauer rann durch seinen Körper.

Wetteifernd mit den Fluten des Irtysch, strömten die mongolischen Myriaden an seinen Ufern westwärts. Meile um Meile gewannen sie, bis die Gebirge zurückwichen und der Fluß sich zum See weitete. Jetzt strömten auch die Massen auseinander. Die niedere Gebirgskette quer vor ihnen war das letzte Hindernis.

Die Sonne war höher gekommen. Doch der kühle Morgenwind hatte sich auch um die Mittagszeit nicht gelegt. Im Gegenteil. Er war von Stunde zu Stunde kälter geworden.

Jetzt ging eine seltsame Veränderung des Himmels vor sich. Die Sonne verschwand hinter einem grauen Dunstschleier. Ein eisiger Luftstrom aus Nordwesten kam den Marschierenden entgegen. Welk und schwarz, wie verbrannt, hing das saftige Julilaub an Bäumen und Sträuchern.

Die Luft füllte sich mit Nebeln, die sich da und dort zu schwerem dunklen Gewölk zusammenballten. Aber die Dunstwolken fielen nicht in Tropfen zur Erde, sondern wurden von den Windstößen bald nach oben, bald nach unten gerissen. Kurz auftretende Windstille ließ auch sie manchmal stillstehen, daß sich die bizarren Formen wie dunkle Felswände vom Himmel abhoben.

Die Kälte nahm immer mehr zu. Der Wind wehte mit immer stärkerer Kraft. Dann war es plötzlich, als bräche das ganze Himmelsgewölbe zusammen. Erde und Himmel verschwanden in einem rasenden Schneesturm, der sein unermeßliches Netz weithin über seine Beute warf. Nur hin und wieder vermochte das Auge durch das dichte Treiben der weißen Flocken dünne Ketten geduckter Gestalten zu erblicken, die sich mühsam durch das Chaos vorwärts kämpften. Die Räder der Fahrzeuge schnitten bis an die Achsen in den Boden ein, der sich mit dem Schnee zu einem eisigen Kot vermischte.

Peitschenhiebe und Rufe! Flüche in allen Zungen Asiens schallten durch die Luft. Dazwischen das ängstliche Schnauben der Pferde und das Gebrüll der Kamele.

Immer häufiger brachen Tiere und Menschen erschöpft zusammen. Was auf dem Wege liegenblieb, wurde rücksichtslos zur Seite gestoßen. Die Hilferufe verhallten ungehört im Geheul des Sturmes.

Dazwischen die anspornenden Rufe der Offiziere.

Vorwärts! . . . Vorwärts! . . . Jenseits der Berge winken die warmen Fluren Turkestans . . . Vorwärts! . . . Jenseits der Berge ist Sommer.

Aber die Gebirge waren unsichtbar. Hinter den wirbelnden Schneeflocken verborgen. Die Ebene, durch die sie marschierten, von den immer mächtiger niedergehenden Schneemassen bald mit einem dichten Leichentuch bedeckt.

Gegen Mittag ließ die Gewalt des Sturmes nach. Für Augenblicke brach die Sonne durch das dunkle Gewölk. Es wurde Rast gemacht und gegessen.

Überermattet warfen die Truppen sich auf das weiße Schneelager. Die aus dem rauhen Norden des Landes stammenden Mannschaften erholten sich verhältnismäßig schnell. Die südchinesischen Regimenter in ihrer leichten Ausrüstung wurden ungleich stärker mitgenommen. Ihre erstarrten Finger vermochten kaum die Mahlzeit zum Munde zu führen.

Auf einem felsigen Promontorium hielt der Stab des Toghon-Khan. Er selbst hatte sich in ein schnell aufgeschlagenes Zelt zurückgezogen. Die Offiziere standen fröstelnd auf dem schneefreien Gestein. Der Fatalismus der Orientalen kam gegen dieses unerhörte Naturereignis nicht auf.

Scheu, mit leiser Stimme flüsterten sie sich ihre Betrachtungen und Beobachtungen zu. Zwei Generale aus dem engsten Gefolge des Regenten saßen unter einer mächtigen Eiche, den Blick auf die tief unten liegende Straße gerichtet.

Es waren Batu-Khan und Ugetai-Khan, die treuesten Anhänger des verstorbenen Kaisers. Schon zu Lebzeiten des Schitsu waren sie Rivalen des Toghon gewesen. Sie neideten ihm das besondere Vertrauen des Kaisers. Sie neideten ihm den Ruhm des großen Feldherrn, der jeden anderen Ruhm überstrahlte.

Auch sie waren unter denen gewesen, die Schitsu an sein Sterbelager rief. Nur unwillig hatten sie es ertragen, daß der Ring und die höchste Macht in die Hände des Toghon kamen. Dann aber hatten sie sich den großen Gedanken des Kaisers unterworfen, deren Vollstrecker Toghon war.

Ihre Blicke ruhten auf dem Tal. Verschwunden war jede Spur von Grün. Weiß war das Land bis zum fernen Horizont. Wie Maulwurfshaufen die hingeworfenen Gestalten der Soldaten. Nur hin und wieder schwelende Lagerfeuer, wo es den Truppen gelungen war, das mühsam zusammengesuchte Gestrüpp zu entzünden. Düster sahen die Generale auf das unheildrohende Bild. Das stärkste Heer, das das Himmlische Reich jemals unter Waffen gehabt hatte . . . das wie ein Sturmwetter über den Westen hinbrausen sollte, um den alten Traum des Ostens zu verwirklichen . . . Würde es der großen Aufgabe gerecht werden können, wenn ihm hier ein unerwartetes . . . ein unerklärliches Unwetter die Schwingen lähmte?

Ihr abergläubischer Sinn sah in diesem Wetter ein böses Vorzeichen für den ganzen Feldzug. Ugetai brach das Schweigen:

»Was ist's mit dem Toghon? Als die ersten Flocken fielen, wurde sein Gesicht bleicher als der Schnee. So sah ich ihn nie in den dreißig Jahren unserer gemeinsamen Kämpfe.«

Es dauerte, bis Batu die Antwort fand:

»Auch ich erschrak, als ich die Miene Toghons sah. Wie konnte er wissen, daß aus jenen ersten noch harmlosen Flocken, die wir alle für ein kurzes, neckisches Spiel der Natur hielten, dies vernichtende Unwetter entstehen würde?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich mußte sofort des Schneefalles am Tage des Einzuges gedenken . . .«

»An jenem Tage betrog Toghon die Erde. Er entriß ihr ein Opfer, das ihr gehörte. Die Erde hat ihn damals gewarnt. Heute nimmt sie ihre Rache.«

Ugetai sah ihn einen Augenblick überlegend an.

»Ich beuge mich vor der höheren Weisheit deines grauen Hauptes.«

»Furcht ist in Toghon! Er scheut das Antlitz der zürnenden Natur. Wer hätte sonst jemals den Toghon im Felde im Zelt gesehen?«

Er, der Toghon, ruhte im schnell errichteten Zelte auf einem niederen Lager. Die Augen, weit geöffnet, starrten zu der braunen Leinendecke. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, als hielte ein Siegel ihr Geheimnis verschlossen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.

Abgefallen waren Miene und Haltung des Siegers. Geschlagen . . . gefangen . . . vernichtet schien der Mann zu sein, der noch vor wenigen Stunden in stolzem Sprung über den Grenzgraben setzte.

Ein schwerer Atemzug hob die Brust des Liegenden. Seine Hand warf den Teppich zurück, der ihn bedeckte. Mühsam richtete er sich auf. Und dann begann er zu wandern. In dem engen Geviert des Zeltes schritt er rastlos hin und her. Er fühlte sich der Stimme beraubt. Nur die Lippen murmelten ungehörte Befehle.

Dieser ungeheure Schneefall . . . es war ein Eishandschuh, den Europa ihm vor die Füße warf . . . und den er nicht aufzunehmen vermochte.

Aber wie weit reichten Schnee und Frost? Bis in die warmen, weichen Steppen des Siedlerlandes? . . . Unmöglich!

So weit konnte die Macht . . . die Kunst des Feindes nicht gehen . . . Nur vorwärts! . . . Nur heraus aus diesen letzten Bergen! Da . . . jenseits der Steppe . . . da mußte der Sommer wieder beginnen.

Wo blieben die Flugzeuge, die ihm Meldung brächten, wie es da vorne stand? Der Schneesturm ließ keinen Boten durch . . .

Lauschend hob er das Ohr . . . da! . . . Ein Surren von Propellerflügeln. Er riß den Vorhang zurück und trat ins Freie. Prüfend überflog sein Auge das dunstige Himmelsgewölbe.

Da . . . In höchster Höhe ein Pünktchen . . . War's einer von seinen Fliegern? . . .

Mit kaum bezähmter Ungeduld wartete er. Sein Auge fiel auf die Gruppe der Offiziere, die ihn schweigend anstarrten. Ein argwöhnischer Blick überflog prüfend die Gesichter. Sahen sie die Verzweiflung, die in ihm tobte? . . . Erkannten sie die Qualen, die seine Seele folterten? . . .

Sollten sie sehen, daß er das Letzte seiner Macht, die Herrschaft über sich selbst verloren? Mit einer schmerzhaften Anstrengung versuchte er seine Mienen zur Ruhe zu zwingen.

Der Ruf: »Flieger von uns!« drang an sein Ohr und wirkte erlösend. Noch wenige Minuten, in denen alle Aufmerksamkeit der näherkommenden Maschine galt. Dann landete das Flugzeug. Der Flieger kam, von vielen Händen gewiesen, den Abhang hinaufgeeilt. Stand vor ihm.

»Wo kommst du her?«'

»Vom Ural!«

»Wie weit reicht der Schnee?«

»Bis zum Saisan-Nor! Die Ebene des Saisan-Nor ist noch braun und weiß. Je weiter ich nach Osten kam, desto weißer wurde das Land.«

»Das Siedlerland . . .«

»Liegt grün in hellem warmen Sonnenschein.«

Ein Blitz zuckte aus den Augen des Toghon.

»Vorwärts!«

Weithin hallend . . . die Offiziere elektrisierend, drang der Ruf von seinen Lippen. Ein Ruck war durch die Gestalt des Regenten gegangen. Das alte Siegerbewußtsein kam zurück. Mit einer stolzen Geste wandte er sich zu seiner Umgebung.

»Vorwärts! In ein paar Tagesmärschen sind wir im blühenden Siedlerland. Da ist Sommer! . . . Da ist's warm! . . . Schnell vorwärts! . . . Da finden wir den Gegner und schlagen ihn! Jeder Schritt bringt uns näher an das sonnige Ziel und an den Feind.«

Wie ein Lauffeuer pflanzte das Kommando sich fort.

Auf! . . . Vorwärts! schallte es durch die rastenden Kolonnen. Hier schneller, dort langsamer erhoben sich die lagernden Truppen. Die Formationen schlossen sich zusammen. Die müden Glieder setzten sich in Marsch. In unabsehbarem Zuge strebte die gelbe Heeresmacht von neuem gen Westen.

So ging es Stunden hindurch. Schon stand die Sonne, die an diesem Morgen mit ihnen im Osten aufgebrochen war, weit vor ihnen im Westen. Doch ihre Strahlen fehlten. Kahl und grau blieb der Himmel. Unabsehbar streckte sich das weiße Gefilde.

Die Dämmerung kam . . . und stärker wurde der Frost. Er preßte der Luft die letzte Feuchtigkeit aus. An den bizarren Skeletten der im vollen Sommerlaub erfrorenen Bäume bildete sich wunderlicher Rauhreif. Einzelne dicke Reifflocken fielen aus der fast windstillen Luft.

Hin und wieder zerriß ein weithin hallendes Krachen und Donnern die Abendstille. Dann war irgendwo der so plötzlich gefrorene Boden in meilenlangen Spalten auseinandergerissen.

Nur noch mühsam hielten sich die Kolonnen in Bewegung. Immer häufiger wurden die Stürzenden. Keine Hand streckte sich zu ihrer Hilfe. Da endlich kam der Befehl:

»Halt!«

Glücklich die, in deren Nähe Wald wuchs. Im Augenblick krachten die Stämme unter den Schlägen der Äxte. Um die lodernden Feuer drängten die Soldaten ihre erstarrten Glieder.

An vielen Stellen zerriß schon jetzt die Ordnung. Die kein Holz mehr fanden, verließen ihre Plätze und eilten zu den wärmeverheißenden Feuern. Die meisten, ohne sich um Ausrüstung und Waffen zu kümmern. Dicht aneinandergedrängt erwarteten sie den Morgen.

Nach endloser Nacht verriet das Grau im Osten den kommenden Tag. Fast niedergebrannt waren die Feuer, verschwunden jeder Wald, soweit er erreichbar.

Der neue Tag begann mit neuer Qual. Während die Hunderttausende vom Hochkommen des Tagesgestirns Erwärmung erhofften, nahm der Frost immer mehr zu.

Nur widerwillig, ermattet bis auf den Tod, folgten die Truppen dem Signal zum Aufbruch . . . soweit sie noch zu folgen vermochten. Vergeblich wurde gar mancher angerufen . . . vergeblich gerüttelt . . . Die Toten erhoben sich nicht.

Nur langsam kehrte das Leben in jene zurück, die noch die Glieder zu regen vermochten. Kaum konnten die Hände noch die schweren Waffen halten. In dichten Schneewolken fiel der Atem zu Boden. Wie Feuer brannte der kalte Stahl in den Händen.

Schwerfällig setzten die gelichteten, kaum geordneten Kolonnen sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit versagten die Kräfte von neuem. Bei geringen Unebenheiten des Bodens taumelten die Marschierenden, konnten sich nicht mehr aufrechthalten und stürzten nieder. Immer größer wurden die Haufen der Nachzügler, die nach der verscheidenden Glut der verlassenen Feuerstätten schwankten und sich dort niederwarfen . . . zur Ruhe . . . die meisten zur ewigen Ruhe.

Um die Mittagsstunde war die Kälte so gestiegen, daß jeder Weitermarsch zur Unmöglichkeit wurde. Schon seit Stunden säumten die fortgeworfenen Waffen die breiten Heerstraßen. Die Hände der abgesessenen Berittenen vermochten nicht mehr die Zügel zu leiten. Führerlos zerstreuten sich die Tiere über die Ebene.

Jetzt lösten sich die letzten Bande jeder Ordnung. Es bedurfte nicht mehr des Befehles, Holz aus den Wäldern zu holen und Feuer anzuzünden. Instinktmäßig strebten die Massen von der kahlen Straße fort zu den Gehölzen. An Ort und Stelle, dort, wo die erstarrten Arme noch einen Stamm zum Fallen brachten, entzündeten sie das Holz und drängten sich in wildem Kampf ums Leben an die rettende Wärme.

Toghon-Khan ritt allein auf der verlassenen Heerstraße vorwärts. Niemand folgte ihm mehr. Die todbringende Kälte hatte alle Bande der Treue und des Gehorsams zerrissen.

Mit gebeugtem Haupte ritt er vorwärts. Er sah nicht die Haufen Sterbender und Gestorbener zu beiden Seiten der Straße. Er sah nicht die weggeworfenen Waffen. Er sah nicht die steckengebliebenen Geschütze . . . auch nicht die brennenden Fahrzeuge und die irrenden Tiere.

Der schneidende Wind zwang ihn, die Lider halb zu schließen. Die dunkle Glut seiner Augen war erloschen. In ihrem starren Blick lag nichts mehr von der Energie des Welteroberers, des Siegers . . . Es war der Blick eines Todgeweihten . . . eines Toten.

Ein Surren in seinem Rücken brachte Bewegung in die eisigen Züge. Die Starrheit wich. Die Augen öffneten sich. Ein leichter Glanz belebte sie. Toghon zügelte sein Roß und hob die Hand.

In gestreckten Spiralen sank das Flugschiff zu ihm nieder. Es war derselbe schnelle Kreuzer, der ihm die Meldung aus dem Ural gebracht hatte. Er hatte ihn nach rückwärts geschickt mit dem Befehl, schnellstens alle verfügbaren Dynothermmengen in Transportschiffen heranzubringen. Es hatte ihn, als er den Befehl gab, noch ein leises Fünkchen Hoffnung bewegt, mit Hilfe der wärmenden Kraft des Dynotherms den tückischen Anfall des Gegners zu parieren.

Zwar war er sich über das Wie nicht klar. Aber er klammerte sich an diese . . . die letzte Hoffnung. Vielleicht, daß der wärmespendende Stoff, längs der Heerstraße ausgestreut, die Kälte so weit paralysierte, daß ein Weitermarsch möglich war . . . Aber was wußte der Mongolenfeldherr von der unangreifbaren Gewalt seiner Gegner?

Das Flugschiff stand neben ihm. Neubelebt glitt er vom Pferd und sprang in das Schiff. Automatisch schlug hinter ihm die Tür ins Schloß. Die wohlige Wärme, die ihn hier umgab, wollte ihm im ersten Moment den Atem rauben. Zu groß war der Gegensatz zwischen dem tobbringenden Frost da draußen und der belebenden Temperatur hier drinnen.

Er sank in einen Sessel. Endlich rang sich die Frage von seinen Lippen:

»Ist der Befehl ausgeführt?«

»Er ist ausgeführt, Hoheit. Die Schiffe sind auf dem Wege.«

»Wie weit sind sie?«

»Vor morgen werden sie nicht hier sein können.«

Mit einem Sprung stand Toghon-Khan vor dem Sprechenden.

»Morgen? . . . Morgen! . . . Heute noch müssen sie hier sein!«

Der Angeredete erblaßte vor den wutblitzenden Augen des Regenten. Nur stotternd kamen die Worte seiner Antwort.

»Zu lang . . . zu lang ist der Weg . . . Hoheit . . . Die Arbeit der Schiffe, Dynotherm zu streuen, muß schon weit hinten an der Ostgrenze der Dsungarei beginnen . . .«

Die Zähne des Regenten gruben sich tief in seine Lippen.

So weit . . . reichte die Hand des Feindes?

»Die Hälfte muß es dort tun! Die anderen Schiffe sofort nach vorn! . . . Bevor die Dämmerung kommt, müssen sie hier sein! . . . Geben Sie telegraphischen Befehl. Unser Schiff mit voller Kraft nach vorn zum Saisan-Nor! . . . Mittelhöhe!«

Langsam stieß das Schiff vom Boden ab. Vom Stern des Fahrzeuges aus sah der Regent auf die verlassene Straße. Kein lebendiges Wesen auf ihr. Nur sein Pferd, das treue Tier, stand regungslos mit erhobenem Haupte, dem wegziehenden Schiffe nachschauend. Durch die dichten Scheiben hindurch vermochte das Ohr des Regenten nicht das laute, klagende Wiehern zu hören. Sein Auge las es aus den bebenden Lippen des Tieres. Sein Auge blieb darauf geheftet, bis es seinen Blicken entschwand . . . Die letzte Treue, die sich ihm zeigte.

Mit schweren Schritten drehte er sich um und trat an den Bug des Kreuzers. Der hatte jetzt Höhe gewonnen und schoß in schneller Fahrt vorwärts. Das Auge des Regenten haftete am Außenthermometer. Mit düsterem Gesicht verfolgte er das langsame, aber unaufhörliche Fallen des Zeigers.

40 Grad . . . 40 Grad unter Null! . . . So stand der Zeiger, als er ihn das erstemal betrachtete . . . Jetzt war er schon auf 46 gesunken. Kilometer auf Kilometer stieß das Schiff nach vorn . . . und mit jedem Kilometer fiel der Zeiger.

Schon lag in nebliger Ferne der Kessel des Saisan-Nor. Sprunghaft fiel jetzt der Zeiger. Vom langen Hinstarren schwammen die Augen des Toghon-Khan. Mit diesem furchtbaren Sinken des Zeigers sank jede Hoffnung in ihm. Ohne zu denken . . . ohne zu fühlen, starrte er auf den Apparat.

Ein schwerer Stoß, der das Schiff seitwärts traf, brachte ihn ins Wanken. Er packte den Fenstergriff und hielt sich aufrecht. Das Schiff lag schwer nach Backbord über. Er hörte wie durch Nebel, wie der Kommandant den Befehl gab, höher zu steigen. Er glaubte die Erschütterung der mit äußerster Kraft arbeitenden Triebschrauben zu spüren.

Dann drehte das Schiff in neuem jähen Ruck ganz nach Backbord um.

»Volle Kraft rückwärts!«

Der Befehl des Kommandanten klang an sein Ohr.

Er drehte sich um . . . und wollte . . . wollte den Befehl widerrufen. Sein Blick fiel auf die angstverzerrten Gesichter der Mannschaften. Zu spät!

Das Schiff gehorchte nicht mehr . . . weder dem Steuer noch den Propellern. Wie ein Fetzen Papier vom Wirbel gegriffen, wurde es widerstandslos nach vorwärts gerissen.

Wie in schwerer Dünung schwankte das ächzende Schiff. Bald wurde es tausend Meter in die Höhe gerissen, bald schoß es jäh in die Tiefe, als solle es an der Erdkruste zerschellen.

Ein neues fremdartiges Geräusch übertönte das Tosen der Elemente. Starr standen die Insassen. Ihre Hände umklammerten krampfhaft jeden greifbaren Stützpunkt.

Es klang wie das Prasseln von Schrot gegen Stahl. Es klang, als ob Millionen von Schrotkörnern gegen Stahlschaufeln geschleudert würden . . . wie schwerer Hagel, der auf ein Wellblechdach prasselt.

Es hämmerte auf das Hirn des Toghon-Khan . . . hämmerte ihm die Gewißheit des unabwendbaren Unterganges ein . . . und da hatte er sich wiedergefunden . . . ganz wiedergefunden.

Mit voller Klarheit übersah er Entstehen und Ende der Katastrophe. Sein geschulter Geist beherrschte auch die physikalischen und technischen Grundbedingungen der Geschehnisse um ihn. Mit Klarheit sah er jetzt alle Handlungen seines Gegners sich in logischer Folge entwickeln.

Der hatte das Mittel, das dem Dynotherm entgegengesetzt wirkte! Das Mittel, das ebenso ungeheure Energiemengen band, wie das Dynotherm sie freimachte. Der hatte dann überall im Zuge des einbrechenden Heeres gestreut, wo immer nur Wasser war.

So entstanden jene Kältepole, die infolge der Zusammenziehung der darüber lagernden Luft barometrische Minima ergaben, denen die entferntere Luft von allen Seiten zuströmen mußte. Dabei gab es eine Ausdehnung der zuströmenden Winde, die naturnotwendig mit einer Abkühlung verbunden war.

So kamen jene Schneefälle zustande. So ergab sich jener Maischnee in Peking. So der Schneesturm des vorgestrigen Tages. So die Kälte.

Das unaufhörliche Fallen des Thermometers, das jetzt auf 170 Grad unter Null stand, bewies ihm überzeugend, daß das Schiff einem dieser extremen Kältepole zugerissen wurde. Der große Saisan-See mußte in der Tat nach Einstreuung dieses Mittels einen Kältepol von ungeheuerster Stärke ergeben.

Dieser unwiderstehliche rasende Luftstrom, dieses Prasseln der Propeller, die gegen die flüssig werdende und in Tropfen niederfallende Luft anschlugen, gaben ihm die Gewißheit. Es war so weit!

Hier stürzte die Atmosphäre selbst verflüssigt zu Boden. Hier drang von allen Seiten her die Luft mit Riesengewalt wie in einen luftleeren Raum ein und riß jeden Körper, der sich in ihr befand, bis zum Kältepol hin.

Mit vollkommener Klarheit des Geistes erwartete Toghon-Khan das Ende.

Ausgeträumt der Traum vom besiegten Abendland! . . . Verweht die Spur des Dschingis-Khan!

Die Hände an die Fenstergriffe geklammert, starrte er dem Untergange entgegen.

Noch einmal erhob sich das Schiff. Die Gebirgskämme im Osten des Saisan-Nor schufen ein komprimiertes Luftkissen, welches das kraftlose Fahrzeug nach oben schleuderte. Dann, über der endlosen gefrorenen Fläche des riesigen Sees, senkte es die Spitze nach unten . . .

Dann stellte es sich jach auf den Kopf und stürzte mit rasender Wucht auf das Eismassiv des bis zum Grund gefrorenen Sees. Tief drang sein metallener Sporn ein. Ein Funkenstrom umsprühte das einhauende Metall. Der Zünder für die fürchterliche Fackel, die im selben Augenblick gegen den Himmel stand. Sprühend verbrannte das Metall des Schiffsrumpfes im flüssigen Sauerstoff . . . Verbrannte das Schiff mit allem an und in ihm in Sekunden zu nichts . . .

Dann ging die Natur ihren Gang weiter, wie es der Meister befohlen . . . bis der Tag sich neigte . . . und die Nacht die Fesseln löste.

Linder wurde der Frost. Die Macht des Sturmes ließ nach. Dichte Nebel krochen über die eisbedeckte Erde . . . und sie hoben sich . . . und dehnten sich . . . und stiegen an und fanden milde Südwinde und fielen nieder in leisen, warmen Tropfen und weckten das tote Land.

Der Schnee schmolz. Von den Bergen schossen die Wasser. Krachend fuhr der Frost aus den gebannten Stämmen. Immer stärker wurde das Wehen des Südwindes, immer größer seine Wärme. Wie im Spiel zerbrach er die Decke des Saisan-Sees. Wo lebendige Wesen noch ihr Leben bewahrt, frohlockten die Herzen.

Der Morgen kam und mit ihm die Sonne. Sie fand ein Werk getan, in den Stunden einer Nacht ein Werk vollbracht, das ihre Kraft zu leisten nicht vermag in den Tagen eines Mondes.

Ein Werk, getan durch eines Menschen Geist!

* * *


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