Hans Dominik
Die Spur des Dschingis-Khan
Hans Dominik

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John Dewey, der reiche John Dewey saß in seinem Palast in Nob Hill zu Frisko in seinem Arbeitzimmer. Ihm gegenüber Melan Fang, einer der reichsten chinesischen Großkaufleute Friskos.

Seit Jahren waren sie bekannt. In letzter Zeit schienen die lockeren Verbindungen enger geworden zu sein. Enorme Summen waren von Deweys Konten auf das chinesische Handelshaus überwiesen worden. Es verlautete, daß John Dewey, der die meisten Silbergruben des amerikanischen Kontinents in seiner Hand vereinigte, große Konzessionen im südlichen Altai erhalten habe. Man sprach auch davon, daß er sie zusammen mit der chinesischen Firma ausbeuten wolle.

Zwischen den beiden Partnern lag ein mit vielen Zahlen bedecktes Papier.

»Wenn Zahlen allein beweisen könnten, wäre ich überzeugt, Melan Fang . . .«

Dewey lehnte sich in den Sessel zurück und sah seinen Gast prüfend an.

». . . In der Bilanz fehlen einige Imponderabilien, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist!«

Der Chinese schien solchen Einwand erwartet zu haben.

»Sie meinen die überlegene Intelligenz der weißen Rasse, Mr. Dewey?«

»Zweifellos!«

»Der Gedanke, daß die weiße Rasse der gelben und schwarzen an Intelligenz weit überlegen sei, muß als erledigt angesehen werden. Die weiße Rasse teilt das Schicksal vieler anderer Rassen, die vor ihr waren und ihr Ende fanden. Sie ist an der gefährlichen Stelle der Zivilisation angekommen, die ein Volk nicht erreicht, ohne von unwiderstehlichem Drang erfaßt zu werden, sich in den Abgrund zu stürzen.

Die ausgesuchteste Klugheit ist nicht imstande, den unwandelbaren Gesetzen des Geschehens entgegenzuwirken . . . Ist der Fall der weißen Rasse zu bedauern? Kaum . . . An ihren Leistungen gemessen. Wo waren die großen Kulturen der Vergangenheit? . . . Bei den Völkern des Orients!

Im Bereich der praktischen Wissenschaften und der Technik mögen die kommenden Jahrhunderte noch von den Weißen zu lernen haben. Sonst hat . . . diese Rasse . . . kaum etwas geleistet . . . was den Leistungen des Orients auch nur verglichen werden könnte . . . Ein paar Menschenalter, und die Weltherrschaft der Weißen ist nur noch eine Episode der Weltgeschichte. Noch vor hundert Jahren betrachteten sie China als eine Riesenfarm, die zum Nutzen der weißen Welt ausgebeutet wurde. Und heute? China steht fest auf eigenen Füßen, gestützt durch chinesische Intelligenz und chinesische Tüchtigkeit! . . .

Noch vor zwei Jahrhunderten definierte Franklin den Neger als ein Tier, das so viel wie möglich frißt und so wenig wie möglich arbeitet.

Und heute. Als vollkommen gleichberechtigte Vertreter menschlicher Kultur und Wissenschaft stehen die Schwarzen hier in der Union den Weißen gegenüber. Denken Sie nur an die schwarzen Universitäten und Schulen, an die großen Bank- und Geschäftshäuser, die ausschließlich von Schwarzen geleitet werden . . .«

John Dewey hatte während dieser langen Auseinandersetzung seines Gegenübers gedankenvoll auf den bunten Teppich geblickt.

»Und Sie halten jetzt schon den Zeitpunkt für gekommen, der Herrschaft der weißen Rasse für immer ein Ende zu machen? Der Gedanke ist kühn!«

»Der Kampf beginnt jetzt! Mehr will ich nicht sagen. Wir würden schneller zur Entscheidung kommen, wenn der große Schitsu am Leben geblieben wäre. Man raunt in seinem Reich, daß weiße Hand die Kugel des Attentäters lenkte. Aber unser Land ist nicht arm an großen Männern. Ein anderer wird erstehen . . . das Werk vollenden.«

»Wer wird für den unmündigen Thronerben die Regentschaft übernehmen? Wird . . . er es sein?«

Der Chinese nickte.

»Bestimmt?«

Nochmals ein Nicken.

»Er übernimmt eine schwere Bürde. So schwer, daß sie vielleicht auch der lebende Kaiser nicht hätte tragen können. Die Arbeiten der Europäischen Siedlungsgesellschaft drängen zu einer Entscheidung. Ist Neuland im Herzen Asiens mit hundert Millionen europäischer Siedler besetzt, dürfte es schwer sein, den Vorstoß nach Westen zu wagen. Die Gebirgszüge, die China vom Westland trennen, werden dann, gehörig befestigt, eine chinesische Mauer sein . . . gegen China.«

»Er ist ein Mann der Tat. Er wird keinen Tag verlieren. Der diplomatische oder militärische Sieg in der Besitzfrage des Kuldschagebietes wird die große Umwälzung einleiten . . .«

»Sie rechnen mit dem Sieg, Melan Fang?«

»Unbedingt! Die größeren Machtmittel sind auf unserer Seite . . . nicht zu reden von unserem unerschöpflichen Menschenreservoir.«

»Und doch . . .«

Ein nervöses Zucken lief über das Gesicht des Chinesen, als diese Frage des kühlen Rechners Dewey sein Ohr traf.

». . . und doch will er den entscheidenden Schritt nicht wagen, ohne der Hilfe der schwarzen Rasse sicher zu sein . . . wollten Sie sagen.«

Dewey nickte schweigend.

»Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen. Haben Sie bei ihren großen geschäftlichen Unternehmungen nicht auch zuweilen mit der Hilfe anderer gerechnet?«

Wieder schüttelte Dewey den Kopf.

»Nie!«

Melan Fang rückte unruhig auf seinem Stuhl.

»Es ist wichtig, den kommenden Krieg schnell und sicher zu beenden. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dazu alle Mittel, die sich bieten, zu benutzen.«

Ein ironischer Zug legte sich um Deweys Mund.

»Schlagwörter wie Menschlichkeit haben schlechten Kurs in solchen Fällen. Sprechen wir offen, Melan Fang. China allein fühlt sich nicht stark genug. Es will die Kräfte Amerikas binden, damit Europa in dieser blutigen Auseinandersetzung auf keine amerikanische Hilfe zählen kann. Der Bürgerkrieg zwischen Weißen und Schwarzen in der Union scheint das beste Mittel.

Der Plan ist gut. Aber . . .«

»Aber?«

»Ich bezweifle seinen Erfolg!«

John Dewey war aufgestanden und ging mit großen Schritten durch den Raum. Melan Fang hatte sich tief in seinen Sessel zurückgelehnt. Seine zusammengekniffenen Augen ruhten argwöhnisch auf dem unbewegten Gesicht Deweys.

War das Spiel verloren?

»Sie sprechen in Rätseln, Mr. Dewey!«

»Es mag Ihnen rätselhaft vorkommen, daß ich meine Hände in ein Geschäft stecke, zu dessen Verlauf ich kein Vertrauen habe. Ihre Interessen und die der amerikanischen Negerbevölkerung sind grundverschieden.

Wir . . .«, ein ingrimmiger Humor sprach aus seinen Worten. » . . Ich sage wir . . . mich einbegriffen . . . obgleich kein Satan mich jemals im Leben als black man taxiert hat . . . bis auf jenen englischen Lord . . . Wir kämpfen um die Gleichberechtigung mit anderen Rassen. Sie kämpfen um Macht und Land.

Unser Kampf hat ein ideales Ziel, ist eine interne Angelegenheit der Vereinigten Staaten. Ihr Streit wird die Weißen der ganzen Welt unter einer Fahne vereinigen, denn es geht um die weiße Existenz. Der Untergang des europäischen Abendlandes würde das Ende der weißen Kultur überhaupt bedeuten. Sehen Sie sich vor. Schrauben Sie Ihre Hoffnungen nicht allzu hoch, daß nicht . . . ein unerwartet starker Frost den Blütentraum auf viele Menschenalter vernichtet . . .«

Melan Fang wollte sprechen, aber John Dewey ließ sich nicht unterbrechen.

»Die weiße Intelligenz wird in diesem Kampf neue, unerhörte, ungeahnte Leistungen vollbringen und . . . vielleicht die Oberhand behalten.

Ihre Prophezeiung wird einmal eintreten, aber wann . . .?«

Der Chinese war aufgestanden. Geschmeidig lächelnd trat er an Dewey heran.

»Sie müssen gestehen, daß ein Kampf zwischen China und den Westländern eine gute Unterstützung Ihres Streites um die Gleichberechtigung der schwarzen amerikanischen Bürger ist. Unser Zusammengehen bringt beiden Vorteil . . .«

Er streckte Dewey die Hand hin, die dieser ergriff.

»Abgemacht!«

»Wann?«

»Nach der Wahl um den Gouverneurposten von Louisiana. Wird Josua Borden, der schwarze Kandidat, gewählt und nicht bestätigt, beginnt der Kampf!«

»Ich bekam heute ein Telegramm aus Peking. Er will den genauen Termin wissen. Bei Ihnen und bei uns muß der Schlag gleichzeitig fallen.«

»Den Tag anzugeben, ist unmöglich.«

»Der Tag der Wahl ist bestimmt und wird nicht verschoben?«

»Ich wüßte keinen Grund . . .«

»Sind Sie des unverbrüchlichen Schweigens aller Mitwissenden sicher, Mr. Dewey?«

»Unbedingt! . . . Warum fragen Sie?«

»Man hat mich auf einen Berichterstatter der Chikago-Preß aufmerksam gemacht. Es hat den Anschein, als sei er . . . Zufall oder . . . Verrat . . . der Organisation auf die Spur gekommen.«

»So muß alles geschehen, was geeignet ist . . . Unheil zu verhüten. Sie haben . . . wohl Mittel und Wege dazu . . . Melan Fang . . .«

* * *

Der Kraftwagen, der Florence Dewey von San Matteo zurück nach der Stadt brachte, mußte schon in der Market Street seinen Lauf verlangsamen. An der Kreuzung mit der Mason Street wurde das Gedränge auch auf dem Fahrdamm so arg, daß der Chauffeur bis zur Stocton Street weiterfuhr.

Die ganze Negerbevölkerung Friskos schien auf den Beinen zu sein. Von allen Seiten strömten schwarze Scharen heran und wälzten sich in der Richtung auf Chinatown durch die Straßen.

Der Chauffeur versuchte es, durch die Stocton Street seinem Ziele näher zu kommen. Doch vergeblich unternahm er es mehrere Male, nach Nobhill abzubiegen. Es ließ sich nicht mehr durchführen. Auch aus allen Seitenstraßen quollen fortwährend neue Massen immer dichter heran, je mehr sich der Wagen Chinatown näherte. An der Ecke der Sacramento Street wurde das Gedränge so dicht, daß das Auto eingekeilt stehenbleiben mußte. Auch der freie Platz vor der Markthalle war bereits von Tausenden besetzt, und immer neue Tausende drängten nach.

Florence hatte die Vorhänge ihres Wagens geschlossen.

Durch einen schmalen Spalt beobachtete sie die ungewöhnliche Szene. Erst neugierig, dann besorgt.

Aus der tosenden wilden Menge drangen zerrissene Rufe an ihr Ohr:

»Hängt das weiße Vieh! . . . Schlagt ihn tot, den Hund! . . . An den Pfahl mit dem Mädchenschänder!«

Neues stärkeres Gejohle verschlang die einzelnen Stimmen. Florence sah mit steigendem Entsetzen, wie ein Trupp Schwarzer einen Weißen nach dem Marktplatz zerrte. Die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe.

Ein riesenhafter Hafenarbeiter schwang eine schwere Eisenstange gegen den Gefangenen. Bevor er ihn damit erreichte, warf ihn selbst ein Schlag zurück. Schnell und sicher schob sich eine Kette schwer bewaffneter Schwarzer zwischen den Gefangenen und die tobende Menge.

Jetzt erkannte Florence die Bedeutung der Vorgänge da draußen. Mit einem Schrei sank sie in das Polster zurück und barg das Gesicht in den Händen.

Ein Lynchmord an einem Weißen! . . . Hier mitten in der Großstadt und in aller Öffentlichkeit . . . So weit waren die Dinge gediehen.

Als der bewaffnete Trupp mit dem Gefangenen den Marktplatz erreichte, brach die vieltausendköpfige schwarze Menge in ein infernalisches Geheul aus. Einige stießen mit schweren Stangen taktmäßig und triumphierend auf das Pflaster. Andere knirschten vor Wut mit den Zähnen. Ihre blutunterlaufenen Augen hingen mit den Blicken hungriger Raubtiere an dem Gefangenen. Zuweilen zuckte ein heiseres Gelächter auf.

Vergeblich zerrte der Gefangene an den starken Armen, die ihn gepackt hielten. Vor dem Eingang zur Markthalle machte der Trupp halt.

Auf das Kommando eines Führers drängten die Bewaffneten die Menge zurück. Ein freier Raum entstand, in dessen Mitte sich ein Kandelaber erhob. Ein neues Kommando, und eine Schar stürzte in die Markthalle und schleppte Kisten und Körbe heraus, die sich schnell um den Mast türmten.

Der Gefangene schrie in seiner Todesangst auf. Er warf sich auf das Pflaster und schlug verzweifelt um sich. Einer der Bewaffneten stieß ihm mit einer brennenden Fackel in das Gesicht, daß er heulend wieder aufsprang. Mit geballten Fäusten stürmte er auf seine Peiniger ein. Hohnlachend stießen sie ihn zurück, daß er wie ein Ball hin und her flog.

Ein neuer kurzer Befehl. Im Augenblick hatten sie ihn ergriffen, zum Mast hingeschleppt und mit einer eisernen Kette angebunden. Irgendwoher kam ein Eimer Teer und wurde über ihn ausgegossen. Die ersten Fackeln flogen zwischen die Körbe und Kisten.

Eine Flammensäule umloderte den Kandelaber. Schreien . . . Wimmern . . . Röcheln . . . dann Ruhe in dem dicken Teerqualm . . . gräßlicher Jubel in der drängenden Menge . . .

Die Bewaffneten gaben den Platz frei. Von allen Seiten stürmten die Massen auf die brennenden Trümmer los. Eine Szene aus dem Inferno. Wahnsinn peitschte die Menge. Lachend . . . schreiend . . . singend umtanzten sie den Pfahl.

Dazwischen wilde Verwünschungen auf die Weißen.

»Nieder mit den Unterdrückern! . . . Schlagt sie alle tot!« . . .

Bisher war der Kraftwagen kaum bemerkt worden. Der Chauffeur und der Diener neben ihm waren selbst Schwarze. Jetzt begann er die Aufmerksamkeit der in Bewegung geratenen Menge zu erregen.

Der Schlag wurde aufgerissen.

»Ah! . . . ein weißes Täubchen!«

Gierige Hände streckten sich nach Florence Dewey aus. Entsetzt suchte sie in die äußerste Ecke des Wagens zurückzuweichen . . .

Da plötzlich ein Hagel von Stockschlägen auf die wolligen Köpfe!

Im Augenblick der höchsten Gefahr war der schwarze Diener vom Bock gesprungen. Mit herkulischer Kraft hatte er sich den Weg bis zu einem Mann gebahnt, der wenige Schritte vom Wagen entfernt in der Menge stand.

Nur zwei Worte waren es, die er dem zurief:

»Deweys Tochter!«

Im nächsten Augenblick hatte der Mann dem Nächststehenden einen schweren Knüppel aus der Hand gerissen und ließ ihn auf die Köpfe der Bedränger niedersausen.

»Zurück! . . . Zurück . . . oder . . .«

Eine Schußwaffe unterstützte die Drohung. Sie war nicht mehr nötig. Sobald diese scheinbar doch bis zum Wahnsinn erhitzte Bande die Stimme hörte . . . das Gesicht sah, ließ sie von dem Angriff auf Florence ab.

Ein kurzes Kommando des Mannes schaffte dem Wagen freie Bahn.

Von fernher wurde Gewehrfeuer vernehmbar. Aus der Sacramento Street brach ein Trupp berittener Polizisten und schlug auf die festgekeilte Menge ein. Wer nicht ausweichen konnte, wurde niedergeschlagen oder von den Pferden zu Boden geworfen.

Da krachte von der Markthalle her eine Salve und riß blutige Lücken in die Reiterschar.

Jetzt brachen auch aus den anderen Straßen Polizeitruppen vor und drangen auf den Platz. Von der Halle her wurden sie mit wütendem Gewehrfeuer empfangen.

Die bewaffneten Schwarzen hatten sich in der Halle verbarrikadiert und schossen vom Dach und von den Fenstern aus auf die anrückenden weißen Polizeitruppen.

Feuerschein zuckte auf. Brennende Teile des Scheiterhaufens waren vom Winde bis in die Halle getrieben worden und hatten gezündet. Die Eingeschlossenen versuchten das Feuer zu löschen. Die Schüsse der Angreifer trieben sie zurück oder töteten sie. Gierig fraß das Feuer weiter. Bald war die große Halle ein einziger Flammenherd.

Ein wildes Geschrei drang aus dem Innern. Die Polizisten erwarteten, daß die Schwarzen nach irgendeiner Seite hin einen Durchbruch versuchen würden. Doch nichts geschah.

Weiter fraß das Feuer. Die Fenster zersprangen in der Glut. Lauter als bisher drangen durch die offenen Höhlen der wilde Gesang und das fanatische Geschrei der Eingeschlossenen.

Jetzt wurde es schwächer. Im Rauch erstickten die Stimmen der Männer, die lieber sterben, als sich den Weißen ergeben wollten.

* * *

Georg Isenbrandt stand in seinem Laboratorium in Wierny. Er hatte die Tür des Raumes sorgfältig verschlossen. Niemand sollte ihn bei diesen Versuchen stören, die ihm die letzte Sicherheit bringen mußten.

Das Dynotherm wirkte wie eine radioaktive Substanz. Seine Materie zerfiel, löste sich scheinbar in das Nichts auf und verschwand aus der Schöpfung. Dafür aber traten riesenhafte Energiemengen auf, entstanden scheinbar ebenfalls aus dem Nichts und dienten bei den Arbeiten der Kompagnie dazu, die Hochalpen Asiens in einen heißen, viele Tausende von Meter in die Höhe reichenden Dampfnebel zu hüllen.

War das Prinzip umkehrbar, ließ sich eine Kombination finden, bei der neue Materie aus dem Nichts entstand und als Gegenwert Energiemengen gebunden wurden, spurlos aus der Schöpfung verschwanden. Seit Jahren bewegte diese Frage Georg Isenbrandt. In rastloser Forscherarbeit war er dem Problem immer näher gekommen. Der heutige Versuch mußte den letzten Beweis erbringen.

Er saß vor der Apparatur und schüttete eine sorgfältig abgewogene Prise seines neusten Präparates in das Wasser einer hohlen Quarzkugel, die ihrerseits die Kugel des Heliumthermometers umgab.

Er saß und verfolgte die Skala des Thermometers. Was sich hier etwa an neuer Materie bildete, konnte rechnungsmäßig nur Bruchteile eines Milligramms ausmachen. Aber die Energiemengen für die Schaffung auch dieser geringen Stoffmenge mußten gewaltig sein. Das Thermometer mußte ihm zuerst und unfehlbar Aufschluß geben, ob Praxis und Theorie auch wirklich übereinstimmten.

So saß er und verfolgte den schmalen roten Weingeiststreifen, der das im Thermometer eingeschlossene Heliumgas von der Außenwelt abschloß.

Das Thermometer fiel. Schon hatte es den Gefrierpunkt erreicht, und langsam, aber stetig wanderte der rote Faden in dem Thermometerrohr weiter nach unten. Jetzt begann sich die Quarzkugel, in der das Präparat arbeitete, mit einer Eisschicht zu überziehen. Bei der Berührung mit der Zimmerluft schlug sich der in dieser vorhandene Wasserdampf sofort als massives Eis an der Quarzwand nieder.

Und immer noch fiel das Thermometer. Jetzt hatte es 100 Grad Kälte erreicht, jetzt stand es schon auf 180 Grad. Ein massiver, wohl einen halben Fuß starker Eisblock umgab bereits die ganze Apparatur.

Ein eigenartiges Prasseln und Knattern ließ Georg Isenbrandt aufhorchen. Es klang, als ob jemand Schrotkörner auf den Fußboden fallen ließ.

Schon zeigte das Heliumthermometer 250 Grad Kälte. Wo immer die Luft mit der Apparatur in Berührung kam, ging sie selbst sogleich in den flüssigen Zustand über, wurde dann fest und fiel zu Boden und verdampfte dort wieder nebelnd und brodelnd. Aber es wurde kalt und immer kälter auch im Zimmer bei diesem Vorgang. Georg Isenbrandt spürte die Kälte nicht. Wie gebannt hing sein Auge am Thermometer.

. . . 260 Grad . . . 270 Grad . . . nur noch drei Grade trennten die Apparatur von dem absoluten Nullpunkt, bei dem jede Wärme erlischt, jeder Stoff in den festen Zustand übergeht.

Ein Kältegefühl an den Knien ließ ihn aufschaudern. Er faßte mit der Hand nach dem Rockzipfel und brach ein Stück des feinen flämischen Tuches glatt ab. Die flüssige Luft hatte den Stoff durchtränkt und war schließlich in ihm gefroren.

Achtlos warf er das Stück zur Seite. Nur noch das Thermometer interessierte ihn . . . 271 Grad . . . der rote Faden blieb plötzlich regungslos stehen. Der Alkohol war von der Kälte erreicht worden und zu einer massiven Stange gefroren. Jetzt aber sah er, wie die Heliumfüllung in Tropfen im Thermometer hinunterzufallen begann, wie das Heliumgas als feste Kruste an der Innenwand haftete.

Der absolute Nullpunkt war erreicht. Auch der flüchtigste aller bekannten Stoffe, das Heliumgas, erlag dieser exzessiven Kälte und wurde starr und fest.

Georg Isenbrandt ließ sich auf einen Sessel sinken. Minutenlang haftete sein Blick auf dem erstarrten Thermometer. Erst klar und fest. Dann wie träumend. Bilder und Szenen kommender Ereignisse zogen an seinem geistigen Auge vorüber. Fast plastisch sah er, was er bis dahin nur in kühnen Träumen zu hoffen gewagt hatte.

Ein Rütteln an der Tür riß ihn aus seinen Gedanken.

»Wer ist da?«

»Ich! Wellington Fox.«

»Einen Augenblick, Fox . . . sofort . . .«

Georg Isenbrandt sprang auf und machte mit größter Schnelligkeit eine Dynothermlösung zurecht. Im nächsten Augenblick goß er sie über den Apparat aus und riß die Fenster auf. Dann ging er, die Tür zu öffnen.

Wellington Fox stand vor ihm. Regennaß, triefend und kleine Wasserbäche hinter sich lassend.

»Ein schandbares Wetter, Georg . . . d. h. für eure Siedlungen wohl das rechte. Aber höchst unangenehm für mich, der ich ohne Schirm und Regenmantel losgeflogen bin. Ich störe dich bei deinen Arbeiten? Du hast dich eingeschlossen . . .«

»Nein, du störst mich nicht. Du kamst zu einer glücklichen Stunde . . .«

»Glückliche Stunde!? . . . Du meinst, weil es hier endlich kräftig gießt. Seit vier Wochen kein Tropfen Regen hier. Jetzt der Mordsguß. Na! Es war wohl höchste Zeit . . . Ich habe allerlei gehört. Hier blieb es dürr, und woanders war der Regen zu reichlich. Menschenwerk bleibt Stückwerk. Richtig wird die Sache erst, wenn ihr eure Suppe auch den Mäulern vorsetzen könnt, die sie brauchen.«

Georg Isenbrandt blieb unbewegt. Sein Gesicht zeigte gleichmäßige, freundliche Mienen. Dann sprach er:

»Ja . . . das . . . sag mal, Fox, willst du nicht ablegen? Du triefst ja aus allen Nähten.«

Wellington Fox schüttelte sich.

»By Jove! Naß bin ich, aber eine sibirische Kälte ist hier bei dir. Draußen der schönste warme Mairegen, und hier . . . was hast du denn da auf dem Tisch?«

Wellington Fox trat näher heran und betastete den in eine wogende Nebelwolke gehüllten Apparat.

»Dampf? . . . Eis? . . . Ja . . . was . . . pfui, Teufel! . . . das ist ja kalt!«

»Eis ist meistenteils kalt, lieber Fox.«

Wellington Fox hauchte auf seine weiß angelaufene Fingerspitze.

»Weiß ich, Georg . . . ist mir nicht neu. Aber das Eis hier . . . ist ja . . . na, ich taxiere . . .« Er betrachtete seine Fingerkuppe, auf der sich eine schwere Frostblase zu bilden begann . . . ». . . das Eis hier ist ja wenigstens 100 Grad kalt.«

»Sage ruhig 200 Grad, Fox. Das Eis ist kein Wassereis. Es ist Lufteis. Luft ist hier gefroren. Du siehst, was das Dynotherm zu tun hat, um die Frostmasse aufzutauen und zu verdampfen.«

Wellington Fox betrachtete die dampfende und nebelnde Apparatur, von der die Wolken jetzt bereits bis zur Zimmerdecke emporstiegen.

»In der Tat, Georg, das dauert lange. Wenn ich bedenke, wie fabelhaft schnell eine ganz große Lawine auf eine kleine Tube von deinem Dynotherm Wasser und Dampf wurde. Ich habe dir ja mein Abenteuer schon telephonisch erzählt.«

Isenbrandt lachte.

»Ja, Fox, so kopflos darauf loszupudern! Habe ich dich nicht gewarnt, vorsichtig damit umzugehen? Die Leute im Ferghanatal haben nicht schlecht über den unverhofften Segen geflucht. Du bist doch sonst relativ vernünftig. Was lag denn da vor?«

Wellington Fox lächelte etwas gezwungen.

»Zwei so hübsche junge Damen, wie dort im Schnee begraben lagen, konnten auch einen alten Fuchs zu Torheiten veranlassen . . . Na, jedenfalls . . . ich habe da etwas gefunden, was mich veranlaßte, dich aufzusuchen.«

Wellington Fox griff in die Tasche und brachte ein feines, in Marocainleder gebundenes Notizbuch zum Vorschein.

»Das ist ein Souvenir an die eine der beiden Damen, die Gräfin di Toresani.«

»Du behältst das? Du gibst es nicht zurück?«

»Nein!«

»Ah? Also ein Andenken an die Herzallerliebste. Mit Gräfinnen hast du es vor?«

»Falsch geraten, Georg. Die schöne Toresani hat ganz andere Ziele, als einen Journalisten zu heiraten. Ziele . . . die sie in meinen Augen zu einer sehr gefährlichen Person . . .«

»Oho . . . wieso?«

»Ich bin überzeugt, sie ist eine Abenteurerin, die Spionendienste für die gelbe Seite leistet.«

»Hast du Beweise dafür?«

»Ja – das heißt erstmal starken Verdacht. Den strikten Beweis hoffe ich in diesem Büchelchen zu finden. Es geriet mir in die Hände, als ich die Toresani aus der schmelzenden Lawine hervorzog. Sie trug es in einem Ledertäschchen verwahrt unter ihrem Sweater. Als ich sie aus dem Eisschlamm riß, blieb es mir in den Händen.«

Wellington Fox öffnete das kleine Buch.

»Unter diesen harmlosen Notizen hier ist nichts Interessantes. Ich hätte es ihr vielleicht längst zurückgegeben. Aber da fand ich hier noch diesen . . .«

Er blätterte weiter und hielt Isenbrandt die Seite hin. Sie war vollkommen weiß. Nur am Rand, wo offenbar die Nässe gewirkt hatte, traten einzelne Buchstaben hervor. Die äußersten stärker, die innersten nur schwach.

b . . .r  . . . a . . . n . . . d . . . t entzifferte Georg Isenbrandt nicht ohne Mühe.

»Und du meinst?«

Er sah Wellington Fox fragend an.

». . . Daß vor dem ›brandt‹ noch ›Isen‹ stehen muß!«

»Also ›Isenbrandt‹ . . . mein Name?«

»Richtig, mein Freund! Ich wette, daß das Wort vollständig Isenbrandt heißt.«

»Und was weiter?«

»Daß hier zweifellos noch einige für dich sehr interessante Notizen stehen, die ich leider nicht lesen kann. Der Teufel mag wissen, mit welcher sympathetischen Tinte das geschrieben ist.«

Georg Isenbrandt hielt das aufgeschlagene Buch zwischen den Händen.

»Mag es geschrieben sein, womit es will. Auf Dynotherm reagiert es. Das dynothermhaltige Schmelzwasser der Lawine hat diese wenigen Buchstaben sichtbar gemacht . . . Sehen wir weiter . . .«

Er wandte sich nach dem Laboratoriumstisch und fuhr mit dem Buch über den dort stehenden und immer noch dampfenden Eisblock, bis die beiden Seiten völlig durchfeuchtet waren. Dann kehrte er wieder zu Wellington Fox zurück.

Gespannt waren vier Augen auf das Papier gerichtet. Buchstabe auf Buchstabe trat hervor. Triumphierend schlug Fox in die Hände.

»Da steht es: ›Isenbrandt!‹ . . . und nun? – Was sonst noch?«

Wellington Fox hatte das Buch ergriffen und las die Worte langsam herunter. Als er geendet, legte er es vorsichtig auf den Tisch und wandte sich zu Isenbrandt, der stumm mitgelesen hatte.

Einen Augenblick schauten sie sich wortlos an.

»Der Fund hat sich gelohnt, Georg! Über die Absicht der Orenburger Räuber besteht nun kein Zweifel mehr. Es ging um dein Leben . . . Deine Feinde haben deine Bedeutung besser erkannt als deine europäischen Freunde.«

»Du hast recht, Fox. Der Fund war gut. Eine Warnung für die Zukunft.«

Er nahm das Buch und schloß es in seinen Tresor.

»Na . . . siehst du, Georg, ich hatte doch eine glückliche Hand, als ich die starken Prisen auf den Schnee ausstreute. Andernfalls wären die inhaltschweren Buchstaben kaum sichtbar geworden.«

»Es ist noch einmal gut gegangen, alter Fox. Trotzdem muß ich dich warnen. Mit dem Dynotherm ist nicht zu spaßen. Es sind ungeheure Energiemengen, die du da auf dem kleinen Raum eines Lawinenfeldes entfesselt hast. Es konnte dir sehr leicht gehen wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde. Was war damals mit dir los? . . . Irgend etwas anderes? Fox, meine Junge, ich glaube fast, daß dein Herz auch eine Dosis Dynotherm abbekommen hat.«

»Und wenn es wirklich so wäre, dann würde ich schließlich doch auch nur berühmten Beispielen folgen.«

Georg Isenbrandt blickte den Sprecher fragend an.

»Ja! Dich meine ich, Georg . . . Gerade dich. Sollte es nur die Erinnerung an Maria Ortwin sein, die dir jene andere Mara, unsere junge Reisegefährtin, so teuer macht?«

Isenbrandt kämpfte kurze Zeit mit einer leichten Verwirrung.

»Du versuchst vergeblich, nach alter Fuchsenweise deine Spur zu verwischen. Aber . . . das wird dir nicht gelingen.

Da es nicht die Gräfin Toresani ist, so muß es logischerweise die kleine Garvin sein, die es dir derart angetan hat . . . Immerhin . . . Francis Garvin ist dir großen Dank schuldig . . .«

». . . Und da Mr. Garvin niemand etwas schuldig zu sein wünscht, so hat er mir eine Vertragsurkunde zugehen lassen, die bis auf meine Unterschrift fertig war . . .«

»Und die enthielt?«

»Wenn ich sie unterschrieb, war ich der alleinige Besitzer der Chikago-Preß.«

»Oho . . .!«

»O ja! Francis Garvin läßt sich nicht lumpen . . . Aber Wellington Fox auch nicht!«

»Und?«

»Ich habe ihm seinen Vertrag fein säuberlich ohne Unterschrift zurückgeschickt . . . mit dem Anheimgeben, mit der Chikago-Preß andere Leute glücklich zu machen.«

»Gut gemacht, Fox! Deine Beziehungen zu Francis Garvin werden damit nicht abgebrochen sein . . . taxiere ich . . . du lachst? . . . Ich werde die weitere Entwicklung mit Interesse verfolgen . . . Willst du mich jetzt auf einem Fluge begleiten?«

»Gern, Georg! Aber erst muß ich mich bei dir umkleiden. Der Regen ist durch und durch gegangen. Ich hatte meine Nässe über unsere Experimente hier fast vergessen. Jetzt macht sie sich doppelt fühlbar.«

Eine Viertelstunde später stieß die schnellste Flugmaschine der Station Richtung Nord zu Nordwest durch den strömenden Regen. Nur die beiden Freunde waren an Bord, und Georg Isenbrandt steuerte selbst.

Je weiter sie vorwärtskamen, desto schwächer wurde der Regen, bis er jenseit des Balkaschsees ganz aufhörte. Jetzt war die Luft gut sichtig. Grüne Felder und Triften zogen unter ihnen hin, während Isenbrandt die Maschine auf die höchste Geschwindigkeit setzte. Mit etwa tausend Stundenkilometer schoß sie jetzt durch den Äther.

Grauer wurde das Grün unter ihnen. Die Zeichen der Trockenheit, ja der Dürre mehrten sich.

Über einer unbestellten Steppe ließ Isenbrandt das Flugschiff tief hinabgehen. In einer Höhe von kaum hundert Meter zog er an einem Hebel. Wellington Fox glaubte durch die Scheiben der Kabine eine glitzernde, flockende Masse nach unten fallen zu sehen. Es war ihm, als ob etwas auf die Fläche eines kleinen, beinahe ausgetrockneten Landsees aufschlug. Aber er war seiner Sache nicht sicher. Schon hatte Isenbrandt die Steuerung herumgeworfen und ließ das Fahrzeug in steilen Spiralen steigen. Schon hatte es wieder eine Höhe von zehn Kilometer erklommen und gewährte den Insassen einen weiten Rundblick . . . Vorwärts weithin in die endlose sibirische Steppe . . . Rückwärts bis zu den Gestaden des Balkaschsees und den Kämmen der Himmelsberge.

Wellington Fox hatte den jähen Abstieg und das schnelle Wiederaufsteigen der Maschine mit Verwunderung beobachtet. Jetzt stellte Isenbrandt die automatische Steuerung ein und trat frei in den Raum.

»Was war das? . . . Was bedeutete das?«

In Erregung stieß Wellington Fox die Frage hervor. Instinktiv spürte er, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war, ohne das Was und Wie zu wissen.

Isenbrandt trat an die Fenster und wies mit der Hand nach Osten.

»Sieh dort hin!«

Wellington Fox trat neben ihn.

»Was soll ich denn sehen? . . . Ich sehe dort nichts!«

»Schau!«

»Ja, was denn? . . . Nebel . . . Ich sehe die Kämme des Thian-Schan . . . Im Nebel . . . Die Wolken strömen hierher . . . Sie werden immer größer . . . sie kommen hierher . . . Immer schneller . . . Und jetzt . . . Und jetzt . . .«

Wellington Fox war in höchster Erregung. Fast lallend kamen die letzten Worte aus seinem Munde. Jetzt wandte er sich zu Isenbrandt. Ein Blick auf dessen Gesicht . . . Das Gesicht des sieghaften Tatmenschen.

Taumelnd trat er zurück. Grauen malte sich auf seinen Zügen.

»Georg! Du? . . . Du! Dein Werk ist das?«

Schweigend nickte Isenbrandt.

Wellington Fox ließ sich auf einen Sessel fallen. Auch er sprach nicht mehr. Er deckte die Augen mit der Linken. Nur das Zucken seiner Rechten auf der Sessellehne verriet seine tiefe Erschütterung.

Wie im Traum erinnerte er sich später daran, wie das Flugschiff noch mehrere Male in die Tiefe schoß. Wie Isenbrandt seine Bomben warf. Wie Nebel, Donner, Blitze und schwere Regengüsse dem Wege des Flugschiffes folgten.

* * *

Waffenklirren . . . Kommandorufe . . . Der Taktschritt kleiner, aber auserlesener Formationen. Die helle Maisonne bestrahlte das Lager der Kompagnietruppen am Nordabhang des Alatau. Von einer Übung im Gebirge kehrten die Truppen zurück.

Vielleicht hatte Wellington Fox doch in einer Beziehung recht, als er einmal die European Settlements Company mit der südafrikanischen Chartered Company des neunzehnten Jahrhunderts verglich. Wie diese einst in den großen afrikanischen Gebieten, so unterhielt die E. S. C. hier im Herzen Asiens, in den östlichen Teilen der Siedlungsgebiete, ein kleines, aber ausgesuchtes und schlagfertiges Heer. Normalerweise nur für die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz der Siedler gegen zufällige Räubereien bestimmt. Im Notfall aber auch der erste Prellbock gegen einen offenen Angriff, bis die reguläre europäische Waffenmacht zur Stelle war.

Die wirtschaftliche Autonomie der Siedlungsgebiete bedingte auch den Selbstschutz. Im Innern der Gebiete, soweit sie nicht unter russischer Hoheit geblieben waren, durch eine Siedlermiliz. An den Grenzen durch jene Berufstruppe.

Nachdem die europäischen Bürgerkriege, wie man jetzt die früheren Streitigkeiten der europäischen Nationen ironisch nannte, aufgehört hatten, war nur hier noch eine der wenigen Möglichkeiten, gelegentlich Pulver zu riechen. So traf sich unter den Fahnen der Kompagnie viel von dem alten guten Soldatenblut Europas. Kameradschaftlich dienten hier die Urenkel berühmter europäischer Heerführer, die einst schwere Schlachten gegeneinander geschlagen hatten.

Das Flugzeug Isenbrandts landete auf dem Flugplatz des Lagers. Das Kompagniewappen, das groß und weithin sichtbar seine Flanken zierte, erlaubte es ihm, die Lagergrenzen zu überfliegen und hier niederzugehen. Auf die Meldung des Wachthabenden am Lagertor erschien ein Adjutant des Generals Effingham, des Oberstkommandierenden der Kompagnietruppen. In seiner Begleitung gingen sie zur Wohnung des Generals.

Wellington Fox blieb mit dem Adjutanten auf dem Vorplatz vor dem Hause zurück. Georg Isenbrandt trat ein und traf im Vorzimmer den Obersten von Bülow, der dem Kommandierenden als Generalstabschef beigegeben war.

Mit herzlichem Händedruck begrüßte Isenbrandt den ihm seit langen Jahren bekannten Offizier. Er wußte, daß der lieber heute als morgen gegen die Gelben vom Leder gezogen hätte. Aber die Entscheidung darüber lag nicht in den Händen des Obersten.

»Sie wünschen den Herrn General zu sprechen, Herr Isenbrandt?«

Isenbrandt nickte. Der Oberst fuhr fort:

»Schlecht Wetter heute! Der hat sich auf seine alten Tage noch ein paar Skier angeschnallt . . . Den Knöchel verrenkt. Können Sie Ihren Besuch nicht verschieben?«

»Nein! Die Sache ist von Wichtigkeit!«

»Na, dann Hals- und Beinbruch! Wollen Sie mir, bitte, folgen.«

Wellington Fox und der Adjutant Averil Lowdale saßen in der warmen Frühlingssonne auf ein paar Feldstühlen vor der Baracke des Generals. Die Unterhaltung der beiden schleppte sich nur mühselig weiter. Mochte es sein, daß der Berichterstatter der Chikago-Preß allerlei fragte, was der Adjutant aus militärischen Gründen besser unbeantwortet ließ . . . oder mochte Averil Lowdale selbst wenig sprechlustig sein?

Schließlich kam das Gespräch ganz ins Stocken. Wellington Fox betrachtete von der Seite her das verschlossene Gesicht seines Partners. Es verriet ihm noch mancherlei zu dem, was er bereits wußte. Die Affäre Lowdale-Dewey hatte nicht allein für die Upper ten der Union Wochen hindurch den Gesprächsstoff gebildet. Die schwarze Presse hatte das Vorkommnis weidlich ausgeschlachtet. Die gelbe Presse hatte die Affäre mit der älteren ähnlichen Geschichte desselben weißen Adelshauses zusammen behandelt. So waren Wellington Fox alle Einzelheiten dieser Affäre natürlich genau bekannt. Aber jetzt erst hatte er Gelegenheit, den Hauptbeteiligten zu sehen . . . kennenzulernen.

Averil Lowdale saß immer noch in tiefe Gedanken versunken und starrte in die Ferne, während die scharfen Ohren des Journalisten bereits Bruchstücke der Unterhaltung aus dem Generalszimmer auffingen. Dort war der Wortwechsel inzwischen recht lebhaft geworden.

»Zum Teufel mit Ihrer Gespensterseherei! . . . Das traurige Kirgisengesindel halten unsere Gendarmen in Ordnung . . .«

»Sie weigern sich also, Herr General, meinem Ersuchen zu willfahren?«

Bisher hatte Wellington Fox nur das Poltern des Generals gehört. Jetzt klangen auch die Worte Isenbrandts scharf und schneidend an sein Ohr.

Einen kurzen Moment schien auch Averil Lowdale aufzuhorchen. Aber er war das Poltern des Generals gewohnt und sank wieder in sein Sinnen zurück.

»Selbstverständlich weigere ich mich! . . . Ich denke gar nicht daran, die Milizen aus den Kolonien zu mobilisieren. Wohin sollten wir kommen, wenn ich jedem Abschnittsingenieur einen besonderen Schutz stellen muß . . . Kirgisenaufstände . . . Humbug . . . Macht auf mich keinen Eindruck . . .«

»Dann bitte ich Sie, Herr General, dies hier zu lesen . . . Es wird hoffentlich Eindruck auf Sie machen.«

»Was soll mir das?! . . . Was? . . . Vollmacht!? . . . Vollmacht?! . . . Den Wünschen des Ingenieurs Isenbrandt ist unbedingt Folge zu leisten . . . Folge leisten!?«

Die Stimme des Generals war im Begriff, sich zu überschlagen.

»Ich . . . Der General Effingham! . . . Folge leisten . . .«

Das stiermäßige Gebrüll hatte auch Averil Lowdale aus seiner Apathie aufgerüttelt. Er hielt es für geboten, den Berichterstatter der Chikago-Preß aus der Hörweite der Unterhaltung heranzubringen. Aber seine indirekten Versuche stießen auf außergewöhnliches Nichtverstehen. Wellington Fox hatte viel zuviel zu tun, um noch mit gespitzten Ohren die Antwort Isenbrandts zu erhaschen.

»Wie Sie denken, Herr General! Wenn Sie es nicht können oder wollen, wird es ein anderer an Ihrer Stelle machen.«

»Denjenigen meiner Untergebenen möchte ich sehen, der das wagt?!«

»Herr General, ich ersuche Sie, Ihr Kommando an Herrn Oberst von Bülow abzugeben!«

»Sind Sie verrückt, Herr?«

Man hörte, wie zwei Fäuste dröhnend auf die Tischplatte krachten.

»Ich denke nicht! Bitte, hier! Lesen Sie auch diese Vollmacht!«

Averil Lowdale hielt es jetzt für angebracht, seinen schwerhörigen Gast mit sanfter Gewalt aus der Reichweite dieses Dialogs zu entfernen.

* * *

Als Erster sprang Georg Isenbrandt aus dem Coupé, als der Zug in den Bahnhof von Kaschgar einfuhr. Mit größtmöglicher Schnelligkeit folgte ihm Wellington Fox. Durch das Gewühl der Passagiere suchten sie den Weg ins Freie.

»Noch einmal, Georg . . . Zum letzten Male. Es ist ein bodenloser Leichtsinn, daß du dich hier geradeswegs in die Höhle des Löwen wagst. Kann ich das nicht allein ebensogut ausrichten?«

»Nein!«

Während Georg Isenbrandt gleichmäßig weiterschritt, traf ein entschlossener Blick den Freund.

»Nein! Ich habe es versprochen . . . Ich halte, was ich versprach.«

Wellington Fox gab es auf, weiter in ihn zu dringen. Aber seine Hand tastete nervös nach der kleinen wirksamen Waffe in der Rocktasche.

»All right, Georg! Die Kühnheit ist zu groß, um zu mißlingen. Georg Isenbrandt am hellichten Tage in den Straßen Kaschgars, am Sitze des chinesischen Generalkommandos . . . Das Stückchen ist nicht übel.«

Sie durchwanderten Straßen und Gassen und standen vor dem Gartentor des Witthusenschen Hauses. Sie zögerten betroffen, noch ehe sie die Glocke zogen.

Die Vorhänge herabgelassen . . . Alle Fenster verhängt. Schon von außen ein totes Bild der Verlassenheit.

Mit einem energischen Ruck riß Fox an der Klingel. Lange Zeit schien niemand zu hören. Endlich öffnete sich ein Spalt in dem massiven Tor. Das Gesicht des alten chinesischen Boys kam zum Vorschein.

»Herr Witthusen?!«

Wellington Fox stellte die Frage, während er gleichzeitig den Fuß in die Türspalte schob und mit einem kräftigen Schulterdruck den Flügel so weit zurückdrängte, daß sie eintreten konnten.

»Herr Witthusen ist nicht zu Haus?«

Zum zweitenmal und noch dringlicher fragte Fox.

Der Chinese schüttelte verneinend den Kopf.

»Und Fräulein Witthusen?«

Das Gesicht des Gelben sagte mehr als Worte.

»Wo sind sie hin?«

Isenbrandt war auf den Gelben zugetreten. Der schüttelte nur den Kopf und machte ratlose Gebärden mit den Händen.

Wellington Fox schob sich zwischen Georg Isenbrandt und den Boy. Eine Note von hohem Gepräge raschelte in der Faust des Gelben und verschwand zauberhaft schnell in der faltigen Kleidung.

»Wo sind sie hin?« wiederholte Fox. »Wann sind sie abgereist?«

Der Gelbe krümmte sich verlegen. Seine Hände tasteten nach der Stelle, wo der Schein knisterte.

»Wohin sie sind, hoher Herr . . . Hui-Fang weiß es nicht . . . Vorgestern abend in der zehnten Stunde kam ein Auto vorgefahren. Zwei Offiziere stiegen aus und gingen zu dem Herrn . . . Und dann . . . Dann kamen sie wieder heraus . . . Mit ihnen der Herr und Fräulein Maria Feodorowna und . . . stiegen zusammen in das Auto . . . und fuhren fort.«

»Wohin sind sie?«

Georg Isenbrandt hatte Fox beiseite geschoben und stand vor dem Chinesen, der sich unter seinem Blick zusammenkrümmte.

»Wohin? . . . Bei den Geistern deiner Ahnen!«

Das gelbe Gesicht nahm einen grauen Schein an. Seine Augen hingen an denen Georg Isenbrandts und konnten nicht los davon. Dann sank er in die Knie und hob beschwörend die Hände.

»Ich weiß es . . . nicht . . . hoher Herr! Ich weiß es nicht.«

Georg Isenbrandt taumelte zurück. Tiefaufatmend bedeckte er die Augen mit der Rechten. Wellington Fox fragte: »Hat der Herr etwas hinterlassen? . . . Befehle?«

»Nein! Nichts . . .« Nach einer Weile kam es zögernd von den Lippen des Gelben.

»Gestern in der Frühe war Mr. Cameron hier. Der sagte, der Herr ist verreist und kommt vorläufig nicht wieder. Jeder Arm, der etwas aus dem Hause nimmt, wird abgehackt. Mr. Cameron hat alles verschlossen . . . hat alle Schlüssel mit sich genommen . . .«

Als der Name »Cameron« fiel, zuckte Wellington Fox zusammen.

»Ist Mr. Cameron noch in Kaschgar?«

»Ich weiß nicht . . . Sicher . . . Ich glaube . . .«

Der Gelbe wand sich unter der Frage, während ihm Wellington Fox Wort für Wort abrang.

Georg Isenbrandt fuhr dazwischen. Mit der Rechten hatte er das Gewand des Gelben an der Brust gepackt und schüttelte ihn wie ein Bund Flicken.

»Wo ist Mr. Cameron?«

»Der Diener sagte, sein Herr wäre . . .«

»Wo ist Mr. Cameron?«

». . . in Peking.«

Mit jähem Ruck warf Georg Isenbrandt das taumelnde Etwas in einen Winkel.

»Komm, Fox, wir haben hier nichts mehr zu tun!«

Fast mechanisch schlugen sie den Weg zum Bahnhof ein. Minuten hindurch gingen sie stumm nebeneinander her. Dann brach Wellington Fox das Schweigen.

»Was tun?«

Er erhielt keine Antwort. So sprach er selbst weiter:

»Also nach Peking!«

»Wer?«

»Ich! . . . Mit dem nächsten Postschiff!«

»Du wolltest?«

»Selbstverständlich, Georg! An der Quelle ist am meisten zu holen. Der selige Pinkerton soll sich vor Neid über meine Erfolge noch im Grabe umdrehen! Collin Cameron ist jetzt ein doppeltes Jagdobjekt für mich. Ich werde ihn finden . . . und ihm das Handwerk legen . . . Was wirst du tun?«

Georg Isenbrandt schwieg.

»Ich würde dir raten, eine vertraute Person auf die Spuren der Vermißten zu setzen. Hast du nähere Bekannte in Kaschgar?«

Isenbrandt schüttelte den Kopf.

»Nein, Fox!«

»Glaubst du deinem Dienet Ahmed trauen zu können? Er ist doch Dschungane.

»Ahmed? Er ist treu. Ja! Ihn werde ich schicken. Gut, Fox! Wann willst du fahren?«

»Sofort!«

»Dein Gepäck? . . . Deine Sachen?«

»Die liegen gut im Kogarthaus. Mit dem nächsten Postschiff.«

»Fox . . . du guter Freund . . . du weißt immer Rat . . . du wirst mir Nachricht geben . . . auch von der kleinsten Spur.«

Einen Moment standen sie sich Hand in Hand gegenüber.

»Frisch auf, Georg!«

»Halt! Noch eins!«

Georg Isenbrandt griff in seine Tasche und holte eine kleine Glasröhre hervor.

»Du kommst nach Peking. Du wirst morgen früh dort sein. Um die Mittagsstunde wirf dies hier von irgendeiner Brücke ins Wasser!«

Wellington Fox ließ das Röhrchen in die Tasche gleiten.

»Noch etwas?«

»Ja! Bevor du es wirfst, mußt du den Korken öffnen. Aber auch keine Sekunde früher. Vergiß das nicht. Denke an deine Erfahrungen mit der Lawine!«

»All right, Georg!«

* * *


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