Hans Dominik
Atlantis
Hans Dominik

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Die zweite Nacht hatten sie das Atoll umfahren. Am Abend des dritten Tages hatten sie es gefunden. Die Beschreibung Christies traf in allen Punkten zu. Die Felsen waren nach allen Seiten hin unbesteiglich. Der Eingang zur Lagune durch das Felsenriff? . . . Die Seeräuber hatten ihn einst gefunden, also mußten sie ihn auch finden. Doch alles Suchen war vergeblich. Immer wieder hatten sie das Atoll kreisend umfahren, stets bestrebt, sich nicht einem Wächter der Besatzung zu verraten.

Ein Zufall mußte es gewesen sein, der irgendwann bei starker Ebbe den Piraten den unterseeischen Weg zeigte. Ein starker Sturm vielleicht könnte den Eingang freilegen. Aber die See war ruhig, spiegelglatt.

Uhlenkorts Erregung hatte sich von Tag zu Tag gesteigert. Der Gedanke, Christie hier in unmittelbarer Nähe zu wissen . . . mehrmals hatten sie auf dem Rande der Klippen eine weibliche Gestalt zu sehen geglaubt, die wohl Christie sein konnte.

Immer wieder hatte er sich an Tredrup gewandt, an ihn, den Findigen, Listenreichen. Der wußte keinen Ausweg, starrte mit zusammengebissenen Zähnen zu den Klippen hinüber, die wie Burgzinnen unersteiglich vor ihnen lagen.

Die Welle nach Saltadera! Uhlenkorts Blicke gingen immer wieder zu dem Sender. Den Freund dort zu fragen, zu bitten . . .

Die Nacht verging.

Tredrup gab den Befehl zu tauchen. Die Fahrt ging unter Wasser weiter. Nur das Periskop, auf die Insel eingestellt, zeigte ihr Bild.

Uhlenkort starrte darauf hin. Die Mauern der Klippen glitten vorüber, lückenlos. Fast jeder Stein in hellem Sonnenlicht deutlich erkennbar. Er trat zurück.

»Vergeblich, unmöglich, Tredrup. Das schärfste Auge vermag nichts zu sehen. Wir nähern uns jetzt der Korallenbank im Osten, wir müssen ausweichen. Wär's nicht doch möglich, daß eine andere Insel, dieser ähnlich, die gesuchte wäre, wo Christie verborgen ist?«

Tredrup schüttelte den Kopf. »Meine Nase, und auf die schwöre ich, sagt mir, diese Insel ist's und keine andere.« Er trat zum Periskop.

Das Boot hatte seinen Kurs geändert. Er stellte das Periskop neu ein. Dann bohrte sich sein Auge in das Bild der Insel. Uhlenkort war im Begriff, den Raum zu verlassen. Ein Schrei aus Tredrups Mund hielt ihn zurück. Er stürzte zu ihm hin.

»Ich sehe den Eingang . . . ich sehe ihn . . . dort liegt er.« Er wollte weitersprechen, da hatte ihn Uhlenkort weggerissen, schaute selbst hindurch.

»Der Eingang! Dort liegt er!« murmelten seine Lippen noch. »Groß und breit das dunkle Tor in dem hellerleuchteten Gestein!«

Er wandte sich zu Tredrup um.

»Tredrup! Du, was ist das? Die Öffnung! Wohl über einen Meter noch liegt sie frei da. Wie ist das möglich, daß wir sie nicht früher sahen? Mehr als ein dutzendmal kamen wir schon an dieser Stelle vorbei und sahen nichts.«

Tredrup starrte auf den Boden. Eine leichte Blässe lag auf seinem Gesicht. Dann, als hätte er einen Entschluß gefaßt, ging er zu seinem Periskop. Stop! schrie er ins Mikrofon. Das Boot bewegte sich ein kurzes Stück noch, dann stand es.

Tredrup maß die Entfernung zur Küste. An dieser Stelle des Meeres hatten sie am Tag zuvor ebenfalls haltgemacht. Sein Blick ging über die Kronen der Klippen. Die beiden Palmenwipfel, die er gestern noch eben über der Felsenkante sah, waren jetzt nicht mehr zu sehen.

»Saltadera!« murmelten seine Lippen. »Wibehafen! . . . Der vom Leuchtturm . . . Vineta . . . Black Island . . . eine Kette!« Er wandte sich zu Uhlenkort.

»Du willst es wissen, wie das geschehen konnte, daß wir heute sehen, was gestern unsichtbar war? Frage ihn in Saltadera!«

Uhlenkort trat einen Schritt zurück, sah Tredrup an, als verstände er ihn nicht.

»Was sagst du? Er?«

». . . Er hob in dieser Nacht den Meeresboden hier und die Insel darauf! Sein Werk!«

Uhlenkort legte die Hände über die Augen.

»Sein Werk, Tredrup! Auch das ist sein Werk. Die Macht in seinen Händen. Mich graut. Zuviel, zuviel für schwache Menschenhand. Zuviel, was das Schicksal einem gab, der von irdischer Mutter geboren ward. Seine Hand umspannt den Erdball. Menschen, Meer und Land sind ihm Untertan.«

Ein knirschender Ton vom Kiel des U-Bootes riß sie aus ihren Gedanken. Im Schaukeln der Flut hatte das Boot leicht ein unterseeisches Riff gestreift.

»Hallo!« rief Tredrup. »Sanfte Warnung! Gut, daß ich stoppen ließ. Das Boot in Fahrt . . . es hätte ein böses Leck geben können.«

Schon stand er am Maschinentelegrafen. »Achtung! Rückwärts halbe Kraft!«

Langsam schob sich das Boot von der Untiefe ab. Neue Kommandos. Die Ballasttanks füllten sich, das Periskop wurde eingezogen. Das Boot sank, bis es in fünfzig Meter Tiefe ein sicheres Lager auf sandigem Grund fand.

Die Sonne war untergegangen, als das Boot wieder auftauchte. Sie hatten lange beraten, ob sie ebenso wie die Piraten mit dem U-Boot durch den Tunnel fahren sollten. Der Plan war zurückgestellt worden. Erst sollte der Versuch gemacht werden, im Boot durch den Durchlaß zu schlüpfen. Die schwache Besatzung rechtfertigte ein solches Unternehmen.

Eine breite, ziehende Wolkenbank verbarg die Mondscheibe, als das Beiboot mit Uhlenkort, Tredrup und einem Dutzend bewaffneter Matrosen abstieß. Mit leisen Ruderschlägen näherte es sich den Korallenfelsen. Nach kurzem Suchen fanden sie den Durchlaß.

Es galt äußerste Vorsicht. Konnte man doch nicht wissen, ob die Tunnelhöhle gleichmäßig durch den zweihundert Meter breiten Korallenkranz lief. Vielleicht kam gar das Wasser im weiteren Verlauf wieder bis an die Tunneldecke heran.

Im ersten Teil der Durchfahrt schoben sie das Boot vorwärts, indem sie die Hände gegen die Decke stemmten. Nach etwa hundert Meter wurde der Tunnel niedriger. Fast streiften ihre Köpfe die Felszacken der Decke. Nahm die Höhe so weiter ab, mußte die Ausfahrt zur Lagune versperrt sein.

Da glitzerte es vor ihnen hell auf. Die Strahlen des Mondes brachen sich in dem Wasserspiegel der Lagune. Ein paar kurze Stöße noch, und sie waren in der Lagune. Ein Kranz sandigen Strandes darum. An der Ostseite ein Bootssteg.

Darauf zu!

So gute Dienste das Mondlicht ihnen beim Suchen leisten mußte, so groß war die Gefahr jetzt, daß man sie sehen, auf sie schießen könnte.

»Mir nach in den Klippenschatten!« kommandierte Tredrup. »Sind wir im Dunkel, sind die Waffen gleich.« In wenigen Augenblicken war das Boot leer, alles um Tredrup versammelt.

Wo ist Christie? Wo sind die Seeräuber? Das war die Frage. Rings um sie herum das Gewirr der Korallenklippen. Überall Möglichkeiten zum Unterschlupf, zum Versteck.

»Erst Christie!« flüsterte Uhlenkort Tredrup leise zu. Er sah nicht, wie Tredrup bei diesen Worten sein Gesicht zu einer Grimasse verzog.

Erst Christie! Ja, hätte man gewußt, wo sie war. Tredrup nahm das Nachtglas vor die Augen, ging damit die Felsen in der Runde ab. Ein heller, schmaler Strich an der nördlichen Felswand, wie ein Pfad kam es ihm vor. Irgendwohin mußte er führen.

Christie oder die Seeräuber oder alle beide!

Darauf los! Die Hälfte der Mannschaft zurücklassend, schritt er, von Uhlenkort und den übrigen gefolgt, der Stelle zu.

»Ein Pfad!« flüsterte er Uhlenkort zu. »Ein Pfad, der nach oben führt. Kein unnützes Geräusch! Alles schußfertig!«

Der Pfad ging mit einer scharfen Biegung rechts ab. Tredrup winkte allen, zurückzubleiben, schlich um den Felsenvorsprung und ging allein weiter. Wieder bog der Pfad zur Seite, mündete vor einem dunklen Höhleneingang. Ein paar ausgehauene Stufen. Im Licht des Mondes sah er, daß hier Menschenhand gearbeitet hatte. Vorsichtig trat er in die Höhle. Völliges Dunkel umgab ihn. Er wagte es nicht, die Handlampe aufleuchten zu lassen. Leise schritt er weiter, Schritt für Schritt über den Boden tastend. Da traf an sein gespanntes Ohr das tiefe Atmen schlafender Männer.

Die Seeräuber! Was tun? Mit derselben Vorsicht, mit der er gekommen, ging er zurück, winkte seinen Leuten, ihm zu folgen. Vor dem breiten Höhleneingang fanden sie Platz, sich aufzustellen.

»Alles fertig?«

»Fertig!« kam die Antwort. Er zog aus seiner Tasche eine starke Leuchtpatrone, zündete sie an und warf sie mit weitem Schwung in die Höhle.

»Drauf!« gellte sein Ruf. »Drauf!« brach sich der Widerhall im Kreis der Felswände.

Ein paar Schüsse knallten . . . Geschrei Getroffener. Fünf Minuten später lag die Besatzung gut gefesselt am Eingang zur Höhle. Ein Toter. Der Offizier, der Kommandant des Atolls. Er hatte sich bis zum letzten Augenblick gewehrt, dann, als er sah, daß Widerstand aussichtslos war, sich mit seiner eigenen Waffe getötet.

»Wo ist eure Gefangene?« schrie es den Gefesselten von allen Seiten zu. Ein Verwundeter, der nicht gebunden war, deutete mit dem Arm zur anderen Wand der Felsen.

»Da drüben, wo das Licht glänzt.«

Im Nu flogen alle Köpfe herum. Schon stürmte Uhlenkort den Pfad hinunter, kaum, daß ihm Tredrup folgen konnte.

Dann standen sie keuchend am anderen Rand der Lagune, suchten nach dem Aufgang zum Licht, fanden ihn nicht. Ungeduldig lief Uhlenkort an den zackigen Wänden der Felsen entlang.

Da kam das Licht von oben herunter. Verschwand hinter einem Felsvorsprung, tauchte wieder auf . . . verschwand wieder . . . war unten am Strand der Lagune.

»Christie Harlessen! Christie!« schrie Uhlenkort. »Bist du's?«

»Ich bin's, Walter!«

Das Licht fiel zur Erde . . . verlosch . . .

*

Guy Rouse saß in seinem Arbeitszimmer. Er war allein. Eben hatten ihn drei befreundete Abgeordnete verlassen. Sie waren gekommen, wie um einen Freundschaftsbesuch zu machen, wie um ihre unwandelbare Ergebenheit, Anhänglichkeit wieder zu beteuern. Doch Rouse hatte sie durchschaut.

Der eine, der Wortführer Teddington, hatte vergeblich versucht, in der Unterhaltung wie beiläufig Fragen einzuflechten, die mit der Börse, den Kanalaktien, zusammenhingen.

Er hatte sie entlassen, hatte durchblicken lassen, daß der hohe Stand der Kanalaktien noch keineswegs der höchste sei. Die Männer waren gegangen, Miller und Struck den Kopf voller Gedanken, wo Geld hernehmen, wo borgen, um noch mehr Aktien zu kaufen, Teddington ebenso fest entschlossen, noch heute zu verkaufen.

In der letzten Woche hatte der Aktienkurs eine schwindelnde Höhe erreicht. Rouse überflog die Börsenberichte Amerikas, verglich sie mit den Kursen der übrigen Welt. Die amerikanischen hatten immer einen kleinen Vorsprung. Dieser war heute größer denn je.

»Es ist höchste Zeit«, murmelte er vor sich hin. »Man scheint andernorts mißtrauisch zu werden. Auch ohne diese überraschende Nachricht meines Agenten, daß die Kanalsohle nach zuverlässigen Messungen an verschiedenen Stellen sich um beinahe dreihundert Meter gehoben hat. Ein glücklicher Zufall, daß es nicht irgendeinem Kapitän einmal einfiel, die Messungen des Schiffahrtsamts nachzuprüfen.«

Rouse saß am Tisch und schrieb. Ein chiffriertes Telegramm an seine Vertreter an den Hauptbörsen der Welt. Er schrieb es zwanzigmal in zwanzig verschiedenen Chiffren, übergab die Schriftstücke einem Sekretär zur Besorgung.

Der Auftrag: Den Restbestand seiner Aktien morgen noch bestens zu verkaufen. Es waren viele Aktien, die Guy Rouse besaß, die er durch diese Aufträge auf die Börsenmärkte warf. Der Kurs der Aktien mußte durch diese Transaktion erschüttert werden. Die Aktien mußten daraufhin zweifellos nachgeben. Aber was bedeutete das gegenüber dem Sturz, der kommen mußte, wenn er das Steigen des Kanalbetts der Öffentlichkeit in geschickter Weise bekanntgab. Am Tage nach diesen Pressenotizen mußte an allen Börsen eine Deroute in Kanalaktien ausbrechen. Dann würden seine Börsenvertreter in der ganzen Welt unterderhand riesenhafte Rückkäufe machen. Schon am Abend dieser Rückkäufe, die weit über sein Barvermögen hinausgehen sollten, würden neue Pressenotizen, gestützt auf wissenschaftliche Gutachten, die Veränderung der Kanalsohle unbedenklich, als letzten Beruhigungsvorgang des gequälten Erdbodens hinstellen. Der Kurs würde sich wieder heben, zumal er, der Präsident der Gesellschaft selbst, dann offen, wenn auch nur mit bescheidenen Summen, als Käufer auf den Markt treten würde. Durch weitere Pressemeldungen und Gutachten würde dafür gesorgt werden, daß der Aktienkurs sich wieder vollständig erholte.

Das Steigen der Kanalsohle – im ersten Augenblick hatte die Nachricht wie ein Donnerschlag auf ihn gewirkt. Unablässig hatte er über den rätselhaften Vorgang nachgedacht, nach einer Erklärung gesucht. Hatte dem Agenten Order zugehen lassen, durch fortgesetzte Lotungen die Bewegungen des Kanalbettes zu verfolgen. Die letzte Nachricht des Agenten, vor einer Stunde war sie eingegangen: kein weiteres Steigen.

Ausgleichserscheinungen mußten es gewesen sein, die jetzt zum Stillstand gekommen waren. Gut für seine Pläne. Das Ende der Riesentransaktion . . . wie schon so oft würde es einen Riesengewinn für ihn bedeuten.

*

Die Sterne am Himmel verblaßten. Ein leichter Schimmer im Osten kündete den neuen Tag. Der einsame Mann in Saltadera ließ sich am Arbeitstisch nieder. Das energetische Bild des Kanals erschien am Schirm.

Die in der Sialscholle eingesprengten Magmamassen . . . größere, kleinere. Ihre glutflüssigen Massen mit Wasser in Berührung! Eruptionen, große, kleine . . . Tod, Vernichtung bringend! Wie es vermeiden?

Tage und Nächte hatte er gesonnen. Es war nicht möglich. Menschenleben vernichten bei seinem Werk, konnte das Schicksal das auch wollen?

Seine Finger bewegten einen kleinen silbernen Tokschor. Die Blätter der Trommel glitten langsam an seinem Auge vorbei. Er schüttelte den Kopf.

Nichts! Nichts! Das Schicksal geht seinen Weg unbeirrt, rücksichtslos. Menschenleben auf seinem Weg . . . Das Rad geht darüber hinweg. Ihr Schicksal!

Er prüfte die große Apparatur im Hintergrund des Raumes. Prüfte Teil für Teil ihres komplizierten Baues. Es war alles in Ordnung.

Der kleine Apparat . . . klein im Verhältnis zu den Riesenenergien, die er lösen und steuern konnte. Er war sein Meister, der ihn gebaut hatte nach dem Geheimnis des Tokschors, der ihm von der Mutter übergeben war. Schicksalswendung! Er, der Erbe des Geheimnisses, das einmal das Schicksal drei Männern anvertraute, als es galt, Millionen Menschen vor Not und Tod zu bewahren. Drei Männer . . . drei Ringe. Jeder trug einen von gleicher Arbeit. Zwei davon zusammengefügt an seiner Hand. Sein Auge ging zum Finger der Rechten. Wie die Windungen einer Schlange ein doppelter Ring goldener Spiralen. Zu schwer für den schmalen, bleichen Finger. Die Hand, wie wenn sie das Gewicht des Ringes nach unten zog, war vom Tisch gesunken.

Zu schwer die Last, die das Schicksal, einst auf drei verteilt, auf meine Schultern legte . . . der dritte Ring?

Sein Leben, was war es von den Tagen an, bis zu denen die Erinnerung zurückging? Die Mutterarme . . . die einzige glückliche Erinnerung . . . kurz, zu kurz! Auch sie war von ihm gegangen.

An dem Tage, an dem sie starb, war ein Fremder gekommen, ein alter, greiser Mann, hatte ihn mitgenommen, weit fort von der Heimat. Dorthin, wo die ewige Wiege der Menschheit stand. Und dort, kaum noch, daß er denken konnte, hatte sein Schicksal begonnen, die Schule des Schicksals, hart, unerbittlich hart.

Nichts von den Freuden der Jugend, des Lebens. Die Jahre waren verstrichen, bis der Tag kam, an dem der Alte die Bürde auf seine Schultern legte, die Schultern so schwach, so gebrechlich. Er hatte sich gesträubt, sich gewehrt. Der Alte hatte seine Hand ergriffen, zwei Ringe über den Finger gestülpt. Zu groß, viel zu groß. Der Greis hatte leise darübergestrichen, und dann saßen sie fest an seinem Finger, als wären sie angeschmiedet. Festgeschmiedet wie die Ringe an den Füßen der Galeerensträflinge.

Wie hatte er geseufzt und gestöhnt unter ihrem Druck. Das Blut der Jugend bäumte sich auf. Da, als er verzweifelnd an sich, an seiner Kraft, das Leben von sich werfen wollte, hatte der alte Lehrer ihm erzählt von jenen dreien. Erzählt von dem einen, der sein Vater war, erzählt von dem anderen, der, der Stärkste unter ihnen, doch zu schwach gewesen, die Last zu tragen, dessen Geist der Versuchung erlag, der starb im Kampf . . . im Kampf mit dem Schicksal selbst, ein Abtrünniger, Verlorener.

Der Alte hatte ihn eines Tages von sich geschickt, zurück nach den Stätten der Geburt, der Heimat. Er war in das fremde Leben getreten, war darin gewandelt, ein Fremder unter Fremden. Einer! Das Schicksal ging seine Wege, unbegreiflich für Menschenherzen. Einer hatte ihn, den Träger, den Boten des Schicksals, vom Tode gerettet. Dieser war sein Freund geworden, war es geblieben. Würde es bleiben bis zur letzten Stunde.

Freundschaftsdienst war es, den er jenem erwies, als er die Schicksalsmacht benutzte, um ihm zu helfen, als der die Frau suchte, nach der sein Herz schrie. Er hob das Atoll. Ein kleines Spiel war das für ihn. Aber hatte er die Macht nicht mißbraucht?

Sein Auge ging zu dem leuchtenden Bild an der Wand.

Das verschwand. Die Fläche des Kanals erschien, wie sie das optische Bild gab. Da fuhr er, der Freund! Mit der Geretteten. Ein glücklicher Mensch, glückselig im Besitz dessen, was sein Herz wünschte. Würde er seiner jetzt noch so gedenken wie früher? Würde er nun ganz allein stehen auf der Erde? Ohne Liebe, ohne Freundschaft? Das Schicksal, wollte es auch das?

Das U-Boot hatte den Kanal hinter sich. Ans Werk! Eine Stimme im Innern rief es ihm zu.

»Mein Werk!« Er deckte beide Augen mit den Händen, saß, sammelte sich zur Tat. Er trat zum Tisch. Vor ihm gleißte der silberne Glanz des Tokschors. Er ergriff ihn, drückte ihn an seine Brust. Dann berührten seine Finger den Apparat. Die Augen glitten von ihm zu dem Bild an der Wand und wieder zurück. Die Tiefen der Erde taten sich vor ihm auf.

Ein letzter Hebelgriff am Apparat. Dessen Kräfte, freiwerdend, begannen zu spielen. Hunderte Kilometer tief unter der Sohle des Kanals arbeiteten sie. Die trägen Simamassen gerieten in Bewegung. Sie pflanzten sich fort nach allen Seiten. Die Massen dehnten sich aus, wurden leichter in der Ausdehnung, strebten, Ausweg suchend, nach oben, hoben die Decke, sprengten, sie. Sie barst. Die Sialmassen zerrissen, wichen dem Druck. Die Erdrinde kochte. Die eingesprengten Magmamassen, dem Druck folgend, öffneten ihre Arme dem einströmenden Wasser. Wasser und Feuer, sich verbindend zu unheilschwangerer Ehe. Hochauf flog der dampfende Gischt. Die Erschütterungen der Explosion, kreisend, zitternd nach allen Seiten, stürzend das, was noch von früher her stand auf den Zungen des Isthmus.

Der Isthmus, mitgetroffen, mitgerissen von den unterirdischen Kräften, strebte zitternd, bebend zur Höhe. Berge taumelten, in sich zusammenstürzend. Das Bild des Isthmus, schon einmal durch die Eruption bei der Kanalsprengung verändert, zerstört, zeigte jetzt erneut ein Chaos.

Menschenleben – das Rad des Schicksals rollte darüber hinweg. Menschenleben. Der, dessen Hand den Strahler lenkte, sah sie untergehen. Sah es, und die schmale Gestalt sank zusammen unter der Last des Unheils, des Schicksals.

Die Hände ließen ab. Er sank auf einen Stuhl, barg sein Gesicht in den Händen. In seiner Seele schrie es: »Zuviel! Du Schicksal!«

Und dann war es ihm, als stünde er neben ihm, der Alte. Er legte die Hände über seine Stirn, strich darüber. Dessen Mund flüsterte Worte in sein Ohr. Die Worte von einst, tausendmal hatte er sie gehört dort drüben.

Er richtete sich auf und starrte um sich. Der Tokschor! Er war in seiner Hand, seine Finger hatten ihn umklammert.

Schicksal! Die Hände glitten wieder zum Strahler, bewegten seine Kräfte.

Der Kanal! Der Isthmus! Hoch . . . höher als je! Die Sohle des Kanals wasserlos! Ein steiniger Pfad von Norden nach Süden.

Er schreckte zusammen. Die Hände umklammerten den Strahler, die Augen bohrten sich in das energetische Bild.

Zuviel?

Fieberhaft arbeiteten die schmalen Finger. Die Bewegungen in den interirdischen Massen ließen nach. Der gehobene Isthmus sank, ein Ruck . . . er stand.

Das Bett des Kanals, da lag es wieder, ein blaues Band, die Ozeane vereinend. Kleiner, schmaler, so wie es Menschengeist sich geträumt. Verbindungsweg für Osten und Westen, ungehinderter Pfad für die Weltwirtschaft. Die Wunden der Erde, von verbrecherischer Hand geschlagen, geheilt.

Das Bild glitt zurück. Einen Augenblick zitterte seine Hand. Der Freund! Der Golfstrom?

Ein wütendes Anprallen an der neuen Schranke. Die Wasser des Stromes tobten, wühlten an der Sperre. Die stillen Fluten der Karibischen See waren nun ein aufgewühltes, stürmisches Meer.

Neuer Tod, neue Vernichtung für das, was sich da befand.

Der Freund . . . in Überwasserfahrt?

Wie im Fieber ging die Hand zum energetischen Fernseher. Die Oberfläche des kochenden, schäumenden Meeres. Darunter die Wogen des Golfstroms bis in ihre tiefsten Tiefen aufgewühlt. Ein Unterseeboot darin. Bald hoch, bald tief rissen es die Strudel. Mit starren Augen verfolgte er jede Bewegung des Bootes. Jetzt fast an der Oberfläche, jetzt hinabgerissen in Tiefen, deren Druck die Wände des Bootes unmöglich lange standhalten konnten.

Seine Hand ging zum Strahler. Dessen Kräfte wirkten in den Tiefen der aufgewühlten See, endigten die Wirbel, zähmten die Strudel.

Kurs Nord zu Nordost hätte er ihnen zuschreien mögen. Da glitt das Boot Nord zu Nordost heraus aus den Strudeln des Stromes, während diese, sich im wütenden Schwall an der Barre brechend, nach Norden umbiegend, den alten Weg nahmen . . . Weltwende!

Das Werk vollendet! Der Strom im alten Bett! Das Boot in glücklicher Fahrt auf ihn zu nach Saltadera. Kaum noch konnten seine Finger den Strahler und Fernseher zur Ruhe setzen. Mit Mühe schritt er ins Freie. Am Stamme einer Pinie sank er um, fiel zu Boden.

*

Das Geschäft war geglückt. Zur Hälfte des Parikurses hatte Guy Rouse ein nominales Aktienkapital von zwei Milliarden Dollar unter schärfster Anspannung seines Kredits an sich gebracht. Die zweite Pressenotiz, verbunden mit seinem persönlichen Auftreten als Käufer, hatte Wunder gewirkt. Er überflog die Börsenberichte. Der Kurs mehr als sechzig. Schon jetzt ein Gewinn, der, realisiert, zweihundert Millionen Dollar bedeutete. Ein unbestimmtes Gefühl riet ihm zum Verkauf. Er fühlte instinktiv etwas Drohendes, das ihm stärkstes Unbehagen verursachte. Der Stift in seiner Hand fühlte immer wieder nach dem Papier, die Verkaufsaktion einzuleiten. Zweihundert Millionen Dollar . . . ein schöner Gewinn, sein Vermögen verdoppelt! Vierhundert Millionen Dollar! Zu wenig! Wie viele gab es in den Staaten, die mehr besaßen.

Heute abend noch eine neue Bearbeitung der Presse. Vielleicht stand morgen der Kurs schon siebzig. Achthundert Millionen Dollar betrug dann sein Vermögen. Achthundert Millionen! Die Zahl tanzte vor seinen Blicken. Er wischte mit der Hand über die Augen, als wollte er sie verscheuchen.

Achthundert Millionen Dollar. Die Zahl lachte ihn an. Die Riesensumme als Grundstock zu neuer Arbeit. Andere größere Zahlen tauchten auf, wurden größer, immer größer . . . ein wirrer Reigen.

Mit einem energischen Ruck machte er sich frei von dem Phantom, nahm ein beruhigendes Pulver. Er trat zum Fenster, riß es auf.

Der Sonnenball brach hinter einer dunklen Wolke hervor. Er nahm es als glückliches Zeichen. »Morgen! Morgen!« murmelte er immer wieder. »Morgen, morgen beginne ich mit dem Verkauf. Achthundert Millionen Dollar!«

Der nächste Tag. Die Uhr von der Trinity Church schlug die erste Mittagsstunde. Beginn der Börse! Im schwarzen Schwall stürzten die Börsenbesucher in die weiten Säle.

Die lange, hagere Gestalt des Präsidenten der New Canal Cy. ragte weit über die anderen hinaus. Er wollte, durch kleine Geschäfte da und dort, den Markt in Kanalaktien beleben.

Die Minuten vergingen. Die Märkte für die bevorzugten Aktien bildeten sich. Die Aktien der New Canal Cy. zogen an . . . Achtundsechzig Prozent . . . Achtundsechzigeinhalb Prozent . . . Achtundsechzigdreiviertel Prozent . . . Guy Rouse buchte jedes Prozent mit dem Betrage von zehn Millionen Dollar zu seinen Gunsten. Auf siebzig mußten sie kommen . . . auf siebzig! Dann realisieren . . . realisieren. Achthundert Millionen Dollar!

Da! Ein Schrei, der über das Summen der tausend Stimmen hinweggellte: »Riesenexplosion im Kanalbett! Stärkste Erdbebenstöße quer über den Isthmus . . . Kanalufer türmen sich in die Höhe!«

Ein unbeschreiblicher Tumult entstand. Man suchte den, der die Worte gerufen hatte. Es war ein amtlicher Funkfernschreiber.

Hunderte drängten sich um die hohe Gestalt von Guy Rouse. Nur mit Mühe bewahrte er das kühle, gleichmäßige Gesicht. Nur mit äußerster Willensanstrengung konnte er die Wirkung der Nachricht, die ihn wie ein Blitzstrahl traf, verbergen.

Gestern . . . Hätte ich verkauft! Die Stimme im Innern sprach recht. Jetzt ist alles verloren . . . Ich fühle es.

Und dann sprach er laut: »Tatarennachricht! Börsenmanöver!« Kalt und schneidend klang seine Stimme über die Köpfe der Umstehenden. »Meine Nachrichten von der Kanalverwaltung . . . Nichts deutete darauf hin . . .«

Noch ehe er den Satz vollendet, schrie es aus dem Nebensaal. »Die Explosionen gehen weiter. Alle Aufnahmestationen für den Fernseher zerstört.«

Einen Augenblick Totenstille.

Die Aufnahmestationen standen auf den Uferhöhen. Das war gewiß. Ohne sich noch um Rouse zu kümmern, stürmte man die Maklerbänke. Kanalaktien abzugeben! Zu jedem Preis! Die Deroute brach los.

Rouse schritt dem Ausgang zu. Er mußte sich den Weg bahnen, wo man ihm früher achtungsvoll, fast ehrfürchtig ausgewichen war.

Einige scheue Blicke streiften ihn. Da und dort reckten ein paar Fäuste sich ihm drohend entgegen. Noch ehe er den Ausgang erreicht hatte, hörte er die Maklerstimmen Rousesche Kanalaktien anbieten.

Exekution! Wie ein Peitschenhieb traf ihn die Erkenntnis. Alles verloren! Die Schuldenlast erreichte das Vierfache seines Vermögens.

*

Das U-Boot im rasenden Golfstrom. Todesfahrt! Das winzige Boot ein Spielball des tobenden Elements. Da plötzlich, als hätte eine fremde Hand es mit gewaltiger Kraft gepackt, wurde der Steven nach Nordost gezwungen, herausgerissen aus den wirbelnden Strudeln in ruhige See.

Sie waren aufgetaucht. Gerettet! Was keiner von allen noch zu hoffen gewagt hatte, war doch noch geschehen. Sie alle hatten mit dem Leben abgeschlossen, als das Steuerruder zerbrach. Die furchtbaren Wirbel hatten das Boot zeitweise in gewaltige Tiefen hinabgerissen. Jeden Augenblick hatten sie erwartet, daß der ungeheure Wasserdruck die knisternden Wände des Bootes zerquetschte. Bei den Bemühungen, den todbringenden Wirbeln zu entgehen, war, ein letztes, schlimmstes Unheil, das Steuerruder zerbrochen.

Wieder über den Fluten. In langer, mühseliger Arbeit hatten sie das gebrochene Ruder wieder instand gesetzt, hatten neuen Kurs auf Saltadera genommen, vorbei an den Trümmern treibender Wracks, vom kleinsten Fischerboot bis zu den größten Ozeanriesen, im Kampf des Golfstroms gegen die feste Barre.

Während sie das Steuer flickten, war Uhlenkort in der Turmluke. Mit dem scharfen Glas spähten seine Augen über das Wasser. Den Isthmus selber konnte er nicht sehen. Er sah nur die vorspringende Spitze von Florida im Nordwesten.

Das Meer zwischen ihm und ihr schien eine graue, ruhige Fläche. Da! Von Süden her nahte eine niedrige Wand, schneller und immer schneller bewegte sie sich auf die Halbinsel zu, bog um sie herum. Blaues Wasser! Das blaue Wasser des Golfstroms. Die blaue Wand rollte weiter nach Norden, weißes, kräuselndes Kielwasser zu ihren Seiten.

Er riß die Mütze vom Kopf, schwenkte sie jubelnd in der Luft. »Christie! Christie! Tredrup! Schaut hinüber. Der Golfstrom, er fließt wieder im alten Bett!«

Er stieg hinab. »Fertig das Steuer!« rief ihm Tredrup entgegen. Und während das Steuer Süd zu Südwest gelegt und das Boot in Fahrt gebracht wurde, saß Uhlenkort an Christies Seite unter dem Sonnensegel. Mit überströmendem Herzen sprach er zu ihr. Sie lehnte sich an seine Brust, und ihr Ohr trank sich satt an dem Schönen, Guten, was er ihr zu erzählen wußte nach all dem Leid der letzten Wochen.

Zuviel war das, nicht so leicht zu vergessen. Zuletzt noch das U-Boot im Sturm. Sie zitterte um das Leben des Geliebten. Er merkte es nicht, wie ihr Körper schwerer und schwerer wurde, sich an seine Brust drängte. Er beugte sich darüber. Mit blassem Gesicht lag sie ohnmächtig in seinen Armen.

Sie trugen sie unter das Sonnensegel, betteten sie im Kühlen. Saßen an ihrer Seite, bis sie aus der Ohnmacht erwachte . . . dann in tiefen Schlummer sank.

An der Boje von Saltadera machten sie fest, setzten im Boot zur Hütte über. Tredrup ging vor ihnen her, stieß die Tür zum Laboratorium auf. Einen Augenblick standen sie, die Augen noch vom Sonnenlicht geblendet, konnten im Dunkel des Gemachs nichts erkennen. Dann, als die Augen sich gewöhnt . . . Johannes Harte schien nicht darin zu sein.

Tredrup drehte das Licht an. Der Raum war leer. Schon wollte Uhlenkort nach oben eilen, wo sich die Wohnräume befanden, da hielt ihn ein erstaunter Ruf Tredrups zurück.

»Hier, der Apparat, der hier stand . . . er ist weg! Auch der kleine von dem Tisch ist fort. Er hat sie mitgenommen!«

Uhlenkort stand stumm. Er kannte die Einrichtung des kleinen Laboratoriums. Die Apparate waren verschwunden zusammen mit ihrem Herrn. Verschwunden? Warum gerade jetzt, da das Werk, das große Werk gelungen war? Wohin? Sollte er nach Spitzbergen zurückgegangen sein? Und wie, wie? Hatte er sich von einem vorbeifahrenden Schiff mitnehmen lassen?

Da kam Tredrup hereingestürzt. »Dein Flugzeug ist fort, die Halle ist leer!«

Sie standen sich gegenüber, sahen sich fragend an. Keiner wußte Antwort, was hier geschehen, weshalb Johannes fort war.

Kein zurückgelassenes Zeichen, keine Spur . . .

*

Die Exekution an der Börse. Einen Augenblick nur, daß die hohe Gestalt schwankte, sich beugte unter dem Schlag. Rouse war durch die Tür des Börsensaales ins Freie geschritten. Das Treiben und Brausen der Weltstadt hatte ihn umfangen. Eine Baustelle zu seiner Seite, ein hoher Wolkenkratzer wurde abgerissen, Platz zu machen einem neuen, größeren, schöneren.

Er stand in der Vollkraft seiner Jahre. Warum verzweifeln? Seine Arbeitskraft, seine Energie schien ungebrochen durch den Schlag, den menschliche Erkenntnis nicht voraussehen konnte. Schon fing sein Geist von frischem zu arbeiten an, neue Pläne, neue Ideen zu schmieden zum Wiederaufbau des neuen Hauses an Stelle des gestürzten.

Er war in sein Haus gekommen. Der Weg in der frischen Luft hatte ihm die volle Spannkraft wiedergegeben. Neue Pläne, eben aufgetaucht, sah er schon in Entwicklung. Guy Rouse, der Name sollte nicht verschwinden mit dem Kanal, den der Teufel geholt hatte!

Die beiden Sekretäre konnten kaum dem folgen, was sein Geist, übersprudelnd von neuen Plänen, neuen Ideen, ihnen sagte. Mit jedem Wort wuchs seine Zuversicht. Die sollten sich irren, die da glaubten, ihn begraben zu wissen.

Ein kleines rotes Lämpchen an seinem Schreibtisch war aufgeglüht. Er ging darauf zu. Der Fernschreiber arbeitete. Es war die Chiffre, die nur er allein kannte. Er hob den schmalen Papierstreifen zum Gesicht, las. Und wie wenn seine Hände eine Stromleitung erfaßt hätten, klebten sie an dem Streifen.

»Christie Harlessen durch U-Boot unbekannter Herkunft befreit, Besatzung des Atolls gefangen weggeführt.«

Seine geballten Hände hoben sich über seinen Kopf, als wollten sie den zerschmettern, der das getan; fielen dann in furchtbarem Schlag auf den kleinen Fernschreibapparat, der klirrend in Trümmer ging.

»Christie Harlessen!« Er schrie es wie zu Tode verwundet. Und dann war ihm gewesen wie dem Riesen, dem das Schwert eines Schwachen die Sehnen durchschlagen. Er war zusammengebrochen. Vergessen die Pläne zur Rettung, zum neuen Aufstieg. Er übergab alles einem Sachwalter, hinterließ Vollmacht für alles. Aus den USA flog er mit einer Düsenmaschine nach Europa, zur Riviera, wo der letzte Anker lag, der ihn noch an die Erde band . . . Juanita.

*

Der Wipfel der Pinie, an deren Stamm Johannes Harte hingesunken war, bog sich unter den wütenden Stößen des Sturmes, der vom Isthmus her über die See brauste. Grelle Blitze, die aus der dunklen Wolkenwand im Westen aufzuckten, kündeten den nahen Orkan. Schwere Regentropfen fielen, trafen auch den, der dort unter dem Baum lag.

Er rührte sich nicht. Wie ein Toter lag er da.

Da war es wie schwerer Flügelschlag durch den brausenden Sturm.

Ein Schwingenflieger? Ein großer Vogel? Kein lebendiges Wesen, das sich in diesem Sturm in der Luft halten, ihm entgegen den Weg finden könnte.

Über die Hütte hinweg glitt es zu Boden neben den, der da am Boden lag. Sekundenlang traf das Mondlicht durch die jagenden Wolken hindurch die Erde.

Ein riesiger Vogel? Ein Adler? Die Schwingen weit ausgereckt. Ein gewaltiger Geier, der auf den letzten Atemzug seiner Beute wartete?

Der Liegende schien von Minute zu Minute schwächer zu atmen. Kaum noch hob sich die Brust. Das Dunkle, Graue war an seiner Seite, wie wartend auf den letzten Atemzug.

Das durchbrechende Mondlicht traf sekundenlang das bleiche Gesicht eines Toten . . . Kein Atemzug. Die Lippen weit geöffnet, der letzte Hauch ihnen entströmt.

Das Dunkle, Graue senkte sich tiefer über den Liegenden hinab, schien ihn ganz zu umgeben.

Ein schwerer Blitz, ein Flammenmeer schien die ganze Atmosphäre. Ein rasender Donner, rollend zu den Kontinenten . . . über die Erde. Dann plötzlich Ruhe, als hätte eine übermächtige Gewalt in das Rasen der Elemente eingegriffen. Die jagenden Wolken, fast still standen sie am Firmament. Der Sturm war wie durch Zaubermacht gebändigt . . . ein leises Wehen.

Ein heller Schimmer am Osthimmel kündigte den Anbruch des neuen Tages an. Der Kampf der Gestirne, die der Nacht wichen. In grauem Zwielicht Luft, Meer und Erde. Der Schatten am Boden war klein, wie in sich zusammengebrochen . . . kleiner werdend . . . ein Schimmer nur noch und verschwindend im Morgendämmer.

Wende! Neugeburt!

Ein Zittern ging durch die Gestalt des am Boden Liegenden. Die Lippen bebten, sogen die Morgenluft ein. Wie aus Todesschlaf erwachend, hob sich seine Brust. Die Hände griffen nach hinten, streckten sich zu Boden, der Körper, dem Druck folgend, hob sich. Er stand auf, schaute sich um.

Da brach über die Kimme der See der rote Feuerball der Sonne, die finsteren Gewalten der dunklen Nacht vor sich hin in die Flucht treibend.

Der Mann stand, die Arme weit ausgebreitet, als wolle er die Siegerin empfangen. Er stand, harrte, bis sie leuchtete in strahlender Größe, die Sonne, Licht des Tages, das Licht der Tat. Und sich beugend vor der Majestät, schlug er die Hände vor die Augen, neigte sich vor ihr.

Die Tat! Vom Schicksal geboten. Er, der Diener. Die neue, noch größere Tat.

Seine Schultern, wie hatten sie gebebt unter der Bürde der letzten . . . kleineren.

Jetzt! Die Gestalt stand hoch aufgerichtet, wie gewachsen im Sonnenlicht. Das große, das ganz große Werk lag noch vor ihm, dem Vollbringer des Größten. Seine Arme strafften sich. Er blickte auf seine rechte Hand.

Drei Ringe . . . wo gestern zwei waren!

Sein Auge starrte nach allen Seiten, als könnte er's nicht fassen . . .

Wo kam der dritte Ring her, aus dem die neue Kraft zu dem neuen, größeren Werk erwuchs?

Atlantis! Da war's. Das Wort, das der Alte in Pankong zu ihm gesprochen hatte. Das letzte große Ziel seines Lebens, bevor er einging ins letzte Paradies.

Atlantis! Einst die Königin, die Herrscherin der Welt. Untergegangen durch Schicksalsspruch. Neu erstanden, erweckt zu neuem Leben für die Menschheit . . . durch dich!

»Atlantis!« Seine Lippen murmelten die Worte; vor sich hin. »Schlafend im Dunkel des Meeresgrundes, gehoben durch dich zum Licht des Tages, neue Stätten der Menschheit bereitend!«

Er schritt zur Hütte. War er es, der gestern noch schwächetaumelnd aus der Hütte wankte? Ein anderer! Ein Größerer, ein Stärkerer . . . ein neuer Mensch! Die Inkarnation eines Starken!

Werkzeug des Schicksals? Fast Meister des Schicksals jetzt.

Das Flugzeug aus der Halle! Die Apparate hinein. Die starken Schultern spürten kaum die Last der Instrumente.

Von Norden her eilte in schneller Fahrt ein U-Boot. Die Freunde!

Das Flugzeug sprang an, gehoben von der energetischen Gewalt des Strahlers. In sausendem Flug stieg es auf, die Bahn der Sonne überholend, verschwand in Mittagshöhe.

*

Kurs Nordost steuerte das U-Boot durch den Atlantik der Heimat, Europa, Hamburg zu. Seit dem Tage ihrer Abfahrt von Saltadera hatten sie kaum Schlaf gefunden. Was die Wellen des Äthers ihnen aus der Welt, aus Europa zutrugen, war zuviel des Guten, Schönen für ihr Ohr.

Sie kamen nicht los von den Bildern, die der Fernseher zeigte. Wie durch Zauber war das Los der Millionen von Nordeuropa geändert. Schiffe auf der See, beladen mit Flüchtlingen, auf das große Geschehnis hatten sie gewendet, Kurs zur Heimat genommen. In den Hafenstädten in den südlichen Teilen Europas! Die Geflohenen drängten zu jeder Fahrgelegenheit, zurückzukommen zur verlassenen Heimat. In den Hafenstädten der Nordküste herrschte ein einziger Freudentaumel.

Menschen, weinend, lachend, umarmten sich. Der Golfstrom im alten Bett bewegt sich nach Norden . . . Wärmespender . . . Lebensspender!

Die Riesenorganisation, mit einem Ruck zum Stocken gebracht, versagte dem plötzlichen Ereignis gegenüber. Jetzt! Keiner der Flüchtlinge schien es erwarten zu können, daß er wieder dorthin zurückkehrte, wo das leere Haus, die verlassene Arbeitsstätte war. Mit Gewalt suchte man sich jeder Fahrgelegenheit zu bemächtigen. Mit Gewalt mußte wieder eingeschritten werden, um ein Chaos zu verhindern.

Die großen Tageszeitungen der Welt hatten Reporterflugzeuge entsandt, die dem Golfstrom zur Seite folgten. Die blaue Wellenwand, wie sie sich langsam nach Norden zu bewegte, zeigten die Funkbilder der Fernsehgeräte. Andere Zeitungen hatten ihre Agenten in schnellen Flugzeugen nach Norden gesandt. Die zeigten im Funkbild, wie die Bewohner eines Dorfes zurückkehrten, sich freudig in das alte Nest drängten, zeigten, wie neues Leben sich überall zu regen begann, wie auch in den Landschaften, die noch nicht geräumt, aber zur Räumung verurteilt waren, wie mit Zauberschlag Jammer, Trauer gewichen, wie Aufatmen durch alles ging; die Hände sich mit doppeltem Fleiß zu rühren begannen in gewohnter Arbeit an alter Stätte.

Freude und Jubel überall! Das sterbende Europa war zu neuem Leben aufgewacht, erweckt durch die große Tat . . .

Wer wußte von der Tat? Wer kümmerte sich um den, der das Werk getan? Die Natur hatte sich selbst für das gerächt, was frevle Hand ihr angetan. Keine andere Meinung herrschte in Europa, in der Welt. Dann wurden langsam andere Stimmen laut. Man achtete ihrer kaum. Sie sagten: Unmöglich, daß die Natur aus sich selbst heraus das gestörte Gleichgewicht der Kräfte hergestellt hatte. Die Sialscholle, einmal zerrissen, abgedrängt von den aufstrebenden Simamassen, konnten niemals wieder dahin zurückkehren, wo sie gelagert hatte. Gewiß, daß ihre Masse, wuchtend auf den im Erdboden begrabenen Sedimentärschichten und anderen Sialmassen, diese nach unten drückte, bis sie, unter die benachbarten Massen gedrängt, Ausgleich suchend, sich hoben.

Nicht die Natur selbst, eine andere Macht mußte hier am Werk gewesen sein. Die gleiche Macht, die auch die anderen Wunder vollbracht: Vineta, Black Island gehoben. Menschenmacht? An der Frage scheiterte jeder.

Telenergetische Konzentration? Das Wort, schon vor längerer Zeit aufgetaucht, beschäftigte unablässig alle führenden Geister der physikalischen Wissenschaft, theoretisch längst erkannt! Doch nie war es gelungen, die Nullpunktenergie auszulösen. Die Wissenschaft, so weit vorgeschritten, stand doch erfolglos vor diesem letzten Hindernis. Schon war die Mehrzahl der Gelehrten der Meinung, daß dieses Welträtsel dem menschlichen Geist ewig verschlossen bliebe. Denn diese Erkenntnis, weitergeführt bis zur Konstruktion des technischen Mittels, des wirkenden Instruments, müßte, der Allgemeinheit in die Hände gegeben, zur Katastrophe, zum Chaos führen.

Jeder einzelne der Beherrscher der übrigen. Kein Diener mehr, nur Herren im Kampf um die alleinige Macht. Tod, Vernichtung für alles Lebende, Umwälzung der Natur. Keine Grenzen mehr für menschlichen Geist, für menschliche Kraft . . . für menschliche Schwäche.

Das Ende der Menschheit.

Nie konnte Schicksalsmacht solche Waffen in schwache Menschenhand legen. Das Schicksal . . . Gott, der Lenker aller Dinge? Sein Werk? Die einzige Erklärung.

Da brachten Zeitungen vom Osten eine neue Wendung. Reisende, die durch Gebiete gekommen, wo einst die Wiege der Menschheit gestanden, hatten dort mit den Weisen, Alten, den Bewahrern jahrtausendealter Kultur und Wissenschaft gesprochen, bei ihnen Erkenntnis, Lösung des Rätsels gesucht.

Da war die Antwort gekommen.

»Warum sucht ihr nicht bei dem, das euch am nächsten liegen müßte?«

Und wieder ging es durch die Welt wie damals, als die Prophezeiung des Unglücks bekannt wurde, anknüpfte an die mysteriösen Buchstaben J. H. Sein Werk, Menschenwerk? Gab es noch Wesen, die zwischen Gott und den Menschen standen, er müßte es sein.

Wo war er? Wer kannte ihn?

Auf ihrer Fahrt durch den Atlantik vernahm Uhlenkort alles, hörte alles.

Wo war der Freund jetzt? Seine Gedanken wanderten zurück bis zu dem Tage, an dem sie sich als Jünglinge zum erstenmal sahen. Eine Fahrt auf dem Rhein. Hilferufe vom Ufer. Ein Ertrinkender. Er war in den reißenden Strom gesprungen, hatte den Ertrinkenden unter Aufbietung aller Kräfte gerettet. Das Band zwischen ihnen, durch die Tat geknüpft, war fester geworden von Jahr zu Jahr. J. H. war sein Freund seit diesem Tage.

Schicksal, rätselhaftes! Ließ den, der zum Höchsten bestimmt war, in Todesnot geraten, damit er ihn rettete, sein Freund würde. Dieser hatte ihm das, was er getan, tausendfach wiedervergolten. Christie! Dessen Hand hatte sie ihm wiedergegeben.

Er war in Saltadera auf den Strand gesprungen, um ihn zu umarmen, ihm zu danken. Der Freund war fort. Wie ein Schlag hatte ihn die Erkenntnis getroffen. Der Freund war fort. Mit dem Flugzeug entwichen.

Wohin? Zu neuer Tat, zu der das Schicksal ihn rief? Nicht anders konnte es sein!

In der gestrigen Nacht hatte Uhlenkort auf Deck gestanden, das Nachtglas vor den Augen. Hatte nach Westen hinübergeschaut, wo die blaue Welle des Golfstroms sich den Weg nach Norden bahnte. War dann in leichten Schlaf versunken. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen – zu stark hatte alles an seinen Nerven gezerrt. Der Schlaf, der ihn so lange mied, kam wieder. Leichte, wohlige Träume hatten ihn umfangen. Hamburg . . . Christie.

Da plötzlich war er aufgewacht. Ein sausender kühler Luftstrom war über seinen Kopf hinweggestrichen. Er war aufgesprungen, hatte um sich geschaut. Die See war ruhig. Nur leise kräuselten sich die Wellen des Ozeans vor dem Rumpf des Schiffes.

Da, im Süden hinter ihnen . . . ein Dunkles . . . ein Vogel . . . ein Flieger. Der Freund, der ihn begrüßte? Jetzt? Schon längst hatte die Sonne den höchsten Stand überschritten. Sein Glas war zum Himmel gerichtet. Er konnte sein Auge nicht losmachen. Ein kleiner dunkler Punkt kreiste in unendlicher Höhe dort oben.

Ein Flieger? Der Freund? Was tat er da? War es neue Tat? Was konnte das sein?

Das Heck des Bootes hob sich plötzlich stark in die Höhe. Das Schiff geriet in wildes Schwanken.

»Hallo!« Tredrups Stimme traf sein Ohr. »Hallo! Sie wollen mit, die warmen Wasser der Drift, Diener des Stromes, des Lebensspenders für die Alte Welt. Du, Uhlenkort, suchst wohl noch immer den Freund da oben?« Er lachte. »Sinnestäuschung, Uhlenkort! Meine Augen, schärfer als deine, sehen den dunklen Punkt nicht, der da oben kreist, wie du meinst.«

Uhlenkort schaute ihn an. Was war mit ihm geschehen? Das Geheimnis des Freundes! Kein Sterblicher außer ihm, der J. H. näher gekommen als Tredrup seit jenen Tagen, wo sie in Saltadera gelandet waren. Wie weggewischt alles, was dessen scharfer, kluger Geist gedacht, geahnt . . .

Verstellung? Uhlenkort hatte zuerst gedacht, hatte dann die Meinung geändert. Tredrup verstellte sich nicht. Harmlos, wie ohne Ahnung von alledem, was vorher geschah. Ein Teil seines Gedächtnisses schien ausgelöscht von Schicksals Hand. Nicht anderes konnte er sich's erklären . . . Keinen Wissenden außer ihm selbst gab es.

Tredrup setzte sich zu ihm. Sein Auge, schärfer als das des Liebenden, hatte den Zustand Christies tiefer durchschaut.

»Zuviel, Uhlenkort, für ein junges Mädchen! Hamburg, die Verwandten, das Wiedersehen in der Heimat. Zuviel Freude auf einmal! Sie muß das Überstandene langsam überwinden. Auch zu große Freude kann schaden. Wir fahren an den Säulen des Herkules vorbei zur Riveria, lassen sie dort oder bleiben bei ihr und kehren dann erst nach Hamburg in die Heimat zurück, wenn sie wieder ist, wie sie war!«

*

Die weiten Gesellschaftsräume des Kasinos in Monte Carlo erstrahlten in blendender Lichtfülle. Der große Maskenball war glänzender Abschluß der Saison. Von allen Teilen der Riviera traf man sich zum letztenmal in zwangloser Freiheit, bevor die Gesellschaft sich in alle Winde zerstreute.

In einer Loge saßen Christie, Uhlenkort und Tredrup. Mit blitzendem Auge verfolgte Christie das frohe Leben und Treiben unten im Saal.

»Du hattest recht, Klaus«, wandte sich Uhlenkort zu Tredrup. »Dein Vorschlag, an der Riviera Station zu machen, war gut. Christie bedarf mehr der Zerstreuung als der Ruhe. Ihre Erlebnisse in den letzten Wochen waren zuviel für ihr schwaches Frauenherz. Tante Harlessen wird morgen kommen, bei ihr bleiben, bis sie sich erholt, bis sie zurückkommen kann in das Vaterhaus nach Hamburg.«

Er wandte sich wieder zu Christie.

»Ermüdet es dich nicht, Christie, dem bunten Treiben da unten so lange zuzusehen?«

»Nein, Walter, nicht im geringsten. Ich fühle mich so wohl, so wohl wie selten. Immer Neues, immer Interessanteres bietet das frohe Bild da unten. Sieh da! Eine Mexikanerin tritt durch die Tür.« Sie klatschte leicht in die Hände. »Wie schön! Wie schön ist das Bild, das so viele Erinnerungen in mir lebendig macht. Dein Glas, Walter!«

Sie sah eine Weile hindurch, gab es ihm zurück.

»Sieh, Walter, das wunderbare Kostüm. Es ist echt bis in die kleinste Einzelheit. Ich verstehe mich nur zu gut darauf, trug ich es doch in meiner Jugend so häufig in Tejada.«

Uhlenkort nickte. »Bin zwar nicht ganz Sachverständiger, aber abgesehen von dem Kostüm sagt mir die Gestalt seiner Trägerin, daß in dem echten Kostüm eine echte Mexikanerin stecken muß. Was meinst du, Tredrup? Warst doch lange genug da unten. Hab' ich nicht recht?«

Tredrup gab keine Antwort. Als das Wort »Mexikanerin« von Christies Lippen kam, hatte er das Glas vor die Augen genommen, hinuntergeschaut, sie verfolgt, den Blick nicht zur Seite gewandt, als wäre nur die eine dort unten, die Mexikanerin.

»Ah! Jetzt tanzt sie!« rief Christie dazwischen. »Sieh nur, Walter, wie eine Feder schwebt sie am Arm ihres Partners. Und das feurige Temperament, das aus jeder Bewegung spricht! Du hast recht, sie ist eine Mexikanerin. So kann nur eine tanzen, die in Mexiko geboren ist.«

Beide beugten sich über den Logenrand. Das tanzende Paar hielt an, stand zu ihren Füßen.

»Wer mag sie sein?« fragte Christie. »Ein junges Mädchen, wie es scheint.«

Uhlenkort zuckte die Achseln. »Riviera . . . Monte Carlo . . . aus den entlegensten Teilen der Welt trifft hier die Menschheit zusammen . . .«

Er wollte weitersprechen, da nahm ihm Christie mit hastiger Bewegung das Glas aus der Hand, richtete es auf die Tänzerin, starrte sie an, als könnten sich ihre Augen nicht losreißen. Ihre Rechte fuhr zum Halsausschnitt, riß die kleine Goldmünze, die am dünnen Kettchen hing, aus dem Kleid.

Tredrups Hand mit dem Glas war herabgesunken, er starrte zu Christie hinüber wie einer, der Unheil erwartet.

Da unten im Saal trat die Tänzerin von neuem zum Tanz an, drehte sich langsam um den Partner.

»Elf!« schrie Christie. »Elf Hidalgos, die goldene Kette an ihrem Hals!«

Das Glas aus Tredrups Hand fiel polternd zu Boden. Uhlenkort wandte sich nach links und rechts. »Was? Was ist euch? Was ist's mit elf?«

Tredrup war aufgesprungen und stand mit bebenden Lippen.

»Elf Hidalgos!« rief Christie. »Zwölf waren es! Der zwölfte, hier!«

In höchster Erregung beugte sich Uhlenkort über Christie, ergriff ihre Hände, drückte sie an sein Herz.

»Christie! Was ist dir? Was willst du sagen? Elf Hidalgos?«

Die Logentür fiel hinter Tredrup ins Schloß. Uhlenkort merkte es nicht. Christie war schwer atmend in den Sessel zurückgesunken.

»Laß uns gehen, Christie! Ich weiß nicht, was dich so erregte. Doch wo ist Tredrup? Was habt ihr gesehen? Die Tänzerin? Kennt ihr sie?«

Christie schüttelte den Kopf. »Ich kenne sie nicht, kenne nur den Schmuck, den sie trägt. Den Schmuck, den der stahl, der meinen Vater ermordete. Elf Hidalgos! Der zwölfte blieb in des Vaters Hand. Als Amulett trug ich ihn seit jenem Tag bis heute.«

Mit müder Bewegung erhob sie sich, legte ihren Arm in den Uhlenkorts. »Laß uns gehen!«

Im selben Augenblick, als sie aus der Loge traten, fiel auch auf der anderen Seite eine Logentür ins Schloß. Eine hochgewachsene Männergestalt, eine leichte Seidenhalbmaske vor dem Gesicht, trat aus der Loge in den Umgang, ging die Treppe hinab zum Saal. Mit Mühe bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge in den Raum, wo die Paare sich bewegten. Sein Auge suchte die Mexikanerin. Da tanzte sie am anderen Ende des Saales eben im Arm eines neuen Partners, eines einfachen Dominos. Er drängte sich in die vordersten Reihen, wo das Paar an ihm vorbeikommen mußte.

Da sah er die Tänzerin zusammenzucken, das Paar stehenbleiben, im Gewühl der Zuschauer verschwinden. Rücksichtslos bahnte er sich ungeachtet der empörten Zurufe links und rechts einen Weg durch die Menge. Das Paar schien verschwunden zu sein. Er stürzte durch eine der Pforten, die in die Nebensäle führten. Da sah er das Paar am anderen Ende im Ausgang verschwinden. Jagend, fast stürzend, eilte er hinter ihm her. Immer wieder sperrten ihm die Massen den Weg. Die Tür zum Park war der letzte Ausgang des Raumes. Er stürzte hinaus. Vor ihm schritt das Paar, der Domino, die Mexikanerin.

Mit ein paar Sprüngen war er neben ihnen.

»Juanita!«

Die beiden standen still, wandten sich um. Der Domino riß die Maske vom Gesicht.

»Wer ruft?«

Da erkannte er in der hohen, schlanken Gestalt seinen Feind. Sein furchtbarer Faustschlag traf den anderen ins Gesicht. Der Getroffene taumelte zurück, seine Maske flog hinunter.

Die Mexikanerin schrie laut auf: »Klaus, was tust du?«

Klaus Tredrup stand mit geballten Fäusten wie in Erwartung, daß der andere sich zur Wehr setzte. »Schuft du! Guy Rouse, komm her!« Er schüttelte den Frauenarm von sich ab. »Heute gibt's Abrechnung zwischen uns beiden! Schuft du, Schurke!«

Die hagere Gestalt vor ihm drehte sich leicht zur Seite. Die Hand fuhr zur Tasche.

»Guy!« Juanita wollte sich zwischen die beiden stürzen. »Erst mich! Dann ihn!«

Da klang die schneidende Stimme Tredrups: »Wo ist der zwölfte Hidalgo, du Mörder?«

Rouse taumelte zurück. Es klirrte etwas am Boden, seine Hand fuhr zum Gesicht. Einen Augenblick stand er, die lange, hagere Gestalt zusammengekrümmt, das Gesicht abgewendet als sähe er eine Vision.

Dann plötzlich waren sie allein, Tredrup und Juanita.

»Juanita! Er ist fort, geflohen, der Feigling. Du!« Er riß sie an sich. Sein starker Arm preßte sich um die schlanken Schultern, als wollte er sie zerbrechen.

»Du bist frei von ihm . . .«

*

War es ein Wahnsinniger, der, Verfolger hinter sich, durch die menschenleeren, dunklen Wege des Parks um das Kasino stürzte? Eine lange, hagere Gestalt im Abendanzug, wie ein gehetztes Wild durch die Anlagen stürmend. Stundenlang ging die sinnlose Flucht. Die Mondscheibe, durch die dunkle Wolkenbank brechend, verscheuchte das Dunkel. Fast taghell war plötzlich der Park. Mit jähem Ruck hielt er an. Stand im breitflutenden Licht des Nachtgestirns, schaute wirr um sich.

Die Brust keuchte unter rasenden Atemstößen. Eine Bank tauchte vor ihm auf. Er sank erschöpft darauf nieder. Seine Hand entnahm der Brusttasche ein Schächtelchen Beruhigungstabletten. Zwei Tabletten höchstens, hatte ihm der Arzt gesagt. Er nahm die doppelte Anzahl. Die Arme griffen nach hinten zu der Rückenlehne, umklammerten sie. Den Kopf weit zurückgebeugt, sog er die kühle Abendluft ein. Seine Züge entspannten sich allmählich, ein fast ruhiger Glanz trat in die Augen. Die klare Vernunft schien zurückzukehren. Eine leichte Falte bildete sich zwischen den Augen. Er zwang sich zu logischem Denken.

Monte Carlo? Wie kam er hierher? Von Santa Barbara, von Juanita. Zu ihr war er gestern gekommen. Froh hatte sie ihn begrüßt. Kaum noch Spuren der Krankheit. Er hatte sie in die Arme geschlossen, sie an sich gedrückt. Den letzten Anker. Vergessen wollte er an ihrer Seite alles, was er hinter sich gelassen hatte.

Sie waren spazierengegangen. Das frohe, lustige Geplauder Juanitas, noch klang's in seinem Ohr.

»Morgen abend ist Maskenball im Kasino. Willst du nicht mit mir dorthin gehen?«

Schmeichelnd hatte sie ihn gefragt. Er wollte die Bitte nicht abschlagen. Die erwachte Lebenslust Juanitas, ein günstiges Zeichen schien's.

Kostümieren! Tanzen! Juanita hatte weiter gebeten, er hatte gern zugestimmt.

Als es Zeit zum Aufbruch war, war er in Juanitas Zimmer getreten. Im mexikanischen Kostüm stand sie vor ihm. Die lachende, frohe Gestalt sich wiegend in den verführerischen Schritten des Fandangos. Wie ein bunter Schmetterling hatte sie sich, leise die Melodie des Tanzes summend, vor ihm gewiegt.

Seine Augen hatten das Bild verschlungen. In plötzlicher Eingebung war er aufgesprungen und hatte um Juanitas Nacken ein goldenes Halsband geschlungen.

Sie war vor den Spiegel getreten, hatte in die Hände geklatscht.

»So bin ich schön! Ein Halsband fehlte mir!«

Sie waren in den Wagen gestiegen, waren zum Kasino hinübergefahren. Von seiner Loge aus hatte er den Tanzenden zugeschaut. Seine Augen konnten sich nicht losreißen von ihrer Gestalt, weideten sich an dem Aufsehen, das die schöne junge Mexikanerin im ganzen Saal erregte.

Vergessen war alles, was er an Bord des Flugzeuges dachte. Juanita, du mein einziger, mein bester, mein letzter Besitz. Du an meiner Seite, noch einmal will ich's wagen, das Spiel um Reichtum und Macht!

Und dann! Seine Gedanken stockten. Was war dann geschehen? Er drückte die Hand vor die Augen, fand nicht den Faden, der weiterführte bis hierher. Wieder ein paar Tabletten! Er hielt das Schächtelchen vor die Augen. Das Wort ›Gift‹ stand darauf.

Er lachte. ›Und wenn's den Tod gilt, ich muß es wissen, was dann geschah!‹

Wieder lehnte er sich zurück. Das beruhigende Gift tat seine Wirkung. Jetzt hatte er wieder den Faden. Ein Domino an Juanitas Seite. Die beiden gingen hinaus in den Park. Er war ihnen gefolgt, hatte sie erreicht.

»Juanita!« hatte sein Mund geschrien. Da, er griff sich mit der Hand ans Herz, als könne er das rasende Pochen unterdrücken. Ein Schlag ins Gesicht von dem Mann an Juanitas Seite. Die Hand! Nicht das erstemal war es, daß sie es wagte, in sein Leben einzugreifen. Die Hand! Er fuhr mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn. Ins Gesicht hatte er ihn geschlagen vor den Augen Juanitas. Und er, er hatte den Schlag hingenommen. Hatte ihn ungesühnt gelassen. Wie war das möglich?

Er ein Schwächling? Ein Feigling? Er, Guy Rouse. Nein! Er war es nicht, war es nie gewesen. Die Pistole hielt er schon in seiner Hand, den anderen niederzuschießen. Da hatte dieser geschrien:

»Wo ist der zwölfte Hidalgo, du Mörder?«

Die Worte, das tiefste Geheimnis seines Lebens berührten sie. Er war zusammengezuckt, hatte hinübergestarrt. Da, er war zurückgetaumelt, ein anderer stand an dessen Stelle. Ein alter Mann mit dem bleichen Antlitz eines Toten, eine tiefe, blutige Wunde an der Schläfe.

Von Entsetzen gepackt, war er davongestürmt . . .

Er blickte auf die Uhr. Mitternacht. Stundenlang mußte er im Park umhergeirrt sein. Er stand auf. Die Knie zitterten unter ihm, fast wäre er zurückgetaumelt.

Vorbei! Vorbei! Der letzte Anker gerissen. Ziellos, steuerlos trieb sein Schiff auf dem Weg vor ihm. Der Weg, kein anderer als der, den hier schon mancher ging, dem im Spielsaal das Geld geraubt.

Seine Hand fuhr unwillkürlich zur Brieftasche. Sie barg große Summen, gewaltige Werte. Alles, was er an Barem hatte zusammenraffen können.

Er zog sie heraus, überflog die Summe. Mitnehmen auf den Weg? Nein! Er brauchte sie nicht. Zur Henkersmahlzeit sollten sie dienen. Er lachte laut auf. Henkersmahlzeit am Spieltisch.

Gold war die Speise. Hier, wo Millionen rollten, wollte sein Auge sich noch einmal satt sehen an dem gleißenden Glanz des Goldes.

*

Der Spielsaal von Monte Carlo. Um die großen Roulettetische drängten sich die Spieler. Da war einer, der mit unerhörten Einsätzen pointierte. Das Spiel des Mannes va banque in jedem Zug!

Rouge et noir! Bald türmten sich Banknoten und Goldmünzen vor seinem Platz. Bald war der Turm verschwunden. Der Griff in die Brieftasche. Die Dollarnoten flatterten über den Tisch.

Faites votre jeux!

Das Spiel ging weiter. Von den Nebentischen her kamen die Spieler. Man umringte den einen.

Die Brieftasche war schmäler und schmäler geworden. Der Spieler am Ende! Mit grausamem Behagen warteten alle darauf.

Da! Eine neue Serie. Schlag auf Schlag. Das Glück schien ihm günstig. Die Scheine vor ihm häuften sich wieder zu Bergen.

Va banque! Der Spieler schob den Turm dem Croupier zu. Zählt sie!

»Faites votre jeux!« Der stereotype Ruf.

Die Kugel rollte im Roulette. Jetzt stand sie.

Gewonnen! Die Bank gesprengt!

Eine neue Bank. Dasselbe unerhörte Pointieren des Spielers . . . Die Bank wieder gesprengt . . . und wieder . . . wieder, bis der Spielsaal geschlossen werden sollte.

Ah, da standen sie alle, stierten auf den, der die Riesensumme ruhig entgegennahm. Der Glückliche, der König der Spieler.

Seit Menschengedenken war solcher Gewinn eines Spielers gegen die allmächtige Bank in deren Geschichte nicht vorgekommen. Millionen, viele Millionen! Alle Augen hingen an dem Sieger.

Milliardär?

Der erhob sich, ein kühles Lächeln auf dem blassen Gesicht, eine leichte Handbewegung wie dankend für den Beifall der Zuschauer. Er stand auf, drehte sich zum Gehen.

Eine Riesengestalt vertrat ihm den Weg, eine Faust klammerte sich an seine Brust.

»Wo ist Juanita?«

Der Schrei gellte durch den Raum. Der Spieler stand wie erstarrt. Seine Augen bohrten sich in das Gesicht des Gegners.

»Juanita? Was geht sie dich an?« Ein heiseres Lachen begleitete die Worte. »Such sie bei dem anderen!«

Sein Gegenüber verstand nicht! »Wo ist Juanita? Gib sie raus, du Schuft! Mein ist sie, der Preis, um den ich alles tat.«

Die Gesellschaft stand stumm, schaute auf die Szene. Ein paar Saaldiener eilten herbei, wollten sich dazwischenwerfen.

Da, ein kurzer Knall! Der Spieler sank um, die lange, hagere Gestalt schlug zu Boden. Die Kugel von James Smith hatte dem Leben von Guy Rouse ein Ende gesetzt.

*

Presse und Fernsehen der Welt hatten unerschöpflichen Stoff, den die Geschehnisse des einen Sommers lieferten. Der Erdball schien aus seinen Fugen gerissen, seine Bewohner Spielzeug für die geheimnisvolle Macht. Die Macht bestand. Nur wenige Zweifler gab es in der gelehrten Welt. Nach dem ersten Meinungsaustausch waren die angesehensten Fachgelehrten auf den Plan getreten.

Telenergetische Konzentration! Theoretisch bis zu den letzten Auswirkungen längst erkannt. Die Übertragung in die Praxis war noch immer nicht gelungen, gescheitert am Widerstand der letzten Hindernisse.

Allerorts in den Hörsälen, in der Presse und auf dem Bildschirm gaben sie ihre Meinung kund. Das letzte Geheimnis, von weiser Natur den Menschen für immer verschleiert, dem einen offenbart! In streng logischen Deduktionen bewiesen sie, daß hier durch höhere Fügung einem Menschen gegeben worden war, was aller Fleiß, aller Scharfsinn der Gelehrten der Welt nicht zu erzwingen vermochte. Ihre Worte verbreiteten sich mit der Schnelligkeit der Ätherwellen über alle Weltteile hin. Millionen ergriff die bange Angst. Die Taten der Macht: Menschenleben waren dabei zugrunde gegangen.

Der geheimnisvolle Meister, schritt er zu neuer Tat? Wurden wiederum Tausende sein Opfer? Das ganze Erdenrund sein Feld? Wo würde er zur neuen Tat schreiten! Wo würde das Schlachtfeld sein? Jeder Erdbebenstoß wurde mit Angst und Sorge empfunden. War das sein Werk?

Die Bilder aus Europa, die eitel Jubel und Freude brachten, wurden kaum noch beachtet. Wohl gab es da und dort Stimmen, daß nur Gutes für die Menschheit aus den Taten der Macht entsprungen. Die Furcht blieb, die Furcht vor der Macht.

Es war der letzte Septembertag des Jahres, als die Nachricht über die Welt ging: Erdbebenstöße auf den Azoren. Die Bewohner flüchteten auf hohe See.

Beklommen, atemlos erwartete man weitere Nachrichten. War das wirklich nur ein einfaches Erdbeben, eine natürliche Bewegung der Erde, durch die unterirdischen Kräfte hervorgebracht, oder . . .

Da kam um die Mittagsstunde desselben Tages eine weitere Nachricht: Neue Erdbebenbewegungen im Gebiet der Azoren. Die Inseln Floreo und Miguel um acht Meter gehoben. Letzte Flucht. Ozeandampfer wurden durch Funk dorthin dirigiert, um die Fliehenden aufzunehmen.

Ein Schauer ging durch die Welt. Die Macht war am Werk . . . Welchem Werk galt es? Da war es die Stimme eines deutschen Gelehrten, der in den Streit um die Lösung des Rätsels das Wort warf: Atlantis!

Das Wort zündete, wurde sofort gierig aufgegriffen. Nichts anderes wußten die Zeitungen zu berichten als: Atlantis! Die Sage, wie sie Plato berichtet, der erste Hinweis auf das alte, dort versunkene Land der Glückseligen. Ältester Mythos aus grauester Vorzeit. Eine Sage schon, als die Weltgeschichte anhub.

Wie hatte es ausgesehen, das versunkene Land? Wer hatte es bewohnt? Tausend Fragen. Die Antworten: eine fantastischer als die andere, sich überschlagend. Wie würde es aussehen, wenn . . . wenn? . . . Ja! Was wollte da die geheimnisvolle Macht? Wollte sie das Versunkene heben, bis es dastand, wie es einst gewesen war? Und wie würde es aussehen, was dort auftauchte aus vieltausendjähriger Versunkenheit? Ein neues Pompeji . . . oder nur ein neues Vineta, wo nur noch wenige Reste, dem Schlick des Meeresgrundes entrissen, davon zeugten, daß die Stätte, wo man es vermutete, die richtige war?

Die andere Frage: Wie war es versunken? Wie war es geschehen, daß eine große Insel, ein Kontinent, wie andere behaupteten, die Brücke zwischen der Alten und der Neuen Welt, vom Meer verschlungen wurde? Ein neuer Streit der Meinungen.

Das eine war sicher. Als vor etwa zwei Millionen Jahren die große Kontinentalscholle auseinanderriß und die mächtige Sialscholle des losgerissenen Amerikas auf der plastisch zähen Simamasse unter dem steten Flutdruck ihre Wanderung nach Westen antrat, da blieben abgerissene Schollenfetzen, Grönland im Norden, Atlantis im Süden, als selbständige Inseln, Kontinente, zurück.

Grönland war noch heute auf der Wanderung nach Westen. Atlantis blieb verschwunden. Vielleicht bezeichneten die Azoren, die einst ragenden Berggipfel von Atlantis waren, jetzt noch die Stätte des versunkenen Landes. Vielleicht gab die Delphinbank seine Umrisse wieder.

Was war die Ursache der Katastrophe, die nach alter Überlieferung vor dreizehntausend Jahren jäh über das glückliche Land hereingebrochen sein mußte? Schroff standen sich die Meinungen gegenüber wie schon vor hundert Jahren.

Die kippende Kraft der hier im tropischen Gebiet übermächtigen Flutwelle war die Ursache der Katastrophe nach der Meinung der einen. Der plastische Simauntergrund, vom wegtreibenden Amerika-Kontinent gezerrt, die Atlantisscholle einsaugend in gigantischem Erdbeben, verschlingend, so lautete die Meinung der anderen. Eine dritte Meinung gab es noch, an die Apokalypse in der Bibel anknüpfend, daß ein Mondgestirn der Erde niederstürzend Atlantis begrub oder ein neu eingefangener Mond, die Erdachse aus ihrer Lage drängend, die Katastrophe durch stürzende Meeresfluten bedingte.

Keine Lösung, die befriedigen, sichere Antwort geben konnte auf das, was jetzt zu erwarten stand.

Ein Heer von Reportern kreiste in Flugzeugen über den Azoren . . . über der Stätte des alten Atlantis. Die Aufnahmekameras sendeten unaufhörlich Bilder von dort unten in alle Welt.

Stieg das Land weiter aus dem Meer? Ein Fiebertaumel hatte die ganze Welt ergriffen. Unaufhörlich kamen Meldungen und Bilder der Berichterstatter von den Azoren. Ihre Flugzeuge kreisten in immer größer werdendem Schwarm über dem Atlantik. Sie hielten sich niedrig, die Kamera so nahe wie möglich auf das Objekt gerichtet.

Sie sahen nicht das einsame Flugzeug, das hoch, weit über ihnen, an des Äthers Grenze, still in Riesenkreisen dahinzog.

*

Den dritten Tag schon flog da oben der rätselhafte Unbekannte.

Das Flugzeug zog, automatisch gesteuert, seine Bahn Tag und Nacht. Der Einsame saß darin an seinen Apparaten. Keinen Schlaf, keine Speise, kein Trank. Das Werk mußte in einer Tat vollendet sein.

Er ging zum Fernseher, bewegte den Mechanismus. Dessen Strahlen trafen den Meeresgrund, drangen in ihn ein. Unter Schlick und Sand lagen die Ruinen und Reste von Atlantis, der Hauptstadt des Landes, die Ruinen der Paläste und Tempel.

Sein Geist flog rückwärts durch die Jahrtausende.

Die Hauptstadt Atlantia. Das Gewirr der Häuser, von unzähligen Straßen durchzogen. Buntes Leben und Treiben darin. Die geöffneten Basare, Magazine, Lagerhäuser. Alle Waren der Welt boten ihre Auslagen den Käufern, die das Land, die Welt sandte.

Die Menschen aller Rassen, aller Farben. Im Hafen lagen Tausende von Schiffen, die aus Osten und Westen, aus Norden und Süden hier gelandet, um Handel zu treiben.

Vom Osten her nahend eine große Flotte. Die Menge am Hafen sie begrüßend, Tücher schwenkend, jubelnd. Die Königin Kleito erwartend, die vom siegreichen Krieg zurückkehrte. Die phönizische Macht gebrochen, ihre Besitzungen im westlichen Europa und Afrika in der Hand von Atlantis.

Die Tore der siebenfachen Mauer um die Stadt durchbrochen, erweitert für den Einzug der siegreichen Königin.

Bei Marsilia die große Schlacht. Ungeheure Beute brachten die Schiffe mit. Der Triumphzug der Sieger zum Sonnentempel . . . zum siebentorigen Haus der Welt.

In der Mitte des Zuges die Königin, getragen von den Fürsten der Besiegten. Die Stadt, das ganze Land ein Jubel . . . ein Siegestaumel. Der letzte, der schlimmste Aufstand bezwungen. Ost und West zu Füßen des siegreichen Atlantis. Von Norden und Süden ankommend die Sendlinge der Mächtigen, die freiwillig Tribut boten.

Atlantis, die Siegerin, die Herrscherin der Welt. Kein Feind, der ihr widerstand. Ein einziges mächtiges Reich von Peru bis Ägypten. Der Sonnentempel, nie sah er so viel Blut zu Ehren der Gottheit fließen wie an diesem Tage.

Im Festglanz der tausend Fackeln der Palast der Königin. Auf dem goldenen Thron die Herrscherin, geschmückt mit Perlen und Edelsteinen. Das kühle, stolze Antlitz hoch aufgereckt, die Augen in der Runde, zu den Helden, die vor ihr knieten.

Wer war der Würdigste, von der Königin gekürt zu werden als Gemahl?

Heute die letzte Frist. Die Gottheit . . . Die Priesterschaft wollte es. Und sie wußten es, die Helden zu ihren Füßen. Der Sieg über den mächtigen, den letzten Feind, ihr Werk! Jeder sah im Kampf das Ziel, der Würdigste zu sein, gekürt zu werden, Herrscher von Atlantis, Herrscher der Welt.

Die Herrscherin stand, starrte. Die Rechte hob leicht den dichten Schleier, der ihr Gesicht bedeckte. Kein Sterblicher, der ihr Antlitz sehen durfte, als der, der würdig war, sie zu besitzen . . .

Die Helden zu ihren Füßen, sie kannte sie alle, die da knieten, harrten.

»Amiras! Ich sehe dich nicht! Wo bist du?«

Die Häupter vor ihr hatten sich noch tiefer gebeugt. Im Hintergrund wurde der Vorhang zurückgeschlagen. Von Kriegern getragen ein wunder Mann. Das junge, bleiche Gesicht zum Thron gewandt.

»Hier ist Amiras, Königin!«

Die hatte den Schleier heruntergelassen, die Röte zu verbergen.

»Amiras! Mein Gemahl! Die Götter beschützen ihn!«

Und wie wenn Zauberhand die Wunden geschlossen, geheilt . . . Amiras war aufgesprungen, zu ihr hinaufgeeilt zum Thron, war niedergekniet.

»Königin du! Königin von Atlantis . . . Königin deines Sklaven!«

Neun Monde waren vergangen, der Erbe geboren. Stadt und Land Atlantis im Jubel. Aufhorchend die Welt . . . der neue Herrscher geboren.

Im Saal des Palastes König und Königin. Die Abgesandten der Welt zu ihren Füßen. An der Schwelle des Saales drei Männer, fremd an Gesicht, fremd an Gewand. Aus fernem Osten, wo der Sonne Lauf beginnt. Ihre Hand, Gaben bringend, die niemand in Atlantis kannte . . .

Da . . . Weltuntergang! Weltwende! Die Meeresfluten, vom Hafen, von allen Seiten herstürzend über Atlantia, die Stadt, über Atlantis, das Land . . . begrabend alles in wildem Stürmen und Tosen . . .

. . . Weltuntergang? . . . Eine Wiege in goldenem Glanz, schaukelnd im Toben der Elemente . . .

Ein riesenhafter Vogel, von Osten kommend, sich zu ihr niedersenkend, sie deckend in dunklen Schatten.

Stürzende Wellen . . . verschwunden die Wiege, der Erbe von Atlantis . . . Inkarnation . . .

Über das Toben der Elemente hinaus der schwingende Flug eines Adlers . . . Erbe der versunkenen Welt . . . der versunkenen Nacht . . . aufsteigend in steilem Flug der Sonne zu, der Spenderin neuen Lebens, neuer Macht . . . weiterlebend in neuer Inkarnation.

Er da oben im Flugzeug die letzte Inkarnation . . . Nirwana . . . letztes Paradies . . . Ruhe . . . die Schultern befreit von der schweren Last.

Zurück zu denen, die ihm die Kraft gegeben. Zu denen, die einst die drei Ringe trugen. Die Macht zurückgegeben dem Schicksal, dem Allmächtigen, bis daß er sie wieder in die Hände Sterblicher lege . . . in andere. Er frei! Sein Werk vollendet!

Sein Auge ging in die Tiefe. Da lag es, was Schicksals Macht durch seine Hand schuf. Wo seit Menschengedenken die Fluten des Meeres die Kontinente trennten, lag neues Festland. Ein sechster Kontinent, Atlantis, der uralte, war neugeboren, wiedererstanden, die Brücke zwischen Alter und Neuer Welt.

Die taumelnden Schiffe in taumelnder Flut des Atlantiks sah er nicht. Sah nicht die strudelnden Wogen, die das auftauchende Land nach allen Richtungen im Kreis der Windrose von sich warf, sah nur das vollendete Werk.

Und zwischen dem neuen Atlantis und der Neuen Welt das breite, blaue Wasser des Golfstroms . . .

Die Welt, wie sie einst war, als älteste Sage begann . . .

Das Steuer des Flugzeugs riß der Einsame dort oben aus seiner Lage. Nach Osten der Kurs, der Sonne zu der Flug. Das Schiff in wirbelnder Fahrt nach Morgen gerichtet . . . in blauer Ferne verschwindend auf Pankong Tzo hin, das Ziel der Müden.

*

Der große Saal faßte kaum die Schar der Gäste, die zusammengekommen waren, das Fest der neuen Vereinigung der Häuser Uhlenkort und Harlessen zu feiern. Glückwunschtelegramme aus allen Teilen der Welt. Das europäische Parlament, die europäische Regierung waren vertreten durch ihre bedeutendsten Führer.

Die Gratulationscour war beendet. Die Neuvermählten schritten an der Spitze des Zuges zur Tafel.

»Kein Glückwunsch, Walter, von deinem Freunde?«

Einen Augenblick wich der freudige Glanz aus Uhlenkorts Augen. Seine Gedanken wanderten dorthin, wo er den Freund wußte.

Und dann, fast gleichzeitig, verhielten sie unwillkürlich den Schritt, blickten sich um, als stünde einer hinter ihnen, der ihnen glückliches Leben, glückliches Gedeihen ihres Geschlechts wünschte, prophezeite. Ein Schauer durchrieselte sie. Die fremde Stimme, gleichzeitig hatte ihr Ohr sie vernommen, dieselben Worte. Die Worte, die einer dort drüben im alten Kloster zu dem hundertjährigen Greis sprach, der an seiner Seite saß, dessen Hände zu schwach, das Bild des Festes vors Auge zauberte. Der sah den Freund, die Geliebte mit ihm vereint, beide im höchsten Glück.

Glück! Er hatte es nie gekannt, menschliches Glück . . . Diener des Schicksals von Geburt an bis jetzt, da die Seele im Begriff stand, die sterbliche Hülle zu verlassen, dorthin zu wandern, wo ewige Ruhe war.

Die bleichen, schmalen Hände legten sich über der Brust zusammen. Die drei Ringe am Finger . . . verschwunden, genommen das Symbol der Macht, jetzt, da das Werk getan.

Weiter ging das frohe Hochzeitsfest in Hamburg. Das Fest der beiden alten Handelshäuser, das Fest gleichzeitig des wiedererstehenden Hamburgs. Ein Jahrtausend neuer Geschichte, neuer Blüte.

Die letzte Völkerwanderung, die seine Mauern gesehen, war kaum verebbt. Eine neue angebrochen. Atlantis hieß das Ziel derer, denen der heimische Boden zu eng, zu fremd geworden war.

Atlantis! Der Schrei ging durch die ganze Welt. Neues Land! Neues Leben! Hin zu ihm! Kaum konnten die Schiffe die Massen fassen, die herandrängten zu dem Land, das der Menschheit neu geboren. Neuland für Millionen.

Neue Stätten für die Menschheit!

Wer als erster kam, war ihr Besitzer. Herrenloses Land, das da lag, keiner Weltmacht untertänig. Frei . . . Beute der ersten, die da kamen, die Hand darauf legten, die Flagge hißten.

Die Parlamente der Welt . . . noch schüttelten sie die weisen Köpfe beratend. Der Hamburger Kaufmann faßte die Gelegenheit beim Schopf. Das Haus Uhlenkort. Mit einem Sprung in der Organisation Europas für die flutenden Massen. Die Organisation . . . in der Hand der Staaten ein schwerfälliges Ding . . . in seiner Hand ein Werkzeug höchster Leistung.

Noch ehe die Welt sich besonnen, waren sie da, die Wikingerschiffe aus dem Norden, sprang die Mannschaft an den Strand des neuen Landes, ergriff Besitz davon. Kein Boden mehr für andere, wo Warägerfuß getreten. Die Schiffe des Kaisers Augustus Salvator kamen zu spät. Der sechste Erdteil war in weißer Hand, fest in weißer Hand.

Neu-Hamburg nannte man die Stätte, wo das Schiff Klaus Tredrups landete, das alte Atlantia unter seinen Füßen. Er war vom hohen Bord des Schiffes an Land gesprungen, hatte, sich niederneigend, die Hand aufs neue Land gelegt.

›Neu-Hamburg sollst du heißen! Eine Stätte für alle, die in der Alten Welt vergeblich neuen Boden suchen.‹

Aus den Quadern der Paläste, die die wogenden Fluten aus dem Schlick spielten, errichtete er sein Haus. Der alte Hafen des versunkenen Königssitzes war wiedererstanden zu seinen Füßen. Schiffe, von allen Teilen der Welt kommend, legten an. Neues Land, neues Leben!

Wann würde sie kommen, die er erweckt hatte zu neuem Leben, jetzt frei von der Hand des Feindes . . . Juanita, die Neugeborene? Frei von der Kette, vergessen die dunkle Zeit? Ein freier Mensch an seiner Seite?

Juanita war in Hamburg, stand an der Wiege des jüngsten Uhlenkort. Ihr Blick ging über den schiffberstenden Hafen, ihr Blick ging zu dem neuen Land.

Die Kette war von ihr abgefallen. Ein neuer Mensch, den es drängte zu neuem Leben, zu neuer Liebe . . . zu ihm. Vom alten Land zum neuen Atlantis!

 


 


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