Hans Dominik
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Hans Dominik

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Wie von ungefähr trat Tredrup aus dem Maschinenraum und ging zu der Förderschale. Die ersten mit Sprengstoffkisten voll beladenen Grubenwagen waren eingeschoben. Die nächsten, die letzten, eben ankommend, waren hoch beladen . . . Sein Herz lachte. Das war ja mehr als die normale Ladung.

Er stellte sich so, daß er die Schale im Rücken hatte, sein Gesicht den ankommenden Wagen zugewandt. Mit einem kurzen Ruck der Rechten schleuderte er den Lederbeutel in den Hintergrund der Schale zwischen die dort stehenden beladenen Wagen. Die letzten Wagen kamen heran, wurden in die Schale gerollt.

»All right! Schluß?« rief er, schon auf dem Weg zum Maschinenraum.

»Schluß! Ab!« scholl es hinter ihm her. Seine Hand fuhr zum Hebel, riß ihn herum. Die Schale ging in die Tiefe. Tredrups Blick folgte dem Teufenzeiger. Zu schnell!!! Sein Auge vermochte nicht sicher zu folgen. Er rückte am Hebel. Langsamer ging die Fahrt. Jetzt sechshundert . . . siebenhundert . . . siebenhundertachtzig . . .

Der Hebel fuhr herum. Die Förderschale hielt . . . achthundert Meter genau, las Tredrup am Teufenzeiger.

Er trat zurück, stand sekundenlang. Das Riesenwerk . . . Er selbst jahrelang dabei tätig . . .

Herostrat?!

Das sterbende Europa! Die Millionen, die neue Heimat suchten . . . Die Bilder von den Hafenstädten!

Mit einem Sprung war er an der Werkbank. Faßte einen Tastknopf . . . Morsezeichen . . . den Sprengimpuls . . . Jene Reihe von Morsezeichen, auf die der Empfänger in der Ledertasche in der Förderschale da unten in achthundert Meter Tiefe sicher ansprechen mußte.

Sechs Sekunden nach dem letzten Morsezeichen würde sich im Empfänger ein winziger Hebel umlegen. Der würde den Strom einer kleinen Batterie schließen. Der wieder würde einen feinen Draht, in ein wenig Knallquecksilber eingebettet, zum Glühen bringen. Das war die Initialzündung! Explodierendes Quecksilber . . . eine explodierende Sprengstoffpatrone . . . Die Explosion einer Riesenladung Sprengstoff an der Schachtwand, die den unterirdischen Wasserstrom bannte.

Zehn Meter Eisenbeton . . . die Schranke, die dem Wasser den Weg verschloß. Die Kraft der Explosion . . . die Stärke des Mauerwerkes . . . Wer würde siegen?

Ein belferndes Krachen im Schacht! Ein fürchterliches Dröhnen, tausendfach an den Wänden widerhallend, sich brechend, fuhr aus dem Schacht. Tredrup stand, die bebenden Arme an den Werktisch geklammert. Sein Ohr lauschte nach unten, das Rauschen des Wassers zu suchen. War es frei, waren seine Bande gesprengt?

Noch nichts zu hören.

Die Schallwellen der Explosion füllten noch immer den Schacht. Nach unten zur Sohle stürzend, nach oben wieder zurückgeworfen.

Eine Pause . . . Hörte er jetzt das Rauschen? Ja . . . Nein!

Eine Sinnestäuschung? Wieder ein Schwall gebrochener Schallwellen. Die Spannung drohte ihn zu übermannen. Da! Wieder eine Pause. Und jetzt . . . Das donnernde Rauschen eines mächtigen Katarakts drang deutlich an sein Ohr.

Seine Hände ließen los. Eine zweite Lederhülle, genau wie die erste, hatte er in seinen Händen. Er stürzte zur Tür hinaus. Stürmte in großem Umweg um die hohe Mauer, die den Schachtrand umkrönte.

An der südlichen Peripherie, wo die Umgebung des Schachtes einsamer war, stieß er zur Schachtmauer zurück. Ein kräftiges Stemmeisen fuhr in das Mauerwerk. Ein paar Steine bröckelten heraus. Tredrup schob die Lederhülle in die Lücke, setzte ein paar Steinbrocken davor, warf den Rest der Steine über die Mauer in den Schacht.

Ein Blick um sich herum. Es war höchste Zeit . . . In das Toben und Schreien der Massen, die die Förderschalen in rasender Fahrt aus der Schachttiefe herausholten, in das Jammern der Menge, die von allen Seiten strömend an die Förderungen drängte, in das Heulen der Alarmsirenen, die über Mineapolis hinschrien, mischte sich bereits der dröhnende Laufschritt der Truppen. Gellende Kommandorufe verteilten diese um den Schachtmund. Tredrup stürzte zurück nach ein paar Baumgruppen, die halb im Dunkel verborgen lagen. Einen Augenblick hielt er keuchend an. Schon jagten motorisierte Patrouillen um die Stelle, wo er eben noch an der Schachtmauer gearbeitet.

Mit größter Vorsicht, wo das Dunkel ihn schützte laufend, umkreiste er den Schacht zurück nach Norden, wo Mineapolis lag. Er trat in seine Wohnung, kramte aus Schränken und Kästen allerhand hervor, band es mit ein paar Stricken zusammen. Einen kleinen Sack mit Lebensmitteln warf er über die Schulter. Dann ging er.

Die Straßen waren voller Menschen, die in der Richtung zum Schacht strömten.

Mit Mühe bahnte er sich einen Weg hindurch. Von der Turmuhr des Stadthauses schlug es die zweite Nachtstunde. Er blieb stehen, verglich seine Uhr.

»Noch fünf Minuten!« murmelte er und ging weiter. Noch fünf Minuten, dann mußte er draußen sein, wo die Baumwollfelder anfingen. Jetzt hatte er sie erreicht. Nochmals sah er auf die Uhr, nickte.

Im Geiste ging sein Auge in die Schachttiefe. Er sah die Fluten des Katarakts in die Karbidstollen hineinbrechen. Sah die Stoffe zusammentreffen, in der Verbindung unendliche Mengen Azetylen erzeugen. Sah den Riesentrichter des Schachtes sich mit Gas füllen . . . sah die Belegschaft auf der Flucht. Sah die Fördermaschinen in rasender Fahrt auf und nieder sie zu Tage bringen.

Wenige wohl nur, die, durch das Gas erstickt, den Tod gefunden hatten. Er sah das Gas steigen, höher, immer höher. Jetzt hatte es wohl die Mauerkrone erreicht, überflutete sie. Jetzt war's Zeit.

Aus dem Beutel mit Lebensmitteln zog er einen winzigen Sender, klemmte ihn zwischen die Knie, probierte . . .

Dann gab er den Sprengimpuls, der, ebenso wie der erste den Empfänger im Schacht, jetzt den Empfänger in der Schachtkrone betätigen mußte.

Morsezeichen . . . Von den Ätherwellen getragen, glitten sie zu jener Lücke der Schachtkrone. Eine Sekunde . . . Er lag ausgestreckt auf der Erde, seine Augen starrten nach Süden.

Und dann war's, als ob der Sonnenball aus der Erde emporstieg. Ein feuriger Bogen über dem Schacht, immer höher, höher werdend. Feuerwogen, sich drängend, überstürzend in allen Tönen vom tiefsten Blutrot zum hellschimmernden Orange. Dazwischen breite schwarze Rußschwaden, sich türmend, in tollen Wirbeln dahinjagend.

Aus dem feurigen Glutmeer herausstoßend . . . Schwärme fliegenden Feuers!

Ein Schauer rüttelte die Glieder des Liegenden. Er wollte die bebenden Hände vor die Augen schlagen . . .

Da traf der Schall von dort sein Ohr . . . Weltuntergang . . . die Schallwellen sich überstürzend in allen Tönen, dann zusammenklingend zu grauenerregendem Brausen.

Er drückte den Kopf zur Erde, die Hände an die Ohren. Nichts sehen! Nichts hören! So lag er minutenlang.

Und dann! Durch die geschlossenen Lider drang's, das Licht des Riesenbrandes . . . Tageshelle um ihn, über ihm. Er hob den Kopf, zwang die Augen hinüberzuschauen.

Eine Riesenfackel, aus dem Boden wachsend bis zum Himmel, bis zum Zenit sich streckend, die Landschaft bis zum Horizont taghell bestrahlend.

In Fieberglut bebte die Gestalt des Liegenden, alles vergessend . . . Gefahr . . . Flucht . . . Leben . . . Rettung.

Da! Ein kühler Wind strich über den glühenden Kopf, wurde stärker und stärker, kühlte die Fiebergluten. Die Büsche auf den Feldern begannen zu rauschen. Stark, stärker, und dann wie ein Sturmwind fuhr es über ihn, über die Landschaft, über Stadt und Land, wachsend zum Orkan. Geburt des Flammenungeheuers, das sich selbst den Brandwind schuf.

Und weiter schritt das Unheil. Die Glut breitete sich auf der Erde aus, alles Brennbare auf Kilometerentfernung verzehrend.

Die Stadt selbst . . . Vom Süden her ergriff sie der Brand, sich weiter ausdehnend, weiterspringend von Häuserblock zu Häuserblock.

Die Riesenkraftanlagen, ebenfalls mit erfaßt, waren ein Flammenmeer.

Tredrup lag . . . lag. Der kalte, brausende Luftstrom, je länger er über ihn glitt, an ihm riß und rüttelte, gab ihm die Besinnung zurück. Er stemmte die Hände auf den Boden, richtete sich auf, stand taumelnd da, noch waren die Glieder nicht frei.

Er wandte sich um, das Gesicht dem Sturm entgegen und sog mit gierigen Atemzügen die eisige Luft ein. Er tat ein paar Schritte. Die Glieder gehorchten. Seine Arme reckten sich, sein Blick bohrte sich in die Ferne nach Norden hin, als suche er die Heimat, die Freunde.

»Ich hab's getan!« stieß es aus seinem Munde. »Gott sei mir gnädig! Weg! Weg von hier! Zu ihnen!«

Er beugte sich zur Erde. Das, was er mit sich getragen, warf er über die Schulter, brach sich einen Stecken von einem Strauch und wanderte nach Norden durch die Nacht . . . Tageshelle um ihn.

*

Hochsaison in Irwinga!

Kaiser Augustus hatte schon in den ersten Jahren seiner Regierung durch Geologen und Ärzte in allen Teilen seines Reiches Untersuchungen anstellen lassen, wo die Natur Schätze, Heilkräfte barg. Heilquellen aller Art waren erbohrt, gefaßt worden, Kurorte entstanden.

In den höher gelegenen Gegenden mit gemäßigterem Klima waren Heil- und Erholungsstätten errichtet worden.

Der Kilimandscharo! Es grenzte ans Wunderbare, was hier in wenigen Jahren Menschenhand geschaffen. Kurorte, Sanatorien von den einfachsten bis zu den vornehmsten lagen an seinen Hängen. Jede Vegetation war vertreten, von üppigen Palmenwäldern bis zu den kümmerlichen Latschenkiefern an der Schneegrenze, auf den Schneehängen jeder Wintersport möglich.

Magnetisch zog der Berg die Menschenmassen zu sich heran. Von Jahr zu Jahr mehr. Aus allen Teilen der Welt traf man hier zusammen. Der Kaiser selbst kam. Sooft er es möglich machen konnte, kam er zu seinem Lustschloß Ivango am Südosthang des Berges. Irwinga, nicht weit davon entfernt, war die Perle des Kilimandscharo.

Auf der Terrasse des Kurhotels ließ eine amerikanische Kapelle die neuesten Weisen ertönen. Alle Plätze der Terrasse waren dicht gefüllt, weiter unten auf den Golf- und Tennisplätzen herrschte reges Leben.

»Ist es hier nicht wunderbar, Juanita? Kann man sich ein schöneres Stück Natur vorstellen? Dazu dieses interessante gesellschaftliche Leben. Welcher Kurort der Alten Welt kann sich hiermit messen?«

Juanita nickte. Ihr Auge war nach den Spielplätzen gerichtet. »Bald wirst auch du an dem Spiel wieder teilnehmen können, Juanita. Wie freute ich mich, als ich heute morgen ankam, dich so wohl zu finden! Sechs Tage bist du erst hier, und doch! Wie ein Wunder scheint es, was die Natur in der kurzen Zeit an dir vollbrachte.«

»Du hast recht, Guy! Es ist schön hier . . . ja, es ist schön hier. Ich danke dir, daß du mich hierher gebracht hast. Die köstliche Ruhe, die wunderbare Natur, sie werden mir mehr helfen als alle Ärzte. Nur den einen Wunsch habe ich, hier zu bleiben, lange, lange zu ruhen, zu vergessen . . .«

Sie lehnte sich in ihren Liegestuhl zurück und schloß die Augen.

Guy Rouse stand auf und zog sorgsam eine Decke über ihre Gestalt.

»Bist du müde, Juanita? Willst du schlafen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nur ruhen! Ruhen!«

Rouse trat an die Brüstung der Terrasse.

Wäre es möglich! Ein Wunder wäre es. Und doch! Sie sieht so blühend aus! Blühender, schöner denn je. Die leichte Röte auf ihren Wangen. War es Genesung . . . waren es die Rosen der . . .

Am Tag nach ihrer Ankunft in Timbuktu hatte er sie vergeblich morgens am Teetisch erwartet.

Die Dame wäre krank, hatte die Zofe gemeldet. Er hatte den Leibarzt des Kaisers holen lassen. Ein kluger, tüchtiger Mann. Seine Studien hatte er in den USA vollendet. Seine Bedeutung als Arzt hatte ihm trotz seiner Jugend den hohen Posten eines Leibarztes beim Kaiser verschafft.

Der Leibarzt war gekommen, hatte Juanita in seinem Beisein untersucht, ein paar beruhigende Worte gesagt.

Rouse war mit ihm hinausgegangen, hatte ihn gefragt, von Mann zu Mann, wie es stünde.

Und dann! Was er längst im Innersten gefürchtet, sich immer zu verhehlen gesucht hatte, mit wenigen dürren Worten sagte der Arzt es ihm.

Heilung schwer! Die Krankheit, zu schwer hatte sie den Körper angegriffen, zu weit schon war sie fortgeschritten. Sie zum Stillstand zu bringen? Beste Pflege, völlige Ruhe.

Er riet zu Irwinga am Kilimandscharo.

Irwinga am Kilimandscharo. Der leitende Arzt des Sanatoriums war ihm bekannt. Er empfahl ihn aufs beste.

Noch am selben Abend war Guy Rouse mit ihr im Flugzeug auf dem Wege dorthin. Juanita war begeistert, entzückt beim ersten Anblick. Hatte freudig zugestimmt, hier zu bleiben.

Am nächsten Tage war er nach Timbuktu zurückgeflogen. Seine Geschäfte ließen ihm nicht Zeit. Er hatte versprochen, so bald wie möglich wiederzukommen.

Und jetzt, fünf Tage später, war er wieder hier. Nur schwer hatte er sich für die Reise frei machen können.

Er hatte schon auf dem Sprung gestanden, nach den USA, wo jetzt seine Anwesenheit immer dringender erforderlich wurde, zurückzukehren.

Die Luft dort war klar. Ein dunkler Punkt nur, James Smith . . .

Vergeblich hatten leitende Personen der New Canal Cy. in seinem Auftrag mit James Smith verhandelt, ihn zum Verbleiben in seiner Stellung zu bewegen versucht.

Dieser hatte jedoch brüsk abgelehnt, war neuen Verhandlungen ausgewichen, indem er ohne Angabe eines Reiseziels verschwand. Rouses Agenten waren ihm auf dem Fuße gefolgt, hatten ihrem Herrn von jedem Schritt, den er tat, berichtet.

Nur zu bald war Guy Rouse klargeworden, was das Ziel seines Chefingenieurs war: Juanita! Ihren Spuren ging er nach.

Das Spiel Juanitas . . . allzu gefährliches Spiel war es diesmal gewesen . . . Er hätte es wissen müssen. Und doch! Ohne sie wäre es nicht gelungen. Die fünf Millionen Dollar allein? Gewiß hatten sie für Sekunden den Chefingenieur geblendet. Aber er hätte sie nicht genommen ohne das Dazwischentreten Juanitas. Und jetzt? Er verlangte seinen Lohn, verlangte sie, das Ziel seines Lebens.

Guy Rouse kannte seinen Mann nur zu gut.

Die ungeheure gesammelte Energie in ihm war jetzt frei von allen Hemmungen, nur auf das eine Ziel – Juanita – gerichtet. Ein Kampf auf Leben und Tod mußte es werden. Lange hatte Rouse überlegt, wie dem zu begegnen sei. Ein kleiner Wink . . . irgendwo in den Staaten eine Seele, die in seiner Hand war . . . machte ihn frei vom Feind. Den Gedanken hatte er mehrfach verworfen. Letzte Lösung blieb es.

›James Smith im Linienflugzeug nach Timbuktu.‹ Letzte Nachricht seiner Agenten war es. Wieder war jener Gedanke aufgetaucht, wieder hatte er ihn verworfen. Mit dem nächsten Flugzeug nach Irwinga. Juanita mußte fort von hier, wo James Smith sie bald finden würde. Doch wohin? Die Auswahl war nicht groß, wurde durch den Zustand Juanitas sehr beschränkt.

Auf der Fahrt hatte er einen Reiseführer durch die Riviera studiert. Santa Barbara, ein kleiner, wenig bekannter und doch schön gelegener Ort der italienischen Riviera, sollte der neue Aufenthaltsort Juanitas werden. Ihre Spur zu finden, würde James Smith lange Zeit benötigen.

Seit heute morgen war Rouse hier. Immer wieder hatte er mit Juanita von ihrer notwendigen Abreise sprechen wollen, immer wieder hatte er es nicht über sich gebracht.

Ein Hotelboy überreichte ihm ein Telegramm: »James Smith in Timbuktu. Soeben angekommen.«

Keine Zeit mehr zu verlieren!

Er trat zu Juanita, bat sie, mit ihm zu einem kleinen Spaziergang zu kommen. Sie schritten zusammen durch die gepflegten Parkwege. Rouse legte seinen Arm in ihren und sprach zu ihr. Und seine faszinierende Macht, die unerklärlich, wenn sie je Menschenherzen nach seinen Willen gelenkt . . . hier galt es, sie anzuwenden bis zu ihren letzten Möglichkeiten. Mit größter gesammelter Willensanstrengung sprach er zu ihr von dem, was war, was sein mußte. Sein Herz bebte bei jedem Wort, das er sprach.

Und es gelang.

Ein paar schnellere Pulsschläge in ihrer Hand, die seine umklammerte, das war die einzige Reaktion. Noch ein paar Schritte weiter, dann sprach Juanita ruhig, als hätte sie das nicht berührt.

»Du hast recht, Guy! Es ist besser, wenn ich von hier fortgehe . . . und bald gehe.«

»Und du wirst also wirklich nach Santa Barbara reisen und immer daran denken, weshalb du dort hingefahren bist?«

»Ich werde immer daran denken, Guy! Es wird auch dort schön sein. Und Ruhe werde ich haben . . . dort vielleicht mehr als hier.«

»Du wirst ein bequemes Privatflugzeug nehmen. Ich habe alles vorgesehen, dir die Reise so angenehm wie möglich zu machen. Der Pilot wird instruiert sein, alle Spuren der Reise zu verwischen.«

Noch am Abend war Juanita abgeflogen und Rouse mit dem Linienflugzeug auf der Fahrt nach Timbuktu. Flugzeugwechsel in Mineapolis.

Noch während des Fluges kam die Nachricht vom Schachtunglück. Rouse kannte ihn wohl, den Schacht. Der Einbruch der unterirdischen Gewässer . . . nur Verbrecherhand konnte den Weg frei gemacht haben.

Warum? Wozu?

Im Geiste überschlug er alle Möglichkeiten, alle Gründe, die dazu geführt haben könnten.

Das Werk des Kaisers, in jahrelanger Arbeit mit ungeheuren Kosten vollendet, war zerstört. Karbid und Wasser! Azetylengas in undenkbaren Mengen! Feuer daran? Der Gedanke ließ ihn erschauern. Ein Meer von Flammen . . . von Zahlen wogte vor seinem Geist.

Der ungeheure wirtschaftliche Schlag für den Kaiser . . . letzten Endes berührte er auch ihn. Eine Riesenanleihe des afrikanischen Reiches . . . wer würde sie geben? Er! Drei Erdteile: Amerika, Europa, Afrika in seiner Hand!

Er ging zur Leitung des Flughafens, legitimierte sich, verlangte einen Kraftwagen.

Zur Stadt! Zum Schacht!

Auf dem kleinen Platz hinter dem Stadthaus hielt sein Kraftwagen an. Aus allen Seitengassen strömten die Massen heran über den Platz, drängten zur engen Hauptstraße, die nach Süden zum Schacht führte.

»Unmöglich, weiterzufahren, Herr!«

Der Chauffeur deutete auf die Massen. Rouse erkannte die Richtigkeit der Worte. Er verließ den Wagen und versuchte mit dem Strom vorwärtszukommen. Das war nicht leicht. Nur langsam, am Rande vorwärtsgeschoben, ging es der Hauptstraße zu.

Da! Wenige Schritte von ihm, gerade im Schein einer Laterne, ein Mann, der anscheinend nicht mitwollte. Er stand da, sah auf die Uhr. Wandte sich um und nahm an den Häusern entlang den Weg nach Norden.

Als er sich umdrehte, konnte Guy Rouse dessen Züge deutlich erkennen.

Ein Mischling war's! Und doch! Er mußte ihn kennen, den Mann. Alles an ihm, seine Züge, seine Gestalt, wo hatte er sie gesehen? Wo war er ihm begegnet? In seinem Innern schrie es auf: Montegna!

Ah! Da war es! Und der Mann ging jetzt nach Norden zu, wo alles nach Süden drängte? Gepäck auf der Schulter . . .

Er floh? Warum?

Und dann wußte er's.

War es ein Verbrechen, dann war dieser der Täter!

Einen Augenblick überlegte er, ob er ihm nacheilen, Hilfe herbeirufen solle, ihn festzuhalten . . .

Nein! Nein! Der konnte nicht entkommen, der wohlorganisierten Polizei des Kaisers nicht entgehen. Er würde ihr den Weg weisen.

Und dann stand Rouse vor dem Polizeichef von Mineapolis, nannte den Täter und gab dessen Spur.

Der Mann konnte nicht entkommen!

*

Tredrup schritt vorwärts, Weiler, Dörfer, die am Wege lagen, im Bogen umgehend. Der Umweg war kürzer als der gerade Weg. Durch das erste Dorf war er hindurchgegangen. Sie hatten ihn angehalten, festgehalten, mit Fragen bestürmt. Er kam aus dem Süden, vom Schacht her, vom Feuer her. Mit Gewalt hatte er sich frei machen müssen.

Eine kleine Anhöhe zur Seite. Er schritt vom Wege ab darauf zu.

Langsam stieg er den sandigen Abhang hoch. Der Sturm, der zum Feuer flog, hatte an Stärke abgenommen, je weiter er kam. Hier unter dem Schutz des Hügels war es fast windstill.

Er blickte auf die Uhr. Noch immer reichte das Licht des Schachtbrandes aus, die Ziffern zu erkennen. Drei Stunden war er unterwegs, er war rüstig vorwärtsgeschritten. Aber die Umwege, die er machte, hatten sein Vorwärtskommen um ein Drittel vermindert. Zwölf Kilometer! Größer war die Entfernung nicht. Er schob sich nahe an den Rand des Abhanges heran, prüfte mit hochgehobener Hand die Stärke und Richtung des Windes.

Unmöglich! Noch ging es nicht. Noch konnte er es nicht wagen. Er warf das Bündel wieder über die Schulter und hob den Fuß zur Hügelkante.

Dann stutzte er, sprang zurück und legte sich hart an die Böschung und schaute nach Süden. Die Helle, die über der Landschaft lag, ließ die Straße bis weit nach Süden erkennen.

Motorradfahrer . . . Ein geschlossener Trupp . . . Ab und zu ein Blitzen . . . Militär? . . . Polizei? . . .

Da! Sie wichen zur Seite! Aus einer Staubwolke hinter ihnen schoß ein Kraftwagen an ihnen vorbei, hielt kurz. Ein einzelner Motorradfahrer brauste heran, sprach mit denen im Wagen. Der Wagen fuhr weiter, der Motorradfahrer in schärferem Tempo hinterher.

Verfolger? Tredrups Augen flogen vom Wagen zu den nachfolgenden Motorrädern.

Verfolger? Wen verfolgen die? Verfolgen sie dich? Bist du's?

Unmöglich! Unmöglich! Ausgeschlossen!

Wer hätte ihn gesehen bei seinem Werk? . . .

Möglich war es, daß ihn jemand gesehen hatte. Aber was konnte der sich denken? Was? Wie konnte der vermuten, wie alles geschehen konnte . . . Vermuten, daß durch ihn alles geschah?

Die ungeheure Verwirrung am Schacht, in der Stadt, wo jeder suchte, sein Leben zu retten, wo alle Ordnung dahin war . . . Wer kümmerte sich da um den Täter, wenn das Ganze ein zufälliges Unglück war. Und hätte jemand Verdacht auf ihn, wie konnte der wissen, wohin er sich wandte? Flohen nicht die Schachtarbeiter nach allen Richtungen der Windrose auseinander?

»Klaus! Du siehst Gespenster am hellen Tage! Dein überreiztes Hirn bringt dich auf solche törichte Ideen.«

Da! Das Auto! Er war ihm mit den Augen immer gefolgt. Es hielt, vier Männer stiegen aus. Gingen ein paar Schritte auf dem Seitenweg, auf dem er von der Straße abgebogen war, um die Höhe zu gewinnen.

Der eine ging zum Wagen zurück, öffnete. Zwei Hunde sprangen heraus . . .

»Sie suchen dich!« Der Instinkt schrie es ihm zu. »Sie sind auf deiner Spur!« Wie war das möglich! Weg mit dem Gedanken, er half nichts.

Weiterfliehen? Zu Fuß? Ausgeschlossen! Die Hunde würden ihn bald eingeholt haben. Er konnte sie abschießen . . . vielleicht, aber die anderen blieben auf seinen Fersen.

Noch während er dachte, hatten seine Finger die Hülle des Gepäcks gelöst.

»Ruhig Blut! Ruhig Blut, alter Klaus! Fixe, gute Arbeit muß es sein, sonst bist du verloren!«

Er griff in den Inhalt des Beutels. Kurze Stäbe, auseinandergezogen, dann zusammengefügt. Ein Gestänge entstand im Nu. Wie Zauberwerk ging's. Schon fügte sich seidiger feiner Stoff um das Gerüst. Seine Hände flogen von Schraube zu Schraube, zogen zur gleichen Zeit an beiden Flächen die Verbindungen fest. Er wandte den Kopf zurück. Auf dem Wege zum Hügel kamen die Hunde mit tief gesenkten Nasen herangestürmt. Hinter ihnen, Schritt mit ihnen haltend, der Kraftwagen.

Er schwang das schimmernde Gerüst über sich, verschwand zwischen ragenden Schwingen.

Da stand einer im Wagen auf, zeigte mit dem Arm nach ihm. Das glitzende Flimmern des seidigen Gewebes hatte ihn verraten. Ihre Hände griffen nach Waffen, legten auf ihn an.

Er schwang das Flimmernde über sich. Schüsse krachten. Er hörte das Pfeifen der Kugeln um sich. Da war der Schwingenflieger fertig.

Hinein in den Wind! In den Geschoßhagel!

Seine Arme schlugen das Gestänge nach unten. Mit einem Riesensatz war er an der Hügelkante . . . Noch einen Schritt weiter, er hob den Fuß, da hatte ihn schon der Sturm gefaßt.

Die Kugeln! Aus vier Maschinenpistolen pfiffen sie um ihn herum.

»Nur keine Stange! Keinen Arm!« murmelte er. Da war er schon über ihren Köpfen. In rasender Fahrt riß ihn der Wind in die Höhe, nach Süden zu. Sie folgten ihm mit ihren Waffen, schossen wild . . .

Da war er schon außer Schußweite. Tief unten, kaum noch erkennbar die Landschaft.

»Jetzt wird's Zeit«, murmelte Tredrup. Mit immer größerer Geschwindigkeit riß ihn der Sturm dem Brande zu. Von Sekunde zu Sekunde wuchs die Gefahr, die Gefahr, in den Sturmwirbel des Flammenmeeres hineingerissen zu werden.

Gewiß! Die Höhenkurve wurde immer steiler, sein Flug ging immer höher . . . Aber auch immer näher trieb es ihn an die sengende Glut, die in unendliche Höhen hinaufwallte.

Er warf den Schwingenflieger zur Seite. Fast brach ihm der Sturm Gestänge und Arme. Er biß die Zähne aufeinander, trat mit dem Fuß das Tiefensteuer . . .

Würde es gehorchen? Würde der Apparat ihm folgen?

Ja! Es schien zu gelingen . . . Langsam neigte sich der Kopf des Schwingenfliegers, zuckte, ruckte, neigte sich tiefer und immer tiefer.

»Gott sei Dank!« stießen seine Lippen heraus. Fixe, gute Arbeit . . . und jetzt, den guten, treuen Apparat unter sich, nahm er den Kampf mit Sturm und Feuer auf. Kein treibendes Blatt mehr, das, hilflos gaukelnd, im Sturm dahingerissen wurde . . . eine lebendige Maschine, von Menschengeist, von Menschenarmen geführt, nach Menschenwillen gelenkt . . .

Der Kampf begann. Wie ein Schiff im Taifun mit allen Kräften allmählich aus den Wirbeln, die todbringend zum Zentrum ziehen, zu kommen sucht, so drückte er den Schwingenflieger mit übermenschlicher Kraft auf seitlichen Kurs, daß er kreisend um das höllische Flammenmeer herumfuhr. Immer wieder ging sein Blick zur Erde. Da war er an der südlichen Peripherie des Brandmeeres.

Weiter ein rasendes Kreiseln in wilden Spiralen. Der Kampf mit der anziehenden Kraft der Wirbel trieb ihn im Kreise . . . aber auch immer höher! Seine Brust atmete schwer. War es die Riesenanstrengung, mit der seine Arme die Steuerflächen bedienten, war es die dünner werdende Luft in dieser Höhe?

Wie hoch hatten ihn die Strudel gerissen? Acht Kilometer, die Höchstgrenze menschlichen Lebens . . . er fühlte, wie das Blut seine Adern zu sprengen drohte. Dazu die strahlende Glut! Die Gestänge in seinen Händen wurden heißer und heißer. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Auf seinem Rücken bewahrte er eine Flasche Wasser. Tantalusqualen! Er konnte es nicht wagen, danach zu greifen . . . die Steuerung loszulassen.

Seine Kräfte wurden matter. Er schloß die Augen, als wolle er das Unvermeidliche über sich ergehen lassen, den Kampf aufgeben. »Die Strafe des Schicksals folgt der Tat«, murmelten seine trockenen Lippen . . .

Ein riesiges, glühendes Wellblechdach, das in tollen Wirbeln sich überschlagend seine Bahn kreuzte, riß ihn aus seiner Betäubung. Das hatte den Weg gefunden aus dem glühenden Zentrum in die Abdrift des Orkans. Mit einer letzten, übermenschlichen Anstrengung drehte er das Tiefensteuer immer weiter herum, riß er das Seitensteuer.

Der letzte Versuch . . .

Da vor ihm flatternd das wirbelnde Blech. Ihm nach! Er starrte hinüber. Da verschwand es aus seiner Sicht.

Nein! Nein! Da war es wieder!

Deutlicher, immer deutlicher sah er es jetzt. Er näherte sich ihm . . . schneller, immer schneller. Er riß das Tiefensteuer noch einmal hoch und drückte mit scharfem Ruck nach unten. Der Kopf des Fliegers senkte sich, das Gestänge zum Zerspringen gespannt.

Und dann . . . Der Widerstand ließ nach. In sausendem Gleitflug schoß er unter dem Blech hindurch, weg vom Wirbel, weg von den Flammen.

Gerettet! wollte er rufen.

Da, eine Bö hob ihn, warf ihn zurück. Noch einmal das Tiefensteuer!

Der Apparat ächzte, aber er gehorchte. In gleitendem, rasendem Flug schoß er aus dem Zyklon in ruhigeren Äther . . . schoß weiter, weiter, die Tageshelle hinter sich lassend, in die kühle, rettende Nacht.

Eine unendlich wohltuende Müdigkeit überfiel Tredrup. Der Widerstand der Luft wurde so schwach, daß seine ermüdeten Arme sich nur wenig anzustrengen brauchten, um den Albatrosflug des Schwingenfliegers durchzuhalten.

Jetzt endlich konnte er einen Arm freimachen, die Wasserflasche ergreifen, sie an die Lippen führen.

Das Wasser war warm! Und doch, wie labte es den vertrockneten Gaumen! In gierigen Zügen sog er die Flasche aus bis zum letzten Tropfen.

Er wandte den Kopf nach Süden. Wohl sah er sie noch, die Riesenfackel, die von der Erde zum Himmel reichte. Aber ihr Licht war schwächer geworden. Die Tageshelle da unten war hier dunkler Nacht gewichen. Er blickte hinauf zum Himmel. Das Meer der Sterne grüßte ihn. Im Augenblick hatte er sich orientiert.

Nach Norden hin! Nach Norden zu den Freunden, zur Heimat!

*

Wibehafen . . . das neue Bild! Wie anders war's noch vor Wochen!

Gewiß! Auch jetzt drängte sich Schiff an Schiff an den Kais. Sie kamen an wie früher, mit Lebensmitteln, mit Ballast. Kehrten zurück mit dem, was die Gruben geliefert. Kohle früher! Jetzt Menschen!

Leer die Riesenschächte! Leer die gewaltigen Fabrikgebäude! Stumm die Maschinen! Alles Lebende auf der Flucht nach Süden. Nichts von den kostspieligen Anlagen, von den Riesenwerften durfte abmontiert, durfte weggeschafft werden.

Menschenleben retten! Die letzten Transporte waren zu machen. Ein paar tausend . . . Die letzten von den Hunderttausenden, die bis vor kurzem hier gelebt hatten. Die Stadt mit ihren schönen breiten Straßen, den großen, wohlgebauten Häusern bot ein trauriges Bild in ihrer Öde und Verlassenheit.

Das Flugzeug, das, von Süden her kommend, auf dem Flugplatz landete, fand keine Helfer. Die Riesenhalle leer, verlassen.

Uhlenkort sprang hinaus und nahm den Weg zum alten Leuchtturm. Die Augen geradeaus gerichtet . . . nicht links, nicht rechts schauend, als könne er den trostlosen Anblick nicht ertragen, ging er seinen Weg. Und wieder war es ihm wie so oft. Als er nun am Fuße des Turmes stand und die Hand an die kalten grauen Quadern legte, ging ein Strom von Zuversicht, von Hoffnung durch sein Herz, verscheuchte alles, was es bedrückte.

Und dann stand er dem Freunde gegenüber, oben in der Laterne des Turmes. Der begrüßte ihn kurz, wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

War es die Nähe des Mannes, war es die Ruhe im Gemach? Uhlenkort ließ sich in einen Sessel nieder. Seine Hand strich über die Stirn, verscheuchte alle Sorgen und Qualen der Tage und Nächte.

Er zog eine amerikanische Zeitung aus seiner Tasche und begann zu lesen. Hier ein ausführlicher authentischer Bericht über das Unglück am Augustus-Schacht in Mineapolis.

Tredrup . . . sein Werk!

Wo war er jetzt? Hatte er sich gerettet?

Die Zeitung schilderte die Vorgänge der Katastrophe in den grellsten Farben.

Uhlenkort las, zuckte die Achseln.

Wie verblaßte das alles gegenüber dem, was über Europa gekommen war. Noch einmal überlegte er im Geiste die Tat Tredrups, ihre Notwendigkeit. Ein Herostrat . . . das Wort stand in den Spalten der Zeitung immer wieder.

War es das? War das richtig? Nein! Nein! schrie es in ihm auf. Es mußte geschehen in berechtigter Notwehr.

Und als wollte er sich frei machen von alledem, schlug er die Seite um, las weiter. Flüchtig gingen seine Augen über die gesperrt gedruckten Überschriften.

Da! ›Ein freches Piratenstück im Golf von Mexiko!‹

Er las . . .

Der Überfall war anscheinend schon vor Tagen passiert. Der Bericht der Augenzeugen war es. Der letzte Satz: ›Ein Passagier, Miß Christie Harlessen, Kontoristin aus New York, wird seit der Stunde des Überfalls vermißt. Man vermutet, daß sie von den Piraten mitgeschleppt wurde, wobei allerdings auffällt, daß niemand die gewaltsame Entführung gesehen hat.‹

Uhlenkort las . . . immer wieder lasen seine Augen diese Worte. Der Atem stockte ihm, seine Hände umkrampften das Blatt.

Christie geraubt! Unmöglich! Von wem? Warum? Lösegeld?

Von einer kleinen Kontoristin . . . und doch! Doch konnte es sein . . . ihr Name: Harlessen . . . Vielleicht war er den Piraten aufgefallen. Sie hatten erfahren, daß sie mit dem Präsidenten der Europäischen Union nahe verwandt sei.

Im Geiste versetzte er sich auf das Schiff, sah, wie Christie, von rauhen Fäusten aus ihrer Kabine gerissen, in das Räuberschiff gebracht wurde.

Jäh sprang er auf, eilte zu dem Arbeitstisch. Johannes mußte helfen . . . Er konnte es! Was konnte der Freund nicht?

Er rüttelte an dessen Schultern, sprach zu ihm.

Dieser schien nichts zu fühlen, nichts zu hören. Seine Hände arbeiteten an einem mechanischen Werk, seine Augen waren darüber geneigt, jede Bewegung verfolgend, prüfend.

Uhlenkort trat zurück. Er durfte ihn nicht stören. Er stellte sich zur Seite, wartete in fieberhafter Ungeduld. Die Sekunden wurden ihm zu Minuten, die zu Stunden . . . unerträglich . . .

Da, endlich! Der andere richtete sich auf, wandte sich zu ihm.

»Was ist? Was wolltest du?«

Uhlenkort wies ihm die Zeitungsnotiz. Mit fliegendem Atem stammelte er ein paar erläuternde Worte.

»Hilf mir, Johannes? Hilf mir! Du kannst es! Ich weiß es.«

Der schüttelte den Kopf.

»Nein! Du irrst. Ich kann dir nicht helfen, ich kann dir nichts sagen, ich darf es nicht . . .«

Die letzten Worte, in leisem Flüsterton gesprochen, Uhlenkort hatte sie doch vernommen.

»Du darfst es nicht?« schrie er. »Du kannst es und willst es nicht?«

Der Freund wandte sich ab zu dem breiten Südfenster, starrte lange hinaus.

»Ich könnte es . . . vielleicht . . .« murmelten seine Lippen. »Nein!« Mit dem Wort hatte er sich umgewandt, trat auf Uhlenkort zu.

»Nein! Ein Mißbrauch wär's! Ich will nicht! Du, der du tiefer in mein Innerstes geschaut hast als irgendein anderer Sterblicher . . . du, der du weißt, was das Schicksal mir auferlegte, weißt, daß meine schwachen Schultern die Bürde kaum zu ertragen vermögen . . . weißt, daß ich alles, was ich tue . . . tue . . . weil das Schicksal es will, der du weißt, daß die Macht, die in meine Hände gelegt ist, von ihm kommt . . . Das Walten des Geschickes . . . rätselhaft . . . unbegreiflich, dir . . . mir, dem Diener, den er sich auserkoren . . . Mißbrauch, Frevel wäre es! Ich kann es nicht! Ich will es nicht!«

Uhlenkort starrte in das Gesicht des Freundes. Von Jugend an kannten sie sich. Nie hatte er es so gesehen. Die tiefe Blässe, die stets darauf geruht, war verschwunden, einer leichten Röte gewichen. Die blauen Augen – ein leichter Schleier hatte stets darüber gelegen – leuchteten, wie wenn ein heiliges Feuer sie entzündete. Statt der sanft geschwungenen Lippen des zarten Mundes ein messerscharfer roter Strich an ihrer Stelle. Die schmächtige, leicht vornübergeneigte Gestalt stand hoch aufgerichtet da.

Uhlenkort war zurückgetreten, sah zu ihm hinüber.

War das Johannes Harte? War das der Freund seiner Jugend?

»Du wirst sie wiedersehen, die Verlorene, sei's dir ein Trost! Doch vergiß es nicht, daß auch dir das Schicksal zu tragen gegeben hat, schwer, schwerer als vielen anderen Sterblichen. Daß auch du sein Diener bist, bestimmt zu Großem, bestimmt, vielen Tausenden zu helfen, ihre Not zu lindern . . . Sie . . .« der starre Ausdruck seines Gesichts milderte sich, ». . . sie ist in Not, einer Not, klein gegenüber der der Tausende. Du tust dein Werk, wie das Schicksal es will. Ich will das meine tun. Als du kamst, tat ich den ersten Schritt . . .«

Und dann war es wieder der alte Freund, der Johannes Harte, wie er ihn von Jugend auf kannte.

»Wir wollen einen Gang über die Insel machen. Komm mit mir.«

Sie standen an einer vorspringenden Klippe. Unter ihnen die brausende, rauschende Flut. Zur Seite der Hafen.

Ein ankommendes Schiff. Die Landungsbrücke war herunten, ein Strom von Menschen eilte über sie hinweg, auf das Schiff.

Uhlenkort sah es. Gleichgültig glitt sein Auge über das Bild. Nichts in ihm regte sich dabei. Sein Herz, es schlug im Widerhall der Worte, die sein Freund gesprochen:

»Ich habe den ersten Schritt getan.«

Von Süden her näherte sich ein Flugzeug. Schon konnte man die Formen unterscheiden.

Ein schnelles Privatflugzeug mußte es sein. Wer kennte das sein?

Tredrup! schoß es Uhlenkort durch den Kopf.

Eine jähe Freude stieg in ihm auf, ihn wiederzusehen! Lebend! Hier!

Auch er war ein Diener des Schicksals. Mit ihm zusammengestellt, manche Wege gemeinsam zu gehen, Freund dem Freunde, jetzt und auch weiterhin. Christie . . . Tredrup . . . der offene klare Charakter . . . ein Kind konnte in seinen Zügen lesen! Und doch, was hatte ihm die Natur noch gegeben, mehr als anderen . . . den schlauen, findigen Geist, allen Lebenslagen gewachsen, überall einen Ausweg sehend.

»Gehen wir zum Flugplatz!«

Er sprach's und ging mit schnellen Schritten darauf zu, achtete nicht, daß der andere ihm nur langsam folgte.

Ja, es war Klaus Tredrup, der ihm am Tor des Hafens entgegentrat. Sie gingen der Stadt zu. Tredrup erzählte, kaum konnte ihn Uhlenkort mit einer Frage unterbrechen. Die Hauptsache kannte er ja aus den Zeitungsberichten, aber die Flucht, die abenteuerliche Flucht, bis er wieder europäischen Boden unter sich hatte.

Und damit hatte Tredrup seinen Bericht beendet.

»Nun bin ich hier! Wieder bei Ihnen. Und nur die eine Frage ist's, die mir auf dem Herzen liegt, sich darauf gelegt hat, vom ersten Schritt, den ich tat . . . die, von der ich mich nicht frei machen konnte, bis zu diesem Augenblick: War's recht, was ich tat?«

Uhlenkort hatte seine Hand ergriffen, sie gedrückt, dann an sich gezogen.

»Ja! Und tausendmal ja, es war recht!«

Sie standen am Leuchtturm. Der Turmbewohner . . . Die Erinnerung hatte auf Tredrup gelastet seit dem Morgen nach der nächtlichen Fahrt. Sein beweglicher Geist hatte am hellen Tage die Gespenster der Erinnerung zu verscheuchen gewußt. Aber die Nächte . . .

Sie standen am Fuße des Turms. Tredrup ging voran. Fast nahm sein Fuß zwei Stufen auf einmal. Und dann stand er vor dem Rätselhaften, ergriff dessen Hand, drückte sie. Der hielt sie fest. Reichte die andere Uhlenkort, bis sie standen Hand in Hand . . . Diener des Schicksals!

Sie saßen gemeinsam am Tisch. Tredrup erzählte den Freunden, wie er es getan. Und wieder hatte Uhlenkort, als er endete, das Wort wiederholt: »Recht war's!«

Tredrup sah zu dem anderen hinüber. Dieser nickte, und leise kam es von seinen Lippen: »Das Schicksal wollte es!«

Uhlenkort nahm die Zeitung. »Christie Harlessen von Seeräubern geraubt . . .«

Tredrup fuhr kurz zusammen. Seine Augen blickten zu dem anderen, schienen es nicht zu fassen.

»Wir müssen sie retten«, entfuhr es ihm. »Retten so schnell wie möglich. Christie Harlessen geraubt.« Immer wieder murmelte er es vor sich hin. »Unmöglich! Unmöglich!«

Er wiederholte die gleichen Worte, die Uhlenkort gesprochen.

»Warum? Weshalb? Lösegeld? Kontoristin aus New York? Schulreiterin?«

Die Augen weit geöffnet, sprang er auf.

»Kapstadt! Juanita! Rouse!« Diese Worte gellten durch den Raum.

»Juanita! Du! Ah! Jetzt weiß ich's . . . Jetzt verstehe ich es . . . Du belogst mich doch!«

Er sank auf den Stuhl zurück und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Du belogst mich doch!«

Immer wieder stieß er es aus. Die anderen sahen auf ihn. Diese Kraftnatur, geschüttelt in schwerstem Seelenkampf. Was war das?

Da sprang er auf.

»Guy Rouse!« zischte er. »Kein anderer! Juanita! Warum?«

Er drückte die Fäuste vor die Stirn. »Ich weiß es nicht. Nur das eine weiß ich, er steht hinter all diesem.«

»Guy Rouse?« Auch Uhlenkort sprang auf. »Wie kommst du zu diesem Namen? Was hat er mit Christie zu tun?«

Er trat auf Tredrup zu und schüttelte ihn. »Was ist mit Guy Rouse und Christie? Sag's! Was weißt du?«

Und wie sie noch standen, war der dritte zu ihnen getreten, hatte zu ihnen gesprochen, daß sie voneinander ließen, sich setzten, daß Tredrup sagte, was er dachte. Lange, lange sprachen sie, Tredrup und Uhlenkort. Immer wieder ging ihr Blick zu dem anderen hinüber. Der saß, das Gesicht nach Süden gerichtet, regungslos. Kein Zug . . . Kein Zucken in seinem Gesicht. Keine Antwort auf ihr stummes Fragen.

Tausend Pläne wurden erwogen, verworfen. Kein Ausweg. Bis sie erschöpft schwiegen. Ratlos, hilflos.

Da wandte sich der andere um.

»Schicksal! Wißt ihr's noch nicht? Es geht seinen Gang. Es wird geschehen, es wird erfüllt werden, wenn die Zeit gekommen ist. Ihr habt zu warten, zu tun, was euch das Schicksal gebietet.«

*

Das Linienflugzeug Mineapolis-Timbuktu landete. Rouse ging über den Flugplatz, winkte seinem Chauffeur.

»Zum Hotel. Schnellste Fahrt!«

Er warf sich in den Wagen, blickte auf die Uhr. Eine knappe Stunde, dann hatte er Audienz beim Kaiser, Abschiedsaudienz. Am nächsten Morgen wollte er zurück nach den USA. Noch einmal hatte er das Bild der Riesenfeuersbrunst in sich aufgenommen.

Der brennende Augustus-Schacht war die Weltsensation, das Weltgespräch, der unerschöpfliche Stoff für die Weltpresse. Wie Heuschreckenschwärme kamen die Flugzeuge von den größten Passagierflugzeugen bis hinab zur kleinen Privatmaschine. Zehn Meilen vom Schacht begann die Gefahrenzone. Ein Schwarm von Patrouillenflugzeugen, Tag und Nacht kreisend, hielt die allzu Neugierigen zurück. Der Zyklon, geboren aus der Riesenbrunst des Feuers, drohte jeden, der näher kam, in den Flammentod zu ziehen. In den ersten Tagen des Brandes, ehe man den Patrouillendienst einrichtete, war es manchem Flugzeug ergangen wie der Motte, die um das Licht kreist und stirbt.

Der Schacht brannte. Die Riesenfackel, heute wie am ersten Tage, spottete aller Versuche, ihrer Herr zu werden. Alle Geister der Welt brachten Vorschläge . . . einer so unmöglich wie der andere. Den Wasserzufluß dämmen! Wäre es möglich, der einzige Weg wäre es. Ein Heer von Geologen, Bohringenieuren, Technikern war zusammengeholt worden, Untersuchungen anzustellen. Von allen Ecken kamen Rutengänger, um zu helfen.

Alles vergeblich! Keine Rettung. Der unterirdische Strom, der den Schacht bedrohte, wies keinen geschlossenen Lauf auf. Ein Netz von Quelladern, das sich erst kurz vor dem Schacht vereinigte, wo die ungeheure strahlende Hitze des Riesenbrandes jede Arbeit unmöglich machte. Wäre es anders gewesen, so hätte vielleicht die Möglichkeit bestanden, Gefrierrohre bis in den unterirdischen Strom zu schlagen, die Wasser durch Frost zu bannen. So blieb es – vorausgesetzt, daß die geologischen Angaben selbst stimmten – eine Riesenarbeit mit zweifelhaftem Erfolg, ganz abgesehen von den ungeheuren Kosten – die Quelladern gingen teilweise in größte Tiefen hinab –, Kosten, die aufzubringen selbst dem Kaiser Augustus schwer werden mußten.

Es war nicht allein der brennende Schacht, die verlorene Energie. Fast ganz Mineapolis war zerstört, die Riesenindustrieanlagen, mit ungeheuren Kosten erbaut, jetzt ein wüstes Ruinenfeld. Gruben, Hüttenanlagen, teilweise weit im Landesinnern, eingestellt auf die Energie vom Tschadseeschacht, waren jetzt zum Stilliegen verurteilt.

Das feste Gefüge des Großafrikanischen Reiches zitterte, wankte unter den Wirkungen der Katastrophe.

»Glück oder Unglück?« Guy Rouse hatte die Worte gemurmelt, als er mit einem letzten Blick auf die riesige Feuersäule, die von der Erde bis zum Himmel reichte, zum Flugzeug schritt.

»Ein Trümmerhaufen die Hoffnungen des Kaisers! Die meinen? Der Schacht mußte brennen . . . weiter . . . weiter . . . Jahre . . . Jahrzehnte . . . Jahrhunderte vielleicht. Unangreifbar, unlöschbar die Feuergluten für Menschenhand – bis vielleicht die Natur aus sich selbst heraus vollbrachte, was Menschengeist, Menschenarm unmöglich war. Meine Forderungen an Seine Majestät werden in der nächsten Zeit schwer realisierbar sein. Er wird gar bald mit neuen Wünschen an mich herantreten. Wahrscheinlich heute schon, wenn ich mich verabschiede. Er wird mich bitten . . . bitten! Er, der Kaiser Augustus Salvator.« Er schloß sekundenlang die Augen. Ein Zug der Genugtuung, Befriedigung lag um seinen Mund, als koste er schon den Genuß der Szene.

Das Flugzeug hatte sich vom Boden gehoben, umkreiste nach Süden hin die Stadt, den brennenden Schacht. Die Augen Rouses hafteten daran, bis das Flugzeug unter die Kimme tauchte, bis nur noch der Feuerschein am Himmel zeigte, wo der Sitz des Feuers lag.

Er wandte sich um. Sein Fuß stampfte heftig den Boden.

»Und das alles durch die Hand dieses Schurken! . . . Tredrup! Der Mensch muß verschwinden vom Erdboden. So oder so! Die Rache des Kaisers . . . Wie ich den kenne, wär's möglich, daß er sie verschmähte. Nationale Tat! Es wäre nicht ausgeschlossen, daß er so dächte. Mag er! Wo bliebe ich, nähme er seine Rache vorweg. Hat doch nur jeder Mensch ein Leben. Ich will meine Rache haben an dem Burschen. Sein Konto ist abgeschlossen. Ich werde hinter ihm her sein wie der Jäger hinter dem Wild, und ginge es bis ans Ende der Welt! Meine Hunde – eine stattliche Meute ist's –, die werden ihn hetzen, bis ich ihn habe.

Der . . . und der andere! Die Würfel sind gefallen. Tredrup und Smith!«

Er blickte durch das Fenster der Kabine. Vor ihm tauchten die Türme von Timbuktu auf.

»Smith ist wieder hier, wie mir der Agent vor ein paar Stunden meldete. Seine Nachforschungen in Irwinga waren erfolglos.«

Rouses Hand griff mechanisch in die Rocktasche, fühlte das kurze, kalte Metall.

»Du wirst's wohl sein, das den Knoten zerhaut. Er ist zu schade für die Meute!«

Juanita . . . Der Name drängte sich ihm auf. War es nicht ihre Schuld, daß er diese beiden Männer zu gefährlichen Feinden hatte? Sie war in Santa Barbara glücklich angekommen, würde vielleicht dort sterben. Der Arzt in Irwinga hatte wenig Hoffnungen gemacht. Sterben! Das junge, schöne Geschöpf . . .

Rouses Gedanken flogen zurück, zum Kanal . . . Montegna . . . Das erste Glied der Kette, an die sich die anderen schlossen . . . Welches würde das letzte sein?

Rouse stand vor dem Kaiser. Die Audienz war sehr kurz gewesen. Nichts von dem, was er erwartete, war geschehen. Keine Bitte, kein Wort des Bedauerns über seine Abreise. Gleichmütig, kühl hatte ihn der Kaiser empfangen. Ein paar belanglose Worte gesprochen. Ihm gezeigt, daß die Audienz zu Ende sei. Er stand, konnte es nicht fassen. Eine Niederlage, schwer . . . unvermutet.

Der Adjutant, der eintrat, ihn hinausgeleitete, brachte es ihm erst voll zu Bewußtsein, daß er entlassen war. Er stieg in den Wagen, der ihn zum Flugplatz bringen sollte.

Alles andere war vergessen. Der Kaiser . . . der Kaiser . . . Was war nur mit ihm? Er schloß die Augen . . . saß . . . und sann.

Der Wagen hielt mit kurzem Ruck. Der Chauffeur riß die Tür auf. Rouse saß noch in Gedanken versunken.

So mag's sein . . .

Er stieg aus dem Wagen, ging zum Flugzeug.

›Der Kaiser ist klüger, als ich dachte. Das Spiel wurde ihm zu hoch. Kein Krieg! Er resigniert, wartet auf bessere Zeiten. Klug! . . . Du Kaiser. Kein Freund könnte dir einen besseren Rat geben. Krieg! Va banque wär's! Er ist kein Hasardeur. Er sieht die Grenzen und hütet sich, darüber hinauszugehen. Die Südafrikanische Union wird jubeln. Ihr diplomatischer Sieg ist sicher . . . so sicher, wie ihre Niederlage gewesen wäre, wenn nicht Tredrup . . . er allein ist schuld, daß alles so anders kam, als ich gehofft hatte. Der Steinwurf im Schacht . . . Diese Ungeschickten! Hätte ich einen von meinen Leuten hier gehabt, der hätte es besser gemacht. Doch gedulde dich, nicht lange sollst du den Ruhm genießen, Nationalheld zu sein!‹

Er saß in seiner Kabine. Der Funk gab den New Yorker Börsenbericht durch. Er hörte. Da kam es . . . Die Aktien der New Canal Cy. um zehn Punkte gestiegen. Der dritte Tag war es, daß sie sprunghaft in die Höhe gingen. Vor drei Tagen hatte es die amerikanische Presse ihren Lesern mitgeteilt, daß Mr. Rouse, von seiner Krankheit völlig genesen, nach den Staaten zurückkehrte und die Leitung der New Canal Company wieder in die eigene Hand nehmen würde.

Er lachte. Zehn Punkte! Gut! Noch weiter drei Tage so! Dann würde er die Gegenminen springen lassen.

Dann wieder, durch seine Agenten, verstreut in den Großstädten der Welt, kaufen lassen . . .

Die Enge der Kabine bedrückte ihn. Seine Hände umklammerten die Armlehnen. Die hohe, magere Gestalt zitterte wie im Fieberschauer. Geld! Macht! Die einzige Leidenschaft, die er kannte – mit furchtbarer Gewalt hatte sie ihn ergriffen, jede Faser seines Leibes sich untertan gemacht.

Der Körper des Mannes bebte unter dieser Leidenschaft wie der Sklave unter der Peitsche des Herrn.

*

Im Scheinwerferraum des Leuchtturms saßen die beiden Freunde. Uhlenkort, reisefertig, stand auf.

»So wäre alles für deine Fahrt geordnet. Wäre meine Anwesenheit nicht dringend erforderlich, würde ich dir mein Flugzeug hierlassen. So jedoch geht es nicht. Ich werde es aber sofort nach meiner Ankunft wieder hierherschicken. Du kennst ja die Maschine. Du wirst alle Bequemlichkeiten während der Fahrt haben. Meine einzige Sorge, Johannes, ich spreche sie immer wieder aus, ist, daß der schroffe Klimawechsel deiner Gesundheit schaden könnte. Von Nordpolbreite in Äquatornähe. Ich fürchte für dich. Die einzige Beruhigung ist, daß Tredrup, der Treue, mit dir fahren wird. Er wird für dich sorgen, er wird über dich wachen. Wo er nur bleibt? Er weiß doch, daß ich fahren muß. Das Flugzeug steht schon auf der Klippe startbereit.«

Er blickte auf die Uhr. »Ich muß gehen. Zuviel ist für mich zu tun. Die Last ist aber leichter geworden.«

Er reckte seine Gestalt hoch auf.

»Nun, ich sehe, daß der Tag nicht fern ist, der die Schicksalswende bringt. Die Organisation der europäischen Staaten . . . wie stehe ich jetzt ihr gegenüber? Schicksalswende . . . auch für Christie Harlessen, für mich . . .«

Die letzten Worte, unhörbar waren sie gesprochen. Einen Augenblick blickte er ernst zu Boden.

Harlessen – Uhlenkort!

Im Geist wiederholte er die Worte. Und dann, als schüttle er alle trüben Gedanken ab, wandte er sich dem Freunde zu, drückte ihm die Hand.

»Leb wohl, ich gehe mit geringerer Sorge, weil du auch da mir Trost gegeben.«

Die Tür zum Raum wurde von außen hastig aufgerissen. Schwer atmend, wie erschöpft vom schnellen Lauf, stand Tredrup vor ihnen.

»Uhlenkort! Du bist noch hier . . . Gott sei Dank!«

»Was ist, Tredrup? Was ist?«

Statt einer Antwort zog Tredrup einen kleinen Zettel aus der Tasche.

»Hier! Hier.« Er schrie es fast. »Christie!«

»Was? Was ist mit Christie?«

Uhlenkort umklammerte dessen Hand, entriß ihm den Zettel. Sein Gesicht war tief erblaßt.

Ein paarmal schöpfte Tredrup nach Atem. Dann kam es herausgesprudelt, das Unverhoffte, Wunderbare, was ein glücklicher Zufall ihm durch des Äthers Wellen zugetragen hatte.

»Zufall! Glücklicher Zufall, Uhlenkort!« Er lachte. Eine gewisse Verlegenheit mischte sich darein. »Du weißt«, es kam etwas stotternd, »ich fuhr mit meiner Belegschaft nach Stettin, wollte sie eigentlich weiter zum Ural bringen. Trennte mich schwer von den Leuten. Ihr Schicksal lag mir sehr am Herzen. Ich wollte wissen, wie ihre Reise verlaufen, wie sie sich an der neuen Arbeitsstelle zurechtfinden würden. Und . . . hm! Da tat ich etwas . . . Es war vielleicht, nein, sicherlich nicht ganz richtig . . . ich gab ihnen die Uhlenkort-Welle. Heute sollten sie mir Nachricht geben. So war's verabredet. Ein einmaliger Mißbrauch, Uhlenkort! Du wirst verzeihen! Und« – er schlug klatschend die Hände zusammen – »es war gut so! Tredrup und Tredrups Nase, das Glück wollte ihnen wohl. Ich sitze in der Stadt in meinem alten Quartier. Den Empfänger eingeschaltet, höre, was die vom Ural mir erzählen. Nichts sonderlich Gutes. Das veränderte Klima, sie kamen gerade in die heiße Jahreszeit hinein, das Heimweh. Ich war nicht sonderlich erbaut von dem Gehörten, saß und saß, dachte nach. Die Zeit verging. ›Uhlenkort . . . Harlessen!‹ klang's ein paarmal im Hörer. Ich wollte ihn eben abnehmen. Es betraf mich ja nicht. Da! ›Walter . . . Christie . . .!‹ Ganz leise klang's im Hörer. Ich preßte die Muschel fest ans Ohr. Was war das? Christie? . . . Harlessen . . . Uhlenkort. Ich schloß die Augen, schärfte mein Gehör zum Äußersten. Ein Hilferuf? Christie Harlessen? Nichts anderes konnte es sein. Ich saß, verschlang die Worte, horchte, was weiter kommen würde. Saß, wartete . . . nichts zu hören, nichts weiter. Ich sagte mir: Das kann nicht sein. Sie muß, sie wird weitersprechen. Und dann klang's wieder an mein Ohr. Leise, unendlich leise: › . . . Insel . . .‹ das einzige, was ich verstand. Doch sie hatte die ersten Worte wiederholt, sie würde auch die wiederholen. Ich horchte weiter. Andere, neue Worte drangen zu mir: ›Kanal . . . südwärts . . .‹ Dann blieb es unverständlich. Ich riß den Zettel aus meiner Tasche, schrieb mit, wie ich's verstand . . . wartete weiter, vielleicht würden die Laute deutlicher. Plötzlich war alles verstummt. Das hier«, er deutete auf den Zettel in Uhlenkorts Hand, »ist, was ich hörte . . . wie ich es der Reihe nach zusammenstellte: Walter . . . Hier Christie . . . Uhlenkort-Harlessen . . . Insel . . . Kanal . . . West zu Südwest . . .«

Er wandte die Augen zu dem Jugendfreund. Dieser stand abgewandt am Tisch. Uhlenkorts Blicke hafteten an dessen Gestalt, als erwarte er, daß der sich umdrehen und . . .

Nein . . . der konnte nicht . . . wollte nicht . . .

»Vielleicht hätte man es in Hamburg oder in anderen deiner Kontore besser verstanden!« brach Tredrup das Schweigen.

Uhlenkort schaute auf, schlug sich mit der Hand an die Stirn.

»Gewiß! Natürlich! Wie konnte ich das außer acht lassen. Werde sofort anfragen und Befehl geben, daß die Stationen Tag und Nacht besetzt bleiben. Und wenn man den Ruf auch dort nicht besser versteht . . . sie wird ihn wiederholen . . . morgen . . . in den nächsten Tagen. Einmal wird es, muß es gelingen, ihn unverstümmelt zu hören.«

Er reichte Tredrup die Hand. »Klaus, ich danke dir.«

»Dank's Tredrups neugieriger Nase!« erwiderte der lachend. »Ja, ja! Tredrups neugieriger Nase. Du bist nicht der erste und einzige in der Welt, der diese Eigenschaft konstatiert. Aber« . . . Er zuckte die Achseln. »Wieder einmal ist der Beweis erbracht, daß manchmal dabei etwas herauskommt.« Er schielte leicht zu der Gestalt des anderen. ». . . manchmal freilich auch nicht.« Er schüttelte sich wie ein Hund, der im Wasser war.

»Glück auf, Walter Uhlenkort!«

Er ging mit ihm zur Tür, reichte ihm zum Abschied die Hand.

»Tredrups Nase«, er warf einen scheuen Blick zu dem Raum zurück, flüsternd kamen die Worte aus seinem Mund. »Tredrups Nase verspürt guten Wind, Uhlenkort. Mir träumte gestern, es wäre nicht das letztemal, daß ich hier oben in Spitzbergen war.«

»Klaus Tredrup, hast du die nächtliche Fahrt ganz vergessen, jene Fahrt nach Süden? Sei gewarnt!«

Uhlenkort sagte es, halb war es Scherz, halb Ernst.

»Und wenn ich hundert Jahre alt würde, ich werde sie nie vergessen. Werde auch immer daran denken, wenn ich mit ihm zu den Antillen fahre . . . Uhlenkort-Welle, Glück auf!«

»Danke dir, Klaus, auf Wiedersehen! Wäre möglich, daß wir uns bald wiedersehen.«

Tredrup wollte fragen, da schritt Uhlenkort schon die Stufen hinunter.

*

Noch brannte die Sonne auf das Atoll. Ein Pfiff gellte über die Lagune, rief die Besatzung zur Mahlzeit. In dem Höhleneingang erschien die Gestalt Christies.

Ihr Notruf, in den Tagen stets um die Mittagszeit gerufen, blieb erfolglos. Andere Stunden, bei Tag, bei Nacht, soweit es anging, hatte sie benutzt, erfolglos. Die Sendeenergie zu schwach? Nicht anders konnte sie es sich erklären.

Die vierte Nachmittagsstunde. Ein letzter Versuch. Sie blickte auf die Armbanduhr. Halb vier. Zu früh! Sie wandte sich zu dem schmalen Pfad, der zum Rand der Klippen führte, schritt ihn empor.

Ihr Blick flog über die weite, wüste Wasserfläche. Kein Schiff, so weit ihr Auge schaute. Hier, abseits von allem Verkehr . . . nur ein Schiff, das der Sturm verschlagen, konnte hier vorüberkommen. Und wenn es käme? Und wenn es glückte, sich ihm durch Winken bemerkbar zu machen? Es bestand keine Möglichkeit, die Insel zu betreten. Nach allen Seiten reckten sich die Korallenriffe steil, unbesteigbar in die Höhe.

Aber die Seeräuber? Wie kamen die an Land, in die Lagune? Mit eigenen Augen hatte sie das U-Boot der Räuber mitten aus der Lagune auftauchen sehen, wieder niedertauchen zu neuer Fahrt. Irgendwo in dem Korallenkranz des Atolls mußte eine unterseeische Durchfahrt sein. Aber wo? Wo war diese? Wie oft hatte sie zur Nachtzeit in der Lagune gebadet, war als geübte Taucherin unter Wasser an den Wänden entlanggeglitten. Nie hatte sie den unterirdischen Paß gefunden. Und hätte sie ihn gefunden, was hätte es ihr geholfen? Draußen um den Kranz eine wilde Brandung, dahinter die unermeßliche Öde des Ozeans.

Sie schritt zurück, mutlos, niedergedrückt. Kaum noch ertrugen ihre Nerven dieses qualvolle Warten. Einmal mußte sie hier wegkommen, weggeführt werden von dem, der sie raubte. Woandershin, wo die Gelegenheit zur Flucht vielleicht günstiger wäre.

Sie kam zur Hängematte, legte sich hinein, das kleine Mikrofon im Taschentuch. Sprach mutlos, hoffnungslos den ewigen Notruf.

Und dann! Ihr Körper schnellte empor.

»Hier Uhlenkort«, die Antwort. Atemlos sank sie zurück, suchte nach Worten. Eine fremde Stimme rief ihr Antwort. Die Laute klangen verwirrt. Kaum, daß sie den Sinn verstand. »Weitersprechen! Peilen. Gut Freund hier.«

Sie preßte die Hand aufs Herz. Der unverhoffte Erfolg verwirrte, betäubte sie.

»Weitersprechen!« Immer wieder klang die Weisung an ihr Ohr. »Weitersprechen, damit ich peilen kann.« Sie raffte sich zusammen. Alles, was sie in langer Beobachtung festgestellt, sprachen ihre Lippen in das Mikrofon. Sie sprach, sprach weiter, immer wieder ermutigt durch die Antwort von da drüben: »Gut! Gut! Weitersprechen.« Sie merkte es nicht, daß ihre Stimme lauter und lauter wurde, daß sie, in der Erregung alles vergessend, die Worte, die sie sprechen wollte, schrie. Merkte es nicht, daß der Offizier der Besatzung am anderen Ufer der Lagune aufmerksam wurde durch den Schall, der sich dort an den Wänden brach . . . Daß er um das Wasser herumschritt . . . auf sie zu. Der weiche Sand dämpfte seine Schritte. Die Hand, die Taschentuch und Mikrofon hielt, plötzlich wurde sie ihr vom Mund gerissen.

»Was tun Sie, Miß Harlessen? Ah! Ein Mikrofon? Sie sprechen?! Ein Funksender in Ihrer Hand!« Zwei Hände umklammerten ihre Arme, rissen sie aus der Matte.

»Zurück zur Höhle! Sofort!«

Mit bebenden Gliedern stand sie vor ihm. Eine Waffe! Hätte sie nur eine Waffe! Der Offizier deutete zur Höhle.

»Gehen Sie sofort nach oben!«

Einen Augenblick stand Christie, schaute ihn an. Seit dem Tage, an dem das U-Boot mit seiner Besatzung abgefahren war, hatte dieser Mann sie verfolgt, mit Blicken, mit Worten. Sie hatte darüber gelacht. Jetzt? Sollte sie die Gelegenheit ergreifen? Sich ihm gefügig zeigen, ihn auf ihre Seite bringen?

Sie sah ihn an, wie seine lüsternen Blicke über sie glitten, sah die Wünsche in seinen Augen. Sie wandte sich ab und ging nach oben, blickte vom Eingang der Höhle noch einmal zurück. Sah, wie jener am Fuß der Palme suchte, den Kontakt fand, zu ihr hinaufwinkte, drohte. Sie warf sich auf ihr Bett, suchte vergeblich ihre Erregung zu meistern.

*

Nach drei Tagen Ungewißheit vernahm sie Schritte auf dem steinigen Pfad zur Höhle.

Der Offizier! Ihr Wächter! Sie sprang auf.

»Fein ausgeklügelt, mein Fräulein. Bewundere Ihren Scharfsinn, Ihre Klugheit. Nehme an, daß es nicht zum erstenmal war. Die Siesta in der Mittagsglut in der Hängematte, schon längst hatte ich Verdacht. Jetzt weiß ich's. Das Spiel trieben Sie schon seit vielen Tagen. Trieben es vergeblich, mein teures Fräulein. Keiner hörte Sie. Kein Retter wird kommen, Sie befreien . . .«

Seine Augen weideten sich an Christies Bestürzung. Röte und Blässe wechselten auf ihren Zügen.

»Miß Harlessen!« Er trat auf sie zu, ganz nahe. Seine Stimme sank zum Flüstern herab. »Nur der eine Weg, Miß Harlessen, der Weg an meiner Seite im Flugzeug führt in die Freiheit. Zum letzten Male heute sag' ich es Ihnen. Seien Sie mein . . . folgen Sie mir! In einem unserer Reserveflugzeuge bringe ich Sie fort von hier. Zu einem Ort, wo niemand Sie . . . uns findet. Auch er nicht, der hinter allem steckt, der Sie hierherbringen ließ. Wollen Sie?« Er war dicht an sie herangetreten. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht. Er hielt ihr die Hand entgegen.

»Schlagen Sie ein. Noch heute nacht verlassen wir die Insel.«

Christie verstand. Ein Weg? Ein Weg zur Freiheit? Vielleicht, daß sie ihm später entging.

Er mochte ihr Zaudern anders ausgelegt haben. Sie fühlte sich plötzlich von seinen Armen umschlungen. Er riß sie an sich.

Jähes Entsetzen befiel sie. Mit voller Gewalt schlug sie die geballten Fäuste in sein Gesicht, daß er zurücktaumelte. Ehe er sich wiedergefunden, war sie an ihm vorbeigeeilt, den steilen Hang zur Klippe empor, hinter sich den keuchenden Atem des Verfolgers. Auf der äußersten Spitze der Klippe machte sie halt, halb über den Abgrund geneigt.

»Keinen Schritt weiter! Oder . . .«

Der Offizier blieb stehen. Sah sie bereit, sich in die Tiefe hinabzustürzen, die sie zerschmettern mußte. Er taumelte zurück.

Wehe dem, der ihr zu nahetritt! Die Warnung des Kommandanten vor der Abfahrt. Einen Augenblick stand er stumm. Dann wandte er sich ab. Christie hörte die Schritte verklingen. Noch zauderte sie. Warum nicht den Sturz in die Tiefe? Die einzige Rettung blieb es. Der Offizier würde Alarm geben. Man würde sie von hier nach einem anderen Versteck schleppen, wo alle Rettung unmöglich war. Die Rechte, die sich an die Felsenkante klammerte, ließ los. Die Sinne schwanden ihr.

Da! Eine Stimme rief ihr zu: »Halt, Christie Harlessen! Halt, Rettung ist nahe!«

Sie riß sich empor, starrte um sich. Wo kam sie her, die Stimme? War es Sinnestäuschung? Der Ruf, ganz deutlich war er an ihr Ohr geklungen.

Ihre Hand griff fest um die Felsenkante. Sie zog sich vom Abgrund zurück, stand wieder auf festem Boden.

»Walter Uhlenkort!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und sank in die Knie. »Walter Uhlenkort!«

*

Guy Rouse trat durch das Vestibül seines Palastes. Es war gefüllt von Menschen, die ihn begrüßen – beglückwünschen wollten, vom Minister bis zum kleinen Abgeordneten. Das Auge Rouses flog über sie hinweg. Er mußte sich beherrschen, um nicht laut herauszulachen. Zu jedem trat er heran, drückte ihm die Hand, dankte ihm, sprach ein paar kurze Worte. Mit Mühe machte er sich frei, ging nach oben.

»Shake hands, Miller! Auch hier? Ah, Mr. Stuck!«

Die beiden Riesenarme Teddingtons streckten sich den Freunden entgegen, schüttelten deren Hände, rissen sie zu sich heran.

»Wo wart ihr, ich sah euch nicht? Kam allerdings erst im letzten Augenblick. Eine Minute, bevor Seine Majestät . . . ah, wollte sagen, Mr. Rouse, eintrat. War unterwegs, als der Brief, derselbe, den auch ihr bekamt, aus dem Hauptquartier hier mich traf. Eben, daß ich noch das Reisegeld zusammenraffte. Wette, daß euch das ebenso schwer wurde. Er drückte mir die Hand wie euch. Alles vergessen! Gute Freunde wie immer! Unser Weizen blüht.«

Miller schaute ihn fragend an, im grämlichen Gesicht einen Zug von Mißtrauen.

»Glauben Sie?« fragte er.

»Glaube es bestimmt!« erwiderte Teddington. »Der Weizen blüht. Bald wird er reif sein.«

Er machte mit seinen mächtigen Armen eine ausholende Bewegung, als hielte er eine Sense.

»Wir werden mähen . . . ernten!«

Die beiden anderen lachten.

Doch war es ihre Freude, war es leichtes Mißbehagen, was in ihm aufstieg, seine Stirn zog sich in tiefe Falten. Er beugte sich zu ihren Köpfen hinunter, flüsterte:

»Die Ernte unter Dach bringen vor dem Regen!«

Die beiden sahen ihn eine Zeitlang stumm an. Dann – sie hatten verstanden – bestürmten sie ihn mit Fragen.

»Vor dem Regen?«

Teddington zuckte die Achseln, legte den Finger auf den Mund.

»Nach Sonnenschein kommt Regen, mehr weiß ich nicht!«

Die Vertreter der Presse . . . der große Raum im Oberstock konnte ihre Zahl kaum fassen. Eifrig, Wort für Wort, schrieben sie mit, was Rouse sprach. Es war eine große, wohlangelegte Rede. Die Ereignisse bei der Kanalsprengung . . . die Schuldlosigkeit aller Beteiligten . . . das furchtbare Unglück für den Isthmus . . . für Europa . . .

Die Möglichkeiten, das alles wieder gutzumachen. Die großen Verbesserungen des amerikanischen, des Weltverkehrs. Daraus sich entwickelnd ungeheure wirtschaftliche Fortschritte. Die glänzende Lage der Vereinigten Staaten gegenüber der ganzen Welt als Schlußwort.

Noch ein paar kurze Worte, Richtlinien für die Leitartikel.

Die Versammelten gingen auseinander . . . Offiziere, denen der Generalstabschef die Züge eines großen strategischen Planes entwickelt hatte.

Guy Rouse . . . die New Canal Company . . . die Presse aller Richtungen füllte ihre Spalten damit.

An der Börse: Solange Rouse sprach, hatten die Geschäfte fast völlig geruht. Alles folgte an den Lautsprechern seinen Worten.

Aktien der New Canal Cy. wie alle Rouse-Werte wurden nicht gehandelt . . . nein, gestrichen trotz stürmischer Nachfrage, da kein Angebot auf dem Markt.

Nur die ausländischen Börsen gaben ein ungefähres Bild des Riesenbooms in diesen Werten.

*

Die Morgensonne hob sich über dem Isthmus. Ein kleines U-Boot schoß in schnellster Überwasserfahrt durch die Fluten auf den Kanal zu. »Azuero!« Der Mann im Ausguck schrie es zur Kommandobrücke. »Runter! Fertig zum Tauchen!« kam der Befehl von der Brücke.

Azuero in Sicht. »Befehl zum Tauchen!« schrie der Lautsprecher in der Kabine des Kommandanten. Dieser lag ausgestreckt auf seiner Koje.

Mit einem Satz sprang er heraus, ging zur Tür. Ein Offizier stand vor ihm.

»Azuero schon in Sicht?«

»Jawohl, Herr Kapitän! Nehme an, daß wir wieder versuchen wollen, ohne Zoll durchzukommen.«

»Selbstverständlich«, knurrte der Kapitän. »Wissen ja, daß es nicht der Zoll allein ist. Der Teufel hole die New Canal Cy. und ihren Leiter.«

Der Offizier lachte. »Diesen Ausspruch, Kapitän Tredrup, hörte ich schon öfter von Ihren Lippen.«

Tredrup zog ein schiefes Gesicht.

»Bande, die! Möchte sie alle an Bord haben. Würde sie mit Vergnügen durch die Torpedorohre ausspucken. Die Gesellschaft um den Zoll zu betrügen, das allein wäre mir schon ein Vergnügen. Aber Sie wissen, wir haben noch außerdem Gründe, uns im Kanal nicht allzu häufig sehen zu lassen.«

Der Offizier nickte.

»Gewiß! Aber rätselhaft bleibt mir's. Bei jeder Fahrt von den vielen, die wir durch den Kanal machten, staunte ich. Die Kette der Zollkutter der New Canal Cy. quer über den Kanal, so gut organisiert! Läßt doch sonst nicht die kleinste Barke ohne Abgabe den Kanal passieren. Selbst für U-Boote gilt's sonst für unmöglich, unangehalten durchzukommen. Die paar, die es versuchten, brachten die Wasserbomben schnell zur Räson.«

Tredrup strich sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Der Offizier hatte recht; er sprach aus, was er im stillen oft dachte. Wie kam es, daß er mit seinem Boot immer ungesehen durchschlüpfen konnte? Ja, früher war der geheimnisvolle J. H. mitgefahren, der vom Leuchtturm in Wibehafen. Da hatte ihn das nicht weiter gewundert. Aber auch jetzt, wo er allein von Saltadera aus durch den Kanal in den Stillen Ozean fuhr auf der Suche nach Christie Harlessen . . . auch da! Immer war er ungesehen, unbemerkt durch den Kanal gekommen.

Er stand da und sann. Die Erklärung dafür? Wie hatte er sich vom ersten Male an den Kopf zerbrochen, sie zu finden. Er hatte sie nicht gefunden. Der Mann vom Leuchtturm? Irgendwie mußte es mit ihm zusammenhängen. Anders war es nicht möglich.

Der Lautsprecher rief: »Kanal erreicht. Bootstiefe hundert Meter.«

»Hundert Meter«, murmelten seine Lippen. Ein plötzlicher Gedanke schoß durch sein Hirn.

»Setzen Sie Kurs genau auf Kanalmitte!«

Der Offizier ging.

Tredrup stand, wartete.

»Kurs liegt auf Mitte«, kam die Rückmeldung des Offiziers.

Kanalmitte. Elfhundert Meter tief an dieser Stelle der Seekarte, wenn das Schiffahrtsamt richtig gemessen hat. Tredrup trat an den Tisch. Ein Knopf. Darüber ein kleines Meßinstrument. Tiefenlot, Echo-Behm, stand in die Platte eingraviert.

Seine Hand ging zum Knopf, zuckte zurück. Er drehte sich um, als suche sein Auge einen, der die Bewegung gesehen. Sein Blick ging über die Wände der engen Kabine. Wer könnte hier hineinsehen? Nur Gott! Kein Mensch, kein Sterblicher kann es!

Seine Brust hob sich in tiefen Atemzügen. Wieder ging seine Hand zu dem Kopf.

»Keiner kann es sehen! Auch er nicht!«

Da hatten seine Finger den Knopf berührt. Sein Blick flog zum Zeiger.

Achthundertzwanzig Meter!

Als habe sein Auge ein Menetekel geschaut . . . Er wich unwillkürlich von dem Apparat zurück. Achthundertzwanzig? Elfhundert sollte es sein! Seine Lippen bebten. Differenz beinahe zweihundert Meter, unter Berücksichtigung der Bootstiefe. Ein Irrtum des Schifffahrtsamtes? Unmöglich! Doch vielleicht ein Riff auf der Kanalsohle. Sein Auge ging zum Fahrtmesser. Zweitausend Meter war das Boot inzwischen weitergeglitten.

Er stürzte zum Tisch. Wieder ein Druck auf den Knopf. Der Zeiger des Echolots spielte . . . stand. Achthundertzwanzig Meter Tiefe. Tredrup starrte wie hypnotisiert auf den Zeiger. Kein Irrtum . . . das Instrument war unbedingt zuverlässig. Die Sohle des Kanalbetts lag neunhundertzwanzig Meter unter dem Wasserspiegel. Heute, in dieser Minute, wo vor einem halben Monat elfhundert waren, amtlich gemessen.

Und dann, als ging ein jäher Schreck durch seine Glieder . . . Er starrte um sich her, als wäre da einer, der ihn sähe. Mit einem Sprung war er zur Tür, stieß sie auf.

»Wo sind wir?« schrie er den Ersten Offizier an, der ihm entgegentrat.

Der sah ihn einen Augenblick erstaunt an. Der Kommandant? Seine eiserne Ruhe? Sprichwörtlich war sie in der kurzen Zeit geworden, seit er den Befehl führte. Was war mit ihm!

»Die erste Kette der Zollboote hinter uns, wollte ich eben melden.« Tredrup nickte wie geistesabwesend. »Sei gewarnt!« hatte Uhlenkort gesagt, als sie Abschied nahmen.

*

Saltadera, eine der kleinsten Antilleninseln, weit nach Westen vorgeschoben, war dem Isthmus am nächsten. Wie ein einziger ungeheurer Block hob sich ihr Feldmassiv aus den Fluten des Atlantiks. Ein paar Fischereisiedlungen gab es an der Ostküste. Nach Westen zu lag ein steiler Hang, unpassierbar für Menschen, der zu einem schmalen Streifen sandigen Vorlandes abfiel.

Ein kleines Holzhaus stand da unten. Der große Raum zu ebener Erde, fast ganz ausgefüllt mit Apparaten und Instrumenten, war jetzt durch die hinabgelassenen Jalousien fast völlig verdunkelt.

Über den Arbeitstisch gebeugt saß J. H., der Rätselhafte vom Leuchtturm. Die schmalen, feinen Hände sanken von dem Instrument, an dem sie seit Stunden arbeiteten. Wie erschöpft lehnte er sich in den Stuhl zurück. Strich sich mit einer müden Bewegung über das Gesicht, dessen krankhafte Blässe die Strahlen der tropischen Sonne nicht verändert hatten. Die Augen, tief in den Höhlen liegend, hingen an dem leuchtenden Bild vor ihm an der Wand.

Das Bild des Kanals war es, das der energetische Fernseher dorthin gezaubert hatte. Es war nicht das optische Bild, wie es ja schon längst die Kamera aufnahm und drahtlos durch den Äther weitergab. Jeder Besitzer eines Fernsehgerätes empfing diese Bilder.

Hier war es anders. Es war ein energetisch aufgenommenes Bild, welches alle Einzelheiten unabhängig von den optischen Eigenschaften des Bildgegenstandes zeigte. Wo dem Auge, der Optik, eine Schranke gesetzt war, griffen die energetischen Strahlen weiter . . . schalteten aus, was nicht gesehen werden sollte . . . hoben heraus, was sein sollte.

Das Kanalbett. Der letzte Abschnitt an der Stätte, wo einst Colon stand. Wasserleer schien der fünfzehnhundert Meter tiefe Einschnitt. Eine kurze Bewegung zum Apparat. Das Bild an der Wand wanderte über die leuchtende Fläche nach oben. Immer neue Teile, immer tiefere Partien der Erdrinde wurden sichtbar. Die Sialscheibe, wie sie sich in einer hundert Kilometer starken Schicht unter der Sedimentärhülle über den Erdball zieht. Feingesprengte Magmamassen darin. Weiter dem Erdinnern zu die Simamassen. Das energetische Bild zauberte die Vorgänge aus nie gesehenen Tiefen an die Wand.

Die Massen der Tiefe waren in Bewegung. Die energetischen Strahlen, von seiner Hand gelenkt, rissen sie aus dem Urzustand. Ungeheure Kräfte, durch die Strahlung dort unten frei werdend, ließen sie beben, zittern, in furchtbaren Gluten brodeln. Die Bewegungen drangen nach oben, Ausweg suchend, die Schollen sich lockernd, die Massen leichter werdend, sich lösend von dem Links und Rechts. Die deckenden Schichten, emporgehoben, klafften schon in tausend Rissen. Wie lange noch würden sie dem Druck standhalten?

»Einmal noch!« murmelten seine Lippen. Das letzte Stück, das schwerste. Wohl abzuwägen jede Bewegung. Nicht zuviel, nicht zuwenig. Bis die Wunde verharschte, der Leib der Erde heilte. Weltordnung . . .

In der Tür des Raumes erschien Tredrup. Bei dessen Eintritt sah Johannes Harte auf, nickte ihm zu. »Gute Fahrt gehabt, Tredrup?«

Eine leichte Bewegung seiner Linken zu einem Schalterknopf. Das Bild an der Wand neben der Tür verschwand. Tredrup sah es nicht mehr.

»Ich kam durch den Kanal hin und zurück durch die Kette der Zollboote. Keins sah mich, keins hielt mich an. Fuhr, wie ich mit Ihnen fuhr.«

»Sonst nichts?«

»Nichts! Kein Zeichen von Christie Harlessen. Unsere Empfangsstation war ständig besetzt, wir hörten kein Wort.«

»Sonst nichts? fragte er weiter und hob dabei leicht den Kopf. »Nichts«, erwiderte Tredrup. »Nichts Besonderes.« Seine Stimme schwankte. Fast stotternd brachte er die Worte hervor.

Lauerte etwas hinter dessen Frage . . . die Lotung? Tredrup fühlte, wie sein Herz stärker zu schlagen begann. Hatte der andere sie gesehen?

»Loteten Sie nicht im Kanal, Tredrup?«

Tredrups Hand umklammerte den Türpfosten. Fast wäre er zurückgetaumelt! Da war die Frage! Der hatte es doch gesehen. Nein! wollten seine Lippen schreien, und dann sprach er leise:

»Wir loteten. Die Messungen des Schiffahrtsamtes sind vielleicht unzuverlässig. Wir loteten in der Mitte des Kanals.«

»Und fanden die Lotungen des Schiffahrtsamts nicht bestätigt?«

»Nein! Differenz zweihundert Meter.«

Der nickte. »Zweihundert Meter . . . die Differenz ist groß. Walter Uhlenkort in Hamburg würde es interessieren. Vielleicht teilen Sie es ihm mit?«

»Walter Uhlenkort. Jawohl, gewiß, Herr Harte.«

Der Sender! Er stürzte auf den kleinen Apparat im Hintergrund zu. »Sofort werde ich es tun.« Stülpte die Hörer über, ergriff das Mikrofon.

»Ah, ich vergaß, das ist ja unsere Welle, muß sie auf Uhlenkort-Welle umstellen.« Seine Hand bewegte die Skalenscheiben. Endlich hatten seine Finger die Station bestimmt.

In seinem Innern rang es so heftig, daß er kaum die Worte fand, wie er es sagen wollte. Seine Lippen öffneten sich . . . da fuhr er mit einem Ruck zurück. Seine Augen starrten in das Weite, das Mikrofon entsank seiner Hand. In höchster Anspannung lauschte er dem, was die Uhlenkort-Welle ihm aus weiter Ferne ins Ohr rief. Vergessen war alles, was er an Uhlenkort melden wollte. Er saß und lauschte. Da war er wieder, der alte Notruf: Hier Christie . . . Harlessen-Uhlenkort . . .

Mit den Augen winkte er den anderen heran, kritzelte auf ein Stück Papier: Christie Harlessen . . .

Johannes Harte nickte, lächelte. Im Hörer war es stumm.

»Hier Uhlenkort!« schrie Tredrup zur Antwort. Wandte sich zu dem neben ihm. »Was soll ich sagen?«

»Sagen Sie, daß sie weitersprechen soll, immer dasselbe.«

Tredrup starrte ihn fragend an. Die Stimme Christies rief wieder.

»Wo . . . Wer ist da? Wo ist Walter Uhlenkort?«

»Sagen Sie ihr, sie soll weitersprechen, damit Sie peilen können.«

Tredrups Augen leuchteten auf. Ah, peilen! Daß der ihm das sagen mußte. Selbstverständlich peilen!

Tredrup sprach, bis der Sinn seiner Worte dort verstanden wurde. Bis sie weiterrief. Mit fiebriger Hand bewegte er den Peilrahmen. Was sprach sie jetzt noch? »Atoll . . . Abgelegen . . . Südsee . . . Von hohen Korallenklippen umgeben . . . Etwa fünfzehn Meter hoch . . . Zwölf Palmenwipfel über den Rand ragend . . . Niedriges, langgestrecktes Riff an der Ostseite . . . Keine Insel in der Nähe mit dem Auge zu erkennen . . . Durchmesser der Insel etwa tausend Meter . . . Schwache Besatzung . . . U-Boot der Seeräuber auf Fahrt . . . Unterwassereinfahrt durch das Riff in die Lagune . . .«

Tredrup hatte die Peilung längst scharf eingestellt. Seine Hand schrieb in rasender Hast die Worte mit.

Da nochmals die Frage: »Wer dort? Wo ist Walter Uhlenkort?«

Schon wollte Tredrup Antwort geben. Da, im Hörer ein Aufschrei der Stimme. Die gebrochenen Laute einer männlichen Stimme dazwischen. Er saß . . . lauschte. Kein Laut mehr. Was war das?

Sein Geist flog zu der Stätte, von der Christies Notruf erklungen. Die Männerstimme? Christie war überrascht worden, hatte in der Erregung über die gelungene Verbindung alle Vorsicht vergessen. Was würde da weiter geschehen? Strafe . . . Mißhandlung?

Sein Blick suchte den anderen, suchte Johannes Harte. Er sah ihn nicht. Die Tür war offen. Der war hinausgegangen.

Zurück zum Sender, Uhlenkort-Welle . . . Hamburg.

Da war sie, die Stimme des Freundes begrüßte ihn.

»Christie Harlessen!« schrie Tredrup. Und dann, seine Worte stammelnd, jubelnd sprudelten heraus, was sein übervolles Herz hergab. Uhlenkort antwortete wieder, bestürmte ihn mit Fragen, wollte mit den Worten schließen: »Komme noch heute mit Flugzeug zu euch«, da schrie Tredrup als letztes ins Mikrofon: »Die Sohle des Kanals ist neunhundertzwanzig Meter tief . . .«

Kein Laut von da drüben.

»Hörst du, Walter Uhlenkort? Die Sohle des Kanals ist neunhundertzwanzig Meter tief. Hörst du?«

»Ich höre, Tredrup . . . Hörte es beim ersten Male. Konnte es nicht gleich fassen. Die Messungen lauten auf elfhundert.«

»Elfhundert«, schrie Tredrup zur Antwort, »waren's. Neunhundert sind's jetzt!«

Und vergessend der Worte: sei gewarnt! rief er: »Die Kanalsohle ist gestiegen! Um zweihundert Meter gestiegen. Ich hab's gemessen. Er hieß mich's dir melden, Walter Uhlenkort.«

Die Worte, Schreien . . . Lachen war es.

*

Das U-Boot Tredrups hatte den Kanal hinter sich, fuhr mit äußerster Kraft Kurs Süd zu Südwest. Uhlenkort stand neben Tredrup im Kartenhaus. Der wies ihm die Peillinie, die er in Saltadera aufgenommen und in die Karte eingetragen hatte.

»Hier!« Er deutete auf eine kleine Insel, die von der Peillinie geschnitten wurde. »Vielleicht ist dies die Insel. Bin dessen aber nicht sicher, denn so kleine Atolle sind wohl kaum auf dieser Karte verzeichnet. Jedenfalls wird es morgen abend werden, ehe wir in die Gegend kommen, die uns interessiert. Wir haben die schönste Zeit, uns unter das Sonnensegel zu setzen und ein Garn zu spinnen.«

»Hamburg, das alte Nest. Wie sieht's da jetzt aus?«

»Nicht anders, wie du es zuletzt sahst«, gab Uhlenkort zur Antwort. »Öde Fabriken, tote Häuserzeilen. Die Menschen stumm, freudlos, in der Sorge um Zukunft und Leben. Nicht anders, als ginge der Schwarze Tod in der Stadt um. Der Hafen. Auf den ersten Blick kaum verändert. Schiff an Schiff. Aber doch so ganz anders als früher. Kaum noch, daß tote Fracht ankommt oder abgeht. Menschen . . . Menschen . . . vollbeladene Schiffe bringen sie ein, vollbeladene Schiffe bringen sie weiter. Die Bilder der Auswanderer: Entsetzen, Mitleid erregend. Der Norden Skandinaviens sollte geräumt sein. Geräumt. Aber nein, gerade hier, wo der Tod am nächsten war, ergab sich das Sonderbare, daß viele dieser Nordländer sich weigerten, Haus und Hof zu verlassen. Der ewige Kampf mit Schnee und Eis und Tod hatte sie abgestumpft gegen die drohende, viel größere Gefahr. Je weiter nach Süden, desto größer die Angst. Bis nach Mitteldeutschland wirkt die Furcht vor dem kommenden Unheil. Eine neue Völkerwanderung von Norden her, wie sie die Geschichte schon einmal kannte, wälzt sich zum Süden, mit Gewalt an dessen Tore pochend.«

»Gewalt?« unterbrach Tredrup. Uhlenkort nickte mit finsterer Miene.

»Wie nicht anders möglich, versagte die Organisation an vielen Stellen. Die Fliehenden, gejagt von Not und Elend, verschafften sich eigenmächtig, was sie brauchten. Das südliche Europa, ohnmächtig, allen zu helfen, alle aufzunehmen, wehrte sich. Man wandte sich an das Rumpfparlament. Nur wenige der Deputierten waren gekommen. Man machte Vorschläge, beriet, ging wieder auseinander. Hoffnungslos war alles, eine Farce die ganze Tagung. Es waren schwere Stunden für mich, die schwersten, die ich je durchgemacht in meinem Leben. Schlimmer als die auf die Nachricht vom Durchbruch des Golfstroms. Meine Augen sahen alles, meine Ohren hörten alles. Immer wieder wurde auch meine Stimme zu Rate gezogen. Und ich konnte und durfte den Mund nicht öffnen, um den Trost zu geben, der alle Leiden mit einem Schlage beendet hätte. Das Schicksal! Stunden gab's, wo ich an seinem gerechten Walten verzweifelte, wo sich meine Zunge zu lösen drohte. Ich fuhr mit meinem Oheim, dem Staatspräsidenten, nach Hamburg zurück. Da traf mich deine Nachricht. Ich bestieg das Flugzeug, kam nach Saltadera . . . sah meinen alten Freund . . . sprach mit ihm, und nun sind wir auf der Fahrt zu ihr, zu Christie Harlessen.«

*

»Chefingenieur Grimmaud!« meldete der Flügeladjutant des Kaisers.

»Grimmaud? Er kommt von selbst? Nachdem er wochenlang Timbuktu und den Hof mied?«

Wohl hatte ihn der Kaiser zu trösten versucht, ihn von aller Verantwortung für das Unglück losgesprochen. Doch Grimmaud war allen Trostgründen unzugänglich geblieben. Er sann nur Tag und Nacht, wie der Schaden gutzumachen, das Unglück zu beheben sei. Vergeblich blieben all seine Bemühungen.

Jetzt stand er vor dem Kaiser. Die gebeugte Gestalt aufgerichtet, das Auge wie von Zuversicht belebt.

»Grimmaud! Was bringen Sie? Was Gutes muß es sein, ich sehe es Ihnen an.«

»Gut, Majestät? Ja und nein. Vorläufig nichts Gutes . . . Aber ich hoffe, daß daraus Gutes entstehen wird für den Schacht.«

Der Kaiser trat einen Schritt näher an ihn heran.

»Grimmaud, was sagen Sie? Ich weiß, daß jedes Wort aus Ihrem Mund wohlbedacht ist. Was können Sie Gutes hoffen, wo die Gelehrten der Welt einstimmig den ewigen Brand des Schachtes prophezeiten?«

Grimmaud schöpfte tief Atem.

»Ich weiß nicht, ob Euer Majestät von den kleinen Explosionen in den letzten Tagen, die in der Schachttiefe stattfanden, Bericht erhielten?«

Der Kaiser schüttelte den Kopf.

»Ich weiß von nichts. Der Schacht, die Erinnerung – an alles, was passiert ist – meine Umgebung vermeidet es, in meiner Gegenwart den Namen auszusprechen.«

»Es ist so, Majestät. Kleinere Explosionen fanden in den letzten Tagen statt. Wohl niemand außer mir achtete ihrer. Für mich bedeuteten sie das Licht in dem undurchdringlichen Dunkel. Und ich hatte sie erwartet, wenn auch noch nicht jetzt, so später, viel später.«

»Und die Explosionen? Wie entstehen sie, was bedeuten sie?«

War es der Widerglanz von Grimmauds Zuversicht, der auf seinem Gesicht sich spiegelte? Auch an dem stahlharten Körper des Kaisers war die Katastrophe nicht spurlos vorübergegangen. Zu stark war der Schlag, wirtschaftlich, politisch, der so viele Hoffnungen, Entwürfe zu Fall brachte.

Die Differenzen mit der Südafrikanischen Union waren geregelt . . . Durch das Nachgeben des Kaisers.

»Kommen Sie! Hier ist das Profil des Schachtes.«

Er zog aus einem Schrank die Schachtkarte.

»Zeigen Sie! Erzählen Sie!«

Grimmauds Finger glitt über die Karte.

»Euer Majestät sehen hier unseren Karbidabbau. Wir hatten, als die Katastrophe kam, bereits drei Sohlen angelegt, die Strecken nach allen Richtungen fast zweitausend Meter vorgetrieben, Querschläge gesetzt. In diese Hohlräume ist das Wasser eingebrochen. Es entwickelte mit dem Karbid zusammen unendliche Mengen Azetylengas, die seit jenem Tage zum Schachtmund hinausbrennen. Zurück bleibt dort unten eine gewaltige Kalkmasse, deren Volumen größer ist als das des Karbids, aus dem sie entstand. Die Kalkmassen haben alle Strecken und Querschläge gefüllt, sind, Ausweg suchend, auch in den Schacht getreten, sammelten sich, versperrten dem abströmenden Gas den Weg. Das wurde von innen gepreßt, bis seine explosive Natur sich mit Gewalt freie Bahn schuf. Jene Explosionen, von denen ich Euer Majestät bereits erzählte, waren für mich das sichere Zeichen, daß die Entwicklung dort unten bis zu diesem Punkte gediehen ist.«

Augustus Salvator war dem Vortrag seines Chefingenieurs mit wachsendem Interesse gefolgt.

»Und was weiter?« drängte es von seinen Lippen.

»Die Explosionen sind, wie ich bestimmt erwarte, die Vorläufer einer großen, ganz großen Bewegung, einer neuen Katastrophe, wenn man so sagen will, aus deren Auswirkungen vielleicht die Heilung entspringt.«

»Heilung? Durch eine neue Katastrophe? Ich verstehe Sie nicht, Grimmaud. Und doch. Jedes Wort von Ihnen ist Trost, Hoffnung.«

Grimmaud hatte mit schneller Hand in die Schachtkarte ein paar Linien eingezeichnet.

»Der Druck der riesigen, sich fortwährend neu bildenden Kalkmassen wird diese nur bis zu einer gewissen Grenze in den Schacht treiben. Ihr Druck wird auch direkt auf das Hangende wirken, stärker und stärker werdend, bis es ihm weicht. Bis die Schichten darüber erdbebenartig durcheinandergeschüttelt und gehoben werden.«

»Wie kann daraus für den Schacht Rettung entstehen? Wird er bei Erschütterungen nicht zusammenstürzen?«

Grimmaud machte eine zweifelnde Gebärde.

»Die Frage, Euer Majestät, ist wohl berechtigt. Der Schacht wird sicherlich darunter leiden. Wahrscheinlich schwer leiden. Aber ich habe die Hoffnung – nichts kann sie trüben –, daß der entstehende Schaden an der Schachtmauerung nicht so groß sein wird, daß er nicht zu reparieren wäre.«

»Aber das Feuer, Grimmaud? Der Riesenbrand? Wird er dadurch ausgelöscht? Unmöglich!«

»Nicht direkt, Euer Majestät. Aber das feindliche Element, das Wasser, wird, wie ich hoffe, dabei abgesperrt werden;. Die unterirdischen Schichten, in denen es fließt, werden in erster Linie starke Verwerfungen erfahren, so starke, daß dem Wasser der Weg in den Schacht verlegt wird.«

»Grimmaud! Was sagen Sie? Wären Sie gesund, keinen Augenblick würde ich zweifeln. Aber Sie sind krank. Das Unglück hat Ihren Geist verwirrt. Hirngespinste!«

Grimmaud schüttelte den Kopf. Ein leichtes Lächeln lief über sein Gesicht.

»Ich war krank, Majestät. Die Explosionen gaben mir die Kraft wieder. Was ich sage, ist kein Hirngespinst, sondern wohldurchdacht.«

Der Kaiser stand vor ihm. Seine Augen bohrten sich prüfend in das Gesicht des Chefingenieurs.

»Wahrheit?«

Und als gäbe die Natur selbst die Antwort: einen Augenblick schien es, als wankten die Mauern des Palastes. Einige Bilder lösten sich von der Wand. Die große Lampe an der Decke schwankte in wilden Bewegungen.

Die beiden sahen sich an, jeder tief erregt.

»Ein Erdbeben!« flüsterte der Kaiser. Grimmaud sprang auf.

»Der Schacht!« schrie er. »Die Massen regen sich unter dem Druck. Gestatten, Euer Majestät, daß ich mich entferne. Ich muß hin, sehen, dabeisein.«

Der Kaiser winkte ab, ging zu einer Schalttafel, sprach ein paar Worte in ein Mikrofon. Es war die Verbindung mit der Fernsehstation Mineapolis. An der dem Fenster abgewandten Seite des Gemachs erschien das Bild des Schachtes, wie es, von der Fernsehkamera der Station aufgenommen, auf den Bildschirm an der Wand geworfen wurde.

Ein wogendes Flammenmeer, zum Himmel brodelnd. Das alte Bild . . . aber jetzt!

Die Umgebung! Die Reste der vom Brand verschont gebliebenen Gebäude waren zu wüsten Trümmerhaufen zusammengestürzt. Menschen, angstvoll auf der Flucht nach allen Seiten hin.

Der Adjutant trat ein, wollte melden. Der Kaiser winkte ihm zu schweigen, wies auf den Bildschirm an der Wand. Da, ein neuer Erdstoß. Ihre Hände suchten unwillkürlich nach einem Halt. Taumelnd starrten sie auf das Bild. Der neue Stoß hatte den Schachtmund und seine Umgebung gehoben, als drücke ein Riesenpilz durch die Erdkruste nach oben.

Noch hatten ihre Augen das Bild nicht ganz erfaßt . . . ein neuer Stoß!

Der Adjutant mahnte, den Raum zu verlassen, Sicherheit im Freien zu suchen. Der Palast könnte einstürzen. Der Kaiser achtete nicht auf die Warnung. Nur fester klammerten sich seine Hände an Grimmaud, der mit gespreizten Beinen dastand, sieghaften Glanz in den Augen.

Das Bild des Schachtes! Der Boden seiner Umgehung hatte sich um ein weiteres Stück gehoben. Das früher gleichmäßig strömende Feuer loderte flackernd, bald kleiner, bald größer werdend. Und dann! War das noch der brennende Schacht? War es der Kratermund eines Vulkans? Durch die wabernde Lohe des brennenden Gases schossen in Eruptionen Massen emporgeschleuderten Kalkes. Noch einmal eine Rieseneruption, die Feuerfontäne schien sengend den Himmel zu fassen. Dann sank sie zusammen, wurde kleiner und kleiner . . . zuckte noch ein paarmal kurz auf.

Dann war sie verschwunden . . . noch eine Zeitlang ein feuriger Glast über dem Schachtmund, der verblaßte, langsam verschwand.

»Gerettet!« schrie Grimmaud. Vergaß, daß es die Person des Kaisers war, dessen Hand er ergriff, schüttelte.

»Gerettet unser Werk!«

*


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