Denis Diderot
Herrn Rameaus Neffe
Denis Diderot

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Es wird aufgetragen. Man führt den Abbé zu Tisch und weist ihm den Ehrenplatz am oberen Ende der Tafel an. Ich trete eben ein und bemerke es. »Wie, Abbé«, rufe ich ihm zu, »Sie führen den Vorsitz? Nun gut! Das gehört sich heute so. Aber morgen werden Sie es sich schon gefallen lassen müssen, um einen Platz weiter nach unten zu rücken. Und übermorgen um noch einen Platz. Und so werden Sie von einem Platz zum andern rutschen, bald rechts, bald links, bis Sie weit weg von Ihrem heutigen Platz – auch ich habe ihn einmal eingenommen und nach mir Freron, Dorat, Palissot – Ihren ständigen Platz neben mir haben werden, einem armen Tropf Ihresgleichen, che siedo sempre come un maestoso cazzo fra duoi coglioni.« Der Abbé, der im Grunde eine gute Haut ist und zu allem ein freundliches Gesicht macht, lachte über meine Rede. Auch unser Fräulein lachte, da sie fand, daß meine Bemerkung zutraf und der gezogene Vergleich recht glücklich war. Alle, die rechts oder links vom Abbé saßen und seinetwegen um einen Platz weiter nach unten gerückt waren, stimmten in das Gelächter ein. Kurz, alles lachte, nur unser Patron nicht. Denn er ärgerte sich und traktierte mich mit Worten, die wenig zu bedeuten gehabt hätten, wenn wir allein gewesen wären. »Rameau, Sie sind unverschämt!« – »Das weiß ich wohl. Unter dieser Bedingung haben Sie mich ja aufgenommen!« – »Ein Halunke!« – »Wie jeder andere!« – »Ein Strolch!« – »Wäre ich hier, wenn ich das nicht wäre?« – »Ich werde Sie hinauswerfen lassen!« – »Nach Tisch gehe ich schon von selbst!« – »Das will ich Ihnen auch geraten haben!« – Dann wurden die Speisen aufgetragen. Ich ließ mir keinen Bissen entgehen, aß und trank reichlich und mit großem Behagen. Denn ob ich viel oder wenig zu mir nahm – darauf kam es ja nicht mehr an und schließlich bleibt der Messer Gaster eine Persönlichkeit, die ich immer äußerst zuvorkommend behandelt habe. Dann nahm ich mich zusammen und schickte mich zum Aufbruch an. Ich hatte ja in Gegenwart der ganzen Gesellschaft mein Wort verpfändet und mußte es daher wohl oder übel halten. Geraume Zeit schlenderte ich gemächlich durch die Zimmer und suchte Stock und Hut ausgerechnet in solchen Winkeln, wo sie unmöglich sein konnten. Im geheimen hoffte ich nämlich immer noch, unser Patron werde sich neuerlich durch wüstes Schimpfen den Ärger vom Leibe reden wollen, irgend jemand werde sich dann ins Mittel legen und schließlich würden wir uns doch noch aus lauter Wut wieder miteinander versöhnen. Unschlüssig trat ich bald hier-, bald dorthin, denn ich war mir ja keiner Schuld bewußt. Doch der Patron, finsterer und unheilverkündender als der homerische Apollo, wenn er seine Pfeile gegen das Heer der Griechen schleudert, schritt auf und ab, mit der Faust unterm Kinn und mit seiner Mütze am Kopf, die sogar noch um einen Gedanken tiefer über die Ohren herabgezogen war. Da nähert sich mir das Fräulein. – »Ach, gnädiges Fräulein! Was ist denn so Außerordentliches geschehen? Bin ich heute anders gewesen als sonst?« – »Ich wünsche, daß er sich entferne!« – »Ich gehe ja schon. Ich habe doch nichts gegen ihn gesagt!« – »Entschuldigen Sie! Man ladet den Herrn Abbé ein und ... « – »Das hat er nur sich selbst zuzuschreiben. Warum hat er auch den Abbé eingeladen und mir und andern Lumpen meinesgleichen sein Haus geöffnet!« – »Nun gut, lieber Rameau, bitten Sie den Herrn Abbé um Verzeihung!« – »Was soll mir denn das ...« – »Gehen Sie nur! Entschließen Sie sich! Es wird sich schon alles wieder geben ...« – Man nimmt mich bei der Hand, schleppt mich zum Stuhl des Abbé, ich strecke die Arme aus und betrachte mir den Abbé mit einer gewissen Bewunderung, denn wer hat wohl jemals diesen Abbé um Verzeihung gebeten? »Abbé«, sage ich zu ihm, »lieber Abbé, das ist doch alles recht lächerlich, nicht wahr?...« Und dann fange ich zu lachen an und er desgleichen. So war ich von seiner Seite absolviert. Nun galt es, auch den anderen zu erweichen. Da mußte ich ganz andere Register ziehen. Ich weiß nicht mehr recht, was ich zu meiner Entschuldigung vorbrachte. – »Gnädiger Herr, da steht der Narr!« – »Ich habe es satt, mich wegen ihm zu ärgern. Ich will nichts mehr von ihm hören!« – »Es tut ihm leid.« – »Jawohl! Mir tut es auch leid!« – »Es soll nicht wieder vorkommen!« – »Natürlich! Bis zum nächsten Mal!« – Ich weiß nicht, hatte er einen seiner bösen Tage, wo selbst das Fräulein sich ihm zu nähern fürchtet und ihn nur mit Samthandschuhen anzufassen wagt, oder verstand er nicht, was ich sagte, oder drückte ich mich schlecht aus – kurz und gut, der Karren war anscheinend ganz verfahren. Ja zum Teufel! Kennt er mich denn nicht? Weiß er denn nicht, daß ich wie ein Kind bin und unter Umständen mitten ins Zimmer sch ... ? Jeder Mensch – Gott verzeihe mir, muß doch manchmal aufatmen können. Selbst ein Hampelmann aus Erz würde mit der Zeit abgenützt werden, wenn man von früh. bis abends und von abends bis in der Früh an seinen Fäden ziehen würde. Gewiß. Es ist zwischen uns abgemacht, daß ich ihnen die Zeit vertreibe. Aber dann und wann muß auch ich mich unterhalten dürfen. Mitten in diesem Chaos von Gedanken, die mir durch den Kopf fuhren, kam mir eine verhängnisvolle Idee; eine Idee, die mich hochmütig machte und mich mit vermessenem Stolz erfüllte. Mir fiel ein, daß man mich ja unmöglich entbehren könne und daß ich einfach unersetzlich sei.

Ich: Gewiß, auch ich glaube, daß Sie diesen Leuten sehr nützlich sind. Doch Sie bedürfen ihrer noch viel mehr. Sie werden nicht bald wieder ein so angenehmes Haus finden, während sich jenen für einen Narren, der ihnen abgeht, hundert andere bieten.

Er: Hundert Narren wie ich! Werter Herr Philosoph! So leicht findet man die nicht, wie Sie glauben! Langweilige Dutzendnarren, die gewiß! Was Narrheit anbetrifft, ist man viel kritischer, als wenn es sich um Talent oder Tugend handelt. Ich bin fast einzig in meiner Art, fast einzig! Was machen die Leute jetzt, seit sie mich nicht mehr haben? Sie langweilen sich einfach unbegreiflich. Ich bin geradezu unerschöpflich in der Erfindung immer neuer Tollheiten. Jeden Augenblick kam ich mit einer neuen Verrücktheit, die ihnen vor Lachen Tränen in die Augen trieb. Ich ersetzte ihnen ein ganzes Narrenhaus.

Ich: Dafür bekamen Sie Kost, Quartier, Kleider, Hosen, Hemden, Schuhe und einen Louisdor monatlich.

Er: Das sind die Annehmlichkeiten, die Vorteile. Gewiß. Aber von den Verpflichtungen, die ich auf mich nehmen mußte, sagen Sie kein Wort. Vor allem mußte ich, wenn man von einem neuen Theaterstück munkelte, bei jedem Wetter alle Dachkammern von Paris abgrasen, bis ich den Verfasser endlich aufgestöbert hatte, mußte mir das Stück zum Lesen ausbitten und ihm geschickt andeuten, daß darin eine Rolle enthalten sei, die einer Bekannten von mir direkt auf den Leib geschrieben scheine. – »Und wer wäre das, wenn ich fragen darf?« – »Wer! Sonderbare Frage! Die Anmut, Lieblichkeit und Zartheit in Person!« – »Sie meinen wohl Fräulein Dangeville? Kennen Sie sie zufällig?« – »Jawohl, ein wenig. Aber die meine ich nicht.« – »Wen denn?« – Ich nannte ganz leise den Namen. – »Die?« – »Ja, die«, wiederholte ich kleinlaut, denn manchmal packt mich doch die Scham. Sie hätten sehen sollen, wie sich bei der Wiederholung des Namens das Gesicht des Dichters in die Länge zog, oder wie man mir in anderen Fällen direkt ins Gesicht lachte. Trotzdem, koste es, was es wolle, sollte ich meinen Mann zu Tisch mitbringen. Doch er hatte Angst, sich auf den Handel einzulassen, schnitt ein grämliches Gesicht und lehnte dankend ab. Sie hätten sehen sollen, wie man mit mir umging, wenn ich mit leeren Händen heimkehrte. Ich war dann ein Tölpel, ein Dummkopf, ein Stümper, zu nichts zu brauchen, das Glas Wasser nicht wert, das man mir zu saufen gab. Doch wenn sie wirklich in dem Stücke auftrat, erging's mir noch viel schlimmer. Denn dann mußte ich, während das Publikum rings um mich heulte und zischte – das Publikum hat nämlich eine recht gute Nase, was immer man dagegen sagen mag –, unerschrocken Beifall klatschen, durch dieses ungewöhnliche Benehmen die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich armen Sünder ziehen und das Zischen und Pfeifen, das der Schauspielerin gegolten hatte, zu vertuschen trachten. Gefaßt und ruhig mußte ich hören, wie man neben mir flüsterte: »Das ist ja nur einer von den verkleideten Lakaien ihres Liebhabers. Wird dieses Aas nicht endlich Ruhe geben?...« Die Leute wissen ja nicht, warum man sich so benimmt. Sie glauben, daß es aus Dummheit geschieht. Und doch hat man, wenn man sich dazu hergibt, einen sehr triftigen Grund, einen Grund, der alles entschuldigt.

Ich: Einen Grund, der sogar eine Gesetzesübertretung verzeihlich machen kann.

Er: Schließlich ward ich aber doch erkannt. Man rief: »Das ist ja Rameau!« Ich suchte mir zu helfen, indem ich einige ironische Bemerkungen fallen ließ, die das Auffallende meines Beifalls abschwächten und die bewirkten, daß man ihn im entgegengesetzten Sinne deutete. Sie werden wohl zugeben, daß man schon einen sehr triftigen Grund haben muß, wenn man es wagt, der versammelten Menge so zu trotzen und daß eine Entlohnung mit einem lumpigen Taler monatlich in gar keinem Verhältnis zu der aufgewendeten Mühe und Anstrengung steht.

Ich: War Ihnen denn niemand behilflich? Gab es denn niemand, der Ihnen die Arbeit zum Teil abnehmen konnte?

Er: Zuweilen hatte ich ja Leute zu meiner Verfügung. Aber es war nicht leicht, zuverlässige zu finden. Und hatte ich sie gefunden, dann mußte ich mich noch damit abgeben, mir alle Glanzstellen der Rolle recht sorgfältig zu merken, um ihnen ein Zeichen zu geben, wo sie einsetzen sollten. Geschah es einmal, daß ich eine vergessen und zur unrechten Zeit meine Hände hob, dann zitterte ich bei der Heimkehr in Erwartung des kommenden Unheils an allen Gliedern. Denn dann setzte es ein Donnerwetter ab, von dem Sie sich keinen Begriff machen können. Außerdem hatte ich die angenehme Obliegenheit, die ganze Meute der Haushunde zu betreuen – aber da bin ich freilich selbst schuld daran, weil ich anfangs diese Arbeit freiwillig auf mich genommen hatte. Dann gab es noch Katzen zu beaufsichtigen. Wie freute es mich, wenn Micou so gnädig war, mir mit ihren Krallen meine Ärmel zu zerreißen oder meine Hand zu zerkratzen! Wie geehrt war ich, wenn ich Criquette, die häufig an Koliken leidet, den Bauch zu massieren hatte! Was das Fräulein anbetrifft, so litt sie früher oft an Blähungen. Heute nennt man's anders. Heute nennt man's Migräne. Von anderen leichten Unpäßlichkeiten, mit denen man sich vor mir schon gar nicht genierte, rede ich gar nicht erst. Irgendwo – augenblicklich fällt's mir gerade nicht ein – habe ich gelesen, daß ein Abkömmling fürstlichen Geblütes, der den Beinamen der Große, trug, dann und wann, wenn seine Mätresse auf ihrem Leibstuhl thronte, diesem Ereignis in aller Gemütsruhe, auf die Rückenlehne des Stuhles gestützt, beizuwohnen pflegte. Man verkehrt ganz zwanglos mit seinen Hausfreunden und zu diesen zählte ich ja damals mehr als irgendein anderer. Es gibt für mich nichts Schöneres als Ungezwungenheit und Vertraulichkeit. Das hielt ich mir immer vor Augen und suchte auch die anderen durch mein Beispiel zu diesem Standpunkt zu bekehren. Man nahm keinen Anstoß daran. Somit konnte ich mich gehen lassen, wie es mir Spaß machte. Unseren Patron habe ich Ihnen ja schon beschrieben. Das Fräulein fängt allmählich an, sehr, sehr dick zu werden. Sie sollten die köstlichen Geschichten kennen, die man sich von diesen beiden erzählt.

Ich: Aber da tun Sie doch hoffentlich nicht mit?

Er: Warum nicht?

Ich: Weil es zum mindesten geschmacklos ist, seine Wohltäter lächerlich zu machen.

Er: Ist es nicht viel schlimmer, wenn man mit Rücksicht auf die erwiesenen Wohltaten sich das Recht anmaßt, mit seinem Schützling, ganz nach Belieben herumzuspringen?

Ich: Der Schützling hat es sich meistens selbst zuzuschreiben, wenn sich sein Wohltäter einiges erlaubt. Wäre er nicht von Haus aus ein niedriges Subjekt, dann würde sich's sein Wohltäter wohl überlegen.

Er: Und wären diese Leute nicht von Haus aus lächerlich, dann würde man auch keine Geschichten über sie erzählen. Kann ich etwas dafür, daß sie sich mit einem solchen Gesindel einlassen? Ist es etwa meine Schuld, daß sie von dem Gesindel, mit dem sie sich nun einmal eingelassen haben, verhöhnt und verspottet werden? Wenn man sich dazu hergibt, mit Leuten unseres Schlages umzugehen, so kann man, falls man ein wenig Hausverstand hat, an allen fünf Fingern abzählen, daß man sich auf eine Unzahl von Schurkenstreichen gefaßt machen muß. Irgendwie rechnet man ja damit, daß wir selbstsüchtige, gemeine und käufliche Seelen haben, wenn man uns bei sich aufnimmt. Weiß man das aber, dann ist ja alles in schönster Ordnung! Es besteht eben dann eine stillschweigende Vereinbarung, daß wir die Wohltaten, die man uns erweist, früher oder später mit Bösem heimzahlen können. Besteht ein solcher Vertrag nicht auch zwischen dem Affen oder Papagei und seinem Herren? Brun schreit Zetermordio, daß sein Freund und Saufkumpan Palissot Spottverse auf ihn verfaßt hat. Aber Palissot hat von seinem Standpunkt aus ganz folgerichtig gehandelt und Brun hat unrecht, wenn er es ihm verübelt. Poincinet schreit Zetermordio, daß Palissot die Spottverse, die er selbst gegen Brun verfaßt hat, ihm in die Schuhe schiebt. Aber Palissot mußte so handeln und Poincinet hat unrecht, es ihm anzukreiden. Der kleine Abbé Rey schreit Zetermordio, daß sein Freund Palissot ihm seine Mätresse weggefischt hat, bei der er ihn eigenhändig eingeführt hat. Es war eben unklug von ihm, einen Kerl wie Palissot bei ihr einzuführen. Wenn er es tat, so mußte er darauf gefaßt sein, sie zu verlieren. Palissot hat ganz folgerichtig gehandelt und Rey zetert ganz grundlos. Der Buchhändler David schreit Zetermordio, daß sein Teilhaber Palissot mit seiner Frau geschlafen hat oder zumindest bei ihr schlafen wollte, und seine Frau schreit ebenfalls Zetermordio, weil Palissot jedem, der es hören will, erzählt, daß er bei ihr geschlafen hat. Ob nun Palissot bei der Buchhändlersfrau geschlafen hat oder nicht – was immerhin schwer festzustellen ist, weil die Frau natürlich leugnen und Palissot von seinem Standpunkt aus natürlich behaupten muß, daß er es getan hat –, ob das nun wahr ist oder erlogen, jedenfalls hat Palissot seine Rolle ganz folgerichtig durchgeführt und David samt Frau zetern ganz grundlos. Mag Helvetius Zetermordio schreien, soviel er mag, daß Palissot ihn als Gauner auf die Bühne gebracht hat, wiewohl Palissot es ja ist, der ihm das Geld schuldet, das er sich auslieh, um sich von einem Leiden kurieren zu lassen, Kleider anzuschaffen und seine Mahlzeiten davon zu bestreiten. Konnte er denn erwarten, daß sich dieser Kerl auf andere Weise dafür erkenntlich zeigen würde, dieser Halunke, der mit allen Wassern gewaschen ist, einen seiner Freunde aus reinem Zeitvertreib seiner Religion abspenstig machte, seine Geschäftsfreunde um ihr Geld betrügt, weder Treue, noch Gesetz, noch irgendwelche Bedenken kennt, um jeden Preis per fas et nefas sich Reichtümer zu erschleichen trachtet, jeden Tag irgendeinen Schurkenstreich ausführt und sich selbst auf der Bühne als einen der gefährlichsten Halunken darstellt – eine Schamlosigkeit, die nach meiner Meinung einfach beispiellos ist und die auch schwerlich jemals Nachahmer finden wird. Somit hat nicht Palissot unrecht, sondern Helvetius! Wenn es einem grünen Provinzler im Tierpark von Versailles blöderweise plötzlich einfällt, seine Hand durch die Gitterstäbe des Tiger- oder Pantherkäfigs hindurchzustecken und er seinen Arm im Rachen der Bestie läßt – wer hat da unrecht? Über alle diese Dinge gibt es eben eine stillschweigende Vereinbarung. Wer das nicht weiß oder vergessen hat, der muß die Zeche bezahlen. Wie viele Leute, die man der Schlechtigkeit zeiht, könnte ich mit Hilfe dieses allgemeingültigen und geheiligten Paktes rein waschen, indem ich nachweise, daß man die Folgen seiner Dummheit sich selbst zuzuschreiben hat! Ja, mein liebes, kugelrundes Komteßchen! Nur du allein bist im Unrecht, wenn du dir Leute heranholst, die zu der ›Hefe des Volkes‹ gehören. So nennt man doch in deinen Kreisen diese Klasse von Menschen, nicht wahr? Nur du allein bist im Unrecht, wenn dir diese Hefe des Volkes dann arge Streiche spielt, dich selbst zu solchen Streichen verleitet und du auf diese Weise den Unwillen der gesitteten Leute auf dich ziehst. Und doch ist's ganz in der Ordnung! Wie diese gesitteten Leute ganz folgerichtig sich gesittet benehmen, so benimmt sich dieses Pack ganz folgerichtig eben gemein. Im Unrecht bist nur du allein, wenn du sie über deine Schwelle läßt. Wenn Bertinus mit seiner Mätresse ruhig und gesittet leben würde, wenn sie infolge ihres untadeligen Lebenswandels angesehene Leute zu Bekannten hätten, wenn sie von einem Kreis befähigter und sittenreiner Leute umgeben wären und in dieser erlesenen Gesellschaft die Stunden verleben würden, die sie nicht in trauter Einsamkeit zu zweit damit verbringen, sich zu lieben und es sich zu sagen – glauben Sie, daß in diesem Fall gute oder schlechte Geschichten über sie in Umlauf wären? Haben sich die beiden also zu beklagen? Doch gewiß nicht! Sie ernten nur, was sie gesät haben und werden für ihre Unbedachtsamkeit in der gehörigen Weise bestraft. Uns aber hat die Vorsehung dazu erwählt, an den Bertins von heute Justiz zu üben, wie unsere Nachfahren einmal an den Monsianges und Bertins ihrer Zeiten Justiz üben werden. Doch während wir uns, wie es sich gehört, damit befassen, dummen Leuten einen Denkzettel zu geben, befaßt ihr euch, wie es sich gehört, damit, uns eins auszuwischen, indem ihr uns schildert, wie wir sind. Was würdet ihr von uns denken, wenn wir mit unseren schändlichen Sitten Anspruch auf die allgemeine Achtung erheben würden? Daß wir verrückt geworden sind, nicht wahr? Sind es aber die etwa nicht, die von notorischen Verbrechern, von liederlichen und gemeinen Leuten ein gesittetes und anständiges Betragen erwarten? Auf der Welt ist es nun einmal so eingerichtet, daß der gerechte Lohn oder die gerechte Strafe schließlich doch nicht ausbleiben. Zwei Richter gibt es auf dieser Welt. Der eine steht vor eurer Tür und bestraft die Vergehen gegen die Gesellschaft. Der andere hat es nicht nötig, an der Tür zu stehen. Ihm entgeht doch nichts. Dieser Richter ist die Natur. Geben Sie sich einem ausschweifenden Lebenswandel mit Weibern hin, so bestraft Sie die Natur mit Wassersucht. Verfallen Sie der Völlerei, so verurteilt sie Sie zu Asthma. Lassen Sie Gauner und Lumpen über Ihre Schwelle, und leben Sie einträchtig mit solchen Subjekten zusammen, so werden Sie verraten, verhöhnt und verachtet. Am besten, man fügt sich voll Ergebung in das gerechte Walten der Vorsehung, sagt sich, daß es so, wie es ist, gut ist, nimmt sich gelegentlich selbst bei den Ohren und bessert sich oder bleibt am Ende – unter obigen Voraussetzungen – der, der man ist.

Ich: Sie haben recht.

Er: Um aber auf die besagten üblen Geschichten zurückzukommen – ich habe keine davon erfunden. Ich begnüge mich, sie zu verbreiten. Neuestens erzählt man sich, daß vor einigen Tagen gegen fünf Uhr morgens ein furchtbarer Lärm zu hören war. Alle Klingeln gellten schrill durch das Haus, Schreie ertönten, dumpf und ächzend, wie von einem Menschen, der zu ersticken droht. »Zu Hilfe, helft mir, ich ersticke, ich sterbe!« Aus dem Schlafzimmer unseres Patrons drangen diese Rufe. Man stürzt hinein, um ihm zu helfen – und erblickt unsere kugelrunde Komtesse, wie sie halb von Sinnen, ohne zu wissen oder zu sehen, was um sie vorgeht – das kommt ja in solchen Augenblicken vor –, fortfährt, sich auf ihren beiden Händen zu erheben und sich in rasender, durch den Taumel der Wollust noch beschleunigter Geschwindigkeit von hoch oben mit ihrem ganzen Gewicht von zwei- bis dreihundert Pfund auf gewisse empfindliche Körperpartien des Patrons herabfallen zu lassen. Man hatte seine liebe Mühe, ihn frei zu bekommen. Was für eine Unvorsichtigkeit von einem so kleinen Hammer, sich unter einen so schweren Amboß zu begeben!

Ich: Sie sind ein rechter Schlingel! Aber reden wir von etwas anderem. Seit wir uns unterhalten, schwebt mir in einem fort eine Frage auf den Lippen.

Er: Warum halten Sie so lange mit ihr hinterm Berg?

Ich: Weil ich fürchte, daß sie Ihnen taktlos erscheinen könnte.

Er: Daraus, daß ich Ihnen schon so viel gebeichtet habe, ersehen Sie doch, daß ich Ihnen nichts verheimlichen will.

Ich: Sind Sie sich klar, wie ich über Sie denke?

Er: Das weiß ich ganz genau. Ich bin in Ihren Augen ein ganz verkommenes und verächtliches Subjekt. Manchmal scheint es mir ja selbst so. Aber nicht allzu häufig. Weit öfter bin ich stolz auf meine Fehler. Sie sind viel beharrlicher in Ihrer Verurteilung als ich.

Ich: Allerdings! Aber warum verbergen Sie mir Ihre Liederlichkeit nicht?

Er: Vor allem, weil Sie meinen Lebenswandel ja ohnedies schon zu einem guten Stück kannten. Ich merkte, daß ich mehr zu gewinnen als zu verlieren hätte, wenn ich, was noch zu sagen blieb, offen eingestände.

Ich: Wieso? Wenn ich fragen darf?

Er: Wenn es auf irgendeinem Gebiet besonders wichtig ist, nicht für einen Dutzendmenschen gehalten zu werden, so ist das im Bereich der Gauner und Bösewichte der Fall. Auf einen kleinen Spitzbuben spuckt man. Aber einem großen Schurken gegenüber kann man ein gewisses Gefühl von Achtung nicht unterdrücken. Seine Waghalsigkeit verblüfft, seine Grausamkeit erweckt ein Schaudern. Auch in diesem Fall ist eben ein gefestigter und widerspruchsloser Charakter von Bedeutung.

Ich: Aber zu dieser wünschenswerten Charakterfestigkeit haben Sie es noch nicht gebracht. Es kommt mir vor, als wenn Sie sich zeitweise von recht unsicheren Grundsätzen leiten ließen. Ob Ihre Fehler Ihnen angeboren sind oder erst durch eifriges Bemühen und Studium erworben wurden und ob Sie es in Ihrer Ausbildung so weit als möglich gebracht haben, wage ich allerdings nicht zu entscheiden.

Er: Vielleicht haben Sie recht. Jedenfalls habe ich getan, was ich konnte. Die Grenzen meines Könnens kenne ich sehr wohl und gebe ja zu, daß es Leute gibt, die vollkommener sind als ich. Sprach ich nicht von Bouret in Ausdrücken höchster Bewunderung? Bouret ist in meinen Augen das größte Genie auf Erden!

Ich: Aber gleich nach Bouret kommen doch Sie?

Er: Nein.

Ich: Also Palissot?

Er: Palissot? Ganz recht, aber nicht er allein.

Ich: Wer kann sich rühmen, mit ihm auf der gleichen Stufe zu stehen?

Er: Der Renegat von Avignon.

Ich: Von dem habe ich noch nie etwas gehört. Das muß wohl ein hervorragender Mensch sein.

Er: Das ist er auch.

Ich: Ich habe von jeher eine Schwäche für die Lebensgeschichte hervorragender Menschen.

Er: Das glaube ich gern. Dieser Renegat lebte bei einem guten und braven Nachfahren des Stammvaters aller Gläubigen Abraham, dem ja eine Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sterne am Himmel verbeißen worden ist.

Ich: Bei einem Juden also.

Er: Bei einem Juden, dessen Mitleid er zuerst zu erwecken verstand, dessen Wohlwollen er dann erschlich und dessen vollstes Vertrauen er schließlich zu gewinnen wußte. Denn das ist nun einmal der Lauf der Dinge. Wir sind von der Wirkung der Wohltaten, die wir einem Menschen erweisen, so sehr überzeugt, daß wir ihm meistens unser Vertrauen schenken und nichts vor ihm verbergen. Das ist die rechte Art, Undankbarkeit und Schurkerei zu züchten. Denn man kann fast mit Gewißheit damit rechnen, daß ein Mensch, der straflos seinen Wohltäter zu hintergehen vermag, dieser Versuchung erliegen wird. Unserem Juden aber fiel das nicht ein. So gestand er dem Renegaten eines Tages, daß ihm sein Gewissen den Genuß von Schweinefleisch verbiete. Sie werden gleich sehen, welchen Vorteil ein erfinderischer Geist aus diesem Geständnis für sich herauszuschlagen wußte. Einige Monate gingen hin. Der Renegat umschmeichelte inzwischen den Juden und betörte ihn vollends. Als ihm endlich schien, daß der Jude von seiner Anhänglichkeit hinreichend überzeugt und von dem felsenfesten Glauben durchdrungen sei, daß er unter allen Stämmen Israels keinen besseren Freund habe ... Muß man diesen Schurken nicht wegen seiner Bedachtsamkeit und Umsicht bewundern? Er läßt sich Zeit. Er läßt in aller Ruhe die Birne reifen, bevor er sie vom Zweige schüttelt. Allzugroße Hast könnte seinen Plan zum Scheitern bringen. Es ist wohl wahr! Ob ein Charakter den Durchschnitt überragt, hängt gewöhnlich davon ab, ob die Eigenschaften des betreffenden Charakters sich auch richtig ergänzen und sich gegenseitig die Wage halten.

Ich: Lassen Sie doch Ihre Betrachtungen einmal sein und fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.

Er: Das ist mir unmöglich. Es gibt Tage, wo ich Betrachtungen anstellen muß. Das ist förmlich eine Krankheit bei mir. Am besten, man läßt ihr freien Lauf. Aber wo blieb ich stehen?

Ich: Sie sprachen von dem Vertrauen, das der Renegat sich schließlich zu erschleichen wußte.

Er: Die Birne war also reif... Aber Sie hören mir ja gar nicht zu. Sie träumen ja!

Ich: Ich habe mir eben gedacht, wie verschieden Ihre Stimme klingt. Bald stark, bald schwach, bald hoch, bald tief!

Er: Ein Lump muß doch alle Register ziehen können. Wundert Sie das? – Doch da stürmt eines Tages der Renegat zu seinem guten Freund herein, mit aschfahlem Antlitz, tut ganz verstört, zittert an allen Gliedern und kann kaum reden. »Was ist geschehen?« – »Wir sind verloren!« – »Verloren? Wieso?« – »Verloren, sage ich Ihnen, rettungslos verloren!« – »Wieso? So sprechen Sie doch! Sagen Sie, was geschehen ist!« – »Ein paar Minuten müssen Sie mich schon Atem schöpfen lassen, bis sich mein Schrecken etwas gelegt hat.« – »Aber gewiß, ruhen Sie sich aus!« beschwichtigte ihn der Jude, statt ihm zu sagen: »Du bist der abgefeimteste Spitzbube, der mir in meinem ganzen Leben untergekommen ist. Ich weiß zwar nicht, was du mir vorschwatzen willst, aber ich sehe wohl, daß du nur Komödie spielst, du Gauner.«

Ich: Weshalb hätte er ihm das sagen sollen?

Er: Weil er sich eben verstellte, und zwar in ganz übertriebener Weise. Für mich ist das offenkundig. Aber unterbrechen Sie mich nicht mehr. – »Wir sind verloren, rettungslos verloren!« (Merken Sie denn nicht, wie affektiert diese häufige Wiederholung: ›verloren‹ klingt?) »Ein Schurke hat uns bei der heiligen Inquisition angezeigt, Sie als Juden, mich als Renegaten, als einen infamen Renegaten.« Sehen Sie, wie dieser Schurke schamlos genug ist, um sich selbst auf das Häßlichste zu beschimpfen. Es gehört mehr Mut dazu, als man denkt, sich selbst beim richtigen Namen zu nennen. Sie ahnen nicht, wieviel Selbstüberwindung es kostet, um es so weit zu bringen.

Ich: Das glaube ich gern. Aber dieser schändliche Renegat ...

Er: spielt natürlich Komödie, aber er spielt sie recht geschickt. Der Jude fährt zusammen, rauft sich voll Schrecken den Bart, wälzt sich auf der Erde. Er sieht die Häscher schon an seiner Türe, sieht sich schon im Armensünderkleid und sein Autodafé im Gange. – »Mein Freund, mein lieber guter Freund, mein einziger Freund, sagen Sie doch, raten Sie mir doch, was da zu tun ist?« – »Was zu tun ist? Vor allem sich unbesorgt in der Öffentlichkeit sehen lassen, völlig sicher und selbstbewußt auftreten und im übrigen die gewohnte Lebensweise fortsetzen. Bis das geheime Verfahren vor dem Inquisitionstribunal entschieden ist, kann noch lange Zeit vergehen. Man muß diese Frist ausnützen, um inzwischen alles zu verkaufen. Ich werde ein Schiff mieten oder, besser noch, ich werde es durch einen dritten mieten lassen, dann werden wir Ihr ganzes Barvermögen – darauf haben es ja diese Kerle hauptsächlich abgesehen – dort verstauen und abfahren, einem anderen Lande zu, unter dessen Himmel wir beide unbelästigt unserem Gotte dienen und die Gebote Abrahams und unseres Gewissens befolgen können. Die Hauptsache in der gefährlichen Lage, in der wir uns befinden, ist, ja keine Unvorsichtigkeit zu begehen.« – Gesagt, getan. Das Schiff ist gemietet und mit Lebensmitteln und Matrosen ausgerüstet. Die Habe des Juden ist an Bord. Am nächsten Tag, bei Tagesanbruch werden sie unter Segel gehen. Daher können sie heute sorglos und unbekümmert zu Abend essen und sich aufs Ohr legen, denn sie sind sicher, morgen ihren Verfolgern zu entrinnen. Mitten in der Nacht aber steht der Renegat auf, stiehlt dem Juden Brieftasche, Börse und Juwelen, geht an Bord und – weg war er. Sie glauben wohl, daß damit die Geschichte schon zu Ende ist? Da irren Sie sich aber gründlich! Als ich zum ersten Male diese Geschichte hörte, da erriet ich ganz von selbst, was ich Ihnen noch vorenthalten habe, um Ihren Scharfsinn zu prüfen. Aber ich merke schon, daß Sie gut daran taten, nicht vom Pfade der Tugend abzuweichen, denn Sie hätten es als Schelm nicht weit gebracht. Wäre jene Geschichte schon zu Ende, so wäre der Renegat auch nur ein armseliger Schelm, dem niemand gleichen möchte. Daß er ein genialer Gauner ist, zeigt sich erst aus dem Umstand, daß er selbst seinen guten, ihm blindvertrauenden Juden angezeigt hatte. Die heilige Inquisition nahm den auch richtig am nächsten Tag in aller Frühe fest und veranstaltete mit ihm einige Tage später ein nettes Freudenfeuer. So kam der Renegat in den unbestrittenen Besitz des Vermögens jenes fluchbeladenen Nachfahren eines Volkes, das unseren Heiland einst ans Kreuz geschlagen hat.

Ich: Wahrhaftig! Ich weiß nicht, was mir mehr Entsetzen einflößt, die Verruchtheit Ihres Renegaten oder der Ton, in welchem Sie davon sprechen.

Er: Das habe ich Ihnen doch vorher gesagt. Seine Tat ist so verrucht, daß Sie mit bloßer Verachtung ihm gegenüber nicht mehr auskommen. Deshalb war ich auch ganz offen zu Ihnen. Meine Absicht war, Sie erkennen zu lassen, was ich in meinem Fach leiste, Ihnen das Geständnis zu entlocken, daß ich bei all meiner Verworfenheit doch ein großes Genie besitze, und es zuwege bringe, daß Sie, wenn Sie sich große Gauner vorstellen, auch meiner Wenigkeit sich erinnern. Dann wollte ich ausrufen: »Vivat Mascarillus, furbum Imperator!«Mir scheint, ich habe Sie nun so weit! Darum auf, verehrter Herr Philosoph, lassen Sie Ihre Grillen beiseite und stimmen Sie mit mir ein: »Vivat Mascarillus, furbum Imperator!«

Darauf stimmte er ein ganz eigenartiges Lied in Fugen an. Bald war die Melodie getragen und majestätisch, bald leicht und kapriziös. Abwechselnd sang er bald im Baß, bald in höheren Lagen, gab mit seinen Armen den Takt an und reckte seinen Hals, wenn die Melodie verhalten dahinfloß, und brachte diesen von ihm selbstkomponierten Triumphgesang auf eine Art zu Gehör, daß man sogleich ersah, daß er sich besser auf gute Musik als auf Moral und Sitten verstand.

Doch ich, ich wußte nicht, ob ich bleiben oder fliehen, lachen oder zürnen sollte. Schließlich entschloß ich mich zu bleiben und dem Gespräch möglichst eine Wendung zu geben, die mich wieder von dem furchtbaren Bann befreien würde, der mir den Atem benahm. Unerträglich wurde mir allmählich die Gegenwart dieses Menschen, der über eine schauerliche Untat, über ein fluchwürdiges Verbrechen genau so enthusiastisch sprach, wie ein Kunstliebhaber über die Schönheiten eines Gemäldes oder ein Geschichtsforscher über die näheren Umstände einer Heldentat. Unwillkürlich, ohne daß ich mir dessen bewußt wurde, verdüsterte sich mein Antlitz. Er bemerkte es und fragte mich:

Er: Was haben Sie? Ist Ihnen schlecht?

Ich: Ein wenig. Aber es geht schon vorüber.

Er: Sie sehen so bekümmert aus, wie ein Mensch, den ein peinlicher Gedanke quält.

Ich: Sie haben es erraten.

Wir schwiegen daraufhin eine Weile. Pfeifend und trällernd ging er auf und ab. Schließlich frug ich in der Absicht, das Gespräch wieder auf sein musikalisches Talent zu bringen:

Ich: Was treiben Sie jetzt?

Er: Nichts.

Ich: Das ist jedenfalls recht ermüdend.

Er: Ich war ohnehin schon ganz benommen davon. Aber diese Musik Duni's und unserer anderen jungen Komponisten, die ich mir einmal anhörte, hat mir den Rest gegeben.

Ich: Diese neue Richtung hat also Ihren Beifall?

Er: Zweifellos!

Ich: Sie finden diese neuen Werke gehaltvoll?

Er: Und ob ich das finde! Ich bin bei Gott ganz außer mir vor Entzücken! Was für eine Empfindung liegt darin! Wie wahr ist das alles und wie ergreifend im Ausdruck!

Ich: Jede Kunst hat doch sonst in der Natur ihr Vorbild. Der Musiker aber, welchem Vorbild folgt er, wenn er ein Lied komponiert?

Er: Warum gehen Sie der Sache nicht näher auf den Grund? Was ist das überhaupt, ein Lied?

Ich: Ich gestehe, daß die Beantwortung dieser Frage meine Kräfte weit übersteigt. Da sieht man wieder einmal, was man von uns Menschen zu halten hat! Unser Gedächtnis ist mit lauter Wörtern vollgepfropft, die wir zu verstehen meinen, weil wir sie häufig gebrauchen und sogar richtig gebrauchen, im Grunde aber haben wir von ihnen nur ganz verschwommene Begriffe. Wenn ich das Wort ›Lied‹ ausspreche, so habe ich von diesem Wort ebensowenig eine rechte Vorstellung als Sie und die Leute Ihres Schlages von den Worten: Ehrgefühl, Schande, Laster, Tugend, Schamgefühl, Schmach, Lächerlichkeit.

Er: Ein Lied ist eine durch künstliche Instrumente oder durch die Stimme reproduzierte Nachahmung von Naturgeräuschen oder Gefühlsäußerungen mit Hilfe einer künstlich erfundenen oder wenn Sie wollen von der Natur inspirierten Tonleiter. Sie sehen, daß bei entsprechender Änderung der Begriffe diese Definition auch in der Malerei, Rhetorik, bildenden Kunst und Dichtkunst zu recht besteht. Doch nun wollen wir auf Ihre Frage zurückkommen: Welchem Vorbild folgt der Musiker, wenn er ein Lied komponiert? Er folgt der Rede, wenn sein Vorbild ein lebendes und denkendes Wesen ist, oder dem Geräusch, wenn sein Vorbild leblos ist. Man muß sich die Rede als eine Linie vorstellen und das Lied, das ihr folgt, wie eine zweite Linie, die sich auf ihr hinschlängelt. Je kraftvoller und natürlicher die Rede ist, die dem Lied als Vorbild dienen soll, je öfter sich ihre Linie mit der des Liedes, das sich ihr anzupassen sucht, trifft, desto natürlicher und schöner wird das Lied sein. Das haben unsere jungen Musiker recht gut herausgefühlt. Hört man z. B. die Arie: ›Ich bin ein armer Teufel‹, dann meint man wahrhaftig die Klage eines Geizhalses zu vernehmen. Würde er nicht singen, sondern sprechen, so müßte er sich in ähnlichem Tonfall an die Erde wenden, wenn er ihr sein Gold mit den Worten anvertraut: »O Erde, empfange meinen Schatz!« Und diese Kleine, die ihr Herz pochen fühlt und verschämt und aufgeregt den vornehmen Herrn bittet, sie doch unbehelligt gehen zu lassen, könnte sie sich anders ausdrücken? Diese neuen Werke enthalten eine Unzahl bemerkenswerter Charakterschilderungen, eine Unzahl trefflich charakterisierender Reden. Vieles ist großartig, kann ich Ihnen sagen! Gehen Sie hin und hören Sie sich doch das Stück an, wo der Jüngling, der sich dem Tode nahefühlt, aufschreit: »Mein Herz steht still!« Hören Sie sich diese Arie an, geben Sie auf die instrumentale Behandlung acht und sagen Sie mir hernach, ob da zwischen dem natürlichen Aufschrei eines Sterbenden und der Todesarie dieses Jünglings irgendein wesentlicher Unterschied zu finden ist. Sie werden dann selbst sehen, daß die Linie des Liedes mit der Linie der Rede, die als Vorbild dient, völlig übereinstimmt. Den Takt, von dem im Liede ja auch viel abhängt, lasse ich hier noch ganz beiseite. Ich beschränke mich lediglich auf die Ausdrucksweise. Und da gibt es für mich nichts Einleuchtenderes als eine Bemerkung, die ich einmal irgendwo gelesen habe: ›Musices seminarium accentus‹. Der Akzent ist die Pflanzschule der Melodie. Danach können Sie ermessen, wie wichtig und wie schwierig es zugleich ist, ein brauchbares Rezitativ zustande zu bringen. Es gibt keine schöne Arie, aus der man nicht ein schönes Rezitativ gewinnen und kein schönes Rezitativ, aus dem ein einigermaßen geschickter Mensch nicht eine schöne Arie machen könnte. Ich will nicht behaupten, daß ein guter Rezitator auch ein guter Sänger sein müßte. Aber es würde mich höchlichst wundern, wenn in einem guten Sänger nicht ein guter Rezitator stecken würde. Sie dürfen mir schon glauben, was ich Ihnen da gesagt habe. Es hat schon seine Richtigkeit.

Ich: Ich würde es Ihnen ja recht gerne glauben, wenn ich nicht aus einem bestimmten Grunde ein wenig skeptisch wäre.

Er: Und dieser bestimmte Grund ... ?

Ich: Wenn Sie recht haben und diese neue Musik wirklich so großartig ist, dann muß ja notwendigerweise die des göttlichen Lully, des Campra, des Destouches,Destouches – André Cardinal (genannt Destouches oder des Touches), franz. Opernkomponist, † 1749 des Mouret und sogar – unter uns gesagt – die Ihres lieben Oheims – herzlich unbedeutend sein.

Er (indem er sich mir näherte und mir ins Ohr flüsterte): Ich möchte nicht, daß man mich hört. Es sind viele Leute da, die mich kennen. Sie sind es auch, alle diese Leute! Auf meinen lieben Onkel habe ich überhaupt keinen Grund, Rücksicht zu nehmen, so wie er sich benimmt. Er ist hart wie Stein. Und wenn meine Zunge ellenlang heraushinge, so würde es ihm nicht im Traume einfallen, mir auch nur ein Glas Wasser anzubieten. Aber er mag an seiner Oktave und Septime noch so sehr herumklimpern – hon, hon; hin, hin; tü, tü; türlütütü –, er mag wie der Teufel lärmen und quietschen, wer von der Sache etwas versteht und ein Getöse nicht für Musik hält, wird niemals Gefallen daran finden können. Ich wünschte, die Polizei würde jedem Menschen, gleichgültig, welchen Ranges und Standes, verbieten, das StabatStabat – die Vertonung eines mittelalterlichen Gedichtes, das mit den Worten »Stabat mater dolorosa ...« beginnt von Pergolesi zu Gehör zu bringen. Dieses Stabat sollte von Rechts wegen öffentlich verbrannt werden! Meiner Treu. Diese blöden Narren mit ihrer ›Serva padrona‹, ihrem ›Tracollo‹ haben uns verdammt hart zugesetzt! Früher blieben Werke wie ›Tancred‹, ›Issé‹, das ›galante Europa‹, das ›galante lndien‹, ›Castor‹, die ›Talents Lyriques‹ vier, fünf, sechs Monate ununterbrochen am Spielplan. Die ›Armide‹ vollends schien in alle Ewigkeit volle Häuser zu bringen. Heute fallen alle Neuheiten, eine nach der anderen ohne Ausnahme durch. Rebel und Francoeur speien Gift und Galle, jammern, daß alles verloren und sie ruiniert seien, wenn man in der Musik noch länger diesen Jahrmarktspöbel dulde, der den Ruf Frankreichs zugrunde richte. Man werde schließlich die Königliche Oper sperren müssen. Mit diesen Klagen hat es schon seine Richtigkeit. Die alten Stammgäste, die seit dreißig oder vierzig Jahren jeden Freitag dort herumsitzen, langweilen sich, statt sich zu unterhalten, wie früher einmal, und gähnen, ohne recht zu wissen warum. Sie schütteln erstaunt ihre verstaubten Perücken und fragen sich vergeblich nach dem Grund ihres Überdrusses. Warum wenden sie sich nicht an mich? Die Weissagung Dunis wird in Erfüllung gehen. Nach dem Verlauf der Dinge zu urteilen wette ich meinen Kopf, daß vier bis fünf Jahre nach der Aufführung von ›Maler und Modell‹ keine Katze in dem berühmten Sackgäßchen, das zur Oper führt, zu sehen sein wird. Die guten Leute! Sie haben ihre Instrumentalmusik aufgegeben, um italienische Kompositionen spielen zu können und waren der Meinung, ohne Folgen für ihre Vokalmusik ihre Ohren an diese fremde Musik gewöhnen zu können! Als ob die Instrumentalmusik – abgesehen von einer gewissen im Tonumfang des Instrumentes und in der Fingerfertigkeit begründeten Ungebundenheit – sich zum Lied nicht ebenso verhielte, wie das Lied zur natürlichen Rede. Als ob der Violinspieler nicht der Affe des Sängers wäre und der Sänger, wenn eines Tages die Kunstfertigkeit wieder mehr in Mode sein wird, der Affe des Violinspielers. Der erste, der Locatelli spielte, ward zum Apostel der neuen Musik. »Andere Zeiten, andere Vögel! Andere Vögel, andere Lieder!« Da man uns einmal an die Nachahmung der Naturlaute der Leidenschaft und der Naturgeräusche durch Stimme und Instrument gewöhnt hat – denn das ist das weitgesteckte Ziel jeglicher Musikbetätigung –, wie sollen wir da Raketen, Pomp, Triumphzügen und ähnlichem Mummenschanz noch Geschmack abgewinnen? ›Geh, Johann, schau nach, ob sie kommen!‹ Diese guten Leute haben sich wirklich eingebildet, man könnte beim Anhören in Musik gesetzter Szenen eines Lust- oder Trauerspiels weinen oder lachen, den Äußerungen der Wut, des Hasses, der Eifersucht, des Liebesschmerzes, den Späßen und Vergnüglichkeiten des italienischen und französischen Theaters lauschen und dabei für Ragonde oder Platée noch ein Wort der Anerkennung finden! Das sind leere Hirngespinste! Sie haben sich eingebildet, sie könnten sich ohne Bedenken in den Wohllaut der biegsamen, schmiegsamen, harmonischen italienischen Sprache mit ihren Ellipsen und InversionenInversion – Umstellung der Worte im Satz zur Hervorhebung (Groß sind die Werke des Herrn) versenken und mitempfinden, wie sie sich der Kunst, der Bewegung, dem Ausdruck, dem Wechsel der Empfindungen anpaßt, ohne schließlich gewahr zu werden, wie hart, klanglos, plump, pedantisch und monoton ihre eigene Sprache ist. Ja, Schnecken! Sie waren der Meinung, daß sie, nachdem die Tränen einer um ihren Sohn trauernden Mutter sie selbst zu Tränen gerührt und der Mordbefehl des Tyrannen sie zu Tode erschreckt hatte, noch immer an jenen Feenmärchen, an den öden mythologischen Scherzen und süßlichen Madrigalen Gefallen finden könnten, obwohl doch alle diese Unarten weniger den schlechten Geschmack des Dichters, als den Jammer der Kunst erweisen, die zu solchen Mätzchen ihre Zuflucht nehmen muß. Das ist widernatürlich, ihr lieben Leute, und kann nicht von Dauer sein. Das Wahre, Gute und Schöne hat Anspruch darauf, daß es nicht achtlos beiseite geschoben wird. Es setzt sich schließlich doch durch, wenn es auch oft einen harten Kampf kostet. Was nicht den Stempel der Echtheit trägt, mag wohl eine Zeitlang bestaunt werden. Aber am Ende gähnt man doch dabei. So gähnt denn, ihr guten Leute, reißt die Mäuler auf, so weit ihr könnt, und tut euch keinen Zwang an. Folgendes ist das Reich der Natur und der Dreieinigkeit, gegen das alle Gewalten der Hölle machtlos sind und das in aller Stille wirkt und um sich greift: Das Wahre, das der Vater ist und das Gute zeugt, das der Sohn ist, von dem das Schöne stammt, das der heilige Geist ist. Diese fremde göttliche Trinität begnügt sich zunächst, bescheiden im Schatten des einheimischen Götzen Platz zu nehmen, nach und nach wagt sie sich kühner ans Licht, und eines schönen Tages gibt sie dem Kameraden einen Rippenstoß, und krach! da liegt der Götze in Scherben. Man sagt, daß die Jesuiten auf diese Weise das Christentum nach China und IndienChristentum nach China ... – indem sie beispielsweise bei ihren Festzügen in China immer ein Bild des Konfuzius mitführten. verpflanzt haben. Die JansenistenJansenisten – Anhänger einer katholischen Reformbewegung, standen im Gegensatz zu den Jesuiten mögen sagen, was sie wollen, diese Methode, geräuschlos, ohne Blutvergießen, Märtyrer und Büschel ausgeraufter Haare ein Ziel zu erreichen, scheint mir die beste zu sein.

Ich: Was Sie da sagen, ist nicht ohne weiteres von der Hand zuweisen. Es steckt Vernunft darin.

Er: Vernunft? Um so besser. Aber der Teufel soll mich holen, wenn das meine Absicht war. Ich habe gar nichts dazu getan. Wenn ich zufällig das Richtige errate, nun um so besser! Das kommt daher, daß ein Schusterbub von seinem Handwerk immer noch mehr versteht, als die ganze Akademie und alle Duhamels samt und sonders von ihrem.

Und da springt er plötzlich auf und beginnt, auf und ab gehend, einige Arien aus der ›Narreninsel‹, dem ›Maler und Modell‹, dem ›Hufschmied‹ und der ›Klägerin‹ vor sich hin zu summen. Von Zeit zu Zeit blickt er schmachtend zum Himmel, breitet seine Arme aus und ruft enthusiastisch: »Ob das schön ist? Herrgott im Himmel! Und ob das schön ist! Wie kann man nur ein Paar Ohren haben und eine solche Frage stellen!« Allmählich geriet er mehr und mehr in Erregung und begann leise zu singen. In dem Maße, als er sich erwärmte, wurde sein Gesang lauter und lauter. Gesten traten hinzu, Grimassen und tänzelnde Wendungen. Gefaßt sah ich ihm zu und sagte mir. »Schön, jetzt wird er gleich den Kopf ganz verlieren. Das kann ja nett werden. Ein nettes Spektakel!« Und wirklich brüllte er plötzlich los: »Ich bin ein armer Teufel« ... »Gnädiger Herr, lassen Sie mich gehen!«... »O Erde, nimm mein Gold in deine Obhut, bewahre meinen Schatz!« ... »Meine Seele, mein Leben, o Erde!« ... »Da ist er ja, mein kleiner Freund, da ist er ja!« – »Aspettare e non venirel« ... »A Zerbina penserete« ... »Sempre in contrasti come si stà« ... So häufte und mengte er dreißig verschiedene französische, italienische, tragische, komische Arien der verschiedensten Typen durcheinander. Bald stieg er mit tiefstem Baß in die Tiefen der Hölle, bald drang er, den Hals verrenkend, mit einer schneidenden Fistelstimme hoch in die Lüfte, wobei er den Gang, die Haltung und Gebärde der verschiedenen dargestellten Personen kopierte, und sich bald wütend, bald sanft, bald gebieterisch, bald spöttisch gab. Jetzt mimt er ein junges, weinendes Mädchen in all ihrer Geziertheit, dann einen Pfaffen, dann einen König, einen Tyrannen. Er droht, befiehlt, gerät in Wut, um im nächsten Augenblick als Sklave sich demütig zu krümmen und zu gehorchen. Er ist gemessen, jammert, lacht, ohne auch nur ein einziges Mal gegen die Melodie, den Takt, den Sinn der Worte und den Charakter der Arie zu verstoßen. Verlassen lagen die Tische. Alle Holzschieber drängten sich um ihn, an allen Fenstern guckten Leute, die im Vorübergehen auf den Lärm hin stehengeblieben waren, herein. Man lachte, daß die Wände zitterten und die Decke einzustürzen drohte. Er aber merkte nichts davon, sondern spielte weiter in einer Art von Sinnesverwirrung und mit einer Begeisterung, die derart an Wahnsinn grenzte, daß sich jeder frug, ob er je wieder zu sich kommen würde oder ob man nicht besser täte, ihn sogleich in einen Wagen zu stecken und ins Irrenhaus zu bringen. Aus einem Bruchstück aus den Lamentationen Joumellis sang er die schönsten Stellen mit einer unglaublichen Sicherheit, Wahrheit und Wärme. Bei der schönen Rezitation, wo der Prophet die Zerstörung Jerusalems schildert, weinte er so herzzerreißend, daß er alle Hörer zu Tränen rührte. Nichts fehlte, weder die Tiefe der Empfindung, noch die Kraft des Ausdrucks, noch der wehmütige Schmerz. Schwelgerisch verweilte er an Stellen, die von der Meisterschaft des Komponisten ein besonderes Zeugnis ablegten. Oft brach er mitten im Gesang ab, um zur instrumentalen Begleitung überzugehen. Im nächsten Augenblick aber nahm er den Gesang wieder auf. Das wiederholte er dergestalt, Gesang und Begleitung miteinander verschmelzend, daß die Verbindung und die Einheit des Ganzen niemals gestört ward. So nahm er unsere Seelen gefangen und hielt sie in seinem Bann, so seltsam, wie ich es nie zuvor empfunden hatte ... Bewunderte ich ihn? Ja gewiß, ich bewunderte ihn! Hatte ich ein tieferes Gefühl für ihn? Ja auch das! Doch ich ward meiner Bewunderung wie meines Mitgefühls nicht recht froh, denn ich gestehe, daß er mir auch ein wenig lächerlich vorkam.

Man mußte laut auflachen, wenn man ihn beobachtete, wie er sich die Tonfarben der verschiedenen Instrumente wiederzugeben bemühte. Mit aufgeblasenen, feisten Backen und rauher, dumpfer Stimme ahmte er Horn und Fagott nach, die Oboe kopierte er durch einen gellenden nasalen Ton, die Saiteninstrumente durch entsprechend klingende Töne, wobei er seine Stimme mit einer unglaublichen Schnelligkeit auf und nieder rasen ließ. Er pfiff, wenn er die kleinen Flöten nachahmte, er girrte, wenn es auf die Querflöte ankam, er schrie, sang und gebärdete sich wie ein Tobsüchtiger, ersetzte Sänger und Sängerinnen, Tänzer und Tänzerinnen, das Orchester und den Chor, mimte zwanzig Personen zu gleicher Zeit, raste umher, stutzte, blitzte mit seinen Augen und schäumte wie ein Besessener. Die Hitze in dem Raume ward allmählich unerträglich. Schweißtropfen rannen ihm von der Stirne über die Wangen, mischten sich mit dem Puder seiner Haare, perlten herab und hinterließen auf seinem Rock deutliche Spuren. Was tat er nicht alles! Er weinte, lachte, seufzte, blickte bald zärtlich, bald vergnügt, bald wütend. Er kopierte eine Frau, die von ihrem Schmerz übermannt wird, einen Unglücklichen, der sich seiner Verzweiflung hingibt, einen Tempel, der majestätisch aufragt, Vögel, deren Gesang bei Sonnenuntergang verstummt, ein Bächlein, das in erquickender Frische durch die Waldeinsamkeit dahinplätschert, einen Wasserfall, der aus bergiger Höhe herabstürzt, ein Gewitter, einen Wirbelsturm, das Schreien der rettungslos Versinkenden, das sich mit dem Heulen der Windsbraut und dem Rollen des Donners zu ohrenbetäubendem Getöse vereint, die Nacht in ihrem unheimlichen Dunkel, Schatten in ihrer grausigen Regungslosigkeit und düsteres Schweigen. Denn selbst das Schweigen malt sich in jäh aufzuckenden Lauten.

Schließlich blickte er völlig verloren um sich und blieb, von der Anstrengung vollständig erschöpft, regungslos und stieren Blickes stehen, wie ein Mensch, der plötzlich aus tiefem Schlafe emporgerissen wird. Er glotzte rings um sich wie ein gänzlich Verstörter, der sich an dem Ort, wo er sich befindet, zurechtzufinden sucht. Keuchend sucht er seiner Leibes- und Verstandeskräfte wieder Herr zu werden, während er ganz mechanisch den Schweiß von der Stirne wischte. Als er im ersten Augenblick sich von einer Unzahl von Leuten umdrängt sah, rief er wie jemand, der beim Erwachen rings um sein Bett tausend und aber tausend fremde Gesichter sieht, in grenzenloser Verblüffung: »He! Meine Herren, was gibt's? Was soll das Lachen? Worüber sind Sie denn so erstaunt? Was ist denn los?« Doch allmählich fand er sich wieder zurecht und fuhr fort: »Nicht wahr! Das heißt doch erst Musik, das heißt erst musizieren! Aber trotzdem, meine Herren, darf man nicht alles, was Lully geschaffen hat, in einen Topf werfen. Ich möchte den sehen, der die Szene: ›Ach! Ich werde eben warten‹ besser komponieren könnte, ohne den Text zu ändern! Man darf ebensowenig alles von Campra ohne weiteres verwerfen, auch nicht die Violinstücke meines Onkels, seine Gavotten und seine Vertonung des Einzuges der Soldaten, Pfaffen und Oberpfaffen. ›Grausige Fackeln, Nacht, grausiger als die Hölle‹ ... ›Gott der Unterwelt, Gott des Vergessens‹ ... « Kraftvoll ließ er da seine Stimme anschwellen und hielt sie so lange an, daß die Nachbarn ihre Köpfe zum Fenster hinaussteckten und wir uns angstvoll die Ohren zuhielten. Er warf sich stolz in die Brust und bemerkte: »Dazu gehört eben eine respektable Lunge, eine Riesenstimme und ein dementsprechender Brustkasten. Aber bald ist es ja mit diesen Größen vorüber, wenn sie nicht bald darauf kommen, was man vertonen kann und was für den Musiker taugt. Die Textdichtung steckt noch in den Kinderschuhen. Aber sie werden schon darauf kommen! Wenn sie Pergolese, Hasse, Terradeglias, Trasetta und die anderen eifrig studieren, wenn sie Metastasio einiges abgucken, dann muß ihnen wohl endlich ein Licht aufgehen.«

Ich: Haben denn Quinault, La Motte, Fontenelle nichts von alledem verstanden?

Er: Im Sinne der modernen Richtung gar nichts. Keine sechs brauchbaren Verse könnte ich Ihnen von ihren im übrigen ganz reizenden Gedichten aufzählen, die man in Musik setzen könnte. Diese Sentenzen sind ja recht geistreich, die Madrigale fein und zart, aber wenn Sie nachprüfen wollen, ob sie uns Musikern wirklich nichts bieten können, uns Schülern einer Kunst, die die gewaltigste von allen ist, so brauchen Sie sich diese Stücke ja nur vordeklamieren lassen. Dann werden Sie gleich sehen, wie kalt, langweilig und eintönig sie wirken. Da ist nichts, aber schon gar nichts, woran sich eine Melodie halten könnte. Man könnte mit der gleichen Berechtigung die Maximen von La RochefoucauldLa Rochefoucauld – Bernard le Bovier de Fontenelle, franz. Schriftsteller, »der erste Moralist«, † 1680 oder die Gedanken von Pascal vertonen. Leidenschaft, vom Urgefühl der Leidenschaft erfüllte Texte suchen wir! Tempo, Bewegung muß in ihnen sein, die Sätze seien kurz, abgehackt, es genügt, wenn der Sinn oft nur durch ein Wort angedeutet wird. Erst dann vermag der Musiker ganz nach Gutdünken zu schalten und zu walten, ein Wort wegzulassen oder zu wiederholen, eines, das ihm fehlt, zu ergänzen und den Text wie einen Polypen zu drehen und zu wenden, ohne daß er zerstört wird. Die Textdichtung ist im Französischen infolge der gebundenen Wortstellung viel schwieriger als in anderen Sprachen, wo man sich dieser Vorteile ohne weiteres bedienen kann ... ›Grausamer Barbar, tauch' deinen Dolch in meine Brust! Ich bin bereit, von deiner Hand zu sterben. Faß an! Stoß zu!'... ›Ach! Die Sinne schwinden mir, ich sterbe!‹ ... ›Ein grauenvolles Feuer lodert in meinem Herzen!‹ ... ›Grausame Liebe, was willst du noch von mir?‹ ... ›Laß mir den süßen Frieden, den ich einst genoß!'... ›Laß mir den klaren Blick von einst!‹ ... Die Leidenschaften müssen stark betont und die Einfühlungsgabe des Musikers und des Textdichters außerordentlich entwickelt sein. Da die Arie gewöhnlich den Abschluß einer Szene bildet, brauchen wir effektvolle Aufschreie, Ausbrüche leidenschaftlicher Erregung, Spannung, Unterbrechungen, temperamentvolle Zustimmung, überraschende Weigerung. Man muß uns Gelegenheit geben, zu rufen, zu beschwören, zu schreien, zu seufzen, zu weinen und hell aufzulachen. Demnach verschone man uns mit geistreichen Gedankenspielereien, Epigrammen und ähnlichem! Solche Gedanken liegen natürlichen Wesen völlig fern. Doch glauben Sie ja nicht, daß das Gebaren der Schauspieler und ihre Sprechweise uns als Muster dienen könnte. Gott bewahre! Bei uns muß alles viel kraftvoller, natürlicher und echter wirken. Natürliche Reden, natürliche Gefühlsäußerungen sind uns um so nötiger, je monotoner die Sprache klingt und je weniger Akzente sie hat. Der echte, ungekünstelte Aufschrei des empfindenden Menschen gibt ihr den Akzent, der ihr fehlt.

Während er so auf mich einsprach, verzog sich die Menge, die uns umdrängt hatte. Denn die einen wie die anderen verstanden entweder seine Rede nicht oder fühlten sich durch seine Ausführungen zumindest gelangweilt. Auf Erden ist es nun einmal so eingerichtet, daß alt und jung, jung und alt lieber unterhalten als belehrt sein will. Alle hockten sich wieder vor ihre Bretter und wir blieben in unserer Ecke allein. Er lehnte den Kopf an die Wand, schloß die Augen, ließ die Arme schlaff herabsinken und sagte mir mit müder Stimme:

Ich weiß nicht, was mir fehlt. Als ich hierher kam, war ich frisch und guter Dinge, jetzt bin ich wie gerädert, alles tut mir weh, als wenn ich zehn Meilen marschiert wäre. Ganz plötzlich hat's mich gepackt.

Ich: Wünschen Sie eine Erfrischung?

Er: Recht gerne. Ich hin ganz heiser. Und so zerschlagen! Auch die Brust schmerzt mich ein wenig. Fast jeden Tag passiert mir das, ohne daß ich wüßte, weshalb?

Ich: Was darf ich Ihnen anbieten?

Er: Was Sie wollen. Ich bin nicht wählerisch. Die Not hat mich gelehrt, mit allem vorlieb zu nehmen.

Man brachte uns Bier und Limonade. Er schenkte sich zwei- oder dreimal ein großes Glas ein und leerte es jedesmal mit einem Zuge. Neu gestärkt sprang er dann auf, reckte sich, räusperte sich und begann von neuem:

Aber ist es nicht auch nach Ihrer Meinung, durchlauchtigster Herr Philosoph, ein höchst seltsam anmutendes Schauspiel, daß ein Ausländer, ein Italiener, ein Duni uns erst beibringen muß, wie wir unsere Musik lebendig und vielgestaltig machen, wie wir sie so wandlungsfähig gestalten können, daß sie allen Bewegungen, allen Zeitmaßen, allen Intervallen, allen Vortragsweisen gerecht wird? Hätten wir darauf nicht selbst kommen können? Das ist doch nicht etwas ganz Besonderes! Wer jemals die Bitte eines Straßenbettlers um ein Almosen vernahm, oder einen Mann in flammendem Zorn, ein Weib in rasender Eifersucht, einen Verliebten in wilder Verzweiflung toben hörte oder einen Schmeichler, jawohl einen Schmeichler mit honigsüßer Stimme in weichen Lauten seine Worte dehnen hörte, wer mit einem Wort schon einmal vernommen hat, wie sich irgendeine menschliche Empfindung oder Leidenschaft Bahn bricht – vorausgesetzt, daß sie vermöge ihrer Kraft dazu taugt, dem Musiker als Vorbild zu dienen –, dem mußte zweierlei auffallen: Erstens, daß die Silben, seien sie lang oder kurz, gar keine bestimmte Dauer haben, ja nicht einmal in einem bestimmten Zeitverhältnis zueinander stehen; zweitens, daß im Aufschrei der Leidenschaft Silbenmaße gar keine Rolle spielen, daß aber hier gewisse Intervallen zu beachten sind, wie zum Beispiel bei folgendem Aufschrei des höchsten Schmerzes: ›Wehe mir Unglücklichen!‹ Da liegt auf der ersten Silbe der höchste und gellendste Ton, die anderen liegen der Reihe nach um eine Oktave oder ein noch größeres Intervall tiefer, bis zum tiefsten und dumpfsten Ton hinab, wobei jede Silbe das ihr innerhalb der Melodie zukommende Zeitmaß besitzt, ohne Rücksicht auf ihre Dauer in der natürlichen Rede. Wie weit ist der Weg, den wir seit der Zeit zurückgelegt haben, da uns der Ausruf Armidas: ›Der Held, der Renaud zu Boden zwingt – wenn jemand dies vermag‹ – oder der Chorgesang ›Wir wollen folgen ohne Schwanken‹ aus dem ›Galanten Indien‹ als Wunder musikalischer Deklamation erschien! Jetzt habe ich für solche Wunder nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Wenn unsere Kunst sich weiter in dieser Geschwindigkeit entwickelt, dann habe ich keine Ahnung, was noch alles kommen kann. Aber trinken wir indessen doch noch ein Glas!

Er schüttete zwei, drei hinunter, ohne recht zu wissen, was er tat. Genau wie er sich vorher vollständig ausgegeben hatte, ohne es zu merken, war er jetzt auf dem besten Wege, sich bis zur Besinnungslosigkeit vollzusaufen. Doch ich schritt ein und entfernte die Flasche, nach der er in seiner Zerstreutheit fortwährend langte, aus seinem Bereich. Dann fragte ich ihn:

Ich: Wie ist es nur möglich, daß Sie bei Ihrer Feinfühligkeit, bei Ihrer großen Empfänglichkeit für die Wunder der Musik gar kein Auge für sittliche Werte haben und einem tugendhaften Lebenswandel gar keinen Geschmack abgewinnen können?

Er: Offenbar weil man ein eigenes Organ dafür haben muß, das mir abgeht, eine Art Membrane, die, wenn ich sie überhaupt besitze, statt in straffer Spannung auf jede Einwirkung zu reagieren, schlaff und träge Falten wirft. Oder vielleicht, weil ich stets mit Leuten verkehrt habe, die zwar tüchtige Musiker, aber liederliche Menschen sind und dadurch mein Gehör zwar sehr fein, aber mein Herz gefühllos geworden ist. Und dann mag meine Herkunft von gewissem Einfluß gewesen sein: die Blutsverwandtschaft zwischen meinem Oheim und meinem Vater, und meinem Vater und mir. Die väterliche Zelle mag hohl und taub gewesen sein. So hat es die verdammte Urzelle von meinem Großvater her leicht gehabt, mich ganz nach ihrem Ermessen zu formen.

Ich: Lieben Sie Ihr Kind?

Er: Und ob ich es liebhabe, diesen kleinen Wildfang. Ich bin ganz vernarrt in meinen Sprößling.

Ich: Und werden Sie sich nicht ernstlich damit befassen, eine Einwirkung der verdammten väterlichen Zelle auf das kindliche Gemüt zu verhindern?

Er: Damit würde ich mir, glaube ich, nur unnötige Arbeit machen. Ist er dazu bestimmt, ein anständiger Mensch zu werden, so werde ich ihm nichts in den Weg legen. Will es aber die Stammzelle, daß er ein Taugenichts wird wie sein Vater, so könnten ihm meine Bemühungen, einen anständigen Menschen aus ihm zu machen, nur schädlich sein. Die beiden widerstreitenden Kräfte der Erziehung und der Stammzelle würden sich in ihm bekämpfen, ihn bald hierhin, bald dorthin ziehen, er würde seinen Lebensweg nur im Zickzack zurücklegen können, gleichermaßen unbeholfen, wo es auf das Gute und wo es auf das Böse ankommt. Es gibt ja schon genug solche bedauernswerte Wesen auf der Welt, solche geplagte Menschenkinder, die vom Stempel der Mittelmäßigkeit gezeichnet sind und nur Mitleid und Verachtung erwecken können. Ein großer Gauner ist ein großer Gauner, aber er ist weit davon entfernt, zu diesem Alltagspöbel zu gehören. Würde ich meine Erziehungskunst an ihm versuchen, so würde die väterliche Zelle unendlich viel Zeit brauchen, um wieder die Oberhand zu bekommen und ihn zu einem vollkommenen Taugenichts zu machen, wie ich einer bin. Seine besten Jahre gingen dabei verloren. Ich lasse ihn also ganz in Ruhe, nur gelegentlich nehme ich ihn vor und prüfe ihn. Ein rechter Freßsack, Schwindler, Spitzbube, Faulpelz und Lügner ist er schon. Ich fürchte sehr, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Ich: Werden Sie ihn nicht auch zum Musiker ausbilden, damit an der Ähnlichkeit nichts fehle?

Er: Einen Musiker? Sonst haben Sie keine Wünsche? Ausgerechnet einen Musiker? Manchmal, wenn ich ihn so vor mir sehe, sage ich ihm zähneknirschend: ›Das sage ich dir! Wenn du jemals auch nur eine Taste anrührst, ich glaube, da würde ich dir den Kragen umdrehen!'

Ich: Warum, wenn ich fragen darf?

Er: Weil es zu nichts führt.

Ich: Da bin ich anderer Meinung.

Er: Nun ja, wenn man es in der Musik weit bringt, mögen Sie recht haben. Aber wer bürgt mir dafür, daß das bei meinem Kinde der Fall sein wird? Es ist zehntausend gegen eins zu wetten, daß er es nur zu dem gleichen elenden Klimpern bringen würde wie ich. Sind Sie sich darüber im klaren, daß es leichter sein mag, ein Kind zu finden, das zur Regierung eines Reiches taugt und ein großer König zu werden verspricht, als eines, dem man den geborenen genialen Violinspieler ansieht?

Ich: Mir scheint, daß selbst mit nur einer mittelmäßigen Begabung in Künsten, die der Unterhaltung dienen, ein Mann inmitten eines sittenlosen, ausschweifenden und schwelgerischen Volkes recht schnell sein Glück machen kann. Ich selbst habe einmal zwischen einem sogenannten Mäzen und einem Bittsteller, der auf eine Empfehlung hin seine Gefälligkeit in Anspruch zu nehmen suchte, folgendes Gespräch gehört: »In welchem Fach haben Sie sich schon umgesehen?« – »Ich verstehe ziemlich viel von Mathematik.« – »Nun gut, dann können Sie ja Mathematikstunden geben. Nachdem Sie sich zehn oder zwanzig Jahre die Schuhe auf dem Pariser Pflaster krumm und schief getreten haben, werden Sie es wohl zu einer Rente von drei- bis vierhundert Franken bringen.« – »Ich habe Jus studiert und bin darin recht bewandert.« – »Und wenn selbst PufendorfPufendorf – Friedrich Esaias Pufendorf, deutscher Jurist und Naturrechtsphilosoph, kreierte die Begriffe Völkerrecht und Eherecht, † 1694 und GrotiusGrotius – Hugo Grotius, niederl. Hugo de Groot, niederl. Rechtswissenschaftler, arbeitete auf den Gebieten des Natur- und Völkerrechts, † 1645 wieder auf Erden wandelten, sie würden doch elend in der Gosse verrecken.« – »Ich bin in Geschichte und Geographie ziemlich beschlagen.« – »Ja, wenn es Eltern gäbe, die sich ernstlich bemühen würden, ihre Kinder zu wirklich gebildeten Menschen zu erziehen, so wäre Ihr Glück gemacht. Aber es gibt keine.« – »Ich bin ein ziemlich talentierter Musiker.« – »Was? Ja, warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? Ich will Ihnen zeigen, welche Vorteile man aus einem solchen Talent zu ziehen vermag. Ich habe eine Tochter. Kommen Sie täglich in mein Haus und geben Sie ihr von halb acht bis neun Uhr abends Musikunterricht. Dafür gebe ich Ihnen fünfundzwanzig Dukaten im Jahre. Außerdem werden Sie alle Mahlzeiten mit uns einnehmen. Die übrige Zeit können Sie tun und lassen, was Sie wollen.«

Er: Was ist aus dem Glückspilz geworden?

Ich: Wenn er klug war, hat er es zu Geld gebracht. Das ist ja für Sie das einzig Wissenswerte, anscheinend. Diese Antwort wollten Sie ja bloß hören.

Er: Da haben Sie recht. Geld, Geld! Das allein ist wichtig. Alles andere ist belanglos. Anstatt meinem Sprößling mit schönen Grundsätzen den Kopf zu verdrehen – die er ja, um sein Leben nicht als Bettler zu verbringen, doch wieder vergessen müßte –, rufe ich mir ihn her, sooft ich einen Dukaten in der Tasche habe, was, unter uns gesagt, nicht allzuhäufig der Fall ist. Dann ziehe ich den Dukaten hervor, zeige ihm das Goldstück voll Bewunderung, hebe enthusiastisch die Augen zum Himmel, küsse es vor seinen Augen, und um ihm das nötige Verständnis für den Wert dieses hochzuverehrenden Goldstückes beizubringen, schwätze ich ihm etwas vor und zähle an meinen Fingern ab, was man alles darum kaufen kann: ein schönes Jäckchen, eine prächtige Mütze, feines Naschwerk! Dann stecke ich den Dukaten wieder in meine Tasche, schreite stolz und aufgeblasen durchs Zimmer, ziehe meine Weste über den Bauch herab und klopfe wohlgefällig mit der Hand auf meine Tasche, um ihm auf diese Weise deutlich zu machen, daß die Selbstsicherheit, die er an mir wahrnimmt, von diesem Talisman da in meiner Tasche stammt.

Ich: Man kann ihm das sicher nicht gründlicher einprägen, als Sie es tun. Wenn er aber eines Tages, tief durchdrungen von dem Wert des Dukaten...

Er: Ich verstehe schon, was Sie meinen. Daran darf man nicht denken. Es gibt kein Moralprinzip, das nicht seine Schattenseiten hätte. Schlimmstenfalls kostet es ihm ein böses Viertelstündchen. Dann hat er's überstanden.

Ich: Trotz dieser ermutigenden und glänzenden Aussichten glaube ich doch, daß es seine Vorteile hätte, einen Musiker aus ihm zu machen. Ich kenne kein besseres Mittel, um sich rasch bei vornehmen Leuten einzuschmeicheln, sie in ihren Lastern zu bestärken und seine eigenen dabei mit Erfolg zu verwerten.

Er: Allerdings! Aber der Weg, den ich ihn gehen lassen will, führt noch rascher und sicherer zum Erfolg. Ach! Wenn er doch nur ein Mädchen wäre! Aber da man nicht immer kann, wie man will, muß man sich in das Gegebene schicken und daraus Vorteil für sich herauszuschlagen suchen. Man darf nicht etwa so töricht sein, wie die meisten Väter – sie stellen sich so dumm an, als ob sie ihren Kindern schaden statt nützen wollten –, einem Kinde, das in Paris aufzuwachsen bestimmt ist, eine spartanische Erziehung zu geben. Paris ist nun einmal ein Sündenpfuhl. Aber ich bin nicht daran schuld, sondern die törichten Sitten meines Volkes. Aber ob so oder so – ich will jedenfalls, daß mein Sohn glücklich oder, was auf dasselbe herauskommt, reich und mächtig wird. Die Wege, die am schnellsten zu diesem Ziele führen, kenne ich so ziemlich und werde ihm beizeiten die Nase darauf stoßen. Wenn ihr Tugendwächter und Moralphilister mich deswegen auch verurteilt, die große Menge und der Erfolg werden mich rechtfertigen. Er wird im Geld schwimmen, sage ich Ihnen! Und wenn er im Geld schwimmt, so wird ihm nichts fehlen, selbst Ihre Achtung und Wertschätzung nicht!

Ich: Sie könnten sich täuschen.

Er: Nun gut. Dann wird er eben darauf verzichten, wie mancher andere.


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