Denis Diderot
Herrn Rameaus Neffe
Denis Diderot

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Vorwort

(von Johann Wolfgang von Goethe)

Das bedeutende Werk, welches wir unter diesem Titel dem deutschen Publikum übergeben, ist wohl unter die vorzüglichsten Arbeiten Diderots zu rechnen. Seine Nation, ja sogar seine Freunde warfen ihm vor, er könne wohl vortreffliche Seiten, aber kein vortreffliches Ganze schreiben. Dergleichen Redensarten sagen sich nach, pflanzen sich fort, und das Verdienst eines trefflichen Mannes bleibt ohne weitere Untersuchung geschmälert. Diejenigen, die also urteilen, hatten wohl den Jacques le fataliste nicht gelesen; und auch gegenwärtige Schrift gibt ein Zeugnis, wie glücklich er die heterogensten Elemente der Wirklichkeit in ein ideales Ganze zu vereinigen wußte. Man mochte übrigens als Schriftsteller von ihm denken, wie man wollte, so waren doch Freunde und Feinde darin einverstanden, daß niemand ihn, bei mündlicher Unterhaltung, an Lebhaftigkeit, Kraft, Geist, Mannigfaltigkeit und Anmut übertroffen habe.

Indem er also für die gegenwärtige Schrift eine Gesprächsform wählte, setzte er sich selbst in seinen Vorteil, brachte ein Meisterwerk hervor, das man immer mehr bewundert, je mehr man damit bekannt wird. Die rednerische und moralische Absicht desselben ist mannigfaltig. Erst bietet er alle Kräfte des Geistes auf, um Schmeichler und Schmarotzer in dem ganzen Umfang ihrer Schlechtigkeit zu schildern, wobei denn ihre Patrone keineswegs geschont werden. Zugleich bemüht sich der Verfasser, seine literarischen Feinde als eben dergleichen Heuchler- und Schmeichlervolk zusammenzustellen, und nimmt ferner Gelegenheit, seine Meinung und Gesinnung über französische Musik auszusprechen.

So heterogen dieses letzte Ingrediens zu den vorigen scheinen mag, so ist es doch der Teil, der dem Ganzen Halt und Würde gibt: denn indem sich in der Person von Rameaus Neffen eine entschieden abhängige, zu allem Schlechten auf äußern Anlaß fähige Natur ausspricht und also unsere Verachtung, ja sogar unsern Haß erregt, so werden doch diese Empfindungen dadurch gemildert, daß er sich als ein nicht ganz talentloser, phantastisch-praktischer Musikus manifestiert. Auch in Absicht der poetischen Komposition gewährt dieses der Hauptfigur angeborne Talent einen großen Vorteil, indem der als Repräsentant aller Schmeichler und Abhänglinge geschilderte, ein ganzes Geschlecht darstellende Mensch nunmehr als Individuum, als besonders bezeichnetes Wesen, als ein Rameau, als ein Neffe des großen RameauRameau – Jean-Philippe Rameau, franz. Komponist (* 1683 † 1764). Der Sohn seines Bruders Claude, Jean-Francois R., ist der Held dieser Satire. lebt und handelt.

Wie vortrefflich diese von Anfang angelegten Fäden ineinander geschlungen sind, welche köstliche Abwechselung der Unterhaltung aus diesem Gewebe hervorgeht, wie das Ganze, trotz jener Allgemeinheit, womit ein Schuft einem ehrlichen Manne entgegengestellt ist, doch aus lauter wirklichen Pariser Elementen zusammengesetzt erscheint, mag der verständige Leser und Wiederleser selbst entdecken. Denn das Werk ist so glücklich aus- und durchgedacht als erfunden. Ja selbst die äußersten Gipfel der Frechheit, wohin wir ihm nicht folgen durften, erreicht es mit zweckmäßigem Bewußtsein. Möge dem Besitzer des französischen Originals gefallen, dem Publikum auch dieses baldigst mitzuteilen; als das klassische Werk eines abgeschiedenen bedeutenden Mannes mag alsdann sein Ganzes in völliger unberührter Gestalt hervortreten.

Eine Untersuchung, zu welcher Zeit das Werk wahrscheinlich geschrieben worden, möchte wohl hier nicht am unrechten Platze stehn. Von dem Lustspiel Palissots,Palissot – Palissot de Montenoy, franz. Dichter, bekämpfte und verspottete die Enzyklopädisten, + 1814 Die Philosophen, wird als von einem erst erschienenen oder erscheinenden Werke gesprochen. Dieses Stück wurde zum ersten Mal den 2ten Mai 1760 in Paris aufgeführt. Die Wirkung einer solchen öffentlichen persönlichen Satire mag, auf Freunde und Feinde in der so lebhaften Stadt groß genug gewesen sein.

In Deutschland haben wir auch Fälle, wo Mißwollende, teils durch Flugschriften, teils vom Theater herab, andern zu schaden gedenken. Allein wer nicht von augenblicklicher Empfindlichkeit gereizt wird, darf die Sache nur ganz ruhig abwarten, und so ist in kurzer Zeit alles wieder im Gleise, als wäre nichts geschehen. In Deutschland haben sich vor der persönlichen Satire nur die Anmaßlichkeit und das Scheinverdienst zu fürchten. Alles Echte, es mag angefochten werden, wie es will, bleibt der Nation im Durchschnitt wert, und man wird den gesetzten Mann, wenn sich die Staubwolken verzogen haben, nach wie vor auf seinem Wege gewahr.

Hat also der Deutsche nur mit Ernst und Redlichkeit sein Verdienst zu steigern, wenn er von der Nation früher oder später begriffen sein will, so kann er dies auch um so gelassener abwarten, weil bei dem unzusammenhängenden Zustande unsres Vaterlandes jeder in seiner Stadt, in seinem Kreise, seinem Hause, seinem Zimmer ungestört fortleben und arbeiten kann, es mag draußen übrigens stürmen, wie es will. Jedoch in Frankreich war es ganz anders. Der Franzose ist ein geselliger Mensch, er lebt und wirkt, er steht und fällt in Gesellschaft. Wie sollte es sich eine französische bedeutende Sozietät in Paris, an die sich so viele angeschlossen hatten, die von so wichtigem Einfluß war, wie sollte sie sich gefallen lassen, daß mehrere ihrer Glieder, ja sie selbst schimpflich ausgestellt und an dem Orte ihres Lebens und Wirkens lächerlich, verdächtig, verächtlich gemacht würde? Eine gewaltsame Gegenwirkung war von ihrer Seite zu erwarten.

Das Publikum, im ganzen genommen, ist nicht fähig, irgend ein Talent zu beurteilen: denn die Grundsätze, wonach es geschehen kann, werden nicht mit uns geboren, der Zufall überliefert sie nicht, durch Übung und Studium allein können wir dazu gelangen; aber sittliche Handlungen zu beurteilen, dazu gibt jedem sein eigenes Gewissen den vollständigsten Maßstab, und jeder findet es behaglich, diesen nicht an sich selbst, sondern an einen andern anzulegen. Deshalb sieht man besonders Literatoren, die ihren Gegnern vor dem Publikum schaden wollen, ihnen moralische Mängel, Vergehungen, mutmaßliche Absichten und wahrscheinliche Folgen ihrer Handlungen vorwerfen. Der eigentliche Gesichtspunkt, was einer als talentvoller Mann dichtet oder sonst leistet, wird verrückt, und man zieht diesen zum Vorteile der Welt und der Menschen besonders Begabten vor den allgemeinen Richterstuhl der Sittlichkeit, vor welchen ihn eigentlich nur seine Frau und Kinder, seine Hausgenossen, allenfalls Mitbürger und Obrigkeit zu fordern hätten. Niemand gehört als sittlicher Mensch der Welt an. Diese schönen allgemeinen Forderungen mache jeder an sich selbst, was daran fehlt, berichtige er mit Gott und seinem Herzen, und von dem, was an ihm wahr und gut ist, überzeuge er seine Nächsten. Hingegen als das, wozu ihn die Natur besonders gebildet, als Mann von Kraft, Tätigkeit, Geist und Talent gehört er der Welt. Alles Vorzügliche kann nur für einen unendlichen Kreis arbeiten, und das nehme denn auch die Welt mit Dank an und bilde sich nicht ein, daß sie befugt sei, in irgend einem andern Sinne zu Gericht zu sitzen.

Indessen kann man nicht leugnen, daß sich niemand gern des löblichen Wunsches erwehrt, zu großen Vorzügen des Geistes und Körpers auch der Seele und des Herzens gesellt zu finden; und dieser durchgängige Wunsch, wenn er auch so selten erfüllt wird, ist ein klarer Beweis von dem unablässigen Streben zu einem unteilbaren Ganzen, welches der menschlichen Natur als ihr schönstes Erbteil angeboren ist.

Dem sei nun wie ihm wolle, so finden wir, indem wir zu unsern französischen Streitern zurückkehren, daß, wenn Palissot nichts versäumte, seine Gegner im moralischen Sinne herabzusetzen, Diderot in vorliegender Schrift alles anwendet, was Genie und Haß, was Kunst und Galle vermögen, um diesen Gegner als den verworfensten Sterblichen darzustellen.

Die Lebhaftigkeit, womit dieses geschieht, würde vermuten lassen, daß der Dialog in der ersten Hitze, nicht lange nach der Erscheinung des Lustspiels der Philosophen geschrieben worden, um so mehr, als noch von dem älteren Rameau darin als von einem lebenden wirkenden Manne gesprochen wird, welcher 1764 gestorben ist. Hiemit trifft überein, daß der Faux généreux des Le Bret, dessen als eines mißratenen Stückes gedacht wird, im Jahre 1758 herausgekommen.

Spottschriften wie die gegenwärtige mögen damals vielfach erschienen sein, wie aus des Abbé Morellet Vision de Charles Palissot und anderen erhellet. Sie sind nicht alle gedruckt worden, und auch das bedeutende Diderotsche Werk ist lange im verborgenen geblieben.

Wir sind weit entfernt, Palissot für den Bösewicht zu halten, als der er im Dialog aufgestellt wird. Er hat sich als ein ganz wackrer Mann, selbst durch die Revolution durch, erhalten, lebt wahrscheinlich noch und scherzt in seinen kritischen Schriften, in denen sich der gute, durch eine lange Reihe von Jahren ausgebildete Kopf nicht verkennen läßt, selbst über das schreckliche Fratzenbild, das seine Widersacher von ihm aufzustellen bemüht gewesen.


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