Denis Diderot
Herrn Rameaus Neffe
Denis Diderot

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Er spricht mich an: »Ei, ei, trifft man Sie hier, bester Herr Philosoph? Was treiben Sie denn da unter diesem Haufen von Nichtstuern? Sind auch Sie unter die Holzschieber gegangen?« (So bezeichnet man wegwerfend die Schachspielen)

Ich: Nein! Aber wenn ich nichts Besseres zu tun habe, sehe ich ganz gern Leuten zu, die gut schieben können.

Er: Da kommen Sie wohl selten auf Ihre Kosten. Außer Legal und Philidor hat keiner einen Dunst davon.

Ich: Und Herr von Bissy?

Er: Der versteht vom Schachspiel ebensoviel wie die Mamsell Clairon vom Theater. Soweit sich's eben erlernen läßt!

Ich: Sie sind recht anspruchsvoll! Anscheinend finden nur ganz ungewöhnlich begabte Menschen Gnade vor Ihren Augen.

Er: Freilich! Wozu kann denn auch beim Brettspiel, Dichten, Vortragen, Musizieren und ähnlichem Zeug die Mittelmäßigkeit taugen?

Ich: Fast zu nichts. Das gebe ich zu. Trotzdem ist es nötig, daß sich eine Menge Menschen damit befassen, damit eines Tages ein Genie aus der Masse hervortritt. Aber lassen wir das! Ich habe Sie schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Sie gehen mir zwar nicht ab, wenn ich Sie nicht sehe. Aber ich freue mich stets, wenn ich Sie wieder treffe. Was haben Sie immer getrieben?

Er: Was wir alle tun: Gutes, Böses, mitunter auch nichts. Hatte ich Hunger, so habe ich gegessen, sofern ich Gelegenheit dazu fand. Nach dem Essen bekam ich Durst. Dann habe ich manchmal getrunken. Inzwischen wuchs mir der Bart. Wenn's an der Zeit war, habe ich mich dann rasieren lassen.

Ich: Das war recht unklug von Ihnen. Denn das einzige, was Ihnen zum Weisen fehlt, ist ein Bart.

Er: Nun ja! Ich habe eine hohe, tief gefurchte Denkerstirne, einen durchbohrenden Blick, eine Adlernase, feiste Backen, schwarze, buschige Augenbrauen, schön geschwungene, aufgeworfene Lippen, einen Quadratschädel. Wenn dieses Riesenkinn mit einem langen Bart bedeckt wäre, würde ich mich in Bronze oder Marmor ganz gut ausnehmen. Finden Sie nicht?

Ich: Neben einem Cäsar, Mark Aurel oder Sokrates!

Er: Nein. Ich würde besser zwischen DiogenesDiogenes – griech. Naturphilosoph des -5. Jahrhunderts, war in Athen sehr unbeliebt. und PhrynePhryne – Hetäre in Athen. Wikipedia: »Angeblich soll niemand in der Lage gewesen sein, ihren Reizen zu widerstehen. Durch ihre Anmaßung, ihre Schönheit könne mit der der Aphrodite mithalten, wurde sie der Asebie (Gottlosigkeit) angeklagt. Diese Anklage gestaltete sich alsbald zu einem heftigen Skandal in ganz Athen. Der Legende nach soll Phryne vor einem Gericht (gebildet aus dem Areopag) ihre Haare herabgelassen, ihr Gewand abgelegt und den Versammelten ihren nackten Körper als »Beweismittel« vorgebracht haben. Weiter berichtet die Sage, dass sie daraufhin freigesprochen wurde.« passen. Frech bin ich wie der da und mit der andern verkehre ich gern.

Ich: Wie geht es ihnen immer?

Er: In der Regel gut. Aber heute fühle ich mich nicht recht wohl.

Ich: Wieso? Mit diesem Wanst eines Silen und einem Gesicht ...

Er: Einem Gesicht, nicht wahr, das man für dessen tieferen Widerpart halten könnte. Die Sorgen, die meinen lieben Oheim ausdörren, machen seinen lieben Neffen offenbar dick und fett.

Ich: Sehen Sie Ihren Oheim manchmal?

Er: O ja! Auf der Straße vorbeigehen.

Ich: Tut er denn gar nichts für Sie?

Er: Wenn er schon einmal einem Gutes tut, so geschieht es ganz unbewußt, ohne daß er davon eine Ahnung hat. Er ist auf seine Weise Philosoph, denkt nur an sich selbst, die übrige Welt ist ihm vollständig schnuppe. Seine Tochter und seine Frau mögen sterben, wo und wann sie wollen, wenn nur im Klang der Kirchenglocken, die sie zu Grabe läuten, die DuodezimDuodezim – Duodezime, Intervall, welches sich aus Oktave und Quinte zusammensetzt und damit zwölf Tonstufen umfaßt und Septdezim mitklingt. Dann ist alles wieder gut. Für ihn ist's ein Glück, daß er nur an sich denkt. Diese Eigenschaft ist es ja gerade, um die geniale Menschen zu beneiden sind. Sie sind nur für eine Sache zu brauchen, darüber hinaus taugen sie zu nichts. Sie wissen nicht, was es Bürger, Vater, Mutter, Bruder, Verwandter oder Freund zu sein bedeutet. Ganz unter uns – man sollte trachten, es ihnen in allen Punkten nachzutun. Aber zu wünschen ist es freilich nicht, daß Leute ihrer Art gar zu häufig werden. Menschen brauchen wir! Aber Übermenschen? Nein! Die brauchen wir wahrhaftig nicht. Sie sind es ja, die das Antlitz der Erde umgestalten. Und da kein Ding so klein und unansehnlich ist, daß sich nicht die Dummen daran hängen und es mit Händen und Füßen verteidigen, so geht es nie ohne Krawall ab. Manches von dem, was sie erdacht haben, setzt sich durch. Im übrigen bleibt es beim alten. Das gibt dann zwiefache Heilslehren und ein zweifarbiges Gewand. Vorn und hinten verschieden. Für einen Hanswurst mag's ja gehen. Die wahre Weisheit aber liegt in der Philosophie des Mönches von Rabelais:Rabelais – François Rabelais, franz. Schriftsteller, Autor des satirischen Romans »Gargantua und Pantagruel«, 1553 Schlecht und recht seine Pflicht erfüllen, vom Herrn Prior immer nur Gutes reden und im übrigen die Welt gehen lassen, wie sie mag. Das ist die einzige Art und Weise, selbst Ruhe zu haben und den andern ihren Frieden zu lassen. Wozu sich aufregen? In der Welt ist ja alles aufs beste bestellt, da doch die Menge zufrieden ist! Wüßte ich in der Geschichte Bescheid, so könnte ich Ihnen haargenau beweisen, daß das Unglück in der Welt immer nur auf solche Kraft- oder Geistmeier zurückzuführen ist. Aber ich weiß nichts von Geschichte, weil ich überhaupt nichts weiß. Hol' mich der Teufel, wenn ich jemals etwas gelernt habe, und wenn ich deshalb, weil ich nichts gelernt habe, etwa schlechter daran sein sollte! Als ich einmal an der Tafel eines Ministers des französischen Königs speiste, bewies uns unser Gastgeber, der Grütze für vier im Schädel hatte, so klar und schlagend, wie eins und eins zwei gibt, daß für die Völker nichts nützlicher sei als die Lüge, nichts verderblicher als die Wahrheit. Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Beweise. Doch es ergab sich klipp und klar, daß geniale Menschen nur mit äußerster Vorsicht zu genießen sind und man ein Kind, das bei seiner Geburt den Stempel des Genies, dieses gefährlichen Geschenkes der Natur, auf der Stirne trägt, am besten gleich ersticken oder in den Kanal werfen soll.

Ich: Und doch halten alle diese abgesagten Feinde des Genies sich selbst für Übermenschen.

Er: Es ist schon möglich, daß sie sich das denken. Aber ich glaube nicht, daß sie sich getrauen, es offen zu sagen.

Ich: Sicher aus Bescheidenheit. Sie haben also seit dieser Zeit einen so erschreckenden Haß auf alles Geniale?

Er: Niemand wird mich davon abbringen.

Ich: Doch ich erinnere mich, daß Sie einmal ganz untröstlich waren, nur ein Alltagsmensch zu sein. Sie werden niemals zur Ruhe kommen, wenn Sie zwischen den Gegensätzen immer hin und her pendeln. Sie sollten sich eine bestimmte Meinung bilden und daran festhalten. Wenn ich Ihnen auch darin beistimmen muß, daß geniale Menschen meistens Sonderlinge sind, oder daß, wie das Sprichwort sagt, jeder große Geist ein Stück von einem Narren mit sich spazieren führt, so wird man sie doch immer hochhalten und die Zeitalter, die keine genialen Menschen hervorbrachten, recht gering einschätzen. Große Geister haben den Völkern, aus deren Mitte sie eines Tages auftauchten, stets viel Ehre und Ruhm eingebracht. Früher oder später errichtet man ihnen Denkmäler und zählt sie zu den Wohltätern der Menschheit. Bei aller Achtung vor dem erlauchten Zeugen, auf den Sie sich berufen, bin ich doch der Meinung, daß die Lüge – mag sie auch für den Augenblick recht gute Dienste leisten – auf die Dauer unbedingt Schaden anrichtet, während umgekehrt die Wahrheit schließlich immer Nutzen bringen muß, auch wenn sie für den Augenblick unzweckmäßig erscheint. Fast möchte ich daraus den Schluß ziehen, daß ein Mann, der kraft seines Genies ein trügerisches Idol der großen Masse zertrümmert oder eine neue Wahrheit in Umlauf bringt, immer und unter allen Umständen unsere Achtung verdient, auch wenn er, was häufig geschieht, von dem voreiligen Urteil seiner Zeitgenossen und den jeweils gültigen Gesetzen zum Verbrecher gestempelt wird. Es gibt eben zweierlei Gesetze: Die einen enthalten unbedingt und allgemein gültige Wahrheiten, die anderen dagegen sind mehr oder minder willkürlich und verdanken ihre Gesetzeskraft dem Wahne der Zeit und den augenblicklichen Bedürfnissen. Wer sich gegen diese willkürlichen Satzungen vergeht, wird nur vorübergehend in Acht und Bann getan. Das Schandmal, das man ihm aufdrücken wollte, bleibt an seinen Richtern und dem Volke haften und kennzeichnet sie für ewige Zeiten. Wer von beiden steht heute ehrlos da, Sokrates oder der Richter, auf dessen Geheiß er den Schierlingsbecher trank?

Er: Da hat er aber viel davon gehabt! Deswegen ist er dort verurteilt und vom Leben zum Tode befördert worden! Deswegen war er doch ein störrischer Staatsbürger und hat durch seine verflucht geringe Achtung vor den nun einmal bestehenden Satzungen manchen Bösewicht dazu verleitet, auch die ewig gültigen Gesetze zu übertreten! Deswegen war er doch ein tollkühner und querköpfiger Sonderling! Sie haben ja eben selber zugegeben, daß ein Genie und ein Narr einiges gemeinsam haben!

Ich: Sie müssen mich auch recht verstehen, bester Freund! Hätte eine Gesellschaft keine willkürlichen Satzungen, so käme sie auch niemals in die Lage, einen genialen Mann zu verfolgen. Ich habe nicht gesagt, daß ein Genie notwendigerweise schlecht und ein Bösewicht ein Genie sein muß. Ein Dummkopf wird weit öfter schlecht sein als ein gescheiter Mann. Doch angenommen, ein Genie wäre für gewöhnlich ungenießbar, schwer zugänglich, schroff und unausstehlich – ein arger Bösewicht, was würden Sie daraus schließen?

Er: Daß man ihn ersäufen soll!

Ich: Langsam, langsam, bester Freund! Sagen Sie mir eines! Doch Ihren Oheim will ich nicht als Beispiel wählen. Wenn er auch unzugänglich, grob, hartherzig, ein Geizhals und ein schlechter Vater, Gatte und Oheim ist, so gilt es doch noch nicht als ausgemacht, daß er wirklich ein Genie ist, in seinem Fach unvergänglich Neues geleistet hat und daß von seinem Walten noch in zehn Jahren die Rede sein wird. Aber Racine? Der war doch sicherlich ein Genie und galt dabei für keinen allzu trefflichen Menschen. Oder Voltaire?Voltaire – eigentlich François Marie Arouet, franz. Schriftsteller und Philosoph, bekämpfte die Mißstände des Absolutismus und die anmaßende Catholica, † 1778

Er: Drängen Sie mich nicht! Denn mich bringt niemand so leicht von meiner Meinung ab!

Ich: Was scheint Ihnen besser? Daß Racine ein achtsamer Bürger gewesen wäre, verwachsen mit seinem Laden wie Briasson, mit seiner Elle wie Barbier, ein Biedermann, der seine Frau regelmäßig einmal im Jahr schwängert, ein trefflicher Gatte, guter Vater, Oheim und Nachbar, ein ehrlicher Kaufmann – aber auch nichts sonst? Oder daß er ein Schurke, Intrigant, Streber, Neider und Bösewicht gewesen wäre, gleichzeitig aber auch Verfasser der Andromache, des Britannicus, der Iphigenie, Phädra und Athalia?

Er: Mir scheint wahrlich, daß es für ihn besser gewesen wäre, ein ehrsamer Bürger zu sein.

Ich: In Ihren Worten liegt vielleicht mehr Wahrheit, als Sie es augenblicklich ahnen.

Er: Aha! Da sieht man's wieder! Wenn wir was Gescheites sagen, so soll es immer nur ein reiner Zufall sein. Denn man sagt uns nach, daß wir reden, ohne viel zu überlegen, einfach wie uns der Schnabel gewachsen ist. Ihr allein haltet Euch für die Neunmalweisen, die alles, was sie sagen, sich auch gründlich überlegen. Aber ich, Herr Philosoph, weiß trotzdem genau, was ich sage. Ich weiß es ebenso genau wie Sie.

Ich: Nun, dann sagen Sie mir doch, warum es für ihn besser gewesen wäre?

Er: Weil alle die schönen Sachen, die er verfaßt hat, ihm keine zwanzigtausend Franken eingetragen haben. Und weil er, wenn er ein tüchtiger Seidenhändler in der Rue St.-Denis oder St.-Honoré gewesen wäre, Reichtümer scheffelweise eingeheimst und dabei Freuden empfunden hätte, die ihm als Dichter entgangen sind. Vielleicht hätte er mir armem Hanswurst dann von Zeit zu Zeit einen Dukaten zugesteckt, damit ich ihm eine spaßhafte Komödie vorspiele oder ein junges Mädchen verschaffe, das ihn das öde Einerlei seines Ehebetts vergessen läßt. Herrgott! Mit was für erlesenen Leckerbissen hätte ich mir dann bei ihm meinen Wanst vollgeschlagen! Wir hätten um schwindelerregende Summen Hasard gespielt, herrliche Weine, fabelhafte Schnäpse, einen ausgezeichneten Kaffee getrunken, Ausflüge aufs Land gemacht! Nun? Hab' ich nicht gewußt, was ich gesagt habe? Sie lachen! Aber lassen Sie mich doch ausreden. Es wäre also nicht nur für ihn sondern auch für seine Umgebung besser gewesen, er hätte das Dichten aufgesteckt.

Ich: Ich bin ganz Ihrer Meinung – vorausgesetzt natürlich, daß er nicht von seinem auf redliche Weise erworbenen Reichtum einen anstößigen Gebrauch gemacht, alle diese Spieler und Schmarotzer, Schmeichler, Tagediebe und Lumpen zum Teufel gejagt hätte und vor allem diesen Erzkuppler, der die Ehemänner vom Überdruß des gewohnten ehelichen Verkehrs durch reizvolle Abwechslung heilen will, von seinem Hausburschen hätte totprügeln lassen!

Er: Totprügeln! Ermorden, mein Herr! Das geht nicht so einfach in einer Stadt, wo die Polizei auf Ruhe und Ordnung hält. Zudem ist es ja ein ganz ehrsamer Beruf. Viele Leute, selbst solche in Amt und Würden, befassen sich mit der Kuppelei. Und was, in Teufels Namen, soll man denn mit seinem Gelde anfangen, wenn nicht das, gut zu essen und zu trinken, nette Leute um sich zu haben, sich an schönen Weibern zu ergötzen und alle erdenklichen Freuden und Vergnügungen zu genießen. Ich bin lieber ein Bettler als ein reicher Mann, der mit all seinem Gelde nichts Rechtes anzufangen weiß. Doch um auf Racine zurückzukommen – dieser Mann hat doch wirklich nur für Menschen, die er nicht mehr gekannt hat, und für eine Zeit, die nicht die seine war, gelebt!

Ich: Gewiß! Aber wird das nicht dadurch aufgewogen, daß er noch in tausend Jahren genau wie heute seinem Publikum Tränen entlocken und bei allen Völkern der Erde bewundert werden wird? Daß er verhärtete Seelen erweichen und sie wieder zu mitfühlenden, menschlichen Kreaturen machen wird? Man wird fragen, wer er war, wo er gelebt hat, und wird Frankreich um ihn beneiden. Mag er auch einigen Leuten, die längst vermodert und uns völlig gleichgültig sind, unrecht getan haben – uns berühren weder seine schlechten Eigenschaften noch seine Fehler im geringsten. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn ihn die Natur außer mit der genialen Begabung noch mit der Ehrsamkeit eines biederen Mannes ausgezeichnet hätte, aber er wuchs eben wie ein Baum empor, der, um sich Raum zu schaffen, einige Nachbarbäume zum Absterben bringt und die Pflanzen, die zu seinen Füßen aufkeimen, erstickt. Dafür war sein Wipfel den Wolken nahe, und breiteten sich seine Äste weithin als barmherzige Schattenspender für alle, die da kamen, kommen und noch kommen werden, um an seinem ehrfurchtgebietenden Stamme zu ruhen. Die Früchte von ganz köstlichem Geschmack, die er hervorgebracht hat, sind unvergänglich, denn sie erneuern sich immer und immer wieder. – Es wäre freilich zu wünschen, daß Voltaire die Sanftheit eines Duclos, die Treuherzigkeit eines Abbé Trublet und die Offenheit eines Abbé Olivet besäße. Aber da das nun einmal nicht sein kann, so müssen wir uns anders zu der Sache stellen! Erheben wir uns über Raum und Zeit und versuchen wir über alle behindernden Schleier hinweg künftige Jahrhunderte, ferne Regionen und kommende Völker zu erspähen. Überlegen wir, was der Menschheit not tut. Und sind wir dazu nicht fähig, weil wir an die vergänglichen Eitelkeiten unserer Zeit gebannt sind, so sollen wir es zumindest der Natur nicht nachtragen, wenn sie weiser war als wir. Schütten Sie Greuze einen Krug kaltes Wasser über den Kopf! Sein eitler Hochmut mag sich dadurch verflüchtigen, aber vielleicht auch sein Talent. Wickeln Sie Voltaire in ein so dickes Fell, daß er gänzlich unempfindlich gegen jede Kritik wird. Wissen Sie, was dann geschehen wird? Er wird künftig auch gänzlich unfähig sein, sich in die Seele Meropes hineinzudenken. Er wird Sie nicht mehr rühren und erweichen können!

Er: Aber wenn die Natur ebenso allmächtig wie weise ist, warum hat sie denn diese Männer nur sehr weise und genial und nicht auch gut und trefflich werden lassen?

Ich: Ja merken Sie denn nicht, daß Sie mit solchen Einwendungen die ganze Weltordnung über den Haufen werfen. Wenn auf Erden alles zum besten bestellt und vortrefflich wäre, so gäbe es überhaupt nichts Vortreffliches.

Er: Da haben Sie recht. Die Hauptsache ist, daß wir beide leben und uns dessen bewußt sind. Im übrigen mag alles gehen, wie es geht. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist's gerade dann auf der Erde zum besten bestellt, wenn ich auf der Welt bin. Denn hol' der Henker die beste aller Welten,die beste aller Welten – These von Leibniz, von Voltaire in »Candide« lächerlich gemacht wenn ich nichts mehr davon habe. Ich bin lieber der blödeste Schwätzer und lebendig als ein Biedermann und ein Fraß der Würmer:

Ich: Es gibt niemand der nicht ebenso denkt wie Sie. Und doch hadert jeder mit der bestehenden Weltordnung, ohne zu bemerken, daß er damit auch seine eigene Existenz verwirft!

Er: Das ist wahr.

Ich: Nehmen wir also die Dinge, wie sie sind. Überlegen wir, ob das, was wir für sie anlegen, auch immer ihrem Werte für uns entspricht und kümmern wir uns im übrigen nicht um Dinge, die wir nicht verstehen und daher auch nicht loben oder tadeln können. Vielleicht sind sie weder gut noch schlecht, sondern einfach notwendig, wie viele ehrenwerte Leute annehmen.

Er: Was Sie mir da vortragen, ist mir größtenteils schleierhaft. Offenbar ist's Philosophie. Da muß ich Sie schon aufmerksam machen, daß ich mich mit derlei Phantastereien nicht abgebe. Ich weiß bloß das eine, daß ich aus meiner Haut heraus und in eine andre hinein möchte – und wenn es auch zufällig die eines Genies, eines großen Geisteslichts wäre! Es hätte keinen Sinn, Ihnen das zu verschweigen. Ich merke es an verschiedenen Anzeichen. Wenn man einen von diesen großen Geistern der Menschheit lobt und preist, dann packt mich heimlich immer ein fürchterlicher Neid und Ärger. Wenn ich irgendeinen Zug aus ihrem Leben erfahre, der sie herabsetzt und kein günstiges Licht auf sie wirft, kann ich mich vor Freude kaum halten. Denn dann merke ich wieder, daß sie auch nur Menschen sind, wie ich einer bin, und meine Schwächen und Fehler kommen mir dann viel erträglicher vor. Oft sage ich mir: Du hättest gewiß nie den MahometMahomet – »Mahomet, der Lügenprophet«, Trauerspiel von Voltäire, von Goethe ins Deutsche übersetzt oder das Loblied auf Maupeoude Maupeau – franz. Justizminister unter Ludwig XV., er strebte die Trennung der Justiz von der Politik und schaffte die Erblichkeit der Richterstühle ab, dies wurde von Voltaire hoch gepriesen, † 1792 schaffen können. So komme ich aus dem Ärger über meine Talentlosigkeit nie heraus. Ja! Ich bin ein ganz gewöhnlicher Alltagsmensch und ärgere mich darüber. Nie hörte ich die Ouvertüre zum ›Galanten Indien‹ – nie die Arie: ›Ihr tiefen Schlünde Tenars, Nacht, ewige Nacht‹, ohne mir geknickt und schmerzerfüllt zu sagen: So etwas wirst Du nie zusammenbringen. Ich bin also auch auf meinen Onkel neidisch. Wenn sich bei seinem Tode ein paar brauchbare Klavierstücke im Nachlaß finden sollten, so werde ich es mir keinen Augenblick überlegen, ein wenig Tausendkünstler zu spielen und bei Beibehaltung meines Ichs er zu werden.

Ich: Wenn Sie sonst keine Sorgen haben! Das lohnt sich wirklich nicht der Mühe.

Er: Es gibt so Zeiten, wo man den Kopf hängen läßt. Aber sie gehen wieder vorüber.

Dann begann er die Ouvertüre des ›Galanten Indiens‹ und die Arie ›Ihr tiefen Schlünde‹; vor sich hin zu trällern und fuhr schließlich fort:

Eine innere Stimme sagt mir: Rameau! Für dich wäre es nicht von Übel, wenn du diese beiden Sachen da gemacht hättest! Denn dann könntest du sicherlich auch zwei weitere zuwege bringen – schließlich hättest du eine ganze Anzahl beisammen und man würde dich überall spielen und singen. Wie ein Hahn am Mist könntest du herumstolzieren. Da wärst von dir so eingenommen, daß es sogar dich selbst überraschen würde, wenn du nicht so genau wüßtest, daß du auch die entsprechenden Verdienste zu verzeichnen hast. Die Leute würden mit den Fingern auf dich zeigen und sich zuraunen: Das ist der große Komponist, der die reizenden Gavotten komponiert hat! –

(Als er nun die Gavotten vor sich hin zu summen begann, stahlen sich Tränen der Rührung in seine Augen. Glückstrahlend rieb er sich die Hände und fuhr dann in zitternder Erregung fort):

Da hättest du auch ein prächtiges Haus
(um dessen Ausmaße recht ersichtlich zu machen, breitete er die Arme aus),
ein gutes Bett
(voll Behagen streckte er alle viere von sich),
herrliche Weine
(er spitzte den Mund und schnalzte mit der Zunge),
eine eigene Leibequipage
(er hob den Fuß, wie um einzusteigen),
bildhübsche Weiber
(seine Hände fuhren in der Luft herum, wie wenn er schon ihre Brüste betastete, und sein Blick bekam den Ausdruck eines lüsternen Faunes),
hundert Lumpenhunde kämen alle Tage, um Dir Weihrauch zu streuen

(er tat, als wenn er sie alle schon um sich sehen würde, Palissot,Palissot – Charles Palissot de Montenoy, franz. Schriftsteller, Hauptwerk »Die Philosophen«, eine skurrile Komödie Poincinet, Fréron senior und junior, La Porte und wie sie alle noch heißen mögen, hörte sie an, blähte sich stolz wie ein Pfau, warf mit Lob und Tadel freigebig um sich, lächelte sie an, um sie im nächsten Augenblick davonzujagen, spielte mit ihnen wie eine Katze mit Mäusen und fuhr schließlich fort:)

Morgen würde man dir erzählen, was für ein Genie du bist, du könntest es auch in den ›Trois siécles‹; schwarz auf weiß gedruckt lesen, und abends wärest du dann wirklich steif und fest der Meinung, ein seltener Kerl zu sein, und würdest dich als der große Rameau von dem tausendfältigen Beifallsgemurmel, das in deinen Ohren widerhallen würde, süß in den Schlaf lullen lassen. Doch selbst im Schlafe noch trüge dein Antlitz den Ausdruck stolzer Selbstzufriedenheit, dein Brustkasten respektablen Umfanges würde sich in edlem Gleichmaß heben und senken und schließlich würdest du – schnarchen wie ein wirklich großer Mann! –

Nach diesen Worten lehnte er sich zurück, dehnte sich behaglich, schloß die Augen und schickte sich zu schlafen an, genau so wie er es eben beschrieben hatte. Doch er kostete die Freuden eines solchen Schlummers nicht völlig aus, sondern erwachte nach einer Weile wieder, dehnte und reckte sich, gähnte, rieb sieh die Augen und schien die öden Schmeichler noch um sich zu suchen.


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