Denis Diderot
Herrn Rameaus Neffe
Denis Diderot

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich: Sie sind also der Meinung, daß man einen Glückspilz auch an seinem Schlafe erkennt?

Er: Und ob ich das glaube! Wenn ich armer Schlucker abends zu meiner Stube unterm Dach hinaufklettere und auf das ächzende Gestell, das meine Bettstatt vorstellen soll, krieche, dann muß ich mich unter meiner Decke so zusammenkauern, daß meine Brust ganz zusammengepreßt ist und ich kaum atmen kann: Wenn man da überhaupt etwas zu hören bekommt, so ist das höchstens ein schwaches, winselndes Pfeifen, während ein Finanzmann sein Schlafzimmer erdröhnen läßt, daß die ganze Straße davon nachhallt. Aber daß ich nicht anständig schnarchen und schlafen kann, das ist ja heute gar nicht der Grund meiner üblen Laune.

Ich: Trotzdem tun Sie mir recht leid.

Er: Wenn Sie wüßten, was mir widerfahren ist, würden Sie mich noch mehr bedauern.

Ich: Was ist denn geschehen?

Er: Sie haben stets ein wenig Anteil an mir genommen. Das gebe ich gern zu. Wenn es auch nur deshalb war, weil Sie mit mir armen Teufel – im Grunde verachten Sie mich ja – Ihren Spaß hatten.

Ich: Das ist wahr.

Er: Nun, ich will es Ihnen doch erzählen.

Bevor er begann, stieß er einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit beiden Händen über die Stirne. Nachdem sich seine Züge wieder geglättet hatten, begann er:

»Sie wissen, daß ich ein Ignorant, Dummkopf, Narr, Frechdachs, Faulpelz, Strolch, Gauner, Vielfraß .... »

Ich: Welch berückendes Selbstlob!

Er: Aber es ist von A bis Z wahr und unumstößlich! Da haben Sie mir gar nichts dreinzureden, wenn ich bitten darf! Niemand kennt mich besser als ich selbst. Ich hätte ruhig noch stärkere Ausdrücke wählen können.

Ich: Mir soll es recht sein. Ich will Sie ja nicht ärgern.

Er: Nun gut! Ich lebte mit Leuten zusammen, die mich gerade wegen dieser Eigenschaften, die ich alle mit unnachahmlicher Grazie in mir vereinige, liebgewonnen hatten.

Ich: Das ist doch sonderbar. Gibt es wirklich Leute, die derartige Eigenschaften an anderen nicht verabscheuen? Ich meinte bisher, daß man bloß sich selbst solche Fehler verzeiht – oder mindestens sich nicht eingesteht.

Er: Sich nicht eingestehen? Ist das überhaupt möglich? Sie können sicher sein, daß sich Palissot, wenn er allein ist und ohne Bedenken Farbe bekennen kann, noch ganz andere Sachen sagt, ebenso daß er und sein Spießgeselle, wenn sie unter vier Augen miteinander reden, einander ganz offen zugeben, daß sie zwei ganz außergewöhnliche Lumpenhunde sind. An anderen soll man solche Eigenschaften verabscheuen? Da waren doch die Leute, mit denen ich zusammen lebte, ganz andere Menschen, viel gerechter und charaktervoller, was mir natürlich sehr zustatten kam. Ich war wie ein Kind im Hause. Man tat mir schön, war betrübt, wenn ich gelegentlich fortblieb, ich war ihr kleiner Rameau, ihr reizender Rameau, ihr närrischer Rameau, Rameau der Frechdachs, Faulpelz, Vielfraß, der dumme Rameau, der spaßige Rameau, Rameau das Rindvieh. Jeder von diesen Kosenamen ward von einem Lächeln, einer Liebkosung begleitet oder von einem gönnerhaften Schlag auf die Achsel, einem leichten Backenstreich oder einem Fußtritt. War man gerade bei Tisch, so warf man mir einen guten Bissen auf meinen Teller, war's nach dem Speisen, so nahm man sich mir gegenüber irgendeine besondere Freiheit heraus, ohne daß ich auch nur die Miene verzog. Denn ich bin kein Spielverderber. Man kann mit mir und vor mir anstellen, was man will, ich stoße mich nicht daran. Wieviel Geschenke erhielt ich doch damals! Sie regneten förmlich auf mich herab. Ich konnte mich vor ihnen kaum retten. Und heute? Ich bin wirklich ein dummes Aas. Alles, aber auch alles habe ich mir verscherzt, nur weil ich so hirnverbrannt war, einmal, ein einziges Mal, wie ein vernünftiger Mensch zu handeln. Nie wieder werde ich es tun.

Ich: Was haben Sie getan?

Er: Eine noch nie dagewesene unfaßliche und unverzeihliche Dummheit.

Ich: Was denn für eine Dummheit?

Er: Rameau! Rameau! Wer hätte das jemals von dir gedacht, daß du so dumm sein könntest, Geschmack, Geist und Vernunft zu zeigen! Wenn's für einen gewöhnlichen Menschen auch nicht ausgereicht hätte, dir, Freund Rameau, wird es eine gute Lehre sein, so zu bleiben, wie Gott dich geschaffen hat und deine Gönner dich haben wollten! Man nahm dich bei der Schulter, führte dich zur Tür und schrie dich an: »Haderlump! Schau, daß du hinauskommst! Laß dich nie wieder blicken! So ein Kerl will gar den Klugen und Verständigen spielen! Hinaus! Verstand und Erfahrung haben wir selbst genug! Dazu brauchen wir nicht dich!« Du schlichst dich wie ein begossener Pudel hinweg und bissest verärgert an deinen Fingern herum. Deine Zunge hättest du dir abbeißen sollen, aber nicht erst jetzt, sondern vorher. Weil dir das nicht eingefallen ist, liegst du nun auf der Straße, ohne festen Boden unter den Füßen und ohne Dach über deinem Kopf. Früher flogen dir nur so die gebratenen Tauben ins Maul, jetzt wirst du wieder von Abfällen dein Leben fristen müssen. Früher hattest du ein prächtiges Zimmer, jetzt kannst du froh sein, wenn man dich wieder in deine Dachkammer läßt. Du hattest ein molliges Bett, nun wartet deiner eine Nacht im Stall auf der Streu zwischen dem Kutscher des Herrn von Soubise und Freund Robé. Statt wie früher einen ruhigen und gesegneten Schlaf zu genießen, wirst du mit dem einen Ohr das Wiehern und Stampfen der Pferde hören und mit dem andern das unendlich quälendere Skandieren abgehackter, trockener, barbarischer Verse. Du armer, übelberatener, von tausend Teufeln gepeinigter Rameau!

Ich: Gibt es denn gar keine Möglichkeit, zu den Leuten zurückzukehren? Ist Ihr Vorgehen gar so unverzeihlich? An Ihrer Stelle ginge ich wieder hin. Man vermißt Sie dort zweifellos ärger, als Sie glauben.

Er: Oh! Wenn ich alles so sicher wüßte wie das. Sicher langweilen sie sich ganz unmenschlich, seit sie mich nicht mehr haben und ihnen niemand einen Spaß vormacht!

Ich: Dann ginge ich doch wieder zu ihnen hin. Ich würde ihnen nicht Zeit lassen, sich damit abzufinden, daß sie künftig ohne Sie auskommen müssen. Sie könnten ja in der Zwischenzeit irgendeinen andern passenden Zeitvertreib ausfindig machen. Wer weiß, was sich unterdessen alles ereignen kann!

Er: Das ist's nicht, was ich fürchte. Denn dazu wird es ja niemals kommen.

Ich: Sie können ein noch so fabelhafter Kerl sein, unersetzlich sind Sie nicht.

Er: Das warte ich ruhig ab.

Ich: Mag sein, daß Sie recht haben. Aber an Ihrer Stelle ginge ich doch hin und würde mich ihnen mit ganz der gleichen Leichenbittermiene nahen, mit der Sie jetzt vor mir stehen, mit diesen verstörten, starrblickenden Augen, in diesem zerzausten Gewande, mit diesen zerrauften Haaren. Ich würde mich Ihrer Gnaden zu Füßen werfen, mein Antlitz zur Erde neigen und ohne aufzusehen mit leiser, gebrochener Stimme sprechen: »Verzeihen Sie mir, Gnädigste, vergeben Sie mir! Ich bin ein ganz gemeiner, infamer Kerl. Verzeihen Sie mir jenen unglückseligen Augenblick. Sie kennen mich ja genug, um zu wissen, daß mir alles eher liegt, als vernünftig zu denken. Ich verspreche Ihnen, daß ich es nie wieder tun werde.«

Es war wohl drollig zu sehen, wie er sich, während ich sprach, bemühte, die zu meiner Rede passenden Bewegungen zu machen. Er warf sich nieder, neigte sein Gesicht zur Erde. wölbte die Hände, wie um die Spitze eines Frauenschuhes ehrfürchtig zu streicheln, weinte, schluchzte und flehte: Ja, meine kleine Königin! Ich verspreche es. Niemals, niemals mehr werde ich es tun! Dann sprang er plötzlich auf und sagte in ernstem, nachdenklichem Ton:

Ja, Sie haben recht, das wäre wohl das Beste. Sie hat ja ein gutes Herz. Herr Vieillard behauptet es und auch mir kommt es so vor. Soll ich mich also wirklich vor diesem putzsüchtigen Affenweibchen erniedrigen, um Gnade flehen zu den Füßen dieser kleinen Schmierenkomödiantin, die vom unerbittlichen Parterre jedesmal ausgezischt wird! Ich, Rameau, Sohn des Apothekers von Dijon, eines rechtschaffenen, ehrsamen Mannes, der vor niemand jemals sein Knie gebeugt hat! Ich, Rameau, Neffe jenes Mannes, den man überall den großen Rameau nennt, und den man, seit ihn Carmontel bucklig, mit am Rücken unter den Rockschößen gekreuzten Händen daherschleichend gezeichnet hat, in strammer, kerzengerader Haltung mit frei herabhängenden Armen im Palais Royal umherspazieren sehen kann. Ich, Komponist von Klavierstücken, die zwar heute niemand spielt, die aber vielleicht die einzigen sein werden, die eine kunstverständigere Nachwelt spielen wird! Ich soll wieder zu ihnen hingehen?... Sie müssen begreifen, mein Herr, daß das einfach ein Ding, der Unmöglichkeit ist.

Er stellte sich in Positur, legte pathetisch seine rechte Hand auf sein Herz und fuhr fort:

Da drinnen sträubt sich etwas dagegen und eine innere Stimme sagt mir: Nein, Rameau, das wirst du nicht tun! Offenbar hat jeder Mensch und mag er noch so heruntergekommen sein, ein gewisses unausrottbares Gefühl dafür, wie weit er gehen kann, ohne seine Ehre zu verletzen. Ganz plötzlich, ohne mein Zutun, flammt es empor, vielleicht wegen ein Paar zerrissener Stiefel oder ähnlicher Lappalien. An anderen Tagen wieder kann ich so gemein sein, als ich will, ohne daß es sich rührt. Da wäre ich sogar imstande, für einen einzigen Heller der kleinen Hus den Hintern zu küssen.

Ich: Ah! Das glaube ich, lieber Freund! Sie ist auch gar zu niedlich und mollig! Zu einer solchen Handlung würde sich auch ein feinerer Herr als Sie mitunter herablassen!

Er: Sie müssen mich auch recht verstehen. Man kann nämlich einen Hintern auf zweierlei Arten küssen. Im eigentlichen und im figürlichen Sinn. Fragen Sie doch den dicken Bergier! Der küßt der Frau von Marque den Hintern im eigentlichen wie im figürlichen Sinn. Ich muß schon sagen! Der eigentliche wie der figürliche würden mir da in gleicher Weise mißfallen.

Ich: Nun, wenn Ihnen der Ausweg, zu dem ich Ihnen geraten habe, nicht paßt, müssen Sie sich eben damit abfinden, als Bettler Ihr Leben zu fristen!

Er: Es ist verdammt schwer, betteln zu müssen, wo es so viele reiche Tröpfe gibt, auf deren Kosten man leben könnte. Und dann diese ewige Unzufriedenheit mit sich selbst, die einen peinigt! Sie ist kaum zu ertragen.

Ich: Ich dachte, derartige Regungen seien Ihnen ganz unbekannt.

Er: Und ob ich sie kenne! Wie oft habe ich mir gesagt: Wie, Rameau? Mindestens zehntausend erlesene Tafeln gibt's in Paris, jede zu fünfzehn oder zwanzig, Gedecke, und von all diesen Gedecken ist kein einziges für dich! Goldgespickte Börsen gibt's, die nach rechts und links wahllos einen Sprühregen klingender Münzen ausstreuen, und von all den Dukaten fällt nicht einer für dich ab! Eine Unzahl öder, geistloser Schwätzer, Hunderte von nichtssagenden, reizlosen Gecken, Tausende von charakterlosen Intriganten sind anständig gekleidet – du allein mußt in Lumpen und barfuß herumgehen? Wie weit wirst du deine Blödigkeit noch treiben? Kannst du denn nicht schmeicheln, lügen, betrügen, wenn's nottut, unter Umständen auch einen Meineid schwören? Kannst du nicht auf allen vieren wie ein Tier um deine Gönner herumscharwenzeln, der gnädigen Frau schöntun, ihren Heimlichkeiten Vorschub leisten und gleichzeitig für den gnädigen Herrn ein Liebesbriefchen bestellen? Oder diesen jungen Herrn da ein wenig aufmuntern, sich dem Fräulein zu erklären und sie überreden, ihm Gehör zu schenken? Kannst du nicht einer von unseren Bürgerstöchtern begreiflich machen, daß sie sich nicht anzuziehen weiß, und daß sie, um ihre Reize voll zur Geltung zu bringen, unbedingt ein Paar schöne Ohrringe, ein wenig Schminke, Spitzen und ein Kleid nach polnischer Art haben muß? Daß diese Füßchen nicht dazu da sind, um auf der Straße zu gehen? Daß du einen jungen Mann kennst, schön und reich, der ein dick mit Gold verziertes Prunkgewand, eine prächtige Equipage und sechs riesige Lakaien besitzt, und daß du weißt, daß er, seit er sie im Vorübergehen sah, ganz vernarrt in sie ist, seit jenem Tage weder ißt noch trinkt, keinen Schlaf findet und, wenn das so weiter geht, kläglich zugrunde gehen wird? –

»Aber was wird Papa dazu sagen?

»Nun, nun, Ihr Papa wird eben anfangs ein wenig böse sein.«

»Und Mama? Sie hat mir doch so ans Herz gelegt, ein sittsames Mädchen zu bleiben! Sie hat mir gesagt, daß nichts in der Welt über die Ehre eines Mädchens geht!«

»Lauter faule Redensarten, die gar nichts zu bedeuten haben!«

»Und mein Beichtvater?«

»Sie brauchen ihn ja nicht mehr aufzusuchen. Aber wenn Sie sich's schon einmal in den Kopf gesetzt haben, ihm alles, was Sie treiben, zu erzählen, so bringen Sie ihm eben einige Pfund Zucker und Kaffee mit.«

»Er ist so furchtbar streng. Letztesmal hat er mir schon wegen des Gassenhauers ›Komm in mein Kämmerlein‹; die Absolution verweigert.«

»Weil Sie ihm nichts mitgebracht haben. Aber wenn er Sie diesmal in dem Spitzenkleid sehen wird ...«

»Ich bekomme also wirklich Spitzen?«

»Natürlich, alle Arten von Spitzen, die Sie wünschen ... mit blitzenden Brillantohrringen ...«

»Ich bekomme also auch Brillantohrringe?«

»Natürlich!«

»Solche wie sie die Marquise trägt, die manchmal in unserem Laden Handschuhe kauft?«

»Ganz die gleichen ... in einer schönen Equipage mit Apfelschimmeln vorn daran, zwei Riesenlakaien, einem kleinen Neger und ganz vorn einen Läufer; wenn Sie ein wenig geschminkt sind, ein Schönheitspflästerchen haben und eine lange Schleppe tragen ...«

»Zum Ball?«

»Zum Ball, in die Oper, ins Schauspielhaus wohin Sie wollen!« –

Schon hüpft ihr das Herz vor Freude. Unterdessen drehst und wendest du ein Papier in deinen Händen.

»Was haben Sie da?«

»Ach nichts, nichts von Bedeutung.«

»Ich glaub's nicht!«

»Nur ein Briefchen.«

»An wen denn?«

»An Sie, falls Sie Interesse dafür haben ... »

»Ich, Interesse? Und wie! Lassen Sie doch sehen!«

Sie liest.

»Ein Rendezvous? Nein, das ist ganz ausgeschlossen!«

»Wenn Sie in die Kirche gehen ...«

»Mama begleitet mich immer. Aber wenn er morgens recht zeitig herkäme – ich stehe als erste auf und bin im Laden, ehe die anderen aufstehen.«

Er kommt, findet Anklang und eines schönen Tages verschwindet die Kleine in der Dämmerstunde auf Nimmerwiedersehen und mir zahlt man zweitausend Taler auf die Hand ... Was, du besitzest ein solches Talent und leidest dabei Hunger? Ja, schämst du dich denn gar nicht, du Unglücksmensch? Da fällt mir eben jene Lumpenbande ein, der ich eines Tages begegnete. Keiner von ihnen konnte es auch nur im entferntesten mit mir aufnehmen. Und doch strotzten sie von Reichtum, waren in prächtigen Samt gekleidet, stützten sich auf Stöcke mit Schnabelkrücken und goldenem Knauf und trugen an ihren feisten Fingern Kameen mit dem Kopf des Plato oder Aristoteles, während ich in einem schäbigen Wollmantel daherkam. Und wer waren sie im Grunde? Ganz gewöhnliche Tintenkulis, die als große Herren einherstolzierten. Wie weit konnte ich es erst bringen, ich, der ihnen doch in jeder Weise überlegen war! Als ich mir das überlegte, fühlte ich neuen Mut, meine Niedergeschlagenheit verschwand und ich ward wieder zuversichtlich und tatendurstig. Aber solche Stimmungen halten bei mir nicht an, ich habe gar nichts von ihnen, denn bis zum heutigen Tag, habe ich mich noch immer nicht dazu aufraffen können, diesen vorgezeichneten Weg zu gehen. Doch lassen wir dieses Thema! Sie wissen ja nun Bescheid, worüber ich mir in einsamen Stunden den Kopf zerbreche. Im Grunde ist's immer der gleiche Gedanke, wenn man ihn auch von verschiedenen Seiten anpacken kann. Jedenfalls werden Sie daraus entnommen haben, daß mir das beklemmende Gefühl der Unzufriedenheit mit mir selbst nicht fremd ist, ebensowenig jene marternde Unruhe, die der Erkenntnis entspringt, daß man die vom Himmel verliehenen Anlagen nutz- und zwecklos verkümmern läßt. Derartige Gewissensbisse sind oft recht qualvoll. Manchmal würde man vorziehen, überhaupt nicht auf der Weit zu sein. –

Gespannt hörte ich ihm zu. Während er mir die Verführung des jungen Mädchens durch den Kuppler vormimte, stritten zwei verschiedene Empfindungen in mir um die Oberhand. Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder mich voll Entrüstung abwenden. Diese Zwiespältigkeit machte mich rasend, das Blut stieg mir in den Kopf und trieb mich auf. Aber wenn ich in zorniger Aufwallung ihm ins Wort fallen wollte, löste sich jedesmal meine Wut in ein schallendes Lachen. Soviel Scharfsinn und Gemeinheit, ein solches Kunterbunt kluger und verrückter Einfälle, widernatürlicher Empfindungen, all die Anzeichen einer unverbesserlichen Verworfenheit, die er mit ungewöhnlicher Offenheit zu erkennen gab, setzten mich in maßlose Verwirrung. Als er wahrnahm, welcher Kampf sich in meinem Innern abspielte, fragte er mich:

»Was fehlt Ihnen?«

Ich: Nichts!

Er: Sie sind ja ganz verstört!

Ich: Das bin ich auch.

Er: Nun, was raten Sie mir jetzt?

Ich: Reden Sie um Gottes willen von etwas anderem! Sie Unglücksmensch, Sie sind ja ein wahrer Ausbund von Niedertracht und Gemeinheit!

Er: Ich leugne es nicht! Aber das braucht Sie doch nicht so aufzuregen. Ich habe Ihnen diese Geschichte nicht etwa deshalb erzählt, um Sie anzupumpen. Bei jenen Leuten konnte ich mir ja einiges ersparen. Mir fehlte dort nichts, aber schon gar nichts und obendrein bekam ich noch ein nettes Taschengeld.

Wieder schlug er sich mit der geballten Faust an die Stirne, biß sich die Lippen blutig und blickte mit stieren, verstörten Augen zur Decke empor. Doch dann sprach er:

»Damit hat's nun einmal ein Ende. Etwas habe ich mir ja auf die Seite gelegt. Die Hauptsache ist, daß die Zeit vergeht. Das ist soviel wie gewonnenes Geld.«

Ich: Verlorenes meinen Sie wohl!

Er: Nein, nein, gewonnenes! Man wird mit jeder Stunde reicher. Ein Tag weniger oder ein Taler mehr ist ganz dasselbe. Die Hauptsache ist, daß man jeden Abend einen leichten, angenehmen und reichlichen Stuhlgang hat. O stereas pretiosum! Das ist der Zweck des Lebens bei arm und reich, hoch und niedrig. Und außerdem sind ja im letzten Augenblick alle gleich reich: Samuel Bernard, der als Dieb, Räuber und Bankerotteur groß war und siebenundzwanzig Millionen in Gold hinterließ, wie Rameau, der nichts hinterlassen und um dessen Gebeine man im Armenhaus grobe Sackleinwand wickeln wird, bevor man ihn sang- und klanglos verscharrt. Doch ein Toter hört ja keine Glocken mehr läuten. Hunderte von Pfaffen mögen sich um ihn heiser schreien, qualmende Fackeln in endloser Reihe seinen Sarg zur letzten Ruhestätte begleiten – deswegen schert sich seine Seele den Teufel um solchen Mummenschanz! Ob man unter einem marmornen Gedenkstein oder einfach unter den Erdschollen fault und von Würmern gefressen wird – das ist doch wirklich höchst gleichgültig! Faulen bleibt Faulen! Ob Kinder in blauen oder roten Röcken oder ob niemand am Grabe steht – ist der Tote etwa deswegen weniger tot? Und nun schauen sie sich einmal diese Hand an! Früher war sie ganz verteufelt steif und ungelenk. Diese zehn Finger spreizten sich bocksteif wie die Stäbe eines hölzernen Fächers und diese Sehnen waren ausgedörrter, zäher und unbiegsamer als alte Darmsaiten am Rade eines Drechslers. Aber ich habe diese Kujone gehörig gemartert, gedehnt und gebrochen. »Da willst nicht? Ich aber, zum Henker, sage dir: Du wirst, du mußt!«

Bei diesen Worten packte er mit der rechten Hand die Finger der linken, bog sie nach oben und unten, daß die Fingerspitzen das Handgelenk berührten und es knackte und krachte, daß ich fürchtete, er würde sich die Finger verstauchen.

»Geben Sie acht!« warnte ich ihn, »Sie machen sich noch zum Krüppel!«

Er: Seien Sie ganz unbesorgt. Das tut ihnen nichts. Seit zehn Jahren habe ich ihnen noch ganz andere Sachen beigebracht. Wohl oder übel haben sich diese Kujone daran gewöhnen müssen und wissen nun, wie sie sich auf die Tasten zu stellen und auf den Saiten herum zu turnen haben. Dafür geht es jetzt. Ja! Jetzt geht's!

Sogleich nimmt er die Haltung eines Violinspielers ein, summt ein Allegro von Locatelli vor sich hin, ahmt mit seinem rechten Arm den Strich des Bogens nach, während er seine linke Hand krümmt und mit den Fingern wie auf dem Halse einer Geige auf und nieder fährt. Scheint ihm ein Ton falsch, hält er inne und schraubt die Saiten höher oder tiefer. Dann zupft er prüfend mit dem Nagel an ihnen und nimmt schließlich sein Spiel wieder an der Stelle auf, wo er stehengeblieben ist. Mit dem Fuße schlägt er den Takt und bewegt und windet Kopf, Hände, Arme. Füße, ja den ganzen Körper in wütender Betonung des Rhythmus. Sicher hast du, lieber Leser, gelegentlich in geistlichen Konzerten Ferrari, Chiabran und andere Virtuosen sich ähnlich gebärden sehen und hast die Qualen, die diese Künstler bei ihrem Spiel anscheinend durchmachen, ebenso peinlich empfunden als ich damals. Ist der Anblick eines Menschen, der sich zu meinem Vergnügen abquält, etwa erfreulich? Mag er sich wie ein armer Sünder auf der Folter gebärden, wenn es schon nicht anders geht! Mir aber sei gestattet, zu fordern, daß man zwischen ihm und mir einen Vorhang anbringt, der ihn meinem Blick entrückt. Wenn Rameau während seines lebendigen und feurigen Vortrags zu einer Stelle kam, wo der Bogen in verhaltenem Akkord zu gleicher Zeit über mehrere Saiten hinstrich, da strahlte sein Antlitz. Seine Stimme sank herab, und er kostete selbst in höchster Verklärung den Gehalt der Melodie aus. Er wie ich glaubten beinahe wirklich den Klang der Akkorde zu vernehmen. Schließlich schob er seine Geige mit der linken Hand unter den linken Arm, ließ die rechte mit dem Bogen sinken und fragte mich.

»Nun? Was halten Sie davon?«

Ich: Sie sind ja ein Tausendkünstler!

Er: Jedenfalls geht's ganz gut, wie wir scheint. Die andern können es kaum besser.

Flugs hockte er sich nieder wie ein Klavierspieler vor seinem Instrument, doch ich beschwor ihn:

»Haben Sie doch Mitleid mit mir! Auch sich selbst sollten Sie schonen!«

Er: Nein, nein! Da Sie mir nun einmal in den Weg gelaufen sind, müssen Sie mich auch anhören. Von einem Beifall, den man mir, ohne zu wissen warum, im voraus spendet, habe ich gar nichts. Nachher werden Sie sich mit ihrem Lob auch viel weniger Gewalt antun müssen. Was Sie sagen, wird viel ehrlicher und überzeugter klingen, und das kann mir, nebenbei gesagt, manchen Schüler eintragen.

Ich: Ich habe ja nur wenig Bekannte. Sie werden sich ganz umsonst ermüden.

Er: Ich werde nicht so leicht müde.

Da ich sah, daß es ganz vergeblich war, ihm sein unsinniges Vorhaben ausreden zu wollen – die Schweißperlen rannen ihm noch immer in großen Tropfen von der Stirne –, blieb mir nichts anderes übrig, als ihn gewähren zu lassen. So hockte er denn da, mit spitzigen Knien, als ob er vor sich ein Klavier hätte, und starrte zur Zimmerdecke empor, als ob er da oben in einer Partitur lesen könnte. Er sang ein Lied – ob es von Alberti oder Galuppi war, vermochte ich nicht zu entscheiden – und begleitete sich selbst. Seine Stimme raste wie der Wind. Seine Finger flogen über die Tasten von den tiefsten bis zu den höchsten Tönen, denn sie begnügten sich nicht allein mit der Begleitung, sondern griffen, wenn der Gesang verebbte, die Melodie auf, trugen sie, lösten sie auf, bis der Gesang sie aufs neue aufnahm und fortspann. Alle Leidenschaften – Liebe und Haß, Lust und Schmerz – spiegelten sich deutlich erkennbar in seinen Zügen wider. Man fühlte das Piano und das Forte aus seinem Spiel heraus und ich bin überzeugt, daß ein größerer Kenner als ich aus dem Takt und Ausdruck seines Klavierspieles, aus dem Wechsel seiner Mienen und aus seinem Gesange das Stück, das er vortrug, wohl erkannt hätte. Was mich aber am sonderbarsten anmutete, war, daß er von Zeit zu Zeit suchend einige Akkorde griff, immer von neuem anfing, als hätte er falsch gespielt, und sichtlich erbost war, daß er das Stück nicht völlig beherrschte.

»Nun sehen Sie wohl,« sagte er schließlich, indem er sich wieder aufrichtete und die Schweißtropfen, die ihm längs der Wangen herabliefen, fortwischte, »daß auch wir eine Terz oder Quinte anzubringen wissen und daß uns die Verkettung von Dominanten geläufig ist. Jene unharmonischen Läufe, aus denen mein Onkel soviel Wesens macht, sind keine Hexerei. Wir werden schon damit fertig.«

Ich: Welche Mühe haben Sie sich gegeben, um mir zu zeigen, daß Sie sehr geschickt sind. Und ich hätte es Ihnen aufs bloße Wort geglaubt!

Er: Sehr geschickt? Nein, das bin ich nicht. Aber für meine Zwecke reicht es. Mehr brauche ich nicht zu verstehen. Ist man denn hierzulande am Ende gar verpflichtet, alles zu verstehen, was man lehrt?

Ich: Gerade so wenig wie zu verstehen, was einem eingetrichtert wird.

Er: Meiner Treu! Das ist richtig, sogar völlig richtig! Hand aufs Herz, Herr Philosoph, seien Sie offen. Gab's nicht eine Zeit, wo Sie nicht so auf Rosen gebettet waren wie heute?

Ich: Ich bin es auch heute noch nicht in jeder Beziehung.

Er: Aber heute würden Sie nicht mehr wie damals im Sommer im Luxemburgpark herumgehen ... Erinnern Sie sich?

Ich: Lassen wir das doch! Ja, ich erinnere mich.

Er: In jenem grauwollenen Wams ...

Ich: Ja, ja!

Er: Das auf der Seite ganz zerschlissen war, mit zerrissenen Manschetten und schwarzen Wollstrümpfen, die hinten auf den Fersen mit weißem Zwirn geflickt waren.

Ich: Ja, ja! Wenn Sie das durchaus aufrühren wollen.

Er: Was taten Sie denn damals in der Seufzerallee?

Ich: Ich machte eine recht traurige Figur.

Er: Und sonst liefen Sie das Pflaster ab.

Ich: Ja, ja!

Er: Gaben Mathematikstunden ...

Ich: Ohne das Geringste davon zu verstehen. Nicht wahr? Darauf wollten Sie doch hinaus?

Er: Ganz recht.

Ich: Ich lernte, indem ich andere belehrte. Und wirklich habe ich einige zu recht tüchtigen Schülern herangebildet.

Er: Das mag sein. Aber mit der Musik geht's nicht so wie mit der Algebra und Geometrie. Heute, da Sie ein gemachter Mann sind ...

Ich: Nicht so ganz.

Er: ... und Ihr Schäfchen im Trockenen haben ...

Ich: Na! Dazu fehlt noch viel!

Er: ... heute könnten Sie Ihrer Tochter doch ruhig Lehrer halten!

Ich: Noch nicht. Um die Erziehung kümmert sich übrigens meine Frau allein. Man will doch daheim seine Ruhe haben!

Er: Ruhe daheim? Zum Teufel! Die hat man doch nur, wenn man in seinem Hause befiehlt oder unterm Pantoffel steht. Zu befehlen muß man verstehen! Ich hatte ein Weib – Gott hab' sie selig! – wenn es der hie und da einfiel, aufzubegehren, dann gab ich mir einen Ruck, stellte mich gehörig, auf die Hinterfüße, ließ Donner und Blitz auf sie herniederfahren und rief wie der Herrgott. »Es werde Licht!« Und es ward Licht. In den ganzen vier Jahren fiel keine zehnmal ein lautes Wort zwischen uns. Wie alt ist Ihre Tochter?

Ich: Das gehört nicht hierher:

Er: Wie alt ist Ihre, Tochter?!

Ich: Sakrament! Hören Sie doch endlich auf, nach dem Alter meines Kindes zu fragen! Sprechen wir doch lieber von den Lehrern, die sie bekommen muß!

Er: Bei Gott! Es gibt doch niemand bockbeinigeren als so einen Philosophen! Ganz untertänigst wage ich es nochmals ... Gnädigster Herr Philosoph, ist's denn ganz ausgeschlossen, daß ich erfahren könnte, wie alt ungefähr Ihr Fräulein Tochter ist?

Ich: Nun, nehmen Sie an, sie sei acht Jahre.

Er: Acht Jahre! Da sollte sie schon seit vier Jahren ihre Finger auf den Tasten haben!

Ich: Mag sein, daß mir nicht viel daran lag, meine Tochter in einem Fach unterrichten zu lassen, das soviel Zeit in Anspruch nimmt und ganz zwecklos ist.

Er: Na erlauben Sie! Was werden Sie Ihre Tochter denn lernen lassen?

Ich: Vernünftig zu denken – wenn's mir gelingt, heißt das. Das können nur wenige Männer und Frauen erst recht nicht.

Er: Lassen Sie sie doch schwätzen, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Wenn sie nur hübsch, unterhaltend und ein wenig kokett ist – alles andere findet sich.

Ich: Und da die Natur so ungerecht war, sie trotz ihres zarten Leibes und ihrer empfindsamen Seele den Gefahren und Mühseligkeiten des Lebens ebenso auszusetzen, wie wenn sie eine kraftvolle Konstitution und ein Herz von Granit hätte, so will ich ihr, falls ich es vermag, lehren, wie man das Leben am besten durchhält.

Er: Lassen Sie sie doch weinen, heulen, sich zieren und Launen haben soviel sie will. Wenn sie nur hübsch, unterhaltend und kokett ist. Wie? Und tanzen lernen soll sie nicht?

Ich: Nur soviel, daß sie eine anständige Verbeugung machen kann, sich zu bewegen, aufzutreten und zu gehen versteht.

Er: Und singen?

Ich: Nur soviel, daß sie schön und deutlich sprechen kann.

Er: Und musizieren?

Ich: Wenn ich einen guten Lehrer wüßte, würde ich sie ihm gern für zwei Stunden täglich durch ein, zwei Jahre anvertrauen. Damit wäre es aber auch genug.

Er: Aber was setzen Sie denn an die Stelle all der wichtigen Gegenstände, die Sie streichen?

Ich: Da setze ich den Unterricht in Grammatik, Mythologie, Geschichte, Geographie, Zeichnen und vor allen Dingen in Moral.

Er: Wie leicht wäre es mir, Ihnen zu zeigen, wie wertlos – doch was sage ich –, wie gefährlich alle diese Kenntnisse in einer Welt wie der unsrigen sind! Aber für den Augenblick begnüge ich mich, Sie zu fragen, ob Ihre Tochter nicht einen oder zwei Lehrer brauchen wird?

Ich: Selbstverständlich.

Er: Na! Da haben wir's ja! Und Sie glauben, daß diese Lehrer für Grammatik, Mythologie, Geschichte, Geographie und Moral auch wirklich von all dem etwas verstehen werden? Das sind Märchen, mein bester Herr, Märchen. Wenn Sie von diesen Dingen genug verstünden, um andere darin zu unterrichten, dann könnten Sie es erst recht nicht.

Ich: Wieso denn?

Er: Weil Ihr ganzes Leben über dem Studium dieser Dinge verstrichen wäre. Man muß in eine Kunst oder Wissenschaft sehr tief eingedrungen sein, um ihre Anfangsgründe völlig beherrschen zu können. Gute Lehrbücher zu schreiben, sind nur Gelehrte imstande, die im Kampf um Erweiterung des menschlichen Wissens ergraut sind. Erst wenn man den Weg halb oder ganz zurückgelegt hat, weichen vor dem wissenden Auge die Dunkel des Anfangs. Fragen Sie Ihren Freund, Herrn d'Alembert,d'Alembert – d'Alembert – Jean-Baptiste le Rond, genannt d'Alembert, franz. Philosoph, Enzyklopädist und Mathematiker, † 1783 diese Leuchte der Mathematik, ob er sich zu gut wäre, die Elemente der Mathematik zu lehren. Und mein Oheim hat erst nach dreißig- bis vierzigjährigem Studium eine dunkle Ahnung von dem Wesen der Musiktheorie bekommen!

Ich (aufschreckend): O du Narr! Du Erznarr! Wie kommt es nur, daß dein verschrobener Schädel so kluge Gedanken neben so viel konfusem Zeug fassen kann?

Er: Weiß der Teufel! Ganz zufällig fallen sie mir ein und bleiben haften. So viel ist sicher: Wenn man nicht alles weiß, so weiß man gar nichts Gescheites. Man weiß nicht, wohin das eine führt, woher das andere genommen ist, wo dieses und jenes seinen Platz hat, ob etwas besser an die erste oder an die zweite Stelle paßt. Gibt's überhaupt einen anständigen Unterricht ohne Methode? Und woher nimmt man die Methode? Sehen Sie, mein verehrter Philosoph, mir scheint es fast, als wenn die Physik immer eine armselige Wissenschaft bleiben würde. Ein Tropfen Wasser mit einer Nadelspitze dem unendlichen Meere entnommen, ein Staubkorn, gelöst aus der unergründlichen Gesteinsmasse der Alpen. Und die Ursachen der Erscheinungen? Wahrhaftig! Es wäre gescheiter, gar nichts zu, wissen, als so wenig und nur annähernd. Mehr wußte ich aber auch nicht, als ich Klavierunterricht für Komposition und Begleitung zu geben begann. Doch Sie träumen ja!

Ich: Ich denke mir eben, daß alles, was Sie da gesagt haben, mehr geistvoll als stichhaltig ist. Aber lassen wir das. Sie haben also Klavierunterricht erteilt?

Er: Ja.

Ich: Ohne davon etwas zu verstehen?

Er: Wahrhaftig! Ich verstand nicht das geringste davon. Doch das war nicht so schlimm. Denn die, die sich einbildeten, etwas zu verstehen, waren viel schlechtere Lehrer als ich. Zum mindesten habe ich meinen Schülern keine Unarten angelernt und weder ihrer Auffassung noch ihren Händen Gewalt angetan. Wenn sie nachher zu einem tüchtigen Lehrer kamen, wußten sie zwar gar nichts, aber sie brauchten sich auch keine Fehler abzugewöhnen. Und damit war doch immerhin viel Geld und Zeit erspart.

Ich: Wie benahmen Sie sich denn während des Unterrichts?

Er: Nun, wie es alle machen! Ich kam, warf mich in einen Stuhl. »Ist das ein miserables Wetter! Dieses Straßen-auf-und-ab-Laufen ermüdet wirklich außerordentlich!« Dann kramte ich den neuesten Klatsch aus: »Fräulein Lemierre sollte in der Neuen Oper als Vestalin auftreten. Aber sie erwartet zum zweitenmal ein Kind. Man weiß noch nicht, wer ihre Rolle übernehmen wird. Fräulein Arnould hat sich eben von ihrem kleinen Grafen getrennt. Man sagt, daß Bertin sich für sie interessiert. Dem kleinen Grafen ist's trotzdem geglückt, das Porzellan des Herrn von Montami aufzustöbern. Im letzten Konzert der Musikfreunde ist eine Italienerin aufgetreten, die wirklich direkt himmlisch gesungen hat. Dieser Preville ist ein köstlicher Kerl. Man muß ihn im ›Mercure galant‹; gesehen haben. Die Szene mit dem Rätsel ist einfach unbezahlbar. Die arme Dumesnilweißnicht mehr, was sie spricht und tut. Nun, Fräulein! Nehmen Sie doch Ihre Noten!« Während das Fräulein, das durchaus keine Eile hat, die Noten sucht, die sie natürlich verlegt hat, das Stubenmädchen ruft und sich mit ihr zankt, klatsche ich weiter: »Die Clairon ist wirklich nicht zu verstehen. In den Salons spricht man jetzt viel von einer höchst lächerlichen Heirat des Fräuleins – na, wie heißt sie doch nur – dieser kleinen Person, die von so vielen ausgehalten wurde und schon zwei oder drei Kinder hat.«

»Gehen Sie, Rameau! Das ist doch unmöglich: Sie erfinden das!«

»Das ist keine Erfindung. Man sagt sogar, daß die Heirat schon zustande gekommen sei. Es geht das Gerücht, daß Voltaire gestorben ist. Nun, das wäre nicht so schlimm –«

»Warum wäre das nicht so schlimm?«

»Weil er sicher wieder irgendeinen kuriosen Streich im Schilde führt. Da pflegt er immer vierzehn Tage vorher zu sterben.« Was soll ich noch erzählen? Ich gab noch einige Witze zum besten, die ich in den Häusern, aus denen ich eben kam, gehört hatte. Sind wir doch alle durch die Bank – auch wenn wir's uns nicht eingestehen wollen – alte Klatschbasen. Man hörte mir gespannt zu, wenn ich so meine Mätzchen machte, lachte und nickte sich beifällig zu: »Nicht wahr! Er ist doch immer ein reizender Mensch!« Mittlerweile hatten sich die Noten unter irgendeinem Lehnstuhl gefunden, wohin sie eine junge Dogge oder eine kleine Katze geschleppt hatte, um daran herumzukauen und die Seiten in kleine Fetzen zu zerreißen. Nun setzte sich das Mädchen ans Klavier, klimperte mißtönend für sich allein auf den Tasten herum, bis ich endlich nähertrat, nicht ohne vorher der Mutter beifällig zuzunicken.

Die Mutter: »Nun ja. Es geht gar nicht schlecht. Man braucht nur zu wollen. Aber man will nicht. Man vertrödelt lieber seine Zeit mit dummen Klatschereien, Getändel, zwecklosen Laufereien und ähnlichem Unsinn. Kaum sind Sie fort, werden die Noten zugemacht und erst wieder geöffnet, wenn Sie wiederkommen. Sie sollten strenger mit ihr sein!«

Da nun einmal etwas geschehen mußte, nahm ich die Hände des Fräuleins und änderte die Haltung der Finger, tat ärgerlich, schrie: »G, g, Fräulein, da steht doch ein g!«

Die Mutter: »Mir scheint, du sitzt auf deinen Ohren! Ich bin weit weg vom Klavier und kann deine Noten nicht sehen, und trotzdem fühle ich sogar, daß da ein g sein muß. Du machst dem Herrn ja entsetzliche Mühe. Ich begreife nicht, daß er mit dir so geduldig ist. Du merkst dir nicht das geringste – er kann in dich hineinreden, soviel er will – und kommst nicht vorwärts!«

Ich tat, als ob mir diese Vorwürfe allzu schwer dünkten, schüttelte den Kopf und sagte begütigend: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, entschuldigen Sie! Gewiß könnte es etwas besser gehen, wenn das Fräulein etwas mehr Eifer hätte, wenn sie ein bißchen üben wollte, aber es geht nicht schlecht.«

Die Mutter: »An Ihrer Stelle würde ich sie ein Jahr lang das gleiche Stück üben lassen.«

»Oh, was das betrifft, so soll sie mir nicht früher davon loskommen, als bis sie alle Schwierigkeiten beherrscht. Das wird aber nicht gar so lang dauern, als gnädige Frau meinen.«

Die Mutter: »Herr Rameau, Sie schmeicheln ihr, Sie sind zu gut. Was Sie da eben gesagt haben, wird das einzige sein, was sie sich von der heutigen Stunde merken wird. Bei jeder Gelegenheit werde ich es zu hören bekommen.«


 << zurück weiter >>