Charles Dickens
Schwere Zeiten
Charles Dickens

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Dreißigstes Kapitel.

Mr. James Harthouse verbrachte eine ganze Nacht und einen Tag in einem Zustande so großer Aufregung, daß die »Welt«, mit ihrem besten Glas im Auge, während dieser seiner Geistesabwesenheit schwerlich in ihm den Bruder Jem des ehrenwerten und witzigen Parlamentsmitgliedes erkannt haben würde. Er war wirklich aufgeregt. Er sprach verschiedene Male mit einem Nachdruck, der fast an den Ausdruck der gewöhnlichen Sterblichen grenzte. Er ging hin und her in einer unerklärlichen Weise, wie ein Mann, der von einem Gegenstande besessen ist. Er ritt wie ein Straßenräuber. Mit einem Worte, er war von den obwaltenden Umständen so gelangweilt, daß er vergaß, in der von den Autoritäten vorgeschriebenen Weise auf die Langeweile auszugehen.

Nachdem er sein Pferd durch das Unwetter nach Coketown gepeitscht, als wenn es ein Katzensprung wäre, brachte er die ganze Nacht wachend zu; von Zeit zu Zeit mit der größten Heftigkeit klingelnd, den Hotelportier, der Wache hielt, mit dem Verbrechen belastend, Briefe oder Bestellungen zurückzuhalten, die ohne Zweifel für ihn hinterlassen worden seien. Er müsse sie auf der Stelle haben. Da der Abend kam und der Morgen kam und der Tag kam und weder eine Botschaft noch einen Brief brachte, so begab er sich wieder nach dem Landhause. Hier war der Rapport: Mr. Bounderby verreist und Mrs. Bounderby in der Stadt. Sie sei vergangenen Abend plötzlich dahin abgereist. Man hatte dies erst durch einen Brief aus der Stadt erfahren, der besagte, daß sie in Bälde nicht zurückkehren werde.

Unter diesen Umständen blieb ihm nichts übrig, als ihr in die Stadt zu folgen. Er ging nach dem Haus in der Stadt. Mrs. Bounderby nicht da. Er sprach bei der Bank vor. Mrs. Bounderby nicht da und Mrs. Sparsit nicht da. Mrs. Sparsit nicht da? Wer konnte so ursprünglich zur äußersten Verzweiflung getrieben worden sein, daß er sich ausgerechnet die Gesellschaft dieses Drachen suchte?

»Nun, ich weiß es nicht«, sagte Tom, der seine eigenen Gründe hatte, sich hierüber unbehaglich zu fühlen. »Sie ist diesen Morgen bei Tagesanbruch irgendwohin aufgebrochen. Sie ist immer geheimnisvoll, ich hasse sie. Ja, ich hasse ebenfalls das bleiche Gesicht des Laufburschen. Der hat auch immer seine blinzelnden Augen auf einem braven Kerl.«

»Wo wart ihr gestern abend, Tom?«

»Wo war ich gestern abend!« antwortete Tom. »Sieh' doch, so habe ich es gern. Ich wartete auf Euch, Mr. Harthouse, bis es vom Himmel herabgoß, wie ich es nie zuvor habe herabgießen sehen. Wo war ich auch? Wo waret Ihr, wollt Ihr sagen?«

»Ich war verhindert zu kommen – abgehalten.«

»Abgehalten!« murrte Tom. »Zwei von uns waren abgehalten. Ich war durch Warten abgehalten, bis ich jeden Zug, ausgenommen die Postkutsche, verpaßt hatte. Es würde eine ganz ergötzliche Partie gewesen sein, mit der Postkutsche in einer solchen Nacht zurückzurumpeln und durch einen Sumpf heimzuwaten. Kurz, ich mußte in der Stadt schlafen.«

»Wo?«

»Wo? Nun, in meinem eigenen Bette bei Bounderbys.«

»Saht Ihr Eure Schwester?«

»Was zum Kuckuck!« antwortete Tom, mit starrer Verwunderung, »konnte ich meine Schwester sehen, wenn sie fünfzehn Meilen weit entfernt war?«

Mr. Harthouse verwünschte innerlich die raschen Antworten des jungen Herrn. Dann wand er sich von dieser Zusammenkunft so harmlos wie möglich los und überlegte zum hundertsten Male, was das alles bedeuten sollte? Es wurde ihm nur eins klar. Das war, daß sie entweder in der Stadt oder auswärts sich befinde, daß er entweder zu schnell mit ihr, der Unbegreiflichen, gewesen, oder sie den Mut verloren hatte, oder daß sie entdeckt, oder daß ein zur Zeit noch unbekanntes Unglück oder Mißverständnis passiert war, und daß er diesem Unglücke entgegengehen müsse, worin es auch bestehe. Das Hotel, in dem er bekanntlich lebte, seitdem er zu diesem Lande der Finsternis verurteilt, war der Pfahl, an den er sich gebunden fühlte. Im übrigen – was sein wird, wird sein.

Mag ich nun eine Forderung oder eine Bestellung, oder eine bußfertige Vorstellung, oder eine Tracht Prügel aus dem Stegreif mit meinem Freunde Bounderby in der Lancashirer Manier zu erwarten haben, was ja wahrscheinlich bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge eintreten dürfte: »Auf jeden Fall will ich erst einmal dinieren« sagte Mr. James Harthouse. »Bounderby wiegt schwerer als ich, und wenn etwas echt Britisches zwischen uns vorgefallen sein sollte, so wäre es gut, ein wenig vorbereitet zu sein.«

Darauf klingelte er, warf sich nachlässig auf ein Sofa, beorderte »ein Diner um sechs – mit einem Beefsteak dabei«, und brachte die Zwischenzeit so gut hin, wie er konnte. Das gelang ihm aber nicht sehr gut; denn er verblieb in der größten Ratlosigkeit, und als die Stunden vergingen und keine Art der Aufklärung sich zeigen wollte, so vermehrte sich seine Ratlosigkeit mit Zinseszinsen.

Aber er nahm die Angelegenheit so kühl wie nur immer möglich und amüsierte sich immer wieder bei der lustigen Idee des erwarteten Boxkampfes und des Trainings dazu. »Es würde nicht übel sein«, gähnte er in einem Augenblick, »dem Kellner fünf Schilling zu geben und mit ihm loszuboxen.« Es kam ihm die Idee: »Oder ein Kerl von beiläufig über zwei Zentnern könne stundenweise gemietet werden.« Aber diese Scherze verrieten an diesem Nachmittag nichts, als seine Unruhe; und, um die Wahrheit zu sagen, er langweilte sich fürchterlich.

Es war unvermeidlich, selbst vor dem Essen, noch oft dem Muster des Fußteppichs nach zu lustwandeln, aus dem Fenster zu sehen, an der Tür nach Fußtritten zu horchen, und gelegentlich ziemlich heiß zu werden, wenn sich dem Zimmer Tritte näherten. Aber nach dem Essen, als der Tag sich im Zwielicht auflöste und das Zwielicht in Nacht und er noch immer keine Aufklärung erhielt, war es ihm, wie er sagte, zumute, wie bei einer Inquisition mit anschließender »sanfter« Tortur. Jedoch, immer treu seiner Überzeugung, daß Snobismus die wahrhafte vornehme Lebensart sei (das war die einzige Überzeugung, die er hatte) benutzte er diese Krisis als passende Gelegenheit, Licht und Zeitung zu bestellen.

Er hatte eine halbe Stunde lang vergebens sich abgemüht, diese Zeitung zu lesen, als der Kellner erschien und geheimnisvoll und entschuldigend zugleich, sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Man verlangt nach Ihnen, wenn Sie es erlauben.«

Eine vage Erinnerung, daß dies die gewöhnliche Formel sei, welche die Polizei gegen ihre unfreiwilligen Klienten anwendet, veranlaßte Mr. Harthouse, den Kellner trotzig entrüstet zu fragen, was zum Teufel er mit dem »verlangt« sagen wolle.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Eine junge Dame draußen wünscht Sie zu sprechen.«

»Draußen? Wo?«

»Hier vor der Tür, Sir.«

Mr. Harthouse wünschte den Kellner in aller Form zum Teufel, wohin er als Dummkopf erster Größe gehöre, und eilte dann auf den Gang. Hier stand ein junges Frauenzimmer, das er nie zuvor gesehen hatte. Einfach gekleidet, sehr ruhig, sehr hübsch. Als er sie in das Zimmer führte und einen Stuhl für sie hinstellte, bemerkte er beim Lichtschein, daß sie noch schöner war, als er anfangs gedacht. Ihre Erscheinung war unschuldig und jugendlich, und ihr Gesichtsausdruck außerordentlich angenehm. Sie zeigte keine Furcht vor ihm, noch die geringste Verwirrung; ihr Sinn schien ganz mit der Aufgabe ihres Besuches beschäftigt, und diese Aufgabe schien sie an die Stelle ihrer Person gesetzt zu haben.

»Ich spreche mit Mr. Harthouse?« sagte sie, als sie allein waren.

»Mit Mr. Harthouse. Und zwar«, fügte er innerlich hinzu, »reden Sie ihn an mit den vertrauensvollsten Augen, die ich je gesehen, und der schlichtesten und ruhigsten Stimme, die ich je gehört habe.«

»Wenn ich auch nicht weiß – und ich weiß es wirklich nicht, Sir –« sagte Cili, »was Sie Ihre Ehre als Gentleman in andern Fällen tun heißt«, das Blut stieg ihm ins Gesicht, als sie mit diesen Worten begann: »so bin ich doch überzeugt, daß ich darauf vertrauen kann, Sie werden meinen Besuch und was ich zu sagen habe, geheimhalten. Ich will mich darauf verlassen, wenn Sie mir sagen, daß ich Ihnen so weit vertrauen darf.«

»Sie dürfen es, ich versichere Sie.«

»Ich bin jung, wie Sie sehen; ich bin allein, wie Sie sehen. Ich komme zu Ihnen, Sir, ohne einen andern Rat oder eine andere Ermunterung als meine Hoffnung.«

Er dachte: »Aber das ist doch sehr stark«, als er dem momentan erhobenen Blick ihrer Augen folgte. Er meinte außerdem: »Das ist ein sehr seltsames Beginnen. Ich sehe nicht, wo das hinaus will.«

»Sie haben wohl schon erraten«, fuhr Cili fort, »von wem ich eben komme?«

»Während der letzten vierundzwanzig Stunden (die mir wie ebenso viele Jahre erschienen sind) habe ich mich in der größten Aufregung und Unruhe um eine Dame befunden. Die Hoffnung, die ich zu hegen wage, daß Sie von dieser Dame kommen, täuscht mich nicht, wie ich vertrauensvoll annehme.«

»Ich verließ sie vor einer Stunde.«

»In –?«

»In dem Haus ihres Vaters.«

Mr. Harthouses Gesicht verlängerte sich, trotz seines kühlen Wesens, und sein Erstaunen wuchs. »Dann sehe ich ganz gewiß nicht«, dachte er, »wohin das führen soll.«

»Vergangene Nacht eilte sie dorthin. Sie kam da in großer Aufregung an und war die ganze Nacht hindurch ohne Bewußtsein. Ich lebe in dem Haus ihres Vaters und war bei ihr. Sie können sich darauf verlassen, Sir, Sie werden sie nie wieder sehen, so lange Sie leben.«

Mr. Harthouse holte tief Atem. Wenn sich je ein junger Mann in der Lage befand, daß er nicht wußte, was er sagen sollte, so war dies ohne alle Frage bei ihm der Fall. Die kindliche Offenheit, mit der seine Besucherin sprach, ihre bescheidene Furchtlosigkeit, ihr ungekünsteltes Vertrauen, ihr gänzliches Selbstvergessen in ihrem ernsten, ruhigen Verhalten bei der Aufgabe, um derentwillen sie gekommen war; alles das, zusammengenommen mit ihrem Vertrauen auf sein leichthin gegebenes Versprechen – das ihn in seinem Innern beschämte – stellte sich ihm als etwas dar, worin er so unerfahren war, und woran seine gewöhnlichen Waffen so ohnmächtig abprallen mußten, daß er nicht ein Wort zu seiner Hilfe aufzubieten vermochte.

Endlich sagte er:

»Eine so überraschende Nachricht, so vertrauensvoll gegeben und von solchen Lippen, ist fürwahr im höchsten Grade entmutigend. Darf ich mich erkundigen, ob Sie von der fraglichen Dame beauftragt sind, mir diese Mitteilung in solchen hoffnungslosen Worten zu machen?«

»Ich habe keinen Auftrag von ihr.«

»Der Versinkende klammert sich an einen Strohhalm. Ohne Mißachtung Ihres Urteils und ohne Zweifel an Ihrer Aufrichtigkeit bitte ich es zu entschuldigen, wenn ich mich zu der Ansicht neige, es sei noch Hoffnung vorhanden, daß ich nicht zu einer immerwährenden Verbannung vom Antlitz dieser Dame verurteilt bin.«

»Nicht die leiseste Hoffnung bleibt übrig. Der erste und hauptsächlichste Zweck meines Kommens, Sir, ist, Sie zu der Überzeugung zu bringen, es sei nicht mehr Hoffnung vorhanden, sie je wieder zu sprechen, als wenn sie im Augenblicke, wo sie gestern abend ins elterliche Haus trat, gestorben wäre.«

»Überzeugung? Aber wenn ich nun nicht kann – oder wenn ich bei der Schwachheit der menschlichen Natur halsstarrig bin – und nicht will?«

»Es ist dennoch wahr. Da ist keine Hoffnung.«

James Harthouse blickte sie an mit einem ungläubigen Lächeln um seine Lippen. Aber an ihrem durchdringenden Blicke wurde sein Lächeln zuschanden.

Er biß sich in die Lippen und nahm sich etwas Zeit zur Überlegung.

»Gut, wenn es unglücklicherweise der Fall sein sollte«, sagte er, »daß ich zu einer so trostlosen Lage, wie diese Verbannung, gebracht bin, so werde ich die Dame nicht mit meiner Gegenwart behelligen. Aber sie sagten, Sie haben keine Vollmacht von ihr?«

»Ich habe einzig und allein die Vollmacht meiner Liebe für sie, und ihrer Liebe für mich. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich seit ihrer Heimkunft bei ihr gewesen, und daß sie mir ihr Vertrauen geschenkt hat. Ich habe keine andere Beglaubigung, als daß ich etwas von ihrem Charakter und von ihrer Ehe kenne. O! Mr. Harthouse, ich dächte, Sie könnten das auch zur Grundlage Ihrer Überzeugung machen!«

In der Höhle, wo sein Herz hätte sein sollen – in diesem Neste verdorbener Eier, wo die Vögel des Himmels hätten leben können, wenn sie nicht hinweggescheucht worden wären – wurde er von dem Stachel dieses Vorwurfes getroffen.

»Ich gehöre nicht zu der moralischen Menschensorte«, sagte er, »und ich habe niemals Anspruch auf derartige Eigenschaften gemacht. Ich bin so unmoralisch, wie es sich gehört. Wenn ich auf der andern Seite jedoch der Dame, die der Gegenstand unserer Unterhaltung ist, irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet oder sie unglücklicherweise kompromittiert, oder wenn ich mich selbst durch irgendeine Preisgabe von Gefühlen gegen sie vergangen habe, die nicht ganz vereinbar sind mit – in der Tat mit – dem häuslichen Herd. Oder wenn ich es zu benutzen suchte, daß ihr Vater eine Maschine, ihr Bruder ein Bengel und ihr Gatte ein Bär ist; so bitte ich mir die Versicherung zu gestatten, daß ich keine besonders üblen Absichten hatte, sondern von einer Stufe zur andern mit so unwiderstehlicher Leichtigkeit glitt, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, das Sündenregister sei halb so lang, bis ich es durchzublättern begann. Wo ich denn finde«, schloß Mr. Harthouse, »daß es mehrere Bände stark ist.«

Obgleich er alles das in seiner frivolen Weise sagte, so war seine Art dabei diesmal doch bewußte Politur einer häßlichen Oberfläche. Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er mit mehr Unbefangenheit, jedoch mit Zügen von Unruhe und Mißvergnügen, die sich nicht ganz glätten lassen wollten, fort:

»Nach dem, was mir eben vorgestellt worden ist, in einer Weise, in die ich unmöglich Zweifel setzen kann – ich kenne kaum eine andere Quelle, von der ich es so bereitwillig angenommen hätte –, fühle ich mich verbunden. Ihnen, die Sie Ihrer Aussage nach mit dem Vertrauen beschenkt worden sind, folgendes zu sagen: Ich muß mich zu der Möglichkeit verstehen (so unerwartet sie auch kommt), die Dame nicht wieder zu sehen. Ich bin lediglich zu tadeln, daß ich die Sache habe so weit kommen lassen – und – und, ich kann nicht sagen«, fügte er mit einem pathetischen Redeschluß verlegen hinzu, »daß ich eine besondere Hoffnung darauf setze, jemals ein Kerl von der moralischen Sorte zu werden, oder daß ich überhaupt irgendwelchen Glauben an besagte moralische Sorte habe.«

Cilis Miene zeigte zur Genüge, daß sie mit ihrer Forderung an ihn noch nicht zu Ende sei.

»Sie sprachen«, resümierte er, als sie ihre Augen von neuem zu ihm aufschlug, »von Ihrem ersten Zweck. Darf ich annehmen, daß noch ein zweiter zu besprechen ist?«

»Ja.«

»Wollen Sie ihn mir bitte mitteilen?«

»Mr. Harthouse«, erwiderte Cili, mit einer Mischung von Güte und Festigkeit, vor der er ganz erlag, und mit einem einfachen Vertrauen in seine Verpflichtung, ihr Verlangen zu erfüllen, das ihn in einem eigentümlichen Nachteil hielt, »die einzige Genugtuung, die Ihnen zu geben übrigbleibt, ist, diesen Ort sofort und für immer zu verlassen. Ich habe die feste Überzeugung, daß Sie auf keine andere Weise das Unrecht und den Kummer, den Sie verursacht haben, mildern können. Ich habe die bestimmte Überzeugung, daß dies die einzige Möglichkeit, wieder gutzumachen, ist, die Sie noch haben. Ich sage nicht, daß es viel, oder daß es genug ist; aber es ist etwas und es ist notwendig. Ich bin durch nichts anderes zu dem Schritt ermächtigt, als was ich Ihnen schon angegeben habe. Niemand außer mir weiß darum, und so fordere ich Sie auf, noch diese Nacht von hier abzureisen, und zwar mit der Verpflichtung, nie wiederzukommen.«

Hätte sie ihn durch irgend etwas anderes als durch ihr schlichtes Vertrauen auf das Recht und die Wahrheit dessen, was sie sagte, zwingen wollen, hätte sie die geringste Unsicherheit oder Unentschlossenheit gezeigt, oder hätte sie in der besten Absicht einen Hintergedanken oder Vorwand beherbergt, hätte sie im mindesten das Lächerliche oder Erstaunliche der Lage, in die sie sich begeben, empfunden, oder wäre sie seinem etwaigen Widerspruch zugänglich gewesen – so hätte er sie darin schlagen können. Aber er würde ebenso leicht imstande gewesen sein, einen klaren Himmel zu verändern dadurch, daß er ihn erstaunt betrachtete, als hier einen Effekt zu machen.

»Aber kennen Sie«, fragte er ganz verzweifelt, »die Tragweite dessen, was Sie verlangen? Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich in einer öffentlichen Geschäftsangelegenheit hier bin, abgeschmackt genug an und für sich, aber auf die ich eingegangen bin und geschworen habe, und der man mich mit Leib und Seele ergeben glaubt? Sie wissen wahrscheinlich nichts davon, aber ich versichere Sie, daß es eine Tatsache ist.«

Er brachte keine Wirkung auf Cili hervor, Tatsache oder nicht Tatsache.

»Außerdem«, sagte Mr. Harthouse, indem er einmal oder zweimal im Zimmer auf und ab ging, »ist es so verteufelt absurd. Es würde einen Mann so lächerlich machen, nachdem er einmal für diese Kerls eingetreten ist, in solch unbegreiflicher Weise auszukneifen.«

»Es ist meine feste Überzeugung«, wiederholte Cili, »daß es die einzige Sühne ist, die noch in ihrer Macht liegt. Das ist meine feste Überzeugung, oder ich würde nicht hierhergekommen sein.«

Er blickte in ihr Gesicht und ging von neuem im Zimmer umher.

»Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. So ungeheuer absurd.«

Es war jetzt an ihm die Reihe, sich Verschwiegenheit auszubedingen.

»Wenn ich imstande wäre, etwas so wahrhaft Lächerliches zu tun«, sagte er, indem er augenblicklich wieder stockte und sich gegen das Kamingesimse lehnte, »so könnte es nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dem ich vertrauen könnte, geschehen.«

»Ich werde Ihnen vertrauen Sir«, erwiderte Cili, »und Sie werden mir vertrauen.«

Als er sich an den Kamin anlehnte, erinnerte er sich an den Abend mit dem Bengel. Es war ganz dasselbe Kamingesimse, und es regte sich etwas in ihm, als wenn er diesen Abend der Bengel wäre. Er wußte nicht, wo aus noch ein.

»Meiner Ansicht nach hat sich noch nie ein Mann in einer so lächerlichen Lage befunden«, sagte er, bald zur Erde, bald in die Luft blickend, bald lachend, bald die Stirne runzelnd, bald auf, bald nieder gehend. »Aber ich sehe keinen Ausweg. Was geschehen soll, wird geschehen. Dieses wird allem Vermuten nach geschehen. Ich muß mich aufmachen, denke ich – kurz, ich verpflichte mich, es zu tun.«

Cili erhob sich. Sie war durch das Resultat nicht überrascht.

»Aber ich darf Ihnen sagen«, fuhr Mr. James Harthouse fort, »daß ich zweifle, ob ein anderer Abgesandter oder Gesandtin sich mit demselben Erfolg an mich gewendet haben würde. Ich muß mich nicht nur als in eine sehr lächerliche Lage Versetzter betrachten, sondern als in allen Punkten geschlagen. Wollen Sie mir die Gunst gewähren, mich an den Namen meiner Feindin zu erinnern?«

»Meinen Namen?« sagte die Gesandtin.

»Der einzige Name, den ich möglicherweise diesen Abend zu kennen Verlangen tragen könnte.«

»Cili Jupe.«

»Verzeihung für meine Neugier zum Abschied. Und in Beziehung zu der Familie?«

»Ich bin nur ein armes Mädchen«, antwortete Cili. »Ich wurde von meinem Vater getrennt – er war nur ein Artist – und aus Mitleid von Mr. Gradgrind aufgenommen. Seitdem habe ich immer in dem Hause gelebt.«

Sie war verschwunden.

»Das war nötig, um die Niederlage vollständig zu machen«, sagte Mr. James Harthouse, mit resignierter Miene auf das Sofa sinkend, nachdem er eine Weile wie angewurzelt dagestanden. »Die Niederlage kann jetzt als vollständig angesehen werden. Nur ein armes Mädchen – nur ein Artist – nur James Harthouse zunichte gemacht – nur James Harthouse, eine große Pyramide von Bankerott.«

Die große Pyramide setzte sich's in den Kopf, den Nil hinauf zu gehen. Er nahm augenblicklich eine Feder und schrieb folgendes Billett (in geeigneten Hieroglyphen) an seinen Bruder.

»Lieber Jack. Alles aus in Coketown. Herausgelangweilt aus dem Neste und auf Kamele ausgehend. Mit Liebe, Jem.«

Er zog die Klingel.

»Schickt meinen Diener her.«

»Ist zu Bette gegangen, Sir.«

»Laßt ihn aufstehen und einpacken.«

Er schrieb noch zwei Billetts. Eines an Mr. Bounderby, das ihm meldete, daß er von hier fortgereist sei und mitteilte, wo er in den nächsten vierzehn Tagen zu finden wäre. Das andere, ähnlichen Inhalts, an Mr. Gradgrind. Kaum war die Tinte auf den Adressen trocken, so hatte er die hohen Schornsteine von Coketown hinter sich und saß in einem Eisenbahnwagen, gedankenlos über die finstere Landschaft hinträumend.

Die moralische Menschensorte mag sich vorstellen, daß Mr. James Harthouse später einige erbauliche Betrachtungen an seinen schnellen Rückzug geknüpft hat, als eine der wenigen Handlungen seines Lebens, die einer Buße gleich sahen, und als Denkzeichen für ihn, einer sehr schlimmen Katastrophe glücklich entronnen zu sein. Aber dem war durchaus nicht so. Ein geheimes Bewußtsein, Fiasko gemacht zu haben und lächerlich geworden zu sein, eine Furcht, was andere Gesinnungsgenossen, die für ähnliche Dinge einträten, zu seiner Aufführung sagen möchten, wenn sie ihnen bekannt würde – lasteten so auf ihm, daß er gerade diese Leistung, die doch bis jetzt seine beste gewesen sein mochte, um keinen Preis als seine Tat anerkennen wollte, und daß dies das einzige Blatt in seiner Lebensgeschichte war, dessen er sich aufrichtig schämte.



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