Charles Dickens
Schwere Zeiten
Charles Dickens

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Achtes Kapitel.

Laßt uns abermals den Grundton anschlagen, ehe wir in unserer Melodie fortfahren!

Als Luise um ein halb Dutzend Jahre jünger war, wurde sie eines Tages belauscht, wie sie mit ihrem Bruder ein Gespräch mit den Worten anknüpfte: »Tom, ich sollt' mich wundern« – worauf Mr. Gradgrind, der sie belauschte, hervortrat und sagte: »Luise, man muß sich nie wundern!«

Hierin beruhte die Springfeder der mechanischen Kunst und des Geheimnisses, die Vernunft zu erziehen, ohne sich zur Ausbildung der Gefühle und Neigungen herabzulassen. Man muß sich nie wundern! Bringe alle Sachen vermittels Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division in Ordnung und wundere dich nie. »Gebt mir ein Kind«, sagt M'Choakumchild, »das wenigstens allein gehen kann, und ich werde es dahin bringen, daß es sich niemals mehr wundert!«

Nun befand sich zufällig in Coketown neben vielen Kinderchen, die eben erst gehen gelernt hatten, eine beträchtliche Anzahl von Kindern, die dem Schritt der Gegenwart zum Trotz zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre oder mehr den Normalkindern voraus und auf die schändliche Welt losgegangen waren. Da diese Wunderkinder für jede menschliche Gesellschaft Entsetzen erregende Geschöpfe waren, so zerkratzten sich die achtzehn Glaubenssekten gegenseitig das Gesicht und rauften sich einander die Haare aus, um ein Übereinkommen über die Schritte zu treffen, die sie für die Verbesserung ihrer Charaktere nehmen müßten – was freilich nie zustande kam. Ein überraschender Umstand das, wenn man die glückliche Anwendung der Mittel für das Ziel in Erwägung zieht. Aber obgleich sie in allen begreiflichen und unbegreiflichen (besonders aber den unbegreiflichen) Dingen verschiedener Meinung waren, stimmten sie doch darin ziemlich überein, daß diese unglücklichen Kinder sich nie über etwas wundern dürften. Nummer Eins sagte, man müsse alles aufs Wort glauben. Nummer Zwei sagte, alles müsse nach den Prinzipien der Nationalökonomie erfaßt werden. Nummer Drei schrieb sinnlose Werkchen, worin er bewies, wie das erwachsene gute Kind von selbst die Sparkasse benutze und das erwachsene schlimme Kind unumgänglich zur Deportation verurteilt würde. Nummer Vier machte unter dem kläglichsten Vorwand, ein rechter Schalk zu sein (während sie eigentlich recht kläglich war), die seichtesten Ansprüche, ganze Fallgruben von Wissenschaften zu bergen. Es sei Pflicht, die Kinder dorthin zu leiten und hineinzuschmuggeln. Alle diese Kinder stimmten jedoch darin überein, daß sie sich nie wunderten.

Es befand sich eine Bibliothek in Coketown, zu der der allgemeine Zutritt leicht war. Mr. Gradgrind quälte sich viel darüber, was die Leute in dieser Bibliothek lasen: ein Punkt, worüber kleine Flüsse tabellarischer Verzeichnisse zu gewissen Perioden in den heulenden Ozean von tabellarischen Verzeichnissen flössen, in dessen Tiefen noch kein Taucher hinabgefahren und wieder glücklich heraufgekommen war. Es war recht entmutigend und eine traurige Tatsache, daß selbst diese Leser sich immer wieder wunderten. Sie wunderten sich über die menschliche Natur, die menschlichen Leidenschaften, die menschlichen Hoffnungen und Befürchtungen, über die Kämpfe, Siege und Niederlagen, über die Sorgen, Freuden und Bekümmernisse und über Leben und Sterben gewöhnlicher Männer und Frauen. Nach fünfzehnstündiger Arbeit setzten sie sich hin, bloße Märchen über Männer und Frauen zu lesen, die ihnen mehr oder weniger glichen, und über Kinder, die den ihrigen mehr oder weniger gleich kamen. Robinson nahmen sie sich mehr als Euklid zu Herzen, und sie schienen überhaupt mehr Erholung bei Goldsmith als bei Adam Riese zu finden. Mr. Gradgrind hatte sich in Schrift und Wort fortwährend mit diesem Ergebnis beschäftigt, und er konnte nie herausbringen, wie dieses unerklärbare Phänomen dabei herauskam.

»Das Leben ist mir zuwider, Lu. Ich hasse es ganz und gar, und ich hasse jeden Menschen, dich ausgenommen«, sagte der unnatürliche kleine Thomas Gradgrind während der Abenddämmerung in der »Friseurstube«.

»Du hassest doch nicht Cili, Tom?«

»Ich hasse es, sie Jupe nennen zu müssen. Und sie haßt mich«, sagte Tom verdrießlich.

»Nein, das tut sie gewiß nicht, Tom.«

»Sie muß«, sagte Tom. »Sie muß unsere ganze Sippschaft hassen und verabscheuen. Man wird sie eher stumpfsinnig machen, als daß man mit ihr zurechtkommt. Sie wird schon so gelb wie Wachs und so dumm wie – ich.«

Der kleine Thomas führte solche Reden, indessen er rittlings auf einem Stuhl vor dem Feuer saß, die Arme auf die Lehne gestützt und mit dem Gesicht in die Arme vergraben. Seine Schwester saß in dem dunklen Winkel am Ofen, bald ihn und bald die hellen Funken betrachtend, wie sie auf den Herd flogen.

»Was mich betrifft«, sagte Tom, und zerwühlte mit verzweifelter Hand sein Haar nach allen Richtungen. »Ich bin ein Esel, ja, das bin ich. Ich bin so eigensinnig wie nur einer sein kann und dümmer wie irgendeiner. Ich bin so störrisch wie ein Esel und möchte ausschlagen wie ein solcher.«

»Doch nicht auf mich los, Tom?«

»Nein, Lu, dir würde ich nichts zuleide tun. Ich habe mit dir gleich von Anfang an eine Ausnahme gemacht. Ich weiß nicht, was dieses – verdammte, abscheuliche Kerkerloch – ohne dich sein würde.« Tom hatte eine kleine Pause gemacht, um solchen genügend schmeichelhaften und bezeichnenden Ausdruck für das väterliche Dach zu finden und fühlte sich tatsächlich momentan ein bißchen erleichtert.

»Wirklich, Tom? Meinst du wirklich?«

»Sicher, es ist mein Ernst. Wozu nützt es aber, davon zu sprechen?« entgegnete Tom, sich das Gesicht am Rockärmel reibend, als wollte er sich ins Fleisch beißen, um dieses in Einklang mit seiner Gemütsverfassung zu bringen.

»Sieh, Tom«, sagte seine Schwester, nachdem sie eine Weile die Funken schweigend betrachtet hatte, »da ich immer älter und größer werde, sitze ich oft da, mich wundernd und nachdenkend, wie unglücklich ich doch bin, daß ich dich mit unserm elterlichen Hause nicht besser versöhnen kann. Ich weiß nicht, was andere Mädchen können. Ich kann dir nichts vorsingen oder vorspielen. Ich kann kein Gespräch mit dir führen, um deinen Geist zu erheitern; denn ich sehe nichts Unterhaltendes und ich lese keine unterhaltenden Bücher, daß es dir zum Vergnügen gereichen könnte, wenn ich mit dir darüber spräche, wenn du der Ausspannung bedürftig bist.«

»Mir geht es doch genau so. Ich bin in dieser Beziehung ebenso schlimm daran, und ich bin noch dazu ein Esel, was du nicht bist. Da sich Vater einmal entschlossen hat, aus mir einen Gauner oder einen Esel zu machen und ich kein Gauner bin, so ist doch klar, daß ich ein Esel werden muß. Und das bin ich auch«, sagte Tom verzweiflungsvoll.

»Es ist sehr schade«, sagte Luise nach einer zweiten Pause, bedächtig aus dem dunklen Winkel hervorsprechend, »es ist jammerschade. Es ist sehr, sehr schlimm für uns beide.«

»Ach du«, sagte Tom, »du bist ein Mädchen, Lu, und ein Mädchen hilft sich besser heraus als ein Knabe. Ich sehe nicht, daß dir etwas abgeht. Du bist das einzige Vergnügen, das ich habe. – Du kannst selbst diesen Ort aufheitern – und du kannst mich immer führen, wie es dir gefällt.«

»Du bist ein lieber Bruder, Tom, und solange du glaubst, ich kann das alles, so liegt mir nichts daran, es besser zu verstehen. Obwohl ich es besser verstehe, und das tut mir sehr leid.« Sie ging zu ihm und küßte ihn und ging wieder in ihren Winkel zurück.

»Ich wollte, ich könnte alle Tatsachen sammeln, von denen wir so viel hören«, sagte Thomas, trotzig mit den Zähnen knirschend, »und alle Figuren samt den Leuten, die sie erfunden haben, und ich wollte, ich könnte tausend Fässer Pulver unter sie stellen und sie allesamt in die Luft sprengen. Aber wenn ich zu dem alten Bounderby komme, dann will ich mich schon rächen.«

»Dich rächen, Tom?«

»Ich werde mir ein wenig gütlich tun und herumschlendern und mir manches ansehen und manches hören. Ich werde mich für die Weise entschädigen, in der ich erzogen worden.«

»Täusche dich nur vorderhand nicht, Tom. Mr. Bounderby denkt wie Vater und ist noch weit grober und nicht halb so gut, wie er ist.«

»O!« sagte Tom lachend, »daran liegt mir nichts. Ich weiß schon, wie ich den alten Bounderby herumzukriegen und zu nehmen habe.«

Ihre Schatten zeichneten sich auf der Wand ab, aber die Schatten der hohen Bücherschränke liefen an der Wand und auf der Zimmerdecke ineinander, gleich als ob das Gewölbe einer dunklen Höhle über Bruder und Schwester hinge. Nun hätte aber eine schwärmerische Einbildungskraft (wenn solch verräterisches Ding sich dort hätte einschleichen können) leicht herausgedeutet, daß der fragliche Schatten der ihres Gespräches und seiner mehr und mehr hereindrohenden Verschwisterung mit ihrer Zukunft sei.

»Und was ist deine große Besänftigungsmethode, Tom? Ist sie ein Geheimnis?«

»O«, sagte Tom, »wenn es ein Geheimnis ist, so ist es nicht schwer zu erraten. Du selbst bist das Besänftigungsmittel. Du bist Mr. Bounderbys kleiner Liebling, sein Nesthäkchen. Für dich tut er alles. Wenn er etwas Unangenehmes zu mir sagt, so brauche ich ihm nur zu sagen: ›Meine Schwester Lu wird sich darüber ärgern und bös sein, Mr. Bounderby. Sie hat mir immer gesagt, Sie würden sicherlich nachsichtiger mit mir sein, als der –.‹ Wenn das ihn nicht herumkriegt, so weiß ich nicht, was sonst.«

Nachdem er eine Weile auf eine Antwort gewartet und keine bekommen hatte, fiel Tom ermüdet in die Wirklichkeit zurück, wand sich gähnend an der Stuhllehne herum und brachte seine Locken immer mehr in Unordnung, bis er am Ende plötzlich aufblickte und fragte:

»Schläfst du, Lu?«

»Nein, Tom. Ich sehe dem Feuer zu.«

»Es scheint, daß du mehr daran zu sehen findest, als ich jemals darin entdecken konnte«, sagte Tom. »Vermutlich wieder einer der Vorteile, die ein Mädchen vor uns voraus hat.«

»Tom«, fragte seine Schwester bedächtig und in sonderbarem Tone, als ob sie ihre Frage aus dem Feuer herausbuchstabierte, in dem die Schriftzüge übrigens nicht ganz deutlich zu sein schienen, »Tom, macht dir denn die Aussicht auf die Übersiedlung zu Mr. Bounderby irgendwelche Freude?«

»Nun«, erwiderte Tom, seinen Stuhl zurückschiebend und aufstehend, »es hat wenigstens etwas Gutes: es bringt mich von Haus fort.«

»Es hat wenigstens etwas Gutes«, wiederholte Luise in dem vorigen sonderbaren Tone, »es bringt dich von Haus fort. Ja.«

»Freilich tut es mir dann auch wieder sehr leid, Lu, dich zu verlassen, und besonders dich hier zu lassen. Aber du weißt ja, gehen muß ich, ich mag wollen oder nicht, und es ist doch besser, ich gehe an einen Ort, wohin ich dir immerhin noch erreichbar bleibe, als an einen Platz, wo ich diesen Vorteil ganz und gar verlieren müßte. Siehst du das nicht ein?«

»Jawohl, Tom.«

Die Antwort, obwohl entschieden, hatte so lange auf sich warten lassen, daß Tom hingehen und auf ihre Stuhllehne sich hatte stützen können, um das Feuer, das die Schwester so sehr in Anspruch nahm, auch einmal von ihrem Gesichtspunkte aus zu betrachten und zu sehen, was er etwa daraus entnehmen könne.

»Abgesehen davon, daß es ein Feuer ist«, sagte Tom, »schaut es mich so dumm und ungereimt an, wie jedes andere Ding. Was siehst du denn darin? Doch keinen Zirkus?«

»Ich sehe gar nichts Besonderes darin, Tom. Aber wie ich so hineingeschaut, habe ich mich gewundert über dich und mich, wenn ich daran denke, daß wir einmal beide erwachsen sein werden.«

»Hast dich schon wieder einmal gewundert!« sagte Tom.

»Ich habe so unlenksame Gedanken«, erwiderte die Schwester, »daß sie sich notwendig verwundern müssen.«

»Aber ich bitte dich, Luise«, sagte Mrs. Gradgrind, die unbemerkt die Tür geöffnet hatte, »laß das um Gottes willen, du leichtsinniges Mädchen; oder dein Vater wird mich es nicht oft genug hören lassen können. Und Thomas, es ist wirklich eine Schande, wenn mein armer Kopf mich beständig so schmerzt, daß ein Junge von deiner Erziehung, dessen Ausbildung so viel gekostet hat wie die deine, seine Schwester noch aufmuntert, sich zu wundern, da du doch weißt, daß dies dein Vater ausdrücklich verboten hat.«

Luise stellte Toms' Beteiligung an dem Vergehen in Abrede. Aber ihre Mutter stopfte ihr mit der schlußgültigen Antwort den Mund: »Luise, sprich mir nichts dagegen bei meinem gegenwärtigen Gesundheitszustand; denn wärest du nicht von einem andern dazu verführt worden, so würde es ja moralisch und physisch unmöglich sein, daß du dergleichen getan haben könntest.«

»Es hat mich niemand dazu verführt, Mutter, als der Anblick der roten Funken, wie sie aus dem Feuer fallen, erbleichen und sterben. Es hat mich denken machen, wie kurz denn doch am Ende mein Leben sein werde, und wie wenig ich darin zu erreichen vermag.«

»Unsinn!« sagte Mrs. Gradgrind, und wurde beinahe energisch. »Unsinn! Steh nicht länger so da und schwatze mir kein solches Zeug mehr vor, Luise. Du weißt doch, daß dein Vater, wenn es ihm je zu Ohren kommen sollte, er gar keine Ruhe mehr geben würde. Und das nach all der Mühe, die man sich mit dir gegeben hat! Nach all den Vorlesungen, die du besucht und den Experimenten, die du mit angesehen hast! Ich habe doch selbst, während meine ganze rechte Seite starr war vor Kälte, deinen Lehrer über Kombustion, Kalzination und Kalorifikation, und ich kann wohl sagen über jede Art von Ation, dich unterrichten hören. Das konnte eine arme schwache Person beinahe von Sinnen bringen; so wurde dir das einexerziert. Und nun muß ich von dir solches unsinnige Geschwätz von Asche und Funken vernehmen!« Zuletzt sank Mrs. Gradgrind auf einen Stuhl und entlud sich, ehe sie unter dem Gewicht dieser bloßen Schatten von Tatsachen zusammensank, ihres stärksten Arguments: »Ja wahrlich«, sagte sie, »ich wünschte, ich hätte nie Kinder gehabt, und dann solltet ihr einmal erfahren haben, was ihr ohne mich hättet anfangen wollen!«



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