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Sechsundvierzigstes Kapitel

Nancy hält ihr Versprechen.

 

Die Turmuhren schlugen dreiviertel zwölf, als an der Londoner Brücke zwei Gestalten auftauchten. Die eine davon, ein rasch vorwärtseilendes Mädchen, sah sich wiederholt aufmerksam um, als suche sie jemand. Die andere Gestalt, ein Mann, der im dunkelsten Schatten, den er finden konnte, dem Mädchen nachschlich und sofort stillstand, wenn sie haltmachte, und heimlich wieder folgte, wenn sie weiterging. Mitten auf der Brücke blieb sie längere Zeit stehen. Es war eine dunkle Nacht, und nur wenige Menschen ließen sich um diese Zeit auf der Brücke sehen. Und diese wenigen liefen schnell vorüber, ohne sich um das Mädchen und dessen Beobachter zu kümmern. Über der Themse hing ein dichter Nebel. Doch waren die Türme der alten Erlöserkirche und der St. Magnuskirche durch die Dunkelheit sichtbar. Dagegen blieb der Mastenwald der Schiffe den Augen verhüllt.

Mitternacht war inzwischen herangekommen, als eine junge Dame, von einem grauhaarigen Herrn begleitet, in der Uferstraße aus einer Droschke stieg, den Kutscher entlohnte und auf die Brücke zuging.

Sobald die beiden dort angelangt waren, eilte ihnen das Mädchen rasch entgegen. Als sie sich trafen, kam an ihnen ein Mann in Fuhrmannstracht so dicht vorbei, daß er Nancys Kleider streifte.

»Nicht hier«, sagte diese zu der jungen Dame hastig. »Ich fürchte mich, hier mit Ihnen zu sprechen. Wir wollen dort die Treppe hinuntergehen.«

Diese Treppe bildet einen Teil der Brücke und besteht aus drei Absätzen. Am Ende des zweiten geht die Steinwand in einen verzierten Pfeiler über, der dem Flusse zugekehrt ist. Von diesem Punkte aus werden die unteren Stufen breiter, so daß eine Person, wenn sie um die Ecke der Mauer geht, notwendig denen verborgen sein muß, die sich weiter oben auf der Treppe befinden. Hier versteckte sich der Fuhrmann. Die Zeit entschwand an dieser einsamen Stelle ungemein langsam, so daß er schon im Begriff war, sein Versteck zu verlassen, als er Schritte und den Ton von Stimmen vernahm. Er drückte sich dicht an die Mauer und horchte mit verhaltenem Atem.

»Das ist weit genug«, sagte der Herr, »ich gebe nicht zu, daß die Dame weitergeht. Viele würden sich nicht darauf eingelassen haben. Sie sehen, daß wir uns nach Ihnen gerichtet haben.«

»Nach mir gerichtet?« rief Nancy. »Wirklich?! – Aber das hat nichts zu sagen. Sie sind sehr vorsichtig.«

»Warum führen Sie uns aber auch an solchen Ort«, sagte der Herr in einem etwas freundlicheren Ton. »Warum wollten Sie mich nicht lieber da oben sprechen lassen, wo es doch hell ist und Menschen in der Nähe. Nun bringen Sie uns nach diesem finsteren Loche.«

»Ich sagte Ihnen schon vorhin«, versetzte Nancy, »daß ich mich fürchtete, dort mit Ihnen zu reden. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist mir so bange, und ich zittere derart, daß ich nicht auf den Füßen stehen kann.«

»Vor was sind Sie denn bange?« fragte der Herr im Tone des Mitleids.

»Ich weiß es selbst nicht; den ganzen Tag haben mich furchtbare Gedanken von Tod und Hölle gequält!«

»Einbildungen«, sagte der Herr tröstend.

»Reden Sie freundlich mit ihr«, sagte die junge Dame zu ihrem Begleiter, »die Arme scheint es zu bedürfen.«

Man ließ Nancy sich etwas beruhigen, dann fragte sie der Herr:

»Sie waren vorigen Sonntag nicht hier?«

»Ich konnte nicht kommen, ich wurde mit Gewalt zurückgehalten.«

»Von wem?«

»Von Bill – von dem ich Fräulein Maylie schon neulich erzählte.«

»Man wird doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, daß Sie mit uns verkehren?«

»Nein«, erwiderte Nancy, den Kopf schüttelnd. »Es ist aber für mich nicht leicht, von ihm wegzukommen, ohne daß er weiß, wohin ich gehe. Ich hätte auch das erstemal die Dame nicht besuchen können, wenn ich ihm nicht einen Schlaftrunk beigebracht hätte!«

»Erwachte er, ehe Sie zurückkehrten?«

»Nein, auch hat weder er, noch jemand anders auf mich irgendeinen Verdacht.«

»Gut!« sagte der Herr, »nun hören Sie mich mal an!«

»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Nancy.

»Diese junge Dame hat mir und einigen Freunden, denen man vollkommen vertrauen kann, alles, was Sie ihr vor vierzehn Tagen erzählten, mitgeteilt. Ich gestehe, anfangs Zweifel gehabt zu haben, ob man sich unbedingt auf Sie verlassen könne. Jetzt glaube ich, daß man's kann!«

»Sie dürfen es«, versetzte Nancy ernst.

»Ich wiederhole, daß ich Ihnen vollkommen traue. Zum Beweise dafür verrate ich Ihnen unsern Plan, nämlich, daß wir entschlossen sind, dem Manne, den Sie Monks nennen, durch Einschüchterung das Geheimnis zu entreißen. Wenn – wenn uns das nicht gelingen sollte, so müssen Sie uns den Juden in die Hände spielen.«

»Fagin?« rief das Mädchen aus und prallte unwillkürlich zurück.

»Ja, dieser Mensch muß uns ausgeliefert werden.«

»Das tue ich nicht und werde ich nie tun. Solch ein Teufel er auch ist, und trotzdem er noch schlimmer als ein Teufel zu mir war, aber das mache ich nicht.«

»Sie wollen nicht?« fragte der Herr, der das erwartet hatte.

»Niemals!«

»Und warum nicht?«

»Aus dem Grunde, den das Fräulein kennt. Mag er immerhin ein schlechtes Leben geführt haben. das meinige ist auch kein gutes gewesen. Ich will keine verraten, die mich auch hätten verraten können.«

»Dann – « sagte der Herr lebhaft, anscheinend mit dem Erreichten zufrieden, »dann liefern Sie uns diesen Monks in die Hände!«

»Wenn er aber die anderen verrät?«

»Ich verspreche Ihnen für den Fall, daß er uns reinen Wein einschenkt, daß wir die Sache auf sich beruhen lassen wollen. In Olivers kleiner Geschichte gibt es vielleicht Punkte, die man nicht gern in die Öffentlichkeit bringt. Haben wir nur erst die Wahrheit herausgebracht, so liegt uns an der Bestrafung der Schuldigen nichts.«

»Wenn Sie aber nichts aus Monks herausbringen können?« fragte Nancy.

»Dann soll ohne Ihre Einwilligung der Jude nicht dem Gerichte überliefert werden. Ich hoffe jedoch, diese von Ihnen zu bekommen, da ich Ihnen Gründe angeben kann, die Sie überzeugen werden.«

»Habe ich dafür das Wort der Dame?«

»Ja«, sagte Rosa, »ich verspreche es Ihnen feierlich!«

»Monks wird also nie erfahren, woher Sie Kunde kriegten?« fragte Nancy nach kurzer Pause.

»Nie!« antwortete der Herr. »Wir gehen dann in einer Weise vor, daß er es nicht einmal vermuten kann!«

»Ich bin eine Lügnerin gewesen und habe von Kindheit an unter Lügnern gelebt«, entgegnete das Mädchen nach abermaligem kurzen Schweigen. »Aber ich will Ihren Worten glauben!«

Beide versicherten ihr, daß sie das getrost könne, worauf Nancy mit so leiser Stimme, daß es dem Horcher oft schwer wurde, ihre Worte zu verstehen, die Lage des Wirtshauses zu den drei Krüppeln zu beschreiben begann. Der Herr schien sich einiges von ihren Mitteilungen aufzuschreiben. Als sie noch gesagt hatte, zu welchen Stunden Monks gewöhnlich dort einzukehren pflegte, hielt sie inne, um sich das Gesicht und das sonstige Äußere des Mannes genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie begann:

»Er ist groß und kräftig gebaut, aber nicht dick und hat einen schlürfenden Gang, bei dem er beständig bald über die eine und dann über die andere Achsel schielt. Vergessen Sie das nicht, denn seine Augen liegen so viel tiefer als bei anderen Leuten, daß Sie ihn schon daran erkennen können. Er hat ein dunkles Gesicht und schwarze Augen und Haare. Und obgleich er erst sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt ist, sieht er abgelebt und ältlich aus. Seine Lippen sind oft blaß und durch Bisse entstellt, denn er leidet an Krampfanfällen, wobei er sich häufig schrecklich in die Hände beißt, warum stutzen Sie?« unterbrach sich Nancy, plötzlich innehaltend.

Der Herr erwiderte hastig, daß er sich dessen nicht bewußt sei, und bat sie fortzufahren.

»Einen Teil dieser Angaben habe ich aus den Gästen des genannten Wirtshauses herausgelockt, denn ich selbst sah ihn nur zweimal, und dann war er stets in einen großen Mantel gehüllt. Das ist wohl alles, was ich Ihnen von Monks sagen kann, doch halt, an seinem Halse, so hoch, daß man noch etwas davon über seinem Kragen sehen kann, wenn er den Kopf etwas dreht, ist – «

»Ein breites, rotes Brandmal?« rief der Herr.

»Wie – Sie kennen ihn?«

Rosa entfuhr ein Ausruf höchsten Erstaunens, und alle drei schwiegen plötzlich. Der Lauscher konnte sie ganz deutlich atmen hören.

»Ich glaube es«, unterbrach der Herr das Schweigen, »wenigstens Ihrer Beschreibung nach. Wir werden ja sehen. Es gibt Leute, die sich auffallend ähneln. Vielleicht ist es doch nicht der nämliche.«

Der Horcher hörte ihn aber flüstern: »Er muß es sein«, laut fuhr er wieder fort:

»Sie haben uns einen großen Dienst geleistet, Fräulein, und wir möchten uns gern erkenntlich zeigen. Was kann ich für Sie tun?«

»Nichts«, erwiderte Nancy.

»Bitte, reden Sie nicht so«, sagte der Herr in so gütigem Tone, daß davon das härteste Herz hätte gerührt werden müssen. »Überlegen Sie erst mal, und sprechen Sie dann.«

»Sie können mir nicht helfen«, entgegnete Nancy und fing zu weinen an. »Für mich gibt's keine Rettung mehr!«

»Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte der Herr, »setzen Sie sie auf die Zukunft! Ich sage nicht, daß es in unserer Macht steht, Ihnen den Frieden der Seele wiederzugeben, da Sie ihn nur finden können, wenn Sie ihn suchen. Es übersteigt aber nicht unser Vermögen und ist auch unser sehnlichster Wunsch, Sie in Sicherheit zu bringen und Ihnen eine ruhige Freistätte entweder hier in England oder, wenn Sie sich zu bleiben scheuen, im Auslande zu verschaffen. Noch ehe der Morgen graut, sollen Sie sich außer dem Bereich Ihrer Genossen befinden und so wenige Spuren hinterlassen, als wenn Sie plötzlich von der Erde verschwunden wären. Verlassen Sie diese Elenden, solange Sie noch können!«

»Ich kann nicht«, versetzte Nancy nach einem kurzen Kampfe mit sich. »Ich bin mit ehernen Banden an mein früheres Leben gekettet, das mir jetzt verhaßt ist. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Wenn Sie vor einiger Zeit so zu mir gesprochen hätten, wäre ich wahrscheinlich mit Freuden darauf eingegangen. Doch mich packt wieder die Angst«, sagte sie, sich scheu umsehend, »ich muß nach Hause.«

»Nach Hause?« wiederholte Rosa, großen Nachdruck auf die Worte legend.

»Nach Hause«, entgegnete Nancy, »nach einem solchen Heim, wie ich es mir durch die Arbeit eines ganzen schlechten Lebens geschaffen habe. Lassen Sie uns scheiden. Man könnte mich sehen oder beobachten. Gehen Sie! Gehen Sie! Wenn ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, so wünsche ich dafür nur, daß Sie mich jetzt allein meines Weges ziehen lassen.«

»Es ist alles vergeblich«, seufzte der Herr. »Wir gefährden sie vielleicht, wenn wir noch bleiben, und haben sie wohl schon länger aufgehalten, als sie erwartet hatte.«

»Ja, so ist's«, sagte Nancy.

»Was kann wohl das Ende dieser Armen sein?« rief Rosa aus.

»Das Ende?« wiederholte das Mädchen. »Blicken Sie hinunter in das dunkle Wasser, Fräulein. Wie oft liest man von meinesgleichen, die sich in die Flut hinunterstürzen und kein lebendes Wesen zurücklassen, das sich um sie bangt oder beweint. Es können Jahre darüber hingehen oder auch nur Monate, aber schließlich wird das mein Ende sein.«

»Um Gotteswillen, reden Sie nicht so«, schluchzte Rosa.

Der Herr wandte sich ab.

»Nehmen Sie – um meinetwillen«, rief Rosa der sich entfernenwollenden Nancy zu. »Nehmen Sie diese Börse! Sie kann Ihnen in der Stunde der Not von Vorteil sein.«

»Nein, nein«, antwortete Nancy. »Was ich tat, habe ich nicht für Geld getan. Lassen Sie mir wenigstens diesen Trost. Doch geben Sie mir ein Andenken, etwas, was Sie getragen haben. Nein, keinen Ring! Ihre Handschuhe oder Ihr Taschentuch. So! Gott segne Sie! Gute Nacht!«

Man vernahm sich entfernende Schritte, und die Stimmen schwiegen. Die Gestalten der jungen Dame und ihres Begleiters Herrn Brownlow erschienen bald nachher auf der Brücke.

Der Horcher blieb noch einige Minuten regungslos auf seinem Posten und kroch dann aus seinem Versteck hervor, nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß er wieder allein sei. Auf dem oberen Treppenabsatz schaute sich Noah Claypole noch einmal vorsichtig um und rannte dann, so schnell wie seine Beine konnten, dem Hause des Juden zu.


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