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Dreiunddreißigstes Kapitel

In dem das Glück Olivers und seiner Freunde plötzlich einen argen Stoß erleidet.

 

Der Frühling ging schnell dahin, und der Sommer kam. Das ruhige Leben in dem kleinen Häuschen ging unverändert fort, und Frohsinn und Heiterkeit herrschten dort. Oliver war schon lange gesund und kräftig geworden, aber er blieb stets der sanfte, stille, liebevolle Junge, der er in den Tagen war, als er noch der Pflege und Wartung bedurfte.

An einem schönen Sommerabend hatten die Damen einen ungewöhnlich langen Spaziergang gemacht, denn der Tag war sehr heiß gewesen, und der Abendwind hatte etwas Kühlung gebracht. Da man im heiteren Gespräch den Ausflug länger als sonst ausgedehnt hatte, fühlte sich Frau Maylie ziemlich ermüdet, und man kehrte nun langsam nach Hause zurück. Rosa nahm ihren Strohhut ab, setzte sich wie gewöhnlich ans Klavier, und nach einem langen Vorspiel ging sie in eine gehaltene, feierliche Melodie über, während deren man sie auf einmal laut schluchzen hörte.

»Was ist dir, liebes Kind?« fragte Frau Maylie.

Rosa erwiderte nichts, sondern spielte etwas schneller, als ob die Frage sie aus einem schmerzlichen Gedankengang geweckt hätte.

»Rosa, Liebling!« rief die alte Dame und eilte zu dem jungen Mädchen, sie umarmend, »was ist mit dir? In Tränen gebadet? Was drückt dich?«

»Nichts, Tante, nichts«, versetzte Rosa. »Ich weiß nicht, was es ist, kann es nicht beschreiben, aber«

»Du bist doch nicht krank, Liebling?« unterbrach sie Frau Maylie.

»Ach nein, ich glaube nicht«, erwiderte das junge Mädchen, zusammenschauernd, als wenn ein Fieber sie schüttelte. »Wenigstens wird mir bald wieder besser sein. Bitte schließe das Fenster.«

Oliver beeilte sich, ihrem Wunsche nachzukommen. Das junge Mädchen suchte nun ihre Heiterkeit wiederzugewinnen und fing an, eine lustige Weise zu spielen. Die Finger versagten ihr aber bald den Dienst und fielen kraftlos auf die Tasten. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sank aufs Sofa und ließ ihren jetzt hervorquellenden Tränen freien Lauf.

»Mein Kind«, sagte Frau Maylie und schloß sie in die Arme, »so habe ich dich noch nie gesehen!«

»Ich wollte Sie nicht gern in Unruhe versetzen«, sagte Rosa, »aber ich konnte die Tränen nicht aufhalten, soviel Mühe ich mir auch gab. Ich glaube jetzt selbst, Tante, ich bin krank.«

Sie war es auch tatsächlich, denn als Licht hereingebracht wurde, bemerkte man, daß sich ihre gesunde Gesichtsfarbe in der kurzen Zeit seit ihrer Heimkehr in Marmorblässe verwandelt hatte.

Oliver blickte die alte Dame ängstlich an, und sein Herz war beklommen. Als er aber sah, daß die Tante ihre Besorgnis zu verbergen suchte, so bemühte er sich, ein gleiches zu tun. Rosa erklärte nun zu Bett gehen zu wollen und entfernte sich mit der Versicherung, daß sie sich schon besser fühle und hoffe, morgen wieder ganz gesund zu erwachen.

»Fräulein Rosa wird doch nicht ernstlich krank sein, gnädige Frau«, sagte Oliver, als Frau Maylie, die Rosa begleitet hatte, wieder ins Zimmer trat.

Die alte Dame winkte ihm zu schweigen, setzte sich in eine dunkle Ecke des Raumes und blieb selbst eine Weile stumm. Endlich begann sie mit bebender Stimme:

»Ich hoffe nicht, Oliver. Ich bin mit ihr verschiedene Jahre sehr glücklich gewesen, zu glücklich vielleicht, und es könnte Zeit sein, daß mich wieder ein Unglück trifft. Lieber Gott, bloß das nicht.«

»Was für ein Unglück, gnädige Frau?«

»Das Unglück, das liebe Mädchen zu verlieren«, erwiderte die Dame mit tonloser Stimme. »Sie war so lange mein Trost und mein Glück.«

»Das wolle Gott verhüten!« rief Oliver hastig.

»Ich sage dazu Amen«, sprach darauf die alte Dame und faltete fromm die Hände.

»Ach, ich glaube, wir haben so etwas Schreckliches nicht zu befürchten, vor zwei Stunden war sie ja noch ganz munter.«

»Aber jetzt ist sie sehr krank, und ich habe Angst, daß es noch schlimmer werden wird. Meine liebe, liebe Rosa, was soll ich anfangen ohne dich!«

Die alte Dame erlag fast ihren trostlosen Vorstellungen und gab sich so sehr ihrem Kummer hin, daß Oliver, seine eigene Herzensangst unterdrückend, sie bat, um des lieben Fräuleins willen gefaßter zu sein.

»Bedenken Sie doch, gnädige Frau«, sagte Oliver und suchte vergebens seine Tränen zurückzudrängen, »wie jung und gut sie ist. Ich bin überzeugt, daß sie um Ihretwillen, die Sie selbst so gut sind, und um unser aller willen, die sie so glücklich macht, nicht sterben wird. Unmöglich kann Gott sie jetzt schon hinübergehen lassen, so grausam ist er nicht!«

»Still, du denkst und sprichst wie ein Kind«, sagte Frau Maylie und streichelte Oliver das Gesicht. »Aber du hast mir eben eine Lehre gegeben, denn ich hatte meine Pflicht vergessen. Ich hoffe jedoch Vergebung zu finden, denn ich bin alt und habe genug Krankheiten und Tod gesehen, um den Schmerz zu kennen, die sie den Angehörigen zufügen, denen sie das Liebste rauben!«

Es folgte eine bange Nacht, und als der Morgen graute, zeigte es sich nur zu sehr, wie recht Frau Maylie mit ihrer Voraussagung hatte. Rosa lag im ersten Stadium eines heftigen und gefährlichen Fiebers.

»Wir müssen uns tummeln, Oliver, und uns keinem nutzlosen Kummer hingeben«, sagte Frau Maylie, dem Jungen mit tapferer Miene ins Gesicht guckend. »Dieser Brief muß so schnell wie möglich an Herrn Losberne befördert werden. Am besten durch reitenden Boten. Du sorgst dafür, daß es geschieht. Und dann ist hier noch ein anderes Schreiben«, fuhr Frau Maylie nach kurzem Besinnen fort, »ich weiß aber nicht, ob ich es jetzt schon absenden soll. Ich möchte es nur abgehen lassen, wenn das Schlimmste zu befürchten wäre.«

»Soll es auch nach Chertsey, gnädige Frau?« fragte Oliver und streckte die Hand danach aus.

»Nein«, erwiderte die Dame, indem sie ihn mechanisch hinreichte.

Oliver las die Adresse: Herrn Harry Maylie, in dem Hause eines Lords auf dem Lande, dessen Namen ihm fremd war.

»Soll er abgehen, gnädige Frau?« fragte Oliver.

»Nein, ich will bis morgen warten.« Mit diesen Worten gab Frau Maylie Oliver ihre Börse und dieser eilte fort, um den Brief an Herrn Losberne auf die Post zu bringen. Er jagte über die Felder und erreichte bald den Marktplatz des kleinen Fleckens. Vor dem Gasthof mit Namen »Der Georg« redete Oliver einen Postillion an, der auf einer Bank dahindöste. Er wies ihn an den Wirt, der an einem Brunnen beim Stall lehnte und einen fleißigen Gebrauch von einem silbernen Zahnstocher machte. Dieser Herr schritt bedächtig nach seinem Kontor, um die Posttaxe auszurechnen, was ziemlich lange dauerte. Als dies geschehen und die Bezahlung geleistet war, mußte der Reitknecht sich anziehen und das Pferd satteln. Dadurch vergingen wieder zehn Minuten. Oliver wurde ungeduldig, er wäre am liebsten aufs Pferd gesprungen und selbst mit dem Briefe weggeritten. Endlich war alles bereit, und der Bote gab dem Gaul die Sporen und jagte davon.

Es ist schon etwas, zu wissen, daß keine Zeit verloren gegangen ist, wenn man nach Hilfe geschickt hat. Oliver eilte daher mit erleichtertem Herzen über den Hof und wollte gerade durch den Torweg gehen, als er gegen einen großen Mann rannte, der in einen Mantel gehüllt aus dem Gasthaus trat.

»Donnerwetter, was ist das?« schrie dieser und prallte zurück.

»Verzeihung, ich wollte schnell nach Hause und habe Sie nicht kommen sehen.«

»Tod und Teufel!« brummte der Mann vor sich hin und stierte Oliver mit seinen großen schwarzen Augen an. »Wer hätte das gedacht! Selbst, wenn man ihn zu Staub mahlen würde, stünde er aus seinem Felsengrabe wieder auf und käme mir in die Quere.«

»Es tut mir leid«, stammelte Oliver, betroffen von dem wilden Blick des Mannes. »Es ist Ihnen doch nichts passiert?«

»Krepiere!« zischte der Fremde wütend durch die zusammengebissenen Zähne. »Hätte ich nur den Mut gehabt, das einzige Wort auszusprechen, so wäre ich ihn in einer Nacht losgeworden. Fluch auf dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Teufelsbraten. Was hast du hier zu schaffen?«

Der Unbekannte drohte mit der Faust, als er diese unzusammenhängenden Worte sprach. Wie er sich jedoch auf Oliver stürzen wollte, um ihn zu schlagen, fiel er plötzlich mit Krämpfen auf die Erde, und dicker Schaum trat ihm auf die Lippen.

Oliver eilte ins Haus, um Hilfe für den Wahnsinnigen herbeizuholen, denn dafür hielt er ihn. Als er ihn in guter Obhut wußte, verlor er keine Zeit und begann mit großer Hast nach Hause zu rennen, dabei nicht ohne Bangigkeit an das merkwürdige Benehmen des Fremden zurückdenkend.

Mit Rosa Maylie war es schlimmer geworden, das Fieber hatte einen hohen Grad erreicht, und sie phantasierte. Ein im Dorfe wohnender Mediziner, der nicht von ihrem Bette wich, hatte Frau Maylie beiseite genommen und ihr erklärt, daß es ein schwerer Fall wäre. Ein Wunder würde es sein, wenn sie wieder aufkäme.

Wie oft sprang in der Nacht Oliver aus dem Bette, um ängstlich und besorgt an der Zimmertür der Kranken zu horchen. Wie heiß und innig betete er für das Leben und die Gesundheit des edlen Mädchens.

Der Morgen kam, und das kleine Landhaus war still und öde. Man sprach nur im Flüsterton. Losberne langte erst spät in der Nacht an.

»Es ist furchtbar traurig«, sagte der Doktor, indem er sein Gesicht abwandte, »so jung – von allen geliebt – und so wenig Hoffnung.«

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne so herrlich, als ob sie keinen Schmerz zu bescheinen hätte. Oliver schlich nach dem Gottesacker, setzte sich auf einen Grabhügel und weinte bittere Tränen um Rosa. Seine traurigen Gedanken unterbrach das Läuten der Kirchenglocke. Sie rief zu einem Leichenbegängnis. Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.

Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.

Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte, und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.

»Wie geht es Rosa?« fragte Frau Maylie. »Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!«

»Fassen Sie sich«, sagte der Doktor, sie stützend. »Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!«

»Um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!«

»Nein!« sagte der Doktor bewegt. »Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.«

Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.


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