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Vierundzwanzigstes Kapitel

Handelt von einem äußerst armen Geschöpf.

 

Das arme Weib, das Frau Corney in ihrer Bequemlichkeit gestört hatte, war keine unpassende Todesbotin. Ihr Körper war unter der Last der Jahre gekrümmt, alle ihre Glieder zitterten, und ihr durch einen Schlaganfall schiefgezogenes Gesicht glich mehr der grotesken Schöpfung eines phantastischen Malers, als einem Werke aus den Händen der Natur.

Ach, wie selten trifft man bei alten Leuten Gesichter, die uns durch ihre Schönheit erfreuen. Die Sorgen und die Leiden der Welt ändern sowohl das Antlitz als auch die Herzen.

Die alte Frau humpelte durch die Gänge und über die Treppen, bis sie erschöpft stehenblieb und Frau Corney das Licht in die Hand gab mit dem Bemerken, sie käme nach, sobald sie könne. Die Matrone ging nun rasch dem Zimmer zu, wo die Sterbende lag.

Es war eine kalte Bodenkammer, in der ein düsteres Licht brannte. Neben dem Krankenbette saß eine alte Frau, während der Lehrling des Armenhausapothekers am Kamin stand und sich aus einer Federpose einen Zahnstocher schnitt.

»Es ist heute abend kalt, Frau Corney«, sagte der Jüngling, als die Matrone eintrat.

»Sehr kalt, in der Tat«, versetzte die Dame sehr höflich und neigte den Kopf.

»Sie sollten von Ihrem Lieferanten bessere Kohlen fordern«, sagte der Apothekerlehrling, »diese taugen nichts.«

»Das ist Sache des Vorstandes. Das wenigste, was er tun könnte, wäre freilich, für ein warmes Zimmer zu sorgen, denn unser Amt ist schwer genug.«

Hier unterbrach ein Stöhnen der kranken Frau das Gespräch.

»Ach«, sagte der junge Mann und schaute nach dem Bette hin, »mit der ist es bald vorbei.«

»Ist's schon so weit?«

»Würde mich wundern, wenn sie's noch ein paar Stunden machte. Hallo, schläft sie, Alte?«

Die Wärterin beugte sich über das Bett und sah nach, dann nickte sie. Plötzlich richtete sich jedoch die Kranke auf und streckte die Arme nach der Wärterin aus.

»Wer ist das?« fragte sie diese mit hohler Stimme.

Der Apothekerlehrling schlich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer.

»Leg dich wieder hin«, sagte die Wärterin.

»Nein, nein, ich will es ihr sagen. Kommen Sie hier her. Näher. Ich werde es Ihnen ins Ohr flüstern.«

Frau Corney setzte sich auf einen Stuhl an ihrem Bette.

»Schicken Sie die Wärterin fort, geschwinde!« sagte die Kranke, und jene verließ das Zimmer.

»Nun hören Sie mich an«, sagte die Sterbende so laut, als es ihre schwindenden Kräfte gestatteten. »In diesem Zimmer, ja, sogar in diesem Bette lag einst ein hübsches, junges Geschöpf. Es wurde mit wunden Füßen, staub- und schmutzbedeckt ins Haus gebracht. Sie gab in meiner Anwesenheit einem Knaben das Leben und starb. Ich will mal nachdenken, in welchem Jahr war es doch?«

»Das tut nichts zur Sache«, versetzte die Matrone ungeduldig. »Sagen Sie lieber, was es mit der Verstorbenen für eine Bewandtnis hat.«

»Was es mit ihr für eine Bewandtnis hat? Ich habe sie bestohlen«, schrie die Sterbende gellend, und ihr Gesicht glühte, »ich habe sie bestohlen, sie war noch nicht kalt, als ich sie bestahl.«

»Um Gottes willen – was haben Sie ihr gestohlen?«

»Es! Das einzige, was sie hatte. Sie brauchte Kleider, um nicht zu frieren, Nahrung, um nicht zu hungern, aber sie hatte es an ihrem Herzen aufbewahrt. Es war von Gold, echtem Gold, und sie hätte sich dadurch das Leben retten können.«

»Gold?« wiederholte Frau Corney, sich schnell über das Weib hinbeugend, als es auf das Bett zurücksank. »Weiter, weiter! Was ist damit? Wer war die Mutter? Wann war es?«

»Sie trug mir auf, es aufzuheben, und vertraute es mir an als der einzigen Frau, die um sie war. Ich stahl es ihr schon in Gedanken, als sie es mir zuerst zeigte. Ach, vielleicht bin ich auch an des Kindes Tod schuld! Man hätte ihn wohl besser behandelt, wenn man alles gewußt hätte.«

»Was gewußt? Reden Sie doch!«

»Der Junge wurde seiner Mutter so ähnlich«, fuhr das Weib fort, ohne die Frage zu beachten, »daß ich immer an sie erinnert wurde, sooft ich sein Gesicht sah. Armes Mädchen! Und noch so jung und so sanft! Warten Sie, ich habe noch mehr zu sagen. Nicht wahr, ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt?«

»Nein, nein«, antwortete Frau Corney, »nur schnell, ehe es zu spät ist.«

»Die Mutter«, sagte die Sterbende und nahm ihre letzten Kräfte zusammen, »die Mutter flüsterte mir ins Ohr, als sie den Tod nahen fühlte, daß, wenn ihr Kind am Leben bliebe, einst der Tag kommen dürfte, an dem es keinen Grund haben würde, sich des Namens seiner Mutter zu schämen.«

»Des Kindes Name?« drängte die Matrone.

»Oliver!« sagte die Sterbende mit matter Stimme. »Und das Gold, das ich stahl, war –«

»Ja, was war es?« fragte Frau Corney. Sie beugte sich schnell über das Weib, um die Antwort zu vernehmen, aber sie prallte zurück, als die Sterbende sich noch einmal langsam und steif aufrichtete, die Decke mit beiden Händen krampfhaft faßte, und nachdem sie einige unverständliche Worte gemurmelt hatte, leblos auf die Kissen zurücksank.

*

»Maustot«, sagte die Wärterin, als Frau Corney die Tür wieder geöffnet hatte.

»Und wußte auch nichts Wichtiges zu erzählen«, bemerkte die Matrone in gleichgültigem Tone. Damit ging sie.


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