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32. Kapitel

Eine höchst merkwürdige Unterredung mit nicht minder merkwürdigen Folgen.

»Gott sei Dank, da wären wir also glücklich in London«, rief Nikolas, schlug seinen Rockkragen zurück und weckte Smike, der noch in tiefem Schlafe lag. »Ich dachte schon, wir würden es überhaupt nicht mehr erreichen!«

»Und doch haben die Pferde ihr Bestes getan«, bemerkte der Kutscher mit einem nicht besonders freundlichen Blick über die Schulter.

»Das weiß ich«, war die Antwort, »aber es lag mir außerordentlich viel daran, so rasch wie möglich ans Ziel zu kommen, und das macht, daß einem der Weg lang vorkommt.«

Rasselnd fuhr der Wagen weiter durch die geräuschvollen belebten Straßen Londons; in langen Doppelreihen glänzten die Laternen, hin und wieder abwechselnd mit den farbigen Glaskugeln eines Apothekers und den seitwärts aus den Ladenfenstern herausströmenden Lichtfluten, hinter denen funkelnde Juwelen, Seiden- und Samtstoffe in den sattesten Farben, die einladendsten Delikatessen und üppigsten Putzartikel kaleidoskopisch wechselten. Unabsehbar strömte die Menschenmenge ab und zu, drängte sich und eilte weiter, ohne der Schätze zu beiden Seiten zu achten, während Wagen aller Art den Tumult und Lärm durch ihr endloses Gerassel vermehren halfen. Höchst seltsam war der Eindruck, wie die verschiedensten Gegenstände und Dinge in beständigem Wechsel vor den Augen der auf dem Postwagen Vorüberfahrenden auftauchten. Ladenmagazine voll Prunkkleidern, deren Stoffe aus allen Weltteilen stammten, Waren jeder Art und Delikatessen, geeignet, auch den verwöhntesten Gaumen zu reizen, Gefäße von blankem Gold und Silber in den ausgesuchtesten Vasen-, Teller- und Schalenformen, Gewehre, Säbel, Pistolen und andere Zerstörungsmaschinen, Metallwaren und Bandagistenartikel, Arzneiflaschen für die Kranken, Särge für die Gestorbenen und Denkmäler für die Begrabenen – alles häufte sich wirr durcheinander, Seite an Seite, wie die phantastischen Gruppen in Holbeins Totentanz. Aber auch das pulsierende Leben bot ein nicht minder buntes Bild. Dort die Lumpen des schmutzigen Bänkelsängers von dem blendenden Licht übergössen, das aus den Juwelenläden herausströmte, hier bleiche verhungerte Gesichter, an die Fensterscheiben gedrückt, hinter denen leckere Speisen ausgestellt waren. Gierige Augen wanderten über den glitzernden Reichtum, der nur durch eine dünne Glasscheibe – für sie eine eherne Mauer – vor ihnen geschätzt war. Halbnackte Gestalten blieben frierend stehen, um chinesische Halstücher und Goldbrokate aus Indien anzustaunen. Dort wieder hinten im Laden des größten Sargmachers der Stadt war Kindstaufe, und umfassende Bestattungsvorbereitungen hatten eine großartige Bauveränderung in dem prachtvollsten Palaste mitten in der City zum Stocken gebracht. Hand in Hand gingen Leben und Tod nebeneinander her, Reichtum und Armut berührten sich, Schlemmerei und Hunger legten sich nebeneinander zur Ruhe. Aber es war und blieb London, und die alte Dame vom Lande, die in der Postkutsche saß und schon ein paar Meilen vor Kingston immerwährend den Kopf zum Wagenfenster herausgesteckt hatte, um dem Kutscher zuzurufen, er werde bestimmt über das Ziel hinausfahren und vergessen, sie abzusetzen, war endlich beruhigt.

Nikolas bestellte in dem Wirtshaus, wo sie hielten, ein Abendessen für sich und Smike und begab sich dann unverzüglich nach Newman Noggs' Wohnung, denn seine Angst und Unruhe hatten mit jeder Minute zugenommen und ließen sich kaum mehr zügeln.

In Newmans Dachstübchen war ein Feuer angezündet und eine brennende Kerze stand auf dem Tisch. Der Boden war gescheuert, das Zimmer so behaglich, als es eben sein konnte, hergerichtet, und auch für Speise und Trank war gesorgt. Alles verriet Newman Noggs' Liebe und Aufmerksamkeit, aber er selbst war nicht zugegen.

»Wissen Sie nicht, wann er nach Hause kommen wird?« fragte Nikolas, nachdem er an die Zwischenwand, die die Stube von Newman Noggs' Nachbarn trennte, geklopft hatte.

»Ach, Mr. Johnson, Sie sind's!« rief Mr. Crowl und trat in das Zimmer. »Willkommen, Sir! Nein, wie gut Sie aussehen! Nie hätte ich geglaubt –«

»Entschuldigen Sie«, fiel ihm Nikolas ins Wort, »ich brenne auf Ihre Antwort.«

»Ach Gott, er hat noch zu tun«, versetzte Crowl, »und wird vor Mitternacht kaum nach Hause kommen. Er ging sehr ungerne aus, das kann ich Ihnen versichern, aber es ließ sich nicht ändern. Ich habe Ihnen auszurichten, Sie möchten es sich inzwischen bequem machen, und ich soll Sie inzwischen ein wenig zerstreuen.«

Zum Beweise seiner Selbstlosigkeit schob Mr. Crowl bei diesen Worten einen Stuhl an den Tisch, verhalf sich zu einer kräftigen Schnitte kalten Bratens und lud Nikolas und Smike ein, seinem Beispiel zu folgen.

Unruhe und Enttäuschung ließen Nikolas keinen Bissen berühren, und nachdem es sich Smike am Tische bequem gemacht, verließ er trotz der Vorstellungen, die ihm Mr. Crowl, mit vollem Munde kauend, machte, das Haus und beauftragte Smike, er möge Newman zurückhalten, wenn dieser heimkehren solle.

Dann schlug er, genau wie Miss La Creevy vorausgesehen, schnurstracks seinen Weg nach ihrer Wohnung ein. Als er sie ebenfalls nicht zu Hause traf, überlegte er eine Weile, ob er nicht zu seiner Mutter gehen solle, und entschloß sich auch endlich dazu. Mrs. Nickleby würde vor zwölf Uhr kaum heimkommen, sagte das Mädchen. Sie glaube, Miss Kate befände sich wohl, aber gegenwärtig wohne sie nicht mehr bei ihrer Mutter und käme auch nur selten zu Besuch. Ihren Aufenthalt kenne sie nicht; nur das eine wisse sie bestimmt, nämlich, daß sie nicht mehr bei Madame Mantalini angestellt sei.

Mit klopfendem Herzen und von den trübsten Ahnungen erfüllt, kehrte Nikolas zu Smike zurück. Newman war noch immer nicht nach Hause gekommen und konnte vor zwölf Uhr keinesfalls erwartet werden. – »Könnte man ihn denn nicht für einen Augenblick holen lassen oder ihm ein paar Zeilen schicken, mit der Bitte um sofortige Antwort?« Es ginge nicht, hieß es, denn er sei nicht in Golden Square und habe wahrscheinlich auswärts zu tun.

Nikolas zwang sich eine Zeitlang, ruhig im Newmans Wohnung zu bleiben, fühlte sich aber zu aufgeregt, um lange stillsitzen zu können. Es käme ihm wie Zeitverlust vor, sagte er, so tatenlos dazusitzen – allerdings eine törichte Einbildung, gab er zu; er wisse es wohl, aber trotzdem sei er nicht imstande, diesen Gedanken loszuwerden. Er nahm daher abermals seinen Hut und ging auf die Straße hinunter.

Diesmal lenkte er seine Schritte nach Westen und eilte, von tausend bangen Befürchtungen gequält, umher. Er kam in den Hyde Park, der jetzt still und verlassen dalag, und beschleunigte noch seine Schritte, um dadurch seine bösen Ahnungen loszuwerden. Sie bedrängten ihn aber nur um so lebhafter, da ihm nichts begegnete, was seine Aufmerksamkeit hätte auf sich ziehen können, und immer mehr quälte ihn das dumpfe Gefühl, es müsse sich irgendein schreckliches Unglück zugetragen haben, das jedermann sich scheue, ihm mitzuteilen. Die alte Frage: »Was kann es wohl sein?« tauchte immer wieder und wieder in seinem Herzen auf. Er lief umher, bis er müde war, ohne auch nur um eine Spur gescheiter zu sein, und verließ endlich den Park, womöglich noch verwirrter, als er ihn betreten.

Seit morgens früh hatte er fast nichts genossen, und jetzt kam das Gefühl gänzlicher Ermattung über ihn. Als er sich mit langsameren Schritten dem Orte wieder näherte, von dem er ausgegangen war, traf er an einer der Durchfahrten, die zwischen Park Lane und der Landstraße liegen, auf einen hübschen Gasthof und blieb instinktiv davor stehen.

»Wahrscheinlich sehr teuer da drin«, dachte er, »aber ein Glas Wein und ein Stück Brot können schließlich auch nicht viel kosten.«

Er ging ein paar Schritte weiter, aber wieder zog ihn ein seltsames Gefühl, das er sich nicht recht zu erklären wußte, zu dem Gasthaus zurück; er kehrte um und trat in das Kaffeezimmer.

Es war ein ausnehmend vornehm möblierter Raum; ausgesuchte französische Tapeten bedeckten die Wände. Ein eleganter vergoldeter Fries darüber, ein reicher Teppich und zwei prachtvolle Spiegel, einer über dem Kamin, der andere an der entgegengesetzten Wand des Zimmers vom Boden bis zur Decke emporreichend, verstärkten noch den Gesamteindruck der prunkvollen Einrichtung. In der Nähe des Kamins saß eine ziemlich lärmende Gesellschaft von vier Herren, und außerdem waren noch zwei andere Gäste anwesend, beides ältere Gentlemen.

Nikolas warf einen flüchtigen Blick umher, um sich zu orientieren, wie dies wohl jeder tut, wenn er einen ihm neuen Ort zum ersten Male betritt, nahm dann, den Rücken der lärmenden Gesellschaft zugekehrt, Platz und beschäftigte sich mit einer Zeitung.

Der Kellner unterhandelte gerade mit den beiden ältlichen Herren, und Nikolas hatte noch keine zwanzig Zellen gelesen, mühsam die Augen offen haltend, als er plötzlich aufschreckte. Er hatte den Namen seiner Schwester nennen hören. »Die kleine Kate Nickleby« waren die Worte, die sein Ohr getroffen hatten. Erstaunt blickte er auf und bemerkte im Spiegel, daß zwei Herren von der lärmenden Gesellschaft hinter ihm aufgestanden waren und jetzt an dem Kamin lehnten.

»Einer von den beiden muß den Namen ausgesprochen haben«, dachte Nikolas, innerlich empört, denn der Ton, in dem die Worte gesagt worden, war nichts weniger als achtungsvoll gewesen. Er lauschte, ob er noch mehr zu hören bekommen werde. Das Äußere des Herrn, der den Namen seiner Vermutung nach genannt haben mußte, war vornehm, aber unangenehm geckenhaft. Der andere – er konnte sein Gesicht im Spiegel sehen – hatte sich seitwärts an den Kamin gestellt und unterhielt sich mit einem jüngern Gentleman, der den Hut auf dem Kopf hatte und sich vor dem Spiegel seinen Hemdkragen zurechtrückte. Sie sprachen flüsternd miteinander und brachen von Zeit zu Zeit in ein lautes Gelächter aus, ohne daß Nikolas etwas, was mit den vorhin gefallenen Worten irgendwie in Beziehung gebracht werden konnte, zu hören imstande war. Dann nahmen die beiden ihre Plätze wieder ein, ließen sich eine frische Flasche Wein bringen, und die ganze Gesellschaft wurde womöglich noch lauter und fröhlicher als vorher. Sie sprachen jetzt von lauter gleichgültigen Dingen, und Nikolas kam schließlich zu der Überzeugung, er müsse entweder geträumt oder sich getäuscht haben.

»Doch höchst merkwürdig!« dachte er. »Wäre es nur der Name ›Kate‹ gewesen oder meinetwegen auch ›Kate Nickleby‹, hätte ich mir's noch erklären können, aber gerade: ›die kleine Kate Nickleby‹.« – In diesem Augenblick brachte der Kellner den Wein und riß ihn aus seinen Grübeleien. Er schenkte sich ein Glas voll ein und nahm seine Zeitung wieder auf, als fast im selben Augenblick eine Stimme hinter ihm abermals rief:

»Die kleine Kate Nickleby.«

»So hatte ich also doch recht«, murmelte Nikolas und legte das Zeitungsblatt auf den Tisch. »Und wieder ist's derselbe Herr, den ich schon vorhin im Verdacht hatte.«

»Da es nicht gut angeht, auf ihre Gesundheit aus leeren Gläsern zu trinken«, sagte der Gentleman mit dem geckenhaften Aussehen laut, »so soll ihr die Blume der neuen Flasche gewidmet sein. – Hoch die kleine Kate Nickleby!«

»Prosit, die kleine Kate Nickleby soll leben!« riefen die übrigen drei und tranken ihre Gläser auf einen Zug aus.

Eine so frivole Erwähnung des Namens seiner Schwester in einem öffentlichen Gasthaus ging Nikolas durch und durch. Er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß, gab sich aber alle Mühe, ruhig zu bleiben, und wandte nicht einmal den Kopf.

»Ein Teufelsmädel«, rief derselbe Herr, der soeben gesprochen, »eine echte Nickleby! – Ein würdiges Seitenstück zu ihrem alten Onkel Ralph. Geht absolut nicht aus sich heraus, damit man ihr um so näher kommen muß. Genauso wie er. Er läßt auch immer jeden dicht an sich herankommen, ehe er mit dem Geld herausrückt. Die Folge davon ist: doppelte Zinsen. Was soll man tun, man braucht's doch! Verdammt schlau, aber man kann nichts dagegen machen.«

»Verdammt schlau«, echoten zwei Stimmen.

Die zwei ältlichen Herren am Nebentische standen jetzt auf, um sich zu entfernen, und Nikolas geriet darüber geradezu in Todesangst, denn er fürchtete, bei dem Geräusch, das sie verursachten, ein Wort von dem, was nebenan gesprochen wurde, zu überhören. Zum Glück stockte gerade die Unterhaltung, um sich, als die beiden Gentlemen draußen waren, nur um so ungezwungener fortzusetzen.

»Äh – ich fürchte«, näselte der jüngste der Herren, »die A-alte ist – äh – eifersüchtig geworden und – äh – hat sie eingesperrt, wüßte mir's sonst nicht zu erklären.«

»Desto besser, wenn sie uneins sind«, rief sein Nebenmann, »und die kleine Nickleby zu ihrer Mutter zieht, um so besser. Die Alte kann ich um den Finger wickeln; sie glaubt jedes Wort, das ich ihr sage.«

»Ja, das stimmt«, lachte der vierte Herr, »ha, ha, ha, eine unglaubliche Gans.«

Die beiden ersten Stimmen echoten wieder unisono das Gelächter über diesen Witz auf Mrs. Nicklebys Kosten. Voll Zorn fuhr Nikolas auf, hielt sich aber noch einen Augenblick zurück und wartete, was er weiter zu hören bekäme.

Der Inhalt der Reden ist hier gleichgültig, aber je rascher die Flasche kreiste, desto mehr lernte Nikolas Nickleby die Charaktere und Absichten der Herren durchschauen, Ralphs Niederträchtigkeit wurde ihm in ihrem vollem Umfange klar, und ein Licht ging ihm auf über den wahren Grund, weshalb Newman seine Anwesenheit in London gewünscht hatte. Er sah jetzt alles klar vor sich und war Zeuge, wie man die Leiden seiner Schwester verlachte, ihr sittsames Benehmen verhöhnte und auf die gemeinste Weise mißdeutete, und wie ihr Name zum Gegenstand roher Wetten und unzüchtiger Scherze gemacht wurde.

Der Herr, der zuerst gesprochen hatte, führte nunmehr die Unterhaltung fast ausschließlich, und an ihn wendete sich Nikolas jetzt, nachdem er sich hinreichend gesammelt, um der Gesellschaft gegenübertreten und seine Worte mühsam hervorstoßen zu können.

»Ich muß um ein paar Worte mit Ihnen bitten, Sir«, begann er.

»Mit mir, Sir?« fragte Sir Mulberry Hawk erstaunt und maß Nikolas geringschätzig von oben bis unten.

»Ja, mit Ihnen«, wiederholte Nikolas mit vor Wut fast erstickter Stimme.

»Oho! Ein geheimnisvoller Unbekannter!« spöttelte Sir Mulberry, setzte sein Glas an die Lippen und blickte seine Freunde der Reihe nach fragend an.

»Wollen Sie für ein paar Minuten mit mir hinauskommen, oder verweigern Sie mir die Unterredung?« fragte Nikolas.

Der Baronet setzte sein Glas einen Augenblick ab und forderte ihn verächtlich auf, entweder sein Begehren hier bei Tisch vorzubringen oder ihn in Ruhe zu lassen.

Nikolas zog seine Karte hervor und warf sie auf den Tisch.

»Lesen Sie, Sir!« rief er. »Was ich wünsche, werden Sie sich dann leicht erklären können.«

Ein Ausdruck von Überraschung und Verwirrung überflog Sir Mulberrys Gesicht, als er den Namen »Nickleby« las, aber schnell faßte er sich wieder, warf die Karte dem jungen Lord, der ihm gegenüber saß, zu, nahm dann aus einem vor ihm stehenden Glas einen Zahnstocher und machte nonchalant davon Gebrauch.

»Ich ersuche Sie um Ihren Namen und Ihre Adresse«, sagte Nikolas, der, je mehr es in ihm kochte, immer blasser und blasser wurde.

»Sie werden weder das eine noch das andre erfahren«, höhnte Sir Mulberry.

»Wenn ein Gentleman in dieser Gesellschaft ist«, rief Nikolas, blaß bis in die Lippen und kaum imstande zu sprechen, »so wird mir vielleicht dieser den Namen und die Wohnung dieses Herrn mitteilen.«

Totenstille.

»Ich bin der Bruder der jungen Dame, von der soeben hier die Rede war«, fuhr Nikolas fort, »und ich erkläre als solcher diesen Herrn für einen Lügner und einen Feigling. Wenn er einen Freund hier hat, so wird, hoffe ich, dieser ihm die Schmach seines erbärmlichen Versuchs, seinen Namen geheimzuhalten, ersparen, um so mehr, als es ihm doch nichts nützen wird. Ich weiche nicht eher, bevor ich ihn nicht erfahren habe.«

Sir Mulberry lächelte nur verächtlich und wendete sich wieder zu seiner Gesellschaft:

»Der Kerl redet mir lange gut. Einen Milchbart wie ihn nimmt man nicht ernst. Er verdankt es nur meiner Rücksicht für seine hübsche Schwester, daß er meinetwegen bis Mitternacht fortschwätzen kann, ohne daß ich ihm den Schädel einschlage.«

»Sie sind ein niederträchtiger und feiger Schuft«, schrie Nikolas, »und ich werde Sie als solchen kennzeichnen. Ich werde schon erfahren, wer Sie sind, und wenn ich Ihnen auch bis zum Morgen in den Straßen nachlaufen sollte.«

Sir Mulberrys Hand fuhr unwillkürlich nach der Weinflasche. Er schien einen Augenblick willens zu sein, sie seinem Beleidiger an den Kopf zu werfen, zog jedoch vor, sich bloß sein Glas vollzuschenken, und lachte höhnisch.

Nikolas setzte sich nunmehr dicht in die Nähe der Gesellschaft, rief den Kellner und bezahlte seinen Wein.

»Kennen Sie den Namen dieses Menschen?« fragte er den Mann laut und deutete dabei auf Sir Mulberry.

Der Baronet lachte nur abermals, und die zwei Stimmen echoten wieder unisono, aber nicht besonders couragiert.

»Diesen Herrn, Sir?« versetzte der Kellner, der sofort begriff, was er zu tun habe, mit soviel Unverschämtheit, als er es gerade noch in seiner Stellung wagen konnte. »Nein, Sir, ich kenne ihn nicht.«

»Wenn Sie vielleicht wissen wollen, wie dieser Bursche heißt«, rief Sir Mulberry dem Kellner nach, »so können Sie's hier lesen.« Dabei schnappte er ihm Nikolas' Karte hin. »Und wenn Sie's getan haben, können Sie das Zeug in den Ofen werfen, verstanden?«

Der Kellner verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, blickte spöttisch nach Nikolas hin, wählte einen Mittelweg, indem er die Karte in den Kaminspiegel steckte, und entfernte sich. Nikolas verschränkte die Arme, biß sich in die Lippen und blieb ruhig sitzen. In seinem Gesicht konnte man deutlich sehen, daß er einen festen Entschluß gefaßt habe und nicht davon abzugehen gedenke, die Drohung, Sir Mulberry bis zu seiner Wohnung zu folgen, auszuführen.

Wie es schien, machte der jüngste der Herren dem Baronet Vorstellungen wegen seines Benehmens und drängte ihn offenbar, Nikolas' Begehren zu erfüllen, aber Sir Mulberry, der nicht mehr ganz nüchtern war, beharrte störrisch auf seinem Vorhaben und brachte die Einwendungen seines schwachen jungen Freundes bald zum Schweigen. Er schien sogar, um nichts dergleichen mehr hören zu müssen, darauf zu bestehen, man möge ihn allein lassen, wenigstens standen der junge Lord und die beiden ändern, die immer unisono gesprochen hatten, daraufhin auf, entfernten sich und ließen ihn mit Nikolas allein.

Sir Mulberry Hawk lehnte sich jetzt in seinem Sessel zurück, stemmte die Füße auf den Stuhl gegenüber und leerte langsam, sein Taschentuch nachlässig aufs Knie gelegt, mit größter Seelenruhe und Gleichgültigkeit seine Flasche Claret.

So saßen er und sein junger Gegner fast eine Stunde in ununterbrochenem Schweigen einander gegenüber. Nikolas kam es wohl dreimal so lange vor, aber die kleine Wanduhr hatte erst viermal je eine Viertelstunde angezeigt. Sooft er sich zornig und ungeduldig umblickte, immer noch saß der Baronet in derselben Stellung da, von Zeit zu Zeit sein Glas an die Lippen führend und geistesabwesend die Wand anstierend, als sei er sich nicht einmal seiner eigenen Anwesenheit bewußt.

Endlich dehnte er sich, gähnte und stand auf. Dann trat er ruhig vor den Spiegel, betrachtete sich darin und drehte sich schließlich nach Nikolas um. Dieser war ebenfalls aufgestanden, aber Sir Mulberry zuckte nur die Achseln, kräuselte spöttisch die Lippen, zog die Klingel und forderte schläfrig den Kellner auf, ihm in seinen Überzieher zu helfen.

Der Mann gehorchte und öffnete die Türe.

»Gehen Sie nur«, sagte Sir Mulberry und entließ ihn.

Dann ging er, nonchalant vor sich hin pfeifend, ein paarmal im Zimmer auf und ab, blieb noch einen Augenblick vor dem Tisch stehen, um sein letztes Glas Rotwein zu leeren, nahm dann seinen Spaziergang wieder auf, setzte sich vor dem Spiegel seinen Hut auf, zog seine Handschuhe an und schritt schließlich langsam hinaus. Nikolas, vor innerer Wut beinahe verzehrt, folgte ihm – so dicht, daß, ehe noch die Türe ins Schloß gefallen war, er Seite an Seite mit ihm auf der Straße stand. Ein paar Schritte weit wartete ein Kabriolett. Der Portier schlug die lederne Schutzdecke zurück und eilte zu dem Pferd.

»Also wollen Sie mir jetzt Ihren Namen nennen oder nicht?« fragte Nikolas mit vor Wut erstickter Stimme.

»Nein, zum T...«, fuhr Sir Mulberry Hawk wütend auf und schluckte einen Fluch hinunter.

»Wenn Sie vielleicht auf die Geschwindigkeit Ihres Pferdes bauen, so irren Sie sich«, sagte Nikolas kalt. »Ich werde Ihnen folgen – verlassen Sie sich darauf, und wenn ich mich an den Wagen anhängen sollte.«

»Dann werden Sie heruntergepeitscht werden«, versetzte Sir Mulberry verächtlich.

»Sie sind ein Schuft!« war die Antwort.

»Und sie wahrscheinlich ein Laufbursche«, revanchierte sich Sir Mulberry Hawk.

»Ich bin der Sohn eines Gentlemans«, erwiderte Nikolas, »Ihnen gleich an Geburt und Erziehung, aber in jeder andern Hinsicht weit überlegen. Ich sage Ihnen noch einmal, Kate Nickleby ist meine Schwester. Wollen Sie mir jetzt für Ihr niederträchtiges Betragen Rede stehen oder nicht?«

»Einem ebenbürtigen Gegner gegenüber würde ich es tun, Ihnen gegenüber – nein«, versetzte Sir Mulberry und nahm die Zügel in die Hand. »Aus dem Weg da, Lumpenhund! – William, los da vorne!«

»Sie werden das besser bleiben lassen«, rief Nikolas und trat, als Sir Mulberry auf den Bock sprang, auf den Kutschentritt und entriß ihm die Zügel. »Der Mann hat das Pferd nicht in seiner Macht. Sie sollen mir nicht von der Stelle, das schwöre ich Ihnen – nicht, bevor Sie mir nicht gesagt haben, wer Sie sind.«

Der Portier zögerte, ob er die Trense loslassen solle, denn das Pferd, ein feuriges Tier, bäumte sich so wild, daß er es kaum zu halten imstande war.

»Laß los, sag' ich!« donnerte Sir Mulberry.

Der Mann gehorchte. Das Pferd schlug hinten und vorn aus, als ob es den Wagen in tausend Stücke zerschlagen wollte, aber Nikolas, in seiner Wut gegen alle Gefahr blind, blieb auf dem Kutschentritt stehen, ohne die Zügel loszulassen.

»Wollen Sie loslassen?«

»Sagen Sie mir, wer Sie sind!«

»Nein.«

»Dann laß' ich nicht los.«

Die Worte flogen nur so hin und her. Da faßte Sir Mulberry plötzlich seine Peitsche kürzer und schlug damit aus Leibeskräften auf Kopf und Schultern seines Gegners los. Der Stiel zerbrach. Nikolas bemächtigte sich des schweren Handgriffs und versetzte damit dem Baronet einen Schlag ins Gesicht, daß sofort vom Auge bis zur Lippe eine dicke Wulst aufquoll. Er sah es, aber nur eine Sekunde lang; dann raste das Pferd im Galopp dahin und hundert Lichter tanzten vor seinen Augen. Er war zu Boden geschleudert worden.

Einen Augenblick glaubte er, das Bewußtsein verlieren zu müssen, und es schwindelte ihm, aber gleich darauf stand er wieder auf den Beinen, durch das laute Schreien der Passanten zu sich gebracht, die vorübereilten, um dem durchgehenden Gespann nachzulaufen. Noch konnte er in der Entfernung das Kabriolett erkennen, wie es in rasender Eile das Trottoir entlangjagte – dann ein lauter Schrei, das Aufschlagen eines schweren Gegenstandes – Klirren zerbrechenden Glases – und dann drängte sich die Menschenmenge zusammen und versperrte den Ausblick.

Nikolas war jetzt ganz allein, denn die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich ausschließlich dem umgestürzten Wagen zugewendet. Ganz richtig schloß er, daß es unter solchen Umständen Tollheit wäre, seinem Gegner zu folgen, und bog daher in ein Seitengäßchen, um den nächsten Droschkenstand aufzusuchen, zumal er die Entdeckung machte, daß er wie ein Betrunkener wankte und ihm aus Gesicht und Händen das Blut hervorquoll.


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