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23. Kapitel

Handelt von dem Ensemble Mr. Vincent Crummles' wie auch von seinen häuslichen und Theaterangelegenheiten.

Da Mr. Crummles ein seltsames vierbeiniges Tier im Wirtshausstalle stehen hatte, das er als Pony bezeichnete, und ein Fuhrwerk von unbekannter Bauart besaß, dem er den Namen eines vierräderigen Phaethons gab, setzte Nikolas seine Reise am nächsten Morgen mit größerer Bequemlichkeit fort, als er erwartet hatte. Er und der Schauspieldirektor nahmen den Vordersitz ein, während die jungen Herren Crummles und Smike hinten auf einem geflochtenen Weidenkorb Platz fanden, der, durch starken Wachstaffet geschützt, die Schwerter, Pistolen, Zöpfe, Matrosenkleider und andere Theaterrequisiten barg.

Das Pony ließ sich auf dem Wege bemerkenswert viel Zeit und legte hin und wieder – vielleicht infolge seiner Erziehung für die Bühne – ein sehr lebhaftes Bestreben, sich niederzulegen, an den Tag. Mr. Crummles hielt es jedoch durch Zerren an den Zügeln und wiederholte Anwendung der Peitsche so ziemlich aufrecht, und wenn diese Mittel fehlschlugen, half man dadurch nach, daß der ältere von Mr. Crummles' Söhnen ausstieg und seinen Kunstgenossen mit Fußtritten aufmunterte. Durch derartige Mittel ließ sich das Tier denn auch jedesmal bewegen, wieder ein Stück weiterzuzotteln.

»Das Pony ist im Grunde ein guter Kerl«, erklärte Mr. Crummles Nikolas. »Seine Kreuzundquerzüge sind gar nicht zu zählen. Es ist, sozusagen, mit uns verwachsen. Schon seine Mutter war beim Theater.«

»Was Sie sagen!«

»Sie aß vierzehn Jahre lang im Zirkus Äpfelpasteten, feuerte Pistolen ab und ging mit einer Schlafmütze zu Bett. Mit einem Wort, sie vertrat das Fach der niedern Komik. Sein Vater war Tänzer.«

»Leistete er viel in dieser Kunst?« fragte Nikolas.

»Nicht sonderlich. Er war ein ziemlich gemeines Pony, was daher rührte, daß er ursprünglich ein Mietgaul war und nie seine

früheren Gewohnheiten ganz zu verleugnen vermochte. Im Melodrama ließ er sich jedoch brav an, nur war er ein bißchen zu breit, – bildlich nämlich. Trug zu dick auf. Als seine Mutter starb, übernahm er das Portweinfach.«

»Das Portweinfach!?« rief Nikolas erstaunt.

»Er trank Portwein mit dem Hanswurst«, erklärte der Theaterdirektor, »aber er war zu gierig. Eines Abends zerbiß er das Glas und ging an den verschluckten Scherben zugrunde. Er hatte also lediglich seiner Gemeinheit sein wenig ruhmreiches Ende zu danken.«

Allmählich nahm der Abkömmling dieses unglücklichen Tieres, je weiter die Reise ging, Mr. Crummles' Aufmerksamkeit immer mehr in Anspruch, so daß wenig Zeit zur Unterhaltung blieb. Nikolas konnte sich daher nach Belieben seinen Gedanken überlassen, bis sie an die Zugbrücke von Portsmouth kamen und Halt machten.

»Wir wollen hier aussteigen«, sagte der Theaterdirektor. »Die Jungen können das Pony in den Stall und das Gepäck auf mein Zimmer bringen. Sie werden übrigens gut tun, das Ihrige vorderhand auch dorthin schaffen zu lassen.«

Nikolas dankte für dieses liebenswürdige Anerbieten, sprang aus dem Phaethon, half Smike herunter und begleitete den Schauspieldirektor durch die High Street nach dem Theater, nicht wenig beklommen, so schnell in einen ihm völlig neuen Wirkungskreis eingeführt zu werden.

Sie kamen unterwegs an vielen Zetteln vorbei, die an den Straßenecken und Fensterläden angeklebt waren und die Namen von Mr. Vincent Crummles, Mrs. Vincent Crummles, Master Crummles, Master P. Crummles und Miss Crummles in riesigen Buchstaben weithin leuchten ließen, während die Namen der übrigen Schauspieler nur sehr klein gedruckt waren. Endlich langten sie bei dem Schauspielhause an und tasteten sich durch einen Flur, in dem es stark nach Orangenschalen, Lampenöl und Sägespänen roch, weiter. Dann klommen sie eine Treppe empor, wanden sich durch ein kleines Labyrinth von Kulissen und Farbtöpfen und tauchten endlich auf der Bühne des Kunsttempels von Portsmouth wieder auf.

»Da wären wir endlich«, meinte Mr. Crummles.

Hell war es gerade nicht besonders, aber Nikolas konnte doch unterscheiden, daß er sich dicht neben dem Souffleursitze zwischen staubigen Kulissen, verschimmelten Wolken, grobgepinselten Hintergründen und auf schmutzigen Brettern befand. Er blickte umher. Decke, Parterre, Logen, Galerie, Orchester, Soffitten und Dekorationen – alles machte einen unbeschreiblich kalten, düsteren und erbärmlichen Eindruck.

»Ist das ein Theater?« flüsterte Smike verwundert. »Ich glaubte, da sei alles Pracht und Herrlichkeit.«

»Gewiß, das ist es auch«, versetzte Nikolas kaum weniger überrascht, »aber nicht bei Tage, Smike, nicht bei Tage.«

Der Theaterdirektor riß ihn aus einer genaueren Musterung der Bühne, indem er ihn an die andere Seite des Proszeniums rief, wo an einem kleinen länglichen Mahagonitisch mit schadhaften Beinen eine beleibte, stattliche Dame von ungefähr fünfundvierzig Jahren in einem schmierigen seidenen Mantel saß. Sie hielt ihren Hut an den Bändern in der Hand und hatte das Haar, das sie in üppiger Fülle besaß, in zwei breiten Flechten über die Schläfen gelegt.

»Mr. Johnson«, stellte ihn der Direktor vor (Nikolas hatte den Namen, den ihm Newman Noggs bei Mrs. Kenwigs gegeben, beibehalten); »ich habe die Ehre, Sie mit Mrs. Vincent Crummles bekannt zu machen.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, mein Herr«, sagte Mrs. Vincent Crummles mit Grabesstimme, »um so mehr, als ich so glücklich bin, in Ihnen ein so vielversprechendes neues Mitglied unseres Ensembles zu begrüßen.«

Dabei drückte sie ihm huldreich die Hand. Nikolas hatte bereits ihre mächtigen Finger innerlich bewundert, sich aber auf einen solch ehernen Druck, wie er ihm jetzt zuteil wurde, nicht gefaßt gemacht.

»Und dies«, fuhr die Dame fort und ging mit tragischem Anstand und der ganzen Würde einer Schauspieldirektorin auf Smike zu, »und dies ist der andere Herr? Seien Sie gleichfalls willkommen, Sir!«

»Ich denke, der wird sich machen, meine Liebe, wie?« fragte Mr. Crummles und stopfte sich die Nase mit Schnupftabak voll.

»Vortrefflich«, bestätigte die Dame. »In der Tat, eine sehr wertvolle Akquisition.«

Als Mrs. Vincent Crummles wieder nach dem Tisch zurückschritt, hüpfte aus irgendeinem geheimen Gelaß ein kleines Mädchen in einem schmutzigen, weißen Kleidchen mit bis an die Knie reichenden Besätzen, kurzen Höschen, Sandalen, weißem Spencer, rosa Gazehut, grünem Schleier und Lockenwickeln auf die Bühne, machte eine Pirouette, sprang zweimal in die Höhe, machte wieder eine Pirouette, blickte dann nach der entgegengesetzten Kulisse und stürzte laut aufschreiend bis auf etwa sechs Zoll vor die Lampen des Proszeniums hin, um dort eine wunderschöne Stellung des Entsetzens einzunehmen. Im selben Augenblick schlurfte ein schäbiger Herr in einem Paar alter gelber Pantoffeln auf die Szene, knirschte mit den Zähnen und fuchtelte wild mit einem Spazierstock in der Luft herum.

»Sie probieren den ›Indianer und die Jungfrau‹«, erklärte Mrs. Crummles.

Zum Zeichen, daß die Pantomime ihren Fortgang nehmen sollte, klatschte der Direktor in die Hände, und sogleich eilte der Indianer, mit jedem Augenblick wilder werdend, dem Mädchen nach. Die Jungfrau jedoch entschlüpfte ihm mit sechs Wirbeln, um nach dem letzten auf den Zehenspitzen stehen zu bleiben. Dies schien einigen Eindruck auf den Indianer zu machen, wenigstens fing er an, nachdem er noch etwas mehr Wildheit gezeigt und die Jungfrau noch etliche Male von einer Ecke in die andere getrieben, sanfter zu werden und schlug sich einige Male mit den Fingern der rechten Hand ins Gesicht, um damit anzudeuten, daß er von der Schönheit des Mädchens ganz entzückt sei. In seiner Liebesraserei hämmerte er sich schließlich auf die Brust und verriet auch noch durch andere Zeichen die Gewalt seiner Gefühle, offenbar eine etwas prosaische Werbung, denn die Jungfrau sank auf eine schräge Bank und fiel sofort in tiefen Schlaf. Der Wilde, der es bemerkt, hielt die linke Hand an sein Ohr, nickte dabei seitwärts mit dem Kopf und verscheuchte damit den letzten Zweifel des Publikums, die Schöne stelle sich vielleicht bloß schlafend.

Dann begann er in Ermangelung eines Besseren einen Solo-Tanz, und in demselben Augenblick, als dieser endete, erwachte auch die Jungfrau, rieb sich die Augen, stand von der Bank auf und tanzte gleichfalls ein Solo – aber ein Solo, das den Wilden so in Verzücken versetzte, daß er in der Begeisterung, als sie schloß, von einem nahen Baume irgendeine botanische Kuriosität, die einem kleinen eingesalzenen Kohlkopf nicht unähnlich sah, abpflückte. Die Jungfrau weigerte sich anfangs entschieden, das Geschenk anzunehmen, ließ sich aber endlich doch erweichen, als sie sah, daß der Wilde Tränen vergoß. Aus Freude darüber machte der Wilde einen Luftsprung, worauf auch die Jungfrau, offenbar von dem süßen Duft des eingesalzenen Kohlkopfes hingerissen, desgleichen tat, und dann vollführten beide miteinander einen rasenden Tanz, der damit endete, daß sich der Indianer auf ein Bein niederließ und die Jungfrau ihren Fuß auf seinen Schenkel stellte. Damit schloß das Ballett, absichtlich den Zuschauer in einem Zustand angenehmer Ungewißheit lassend, ob die Jungfrau den Wilden heiraten oder zu den Ihrigen zurückkehren werde.

»Wirklich sehr gut«, lobte Mr. Crummles. »Bravo!«

»Bravo!« rief auch Nikolas, fest entschlossen, alles im besten Lichte zu betrachten. »Herrlich!«

»Dies, Sir«, erklärte Mr. Vincent Crummles und stellte das Mädchen vor, »dies ist unser Wunderkind – Miss Ninetta Crummles.«

»Ihre Tochter?« fragte Nikolas.

»Meine Tochter – ja, meine Tochter. Der Abgott jedes Orts, in dem wir auftreten. Wir besitzen Glückwunschschreiben über sie vom Adel und den Honoratioren fast aller Städte Englands.«

»Das nimmt mich nicht wunder«, sagte Nikolas. »Sie muß ein geborenes Genie sein.«

»Oh, ein –!«

Mr. Crummles hielt inne. Welche Sprache wäre auch reich genug gewesen, um die Vorzüge des Wunderkindes nach Gebühr zu schildern!

»Ich will Ihnen was sagen, Sir«, faßte er sich dann wieder soweit, um fortfahren zu können, »man kann sich von dem Talent dieses Kindes keine Vorstellung machen. Man muß es sehen, Sir, – einfach sehen, wenn man es nur einigermaßen würdigen will. So! Du kannst jetzt zu deiner Mutter gehen, Ninette.«

»Darf man wissen, wie alt sie ist?« fragte Nikolas.

»Warum nicht«, versetzte Mr. Crummles mit einem festen Blick in die Augen des Fragers, wie es Leute zu tun pflegen, wenn sie zweifeln, ob man ihren Worten auch unbedingten Glauben schenken wird. »Sie ist zehn Jahre alt, Sir.«

»Nicht älter?«

»Keinen Tag.«

»Mein Himmel«, meinte Nikolas, »das ist wirklich außerordentlich.« Er wußte nicht, daß Miss Ninetta, wenn auch nicht seit Menschengedenken, sodoch seit gut fünf Jahren sich dieses Alters erfreute. Man hatte sie auch nie früh zu Bett gehen und sie von Kindheit an nach Belieben Branntwein trinken lassen, um ihr Wachstum zu unterbinden.

Inzwischen war der Indianer, der nunmehr seine Stiefel wieder angezogen hatte und seine Pantoffeln in der Hand trug, näher getreten, als wünsche er an der Unterhaltung teilzunehmen.

»Da steckt Talent, mein Herr«, mischte er sich in das Gespräch und nickte dabei Miss Crummles zu.

Nikolas verbeugte sich.

»Ach – ach«, klagte der Schauspieler, setzte die Zähne aufeinander und stieß den Atem mit zischendem Tone hindurch, »wenn sie nur nicht in der Provinz wäre!«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Direktor.

»Sie ist zu gut für die Provinzbühnen«, versetzte der Schauspieler mit Wärme; »sie dürfte nirgends als in einem großen Theater in London auftreten. Ja, ich kann Ihnen unverhohlen sagen, mein Herr, daß sie längst dort wäre, wenn nicht – hem von gewisser Seite her – Sie wissen schon, was ich meine, Mr. Crummles – Neid und Eifersucht ihre Minen springen ließen. – Möchten Sie mich übrigens nicht mit dem Herrn hier bekannt machen, Mr. Crummles?«

»Mr. Folair«, stellte der Direktor vor, »Mr. Johnson.«

»Schätze mich glücklich, Sie kennenzulernen, Sir.« Mr. Folair berührte den Rand seines Hutes mit dem Zeigefinger, und beide Herren schüttelten einander die Hände. – »Ein neu angeworbener Künstler, wie ich höre, mein Herr?«

»Ich kann keinen Anspruch auf diesen Ehrentitel machen«, versetzte Nikolas.

»Haben Sie je einen solchen Zieraffen gesehen«, flüsterte der Schauspieler und zog Nikolas hastig beiseite, als sich Crummles entfernte, um mit seiner Frau zu sprechen.

»Was für einen?«

Mr. Folair schnitt eine Grimasse, die er seinem Pantomimen-Vorrat entnommen haben mochte, und deutete über die Schulter.

»Sie meinen doch nicht das Wunderkind!«

»Pah, das Humbugkind«, zürnte Mr. Folair. »Jedes Mädchen aus einer Armenschule mit ganz gewöhnlicher Auffassung würde es besser machen. Sie kann ihrem guten Stern danken, daß sie einen Direktor zum Vater hat.«

»Sie scheinen es sich sehr zu Herzen zu nehmen«, bemerkte Nikolas lächelnd.

»Ja, beim Zeus, und ich habe auch Ursache dazu«, erwiderte Folair, nahm Nikolas' Arm und schritt mit ihm auf der Bühne auf und ab. »Muß es einen nicht aufs tiefste verstimmen, wenn man sieht, wie diese kleine Krabbe jeden Abend in den besten Rollen auftritt und leere Häuser macht, während wahre Künstler kühl übergangen werden! Ist es nicht entsetzlich, mit ansehen zu müssen, wie die verwünschte Familienduselei des Direktors ihn sogar gegen seinen eigenen Vorteil blind macht? Ich weiß, daß im letzten Monat in Southampton an einem Abend fünfzehn Schillinge und sechs Pence in die Kasse flossen, bloß weil mich das Publikum den Highland Fling tanzen sehen wollte – und was geschah? Ich durfte seitdem nie wieder damit auftreten – nicht ein einziges Mal –, während das Wunderkind alle Abende unter ihrem künstlichen Blumenschmuck weg fünf Erwachsene und ein Kind im Parterre und zwei Lausejungen auf der Galerie angrinst.«

»Wenn ich aus dem, was ich von Ihnen gesehen habe, schließen darf« wich Nikolas verlegen aus, »so müssen Sie ein sehr wertvolles Mitglied des Ensembles sein.«

»Ach«, seufzte Folair und schlug seine Pantoffeln zusammen, um den Staub auszuklopfen, »ich vermag allerdings meine Stelle ziemlich gut auszufüllen – vielleicht besser als irgendeiner in meinem Fach –, aber bei Rollen, wie man sie hier erhält, hat man Blei statt Kreide an den Füßen und tanzt in Ketten, ohne daß man Ruhm erntet. – Nun, wie geht's, alter Knabe?«

Der Gentleman, an den diese letzten Worte gerichtet wurden, war ein gelbbräunlicher Herr mit langem, struppigem, schwarzem Haar, deutlichen Spuren eines Stoppelbartes, trotzdem er rasiert zu sein schien, und Koteletten von derselben tiefen Farbe. Er schien nicht über dreißig Jahre alt zu sein, obgleich ihn viele auf den ersten Blick für älter gehalten haben würden, und sah infolge der Schminke recht geisterhaft blaß aus. Er trug ein gewürfeltes Hemd, einen alten grünen Rock mit blanken vergoldeten Knöpfen, ein Halstuch mit breiten roten und grünen Streifen und weite Pantalons; außerdem hatte er einen einfachen Spazierstock, augenscheinlich mehr der Zierde als des Nutzens wegen, da er ihn mit dem gekrümmten Ende nach unten hin und her schwang, wenn er ihn nicht gerade für einige Augenblicke erhob, um in Fechterstellung Stöße nach den Kulissen oder sonst einem belebten oder unbelebten Gegenstand auszuführen, der ihm zur Zeit als geeignetes Ziel erschien.

»Nun, Thomas«, sagte der Gentleman, einen Stoß nach seinem Freund führend, den dieser jedoch geschickt mit seinen Pantoffeln auffing, »was gibt's Neues?«

»Einen neuen Kollegen, das ist alles«, versetzte Mr. Folair mit einem Blick auf Nikolas.

»Mach die Honneurs, Thomas, mach die Honneurs«, mahnte der Fechter und klopfte Mr. Folair vorwurfsvoll auf den Hut.

»Hm – ja. Also dies hier ist Mr. Lenville, unser erster tragischer Held, Mr. Johnson«, stellte der Tanzkünstler vor.

»Vorausgesetzt, daß das alte Rhinozeros die Rollen nicht selbst spielt, hättest du hinzufügen können, Thomas«, verbesserte Mr. Lenville. »Sie wissen doch, wer das alte Rhinozeros ist, mein Herr?«

»Eigentlich – nein«, gestand Nikolas.

»Wir nennen Crummles so, weil sein Spiel etwas Schwerfälliges und Plumpes hat«, erklärte Mr. Lenville. »Doch ich darf mich hier nicht mit Scherzen aufhalten; ich habe da eine Rolle von zwölf Bogen bekommen, die bis morgen abend einstudiert sein muß, und ich habe bis jetzt noch nicht Zeit gefunden, auch nur einen Blick hineinzuwerfen. Zum Glück lerne ich schnell. – Hem.«

Mit diesen Worten zog Mr. Lenville ein schmieriges, zerknülltes Manuskript aus der Rocktasche, führte noch einen Stoß gegen seinen Freund, ging dann memorierend auf und ab und begleitete sein Gemurmel mit Gestikulationen, wie sie ihm gerade gut dünkten oder es der Text zu fordern schien.

Die Truppe hatte sich inzwischen vollzählig eingefunden, und außer Mr. Lenville und seinem Freunde Thomas war jetzt noch ein schmächtiger junger Mann mit schwachen Augen zugegen, der die blöden Liebhaber spielte und Tenor sang; er war Arm in Arm mit dem »komischen Bauern« erschienen, einem Mann mit aufgestülpter Nase, großem Mund, breitem Gesicht und Glotzaugen. Ein nicht ganz nüchterner ältlicher Herr, sichtlich auf der tiefsten Stufe der Schäbigkeit angelangt, der die ruhigen und tugendhaften Alten spielte, suchte sich bei dem Wunderkinde angenehm zu machen, und ein anderer ungefähr gleichalteriger Mime, nur um eine Spur respektabler, der die Rollen der reizbaren Alten gab – jener schnurrigen Käuze, die Neffen in der Armee haben, ohne Unterlaß mit dicken Stöcken umherlaufen und sie zu Heiraten mit reichen Erbinnen zwingen wollen –, machte vorzugsweise Mrs. Crummles den Hof. Außerdem war noch ein vagabundenmäßig aussehender Kerl in einem zottigen Überrock anwesend, der ganz vorn vor der Rampe auf und ab schritt und in halblautem Tone zur Unterhaltung eines ideellen Publikums mit großer Lebhaftigkeit seine Rolle herunterleierte. Er war nicht mehr so jung, als er offenbar sein wollte, aber doch lag in seinem Benehmen etwas deutlich betont Vornehmes, was auf das Fach der eisenfressenden Helden hindeutete. Eine kleine Gruppe von drei oder vier jungen Männern mit eingefallenen Wangen und buschigen Augenbrauen, die sich in einer Ecke miteinander unterhielten, schien von untergeordneter Bedeutung zu sein. Sie lachten und plauderten miteinander, ohne weiter die Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen.

Die Damen ihrerseits hatten sich in einem kleinen Kreise um den bereits erwähnten schadhaften Tisch versammelt. Miss Snevellicci, die alle Fächer geben konnte – von der Chortänzerin an bis zur Lady Macbeth – und zu ihrem Benefiz stets dieselbe Rolle in blauseidenen Kniehosen spielte, schoß neugierige Blicke aus dem Hintergrunde ihres kohlenkübelartigen Strohhuts auf Nikolas, tat aber dabei, als achte sie aufmerksam auf die Erzählung einer sehr ergötzlichen Geschichte ihrer Freundin, der Miss Ledrock, die eine Handarbeit mitgebracht hatte und einer Krause berückende Formen gab. Eine dritte Dame war eine gewisse Miss Belvawney, die selten etwas anderes als stumme Rollen spielte und gewöhnlich als Page in weißseidenen Höschen auftrat, um nachlässig auf einem Beine dazustehen und das Publikum zu mustern oder in Dramen Stühle hinaus und herein zu tragen. Sie wickelte eben der schönen Miss Bravassa, die einmal von einem Kupferstecherlehrling in einem Charakterkostüm porträtiert worden war, die Locken. Auch Mr. Lenvilles Gattin war zugegen; sie trug einen arg zerknüllten Hut nebst Schleier und befand sich augenscheinlich in Umständen, die verrieten, daß sie Mr. Lenville wahrhaft liebte. Neben ihr stand Miss Gazingi, eine imitierte Hermelinboa um den Hals geschlungen, und machte sich den Spaß, mit den Enden derselben Mr. Crummles junior über die Nase zu fahren, während Mrs. Grudden – die Mrs. Crummles in häuslichen Geschäften Hilfe zu leisten pflegte, an der Kasse saß, die Damen ankleidete, das Haus kehrte, soufflierte (wenn in der letzten Szene alles auf der Bühne war), im Falle der Not alle Rollen spielte, ohne je eine zu lernen, und auf den Komödienzetteln unter jedem Namen aufgeführt wurde, von dem Mr. Crummles glaubte, daß er sich gedruckt gut ausnehmen würde – in einem braunen, mit Pelz verbrämten Tuchkleid und einem Biberhut das Bild vollendete.

Mr. Folair hatte die Liebenswürdigkeit gehabt, Nikolas alle diese Einzelheiten mitzuteilen, und verließ ihn jetzt, um sich unter seine Kollegen zu mischen. Das Geschäft des gegenseitigem Vorstellens wurde durch Mr. Crummles beendet, der das neue Ensemblemitglied als ein wahres Wunder von Gelehrsamkeit und Genie charakterisierte.

»Ich bitte um Verzeihung«, flötete Miss Snevellicci und schlängelte sich an Nikolas' Seite heran; »aber spielten Sie nicht schon einmal in Canterbury?«

»Nie«, versetzte Nikolas.

»Ich erinnere mich, in Canterbury einen Herrn getroffen zu haben – freilich nur für einige Augenblicke, denn ich verließ das Ensemble, als er engagiert wurde –, der Ihnen so ähnlich sah, daß ich fast darauf hätte schwören mögen, Sie wären es.«

»Ich sehe Sie heute zum erstenmal«, erwiderte Nikolas galant, »denn wenn ich Ihnen schon früher begegnet wäre, hätte ich Sie unmöglich vergessen können.«

»Oh, – Sie sind ein Schmeichler«, versetzte Miss Snevellicci mit einer huldreichen Verbeugung. »Freilich, bei näherer Betrachtung sehe ich jetzt, daß der Herr in Canterbury andere Augen hatte als Sie. Sie halten mich vielleicht für recht albern, daß ich von solchen Dingen Notiz nehme, nicht wahr?«

»Nicht im geringsten«, beteuerte Nikolas, »es kann für mich nur schmeichelhaft sein, wenn Sie in irgendeiner Weise von mir Notiz nehmen.«

»Ach, was sind die Männer doch für eitle Geschöpfe!« rief Miss Snevellicci. Sie wurde sodann ganz bezaubernd verlegen, holte ihr Taschentuch aus einem Strickbeutel von verschossenem rotem Seidenzeug, mit einem Messingschloß daran, hervor und wendete sich zu Miss Ledrock:

»Meine liebe Led!«

»Nun?«

»Er ist nicht derselbe.«

»Welcher ›derselbe‹?«

»Der Herr von Canterbury – du weißt doch, wen ich meine. Komm her, ich muß dir etwas anvertrauen.«

Dann steckten die beiden Damen die Köpfe zusammen und wisperten miteinander. Augenscheinlich wollte Miss Ledrock ihre Freundin mit Nikolas necken, denn diese schlug ihr heftig auf die Hand und trat gleich darauf in reizender Verwirrung zurück.

»Meine Damen und Herren«, verkündete Mr. Vincent Crummles, der inzwischen mit Schreiben beschäftigt gewesen war; »morgen um zehn Uhr ist Generalprobe von ›Auge um Auge‹, bei der alles zugegen zu sein hat. Also um zehn Uhr, wenn ich bitten darf.«

»Punkt zehn Uhr«, wiederholte Mrs. Grudden, streng umherblickend.

»Montag vormittag ist Leseprobe von einem neuen Stück«, fuhr Mr. Crummles fort. »Der Titel ist noch nicht bekannt, doch wird jeder darin eine dankbare Rolle erhalten, Mr. Johnson wird dafür sorgen.«

»Wie?« fuhr Nikolas entsetzt auf. »Ich –?«

»Am Montag morgen«, wiederholte Mr. Crummles mit Nachdruck, um den unglücklichen Mr. Johnson nicht zu Wort kommen zu lassen. »Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre –«

Die Damen und Herren ließen sich kein zweites Mal bitten, sich zu entfernen, und in ein paar Minuten war die Bühne bis auf die Familie Crummles, Nikolas und Smike geräumt.

»Auf mein Wort«, sagte Nikolas, den Direktor beiseite nehmend, »ich glaube nicht, daß ich bis Montag fertig sein kann.«

»Pah! pah!«

»Es ist wahrhaftig eine reine Unmöglichkeit. Mein Erfindungstalent ist an solche Aufgaben noch nicht gewöhnt, und ich würde jedenfalls nur etwas –«

»Erfindungstalent! Was zum Teufel hat das mit dem Stück zu schaffen?« rief der Direktor erregt.

»Alles, mein werter Herr.«

»Nichts, mein lieber Herr«, erwiderte der Theaterdirektor ungeduldig. »Verstehen Sie Französisch?«

»Ja.«

»Schön«, brummte der Direktor, zog die Tischschublade auf, nahm eine Papierrolle heraus und händigte sie Nikolas ein. »Da, übersetzen Sie dies und schreiben Sie Ihren Namen unter den Titel. Hol mich der Teufel«, fuhr er gereizt auf, »wie oft habe ich nicht schon den Wunsch geäußert, es möchten alle Mitglieder meines Ensembles Französisch können. Ich könnte dann einfach das Original memorieren und es am nächsten Tag spielen lassen; dann blieben Mühe und Geld erspart.«

Nikolas lächelte und steckte das Heft in die Tasche.

»Und wie gedenken Sie's mit Ihrer Wohnung zu halten?« fragte Mr. Crummles.

Nikolas konnte den Gedanken nicht unterdrücken, daß es ihm, wenigstens für die erste Woche, ungemein gelegen kommen würde, wenn er seine Bettstelle im Parterre des Theaters aufschlagen könnte, sagte aber dann, er habe an das Quartier noch gar nicht gedacht.

»So kommen Sie mit mir. Meine Jünger sollen nach Tisch mit Ihnen gehen und Ihnen etwas Passendes suchen helfen.«

Das Anerbieten ließ sich nicht gut zurückweisen. Nikolas und Mr. Crummles reichten daher jeder Mrs. Crummles einen Arm und verfügten sich auf die Straße. Smike, die beiden Jungen und das Wunderkind gingen auf einem kürzeren Weg nach Hause, und Mrs. Grudden blieb zurück, um in der Billeteurloge ein Irish Stew und eine Pinte Porter zu sich zu nehmen.

Mrs. Crummles schritt über das Pflaster, als ginge sie im Bewußtsein ihrer Unschuld von einem Heldenmut beseelt, den nur die Tugend zu verleihen vermag, geradenwegs auf das Schafott. Mr. Crummles seinerseits hatte den Blick und die Haltung eines unbarmherzigen Despoten angenommen. Nur wenn sie hin und wieder die Aufmerksamkeit eines Spaziergängers auf sich zogen, von Zeit zu Zeit die Namen »Mr. und Mrs. Crummles« flüstern hörten oder einen Jungen umkehren und ihnen ins Gesicht starren sahen, milderte sich der strenge Ausdruck ihrer Züge, und dann fühlten sie so recht, was es heißt, populär sein.

Mr. Crummles wohnte in der St.-Thomas-Street in dem Hause eines Lotsen namens Bulph, der aus Kurzweil seine Türen und Fensterrahmen bootgrün angestrichen hatte und auf dem Kamingesimse seines Wohnzimmers den Finger eines ertrunkenen Mannes nebst anderen See- und Naturmerkwürdigkeiten aufbewahrte. Er hielt auch augenscheinlich viel auf einen blanken messingenen Türklopfer, eine dito Messingplatte und einen Klingelgriff von derselben Legierung. Im Hofe hinter dem Hause hatte er einen Mastbaum mit einem Fähnchen auf der Spitze aufgepflanzt.

»Seien Sie willkommen«, empfing Mr. Crummles Nikolas zu Hause, als der Zug in dem mit Bogenfenstern versehenen Vorderzimmer des ersten Stockes angekommen war.

Nikolas verbeugte sich dankend und war innerlich hoch erfreut, den Tisch bereits gedeckt zu sehen.

»Wir haben nur eine Hammelkeule mit Zwiebelsauce«, entschuldigte sich Mrs. Crummles mit ihrer gewohnten Totenhausstimme. »Wenn Sie damit vorliebnehmen wollen, sind Sie freundlichst eingeladen.«

»Sehr gütig«, murmelte Nikolas.

»Vincent«, wendete sich Mrs. Crummles dann an ihren Gatten, »wieviel Uhr haben wir?«

»Fünf Minuten über Essenszeit.«

Mrs. Crummles zog die Klingel. »Die Schöpsenkeule und die Zwiebelsauce sollen aufgetragen werden!«

Die Magd, die Mr. Bulphs Mietleuten aufwartete, verschwand und kam gleich darauf mit dem Festmahle zurück. Nikolas und das Wunderkind nahmen an einem Pembroke einander gegenüber Platz, und Smike speiste mit den beiden Masters Crummles auf dem Sofabett.

»Gibt es hier viele Theaterfreunde?« begann Nikolas die Unterhaltung.

Mr. Crummles schüttelte den Kopf. »Nein. Im Gegenteil.«

»Die Portsmouther dauern mich«, bemerkte Mrs. Crummles.

»Mich gleichfalls«, sagte Nikolas, »wenn ihnen so jeder Sinn für ein gut geleitetes Theater abgeht.«

»Das ist allerdings der Fall«, bestätigte Crummles. »Im vorigen Jahr debütierte meine Tochter gelegentlich ihres Benefizes in ihren drei beliebtesten Rollen und trat auch im ›Stachelschwein im Feenreich‹ auf, aber die ganze Einnahme betrug nicht mehr als vier Pfund zwölf Schillinge.«

»Und davon gingen noch zwei Pfund für Freibillette ab, Papa«, ergänzte das Wunderkind.

»Geben Sie auch Unterricht, Madam?« fragte Nikolas nach einer Pause.

»Allerdings«, antwortete Mrs. Crummles. »Hin und wieder.

– Bis vor kurzem habe ich der Tochter eines Schiffsprovisionsmaklers Lektionen erteilt. Es stellte sich aber später heraus, daß sie bereits wahnsinnig war, als sie das erstemal zu mir kam. Es war gewiß etwas höchst Außerordentliches, daß sie unter solchen Umständen überhaupt Lust hatte, sich unterrichten zu lassen.«

Nikolas fühlte das Außerordentliche nicht ganz und hielt es daher für das beste zu schweigen.

»Hören Sie mal«, meinte der Theaterdirektor, als das Essen abgetragen war. »Wie war's, wenn Sie eine kleine Rolle mit dem Wunderkind einübten?«

»Sie sind sehr gütig«, versetzte Nikolas hastig, »aber ich glaube, es dürfte besser sein, wenn ich zum erstenmal mit einer Partnerin von meiner Größe aufträte, im Falle ich mich ungeschickt benehmen sollte. Ich würde mich vielleicht sicherer fühlen.«

»Sie haben recht«, gab der Direktor zu. »Sie werden sich aber schon mit der Zeit so weit qualifizieren, daß Sie mit dem Wunderkind auftreten können.«

»Ich hoffe es wenigstens«, erwiderte Nikolas.

Seine Hoffnung bestand aber eher darin, recht lange nicht mit dieser Auszeichnung beehrt zu werden.

»Warten Sie mal, ich will Ihnen sagen, womit wir beginnen können«, fuhr Mr. Crummles fort; »wenn Sie das Stück geschrieben haben, studieren Sie den Romeo ein – apropos, vergessen Sie den Brunnen und die Waschzuber nicht. – Miss Snevellicci spielt die Julia und die alte Grudden die Amme – ja, so wird's gehen; auch den Rover aus Wild Oats und den Cassio und den Jeremias Didler aus Raising the Wind können Sie lernen, Sie werden leicht damit fertig, denn eine Rolle ergibt die andere. Ich habe die Partien hier, Stichwörter und alles.«

Mit diesen hastig hingeworfenen allgemeinen Andeutungen übergab Mr. Crummles Nikolas' widerstrebenden Händen einen Haufen kleiner Bücher; dann beauftragte er seinen ältesten Sohn, den Gast zu begleiten und ihm zu zeigen, wo Wohnungen zu haben wären. Zum Schluß schüttelte man sich die Hände und wünschte einander einen guten Abend.

Portsmouth hat keinen Mangel an bequem möblierten Zimmern; auch ist es nicht schwer, solche aufzufinden, die sich selbst mit sehr mageren Einkünften bestreiten lassen; aber die ersteren waren zu gut und die letzteren zu schlecht, und so zogen sie aus vielen Häusern unverrichteter Dinge wieder ab, bis endlich Nikolas ernstlich zu fürchten anfing, er werde sich schließlich doch noch ein Nachtquartier im Theater ausbitten müssen.

Endlich fanden sie noch zu guter Letzt ein paar Zimmerchen drei Treppen oder vielmehr zwei Treppen und eine Leiter hoch bei einem Tabakwarenhändler auf Common Hard, einer schmutzigen Straße, die nach den Docks führte.

Nikolas mietete sich ein und fühlte sich ungemein glücklich, daß man ihm keine wöchentliche Vorausbezahlung abverlangte.

»So, du kannst jetzt unsere Habseligkeit niederlegen«, sagte er zu Smike, nachdem er den jungen Crummles die Stiege hinunterbegleitet hatte. »Wir sind in wunderliche Verhältnisse hineingeraten, und Gott allein weiß, was daraus werden soll; aber ich bin müde von den Ereignissen der letzten drei Tage und will das Nachdenken darüber auf morgen lassen – wenn ich kann.«


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