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26. Kapitel

Kate Nicklebys Seelenfrieden gerät in ernste Gefahr.

Eine Reihe schöner Zimmer in der Regent Street. Die Uhr schlägt die dritte Nachmittagsstunde für den geplagten Arbeiter und die erste Morgenstunde für den reichen Lebemann.

Lord Frederic und sein Freund Sir Mulberry ruhen auf zwei Sofas, und zwischen ihnen steht ein Tisch mit einem unberührten Frühstück. Im Zimmer liegen Zeitungsblätter herum, aber auch diese bleiben, wie das Mahl, unbeachtet, doch nicht etwa, weil eine lebhafte Unterhaltung die Aufmerksamkeit von den Tagesereignissen ablenkt. Man vernimmt keine Silbe aus dem Munde der beiden Herren und auch kein Geräusch, außer, wenn einer von ihnen sich herumwälzt, um eine bequemere Lage für seinen schmerzenden Kopf zu suchen, oder einen ungeduldigen Ausruf vernehmen läßt, der dann den Gefährten in seiner Ruhe stört.

Schon diese Merkmale hätten einen hinreichenden Schlüssel zu der Ausdehnung der in der vergangenen Nacht stattgehabten Schwelgerei geben können, wenn auch keine anderen Spuren vorhanden gewesen wären, aus denen die Art ihrer Vergnügungen sich hätte erkennen lassen. Ein paar beschmutzte Billardbälle, zwei zerknüllte Hüte, eine Champagnerflasche, um deren Hals ein unsauberer Handschuh gewunden war, um sie bequemer als Angriffswaffe benützen zu können, ein zerbrochener Stock, umhergestreute Spielkarten, ein leerer Geldbeutel, eine zerrissene Uhrkette, eine Handvoll Silbermünzen mit den Stummeln halbausgerauchter Zigarren vermengt – diese und andere Zeichen von Unordnung und Ausschweifung bekundeten unverkennbar die Art, wie sich die beiden feinen Herren in der letzten Nacht belustigt hatten.

Lord Frederic war der erste, der zu sprechen begann. Er ließ seinen bepantoffelten Fuß auf den Boden gleiten, gähnte gewaltig, bemühte sich, sich aufzusetzen, heftete die übernächtigten Augen auf seinen Freund und rief ihn mit schläfriger Stimme an.

»Was gibt's?« knurrte Sir Mulberry, sich umwendend.

»Wollen wir den ganzen Ta-ag hier liegen?«

»Ich weiß nicht, ob wir zu etwas anderem zu gebrauchen sind«, meinte Sir Mulberry. »Vorderhand können wir wenigstens nichts Besseres tun. Ich habe diesen Morgen kein Quentchen Leben in mir.«

»Leben?« ächzte der Lord. »Mir wäre nichts a-angenehmer und beha-aglicher, als wenn ich auf der Stelle sterben könnte.«

»Nun, dann sterben Sie!« riet Sir Mulberry.

Dabei kehrte er sein Gesicht zur Wand und versuchte aufs neue einzuschlafen.

Sein hoffnungsvoller Freund und Zögling hingegen zog einen Stuhl an den Frühstückstisch und versuchte zu essen. Als er aber fand, daß ihm dies nicht glücken wollte, schleppte er sich zum Fenster, schlenderte dann, die Hand an die fiebernde Stirn gelegt, im Zimmer auf und ab, und warf sich endlich wieder auf das Sofa und weckte dadurch seinen Freund aufs neue.

»Was zum Teufel wollen Sie denn von mir?« stöhnte Sir Mulberry und richtete sich mühsam auf.

Obgleich er dies in ziemlich übler Laune sprach, schien er es doch nicht für angebracht zu halten, noch weiter so teilnahmslos zu bleiben. Nach wiederholtem Rekeln, Schaudern und Fluchen auf die verdammte Kälte machte er gleichfalls einen Versuch zu frühstücken und blieb, da es ihm besser mundete als seinem weniger abgebrühten Freund, am Tische sitzen.

»Was halten Sie davon«, knurrte er und betrachtete ein Stückchen Fleisch auf seiner Gabelspitze, »wenn wir wieder auf das Thema ›Nickleby‹ kämen?«

»Meinen Sie den Wucherer oder das Mä-ädel?« fragte Lord Frederic.

»Ich sehe, Sie verstehen mich. Natürlich das Mädel.«

»Sie haben mir doch versprochen, sie ausfindig zu ma-achen.« – Lord Frederic gähnte laut.

»Hm – allerdings«, gab Hawk widerstrebend zu, »aber ich habe inzwischen reiflicher über die Sache nachgedacht. Sie mißtrauen mir in der Sache, scheint mir. – Machen Sie sie lieber selbst ausfindig.«

»Aber nicht im geringsten«, beteuerte Lord Frederic.

»Und ich sage ›ja‹«, versetzte Sir Mulberry. »Forschen Sie nur selber nach. Übrigens wette ich meinen Kopf, daß Sie auch nicht eine Spur von ihr ohne mich entdecken. – Aber ich will glimpflich mit Ihnen verfahren und Ihnen den Weg andeuten. – Ich will Ihnen sagen, wie sich's machen läßt. – Sie war bei jenem Dinner als ein Köder für Sie zugegen.«

»Was!?« rief der junge Lord. »Das wäre der Teu-«

»Als ein Köder für Sie«, wiederholte Sir Mulberry; »der alte Nickleby hat es mir selbst gesagt. – Wenn Sie sie auffinden wollen, müssen Sie den Alten um ihre Adresse fragen und ihm drohen, daß Sie jeden Geschäftsverkehr mit ihm abbrechen, wenn er Späne macht.«

»Das ist ja ein Mordskerl«, rief Lord Frederic, »ein verdammt nobler Spitzbube. Aber warum sagten Sie mir das alles nicht schon früher? Sie lassen mich da schmachten und braten und ein miserables Dasein durch ein ganzes Menschen-a-alter hinschleppen.«

»Erstens weiß ich es selbst erst seit kurzem«, antwortete Sir Mulberry gleichgültig, »und zweitens wußte ich nicht, daß es Ihnen so ernst mit der Sache wäre.«

In Wirklichkeit hatte er seit dem Dinner bei Ralph Nickleby insgeheim alle ihm zu Gebot stehenden Mittel angewendet, um zu entdecken, wieso Kate so plötzlich erschienen und wohin sie ebenso plötzlich verschwunden war. Da es ihm aber an Ralphs Beistand gebrach und er ihn seit dem damaligen nicht sehr freundlichen Abschied nicht mehr gesehen hatte, waren alle seine Anstrengungen vergeblich geblieben. Das bestimmte ihn jetzt, dem jungen Lord den Kernpunkt des Eingeständnisses, das er damals dem Wucherer entlockt, zu verraten, wohl wissend, daß der schwache junge Mann alles, was er über Kates Aufenthalt erfahren würde, sofort ausplaudern werde. – Er brannte förmlich darauf, Ralph Nicklebys Nichte wiederzusehen, durch Anwendung aller seiner Tricks ihren Stolz zu beugen und sich für die Verachtung, die sie ihm hatte angedeihen lassen, zu rächen. Außerdem mußte seine scheinbare Uneigennützigkeit seinem Freunde gegenüber goldene Früchte tragen und die ohnehin schon häufigen Geldwanderungen aus den Taschen des Lords in seine eigenen noch ungemein erleichtern.

So folgerte Sir Mulberry und begab sich bald darauf mit Lord Frederic zu Ralph Nickleby, um dort den von ihm entworfenen Operationsplan, der angeblich die Absichten seines Freundes unterstützen, in Wirklichkeit aber nur seinen eigenen Vorschub leisten sollte, in Ausführung zu bringen.

Sie fanden Ralph zu Hause und allein. Als er sie in sein Besuchszimmer führte, schien ihm die Erinnerung an den Auftritt, der hier stattgefunden, wieder aufzutauchen, denn er warf einen lauernden Blick auf Sir Mulberry.

Sie sprachen eine kleine Weile über Geldangelegenheiten, und als diese abgemacht waren, erklärte (gedrillt von Sir Mulberry) der hochgeborne Pinsel mit einiger Verlegenheit, mit Ralph ein Wort unter vier Augen sprechen zu müssen.

»Wie – unter vier Augen?« rief Sir Mulberry mit geheucheltem Staunen. »Hm. Meinetwegen. Ich kann ja ins nächste Zimmer gehen. Aber laßt mich gefälligst nicht lange warten.« Dann nahm er seinen Hut, summte ein paar Takte aus einer Arie und entfernte sich durch die Verbindungstüre.

»Nun, Mylord«, fragte Ralph, »womit kann ich Ihnen dienen?«

»Nickleby«, begann der junge Aristokrat und streckte sich der Länge nach auf dem Sofa, auf dem er gesessen, aus, um möglichst gleichgültig zu erscheinen, »was Sie da für ein niedliches Geschöpf zur Nichte haben!«

»Meinen Sie, Mylord?« versetzte Ralph. »Mag sein, mag sein, ich belaste mir den Kopf nicht mit derartigen Dingen.«

»Sie wissen ganz gut, daß sie ein verteufelt hübsches Ding ist; Sie müssen das wissen, Nickleby. Versuchen Sie nicht zu leugnen.«

»Je nun, ich glaube, man hält sie dafür«, gab Ralph zu. »Ich weiß schließlich ja auch selbst, daß sie es ist. Wenn es aber auch nicht der Fall wäre, so gelten Sie mir doch als eine gewichtige Autorität in derartigen Dingen. Ihr Geschmack, Mylord, ist in jeder Hinsicht allgemein als der beste bekannt.«

Keinem als dem jungen Manne, an den diese Worte gerichtet waren, hätte der Ton des Hohnes und der verächtliche Blick, mit denen sie begleitet waren, entgehen können. Aber Lord Frederic nahm sie nur als gebührende Anerkennung seiner Verdienste hin.

»Nun«, näselte er, »vielleicht haben Sie ein wenig recht, vielleicht auch ein wenig unrecht – möglicherweise auch ein wenig von beiden, Nickleby. Mir liegt nur daran zu wissen, wo die kleine Beauty wohnt, um sie gelegentlich sehen zu können, Nickleby.«

»Wirklich –«, begann Ralph in seinem gewöhnlichen nüchternen Tone.

»Sprechen Sie nicht so laut«, warnte der Lord, seine eingelernte Rolle bewunderungswürdig gut spielend; »Hawk braucht nichts davon zu hören.«

»Sie wissen, daß er Ihr Nebenbuhler ist?« fragte Ralph mit einem scharfen Blick.

»Das ist der verda-ammte Spitzbube immer. Ich möchte ihm diesmal ganz sachte den Rang ablaufen. Ha! ha! ha! Es wird ihn so schon genug wurmen, Nickleby, daß wir hier ohne ihn miteinander reden. – Also, wo wohnt sie, Nickleby? Ich brauche nichts weiter zu wissen. Sagen Sie mir nur, wo sie wohnt, Nickleby.«

»Er beißt an«, dachte Ralph, »er beißt an.«

»Nun, so reden Sie doch«, drängte der Lord. »Wo wohnt sie?«

»Wirklich – ich –«, begann Ralph zögernd und rieb langsam die Hände übereinander, »ich muß es mir erst überlegen, ehe ich es Ihnen sagen kann.«

»Ach, lassen Sie das lieber bleiben, Nickleby. Sie sollten überhaupt nie überlegen. – Wo wohnt sie?«

»Es kommt vielleicht nichts Gutes dabei heraus, wenn Sie es wissen. Sie ist tugendhaft und wohlerzogen; auch schön, aber arm und schutzlos – ein armes, armes Mädchen.«

Ralph gab diese kurze Schilderung von Kates Stellung, als spräche er nur so zu sich selbst, aber der lauernde Blick, den er auf den jungen Aristokraten richtete, strafte diese armselige Verstellung Lügen.

»Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich sie bloß sehen will«, beteuerte Lord Frederic. »Man darf sich doch schließlich ein hübsches Mädchen anschauen. Das bringt ihr doch keinen Schaden – oder? Also, heraus damit, wo wohnt sie? Sie wissen, daß Sie an mir gut verdienen, Nickleby, und meiner Seel', niemand soll mich dazu bringen, zu jemand anders zu gehen, wenn Sie mir diesen kleinen Gefallen tun.«

»Da Sie mir Ihr Versprechen geben, Mylord«, gab Ralph scheinbar widerstrebend nach, »und ich Ihnen recht gerne einen Dienst erweisen möchte–und da außerdem kein Schaden daraus erwachsen kann–ja, ja, kein Schaden–, so will ich's Ihnen sagen. Aber Sie werden gut tun, es für sich zu behalten, Mylord–ausschließlich für sich.«

Er deutete dabei nach der Türe des anstoßenden Zimmers und nickte ausdrucksvoll mit dem Kopf.

Der junge Aristokrat tat, als fühle er gleichfalls die Notwendigkeit dieser Vorsichtsmaßregel, und Ralph teilte ihm nun mit, wo und unter welchen Verhältnissen seine Nichte zur Zeit lebe und daß ein Lord ohne Zweifel leicht im Hause Zutritt finden könne, wenn er Lust dazu hätte, da man dort viel auf vornehme Bekanntschaften zu halten scheine.

»Und da Sie meine Nichte nur zu sehen wünschen«, schloß er, »so können Sie auf diesem Wege zu jeder Zeit Ihren Zweck erreichen.«

Lord Frederic dankte für diesen Wink mit einem herablassenden Händedruck und meinte dann, daß sie vielleicht gut tun würden, die Unterhaltung abzubrechen.

»Ich dachte schon, Ihr wäret eingeschlafen«, brummte Sir Mulberry, höchst übel gelaunt wieder eintretend.

»Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, entschuldigte sich der Gimpel; »aber Mr. Nickleby ist so erstaunlich spa-aßhaft gewesen, daß ich mich gar nicht von ihm losreißen konnte.«

»Seine Herrlichkeit belieben zu scherzen«, entgegnete Ralph; »die Schuld liegt ganz an Seiner Herrlichkeit. Sie wissen, Sir Mulberry, was für ein witziger, geistreicher junger Herr Lord Frederic ist.–Darf ich bitten– nach Ihnen, Mylord–Sir Mulberry?«

Mit solchen Höflichkeitsphrasen, vielen tiefen Bücklingen und dem gleichen, kalten, höhnischen Zug um den Mund, den er die ganze Zeit über bewahrt hatte, begleitete Ralph die beiden adeligen Herren die Treppe hinunter, ohne den verwunderten Blick Sir Mulberrys, der ihm ein Kompliment über seine vollendete Spitzbüberei zu machen schien, mit etwas anderem als einem leichten Zucken der Lippen zu erwidern.

Einige Augenblicke vorher war die Klingel gegangen, und Newman Noggs öffnete eben die Türe, als sie in dem Hausflur anlangten. Der gewöhnlichen Hausordnung zufolge würde Newman den neuen Besuch schweigend eingelassen oder ersucht haben, ein wenig beiseite zu treten, bis die Herren draußen wären; er hatte jedoch kaum erkannt, wer es war, als er sich auf eigene Faust eine Abweichung von der Regel erlaubte und mit einem Blick auf das achtbare Trio laut ausrief: »Mrs. Nickleby!«

»Mrs. Nickleby?« rief Sir Mulberry Hawk sofort.

Es war in der Tat die Witwe, die, da ein Mietgesuch für das leere Haus in der City eingelaufen war, sich diensteifrig mit der Eile eines Briefträgers auf den Weg gemacht hatte, um das Schreiben Mr. Nickleby persönlich zu überbringen.

»Es ist niemand, den Sie kennen«, sagte Ralph rasch. »Treten Sie in das Kontor, meine–meine–Liebe. Ich komme sogleich.«

»Niemand, den ich kenne?« rief Sir Mulberry Hawk, auf die bestürzte Dame zutretend. »Ist das Mrs. Nickleby, die Mutter von Miss Nickleby, dem bezaubernden Wesen, das ich so glücklich war, bei dem letzten Dinner in diesem Hause zu sehen?–Aber nein«, brach er, schlau berechnend, plötzlich ab, »nein, es kann nicht sein. Und doch ist es derselbe Gesichtsschnitt, derselbe unbeschreibliche Ausdruck des–aber nein, nein. Diese Dame ist zu jung dazu.«

»Ich denke, Sie können dem Herrn sagen, wenn es ein Interesse für ihn hat«, sagte Mrs. Nickleby, das Kompliment mit einer huldvollen Verbeugung quittierend, »daß Kate meine Tochter ist.«

»Ihre Tochter, Mylord!« rief Sir Mulberry, sich zu seinem Freunde wendend. »Die Tochter dieser Dame, Mylord!«

»Mylord?« dachte Mrs. Nickleby. »Ich hätte mir doch nie im Leben–«

»Dies, Mylord, ist also die Dame«, fuhr Sir Mulberry erregt fort, »deren holdem Ehebunde wir so viel Glück verdanken. Die Dame ist die Mutter der liebenswürdigen Miss Kate. Bemerken Sie nicht die außerordentliche Ähnlichkeit, Mylord? Nickleby, stellen Sie uns doch vor.« – Ralph tat es in einer Art von Verzweiflung. –

»Meiner Seel', das ist ja köstlich«, rief Lord Frederic, sich vordrängend. »Äh – freut mich, Sie kennenzulernen.«

Mrs. Nickleby war infolge dieser ungemein freundlichen Begrüßung, wie auch eines innerlichen Ärgers, nicht ihren andern Hut aufgesetzt zu haben, zu verwirrt, als daß sie eine Antwort hätte geben können, und beschränkte sich daher darauf, rastlos zu knicksen, zu lächeln und große Aufregung an den Tag zu legen.

»Und wa-as macht Miss Nickleby?« fragte Lord Frederic. »Sie ist hoffentlich wohl?«

»Ganz wohl, danke der Nachfrage, Mylord«, antwortete Mrs. Nickleby sich sammelnd. »Sie war einige Tage nach dem Dinner hier im Hause unpäßlich. Ich kann mir nur denken, daß sie sich auf der Nachhausefahrt in der Droschke erkältet hat. Droschken, Mylord, sind so garstige Dinger, daß man fast immer besser tut, zu Fuß zu gehen. Obgleich ich glaube, daß ein Droschkenkutscher Deportation auf Lebenszeit bekommt, wenn er zerbrochene Fenster hat, so sind doch alle so nachlässig, daß es wohl kaum einen einzigen gibt, der nicht zerbrochene Fensterscheiben hätte. Ich habe mir einmal in einer Droschke eine Gesichtsrose geholt, Mylord, wegen der ich sechs Wochen im Bett bleiben mußte – ja, ich glaube, es war eine Droschke«, fuhr Mrs. Nickleby nach einigem Besinnen fort, »obgleich ich nicht ganz sicher bin, ob es nicht ein Fiaker war. Jedenfalls erinnere ich mich, daß sie grün angestrichen war und eine sehr lange Nummer hatte, die mit einer Null anfing und mit einer Neun endigte – nein, mit einer Neun anfing und mit einer Null endigte; ja, so war's –, und natürlich würde die Polizei, wenn sie Nachforschungen anstellte, leicht ausfindig machen können, ob es eine Droschke oder ein Fiaker gewesen ist. Aber sei dem, wie es wolle, sie hatte ein zerbrochenes Fenster, und ich hatte für sechs Wochen eine Gesichtsrose weg. Ich denke, es war dieselbe Droschke, in der wir später wieder fuhren und die die ganze Zeit über ein zurückgeschlagenes Verdeck hatte – wir würden uns diesen Umstand nicht gemerkt haben, wenn man uns deshalb nicht einen Schilling extra für die Stunde abgefordert hätte, was Gesetz zu sein scheint, oder vielleicht damals Gesetz war; aber jedenfalls ist es ein schändliches Gesetz. Ich verstehe mich zwar nicht auf die Sache, aber ich darf sagen, die Kornwuchergesetze sind nichts gegen solche Parlamentsakte.«

Nachdem Mrs. Nickleby in dieser Weise ihrer Zunge freien Lauf gelassen hatte, hielt sie so plötzlich, wie sie angefangen hatte, inne und wiederholte, daß Kate jetzt ganz wohl wäre.

»Ich glaube nicht, daß sie sich je wohler befand, seit sie den Keuchhusten, das Scharlachfieber und die Masern–und zwar alle drei zu gleicher Zeit–überstanden hatte.–Ja, ja, so ist es.«

»Ist das Schreiben an mich?« brummte Ralph, auf das Kuvert deutend, das Mrs. Nickleby in der Hand hielt.

»Ja, an Sie, Schwager. Und ich bin deshalb den ganzen Weg hierher, so schnell ich konnte, gelaufen, um es Ihnen selbst zu geben.«

»Den ganzen Weg hierher gelaufen!?« rief Sir Mulberry, die Gelegenheit erfassend, um zu erfahren, woher Mrs. Nickleby käme. »Das muß wohl eine verflixte Entfernung sein?–Wie weit ist es wohl?«

»Wie weit?« entgegnete Mrs. Nickleby. »Lassen Sie mich nachrechnen. Es ist genau eine Meile von unserer Haustüre bis nach Old Bailey.«

»Nein–nein–nein, so weit kann's nicht sein«, meinte Sir Mulberry.

»Ah, ganz gewiß«, versicherte Mrs. Nickleby. »Ich berufe mich auf Seine Herrlichkeit.«

»Ich kann bestimmt versichern, daß es eine Meile ist«, bemerkte Lord Frederic mit der ernsthaftesten Miene von der Welt.

»Es muß so sein–gewiß, keine Elle weniger«, nahm Mrs. Nickleby einen neuen Redeanlauf. »Die ganze Newgate Street und ganz Cheapside herunter, die ganze Lombard Street hinauf, die Gnadenkirchstraße hinunter und auf der Themse Street fort bis zur Spigwiffinswerfte. Oh, es ist eine Meile.«

»Wenn ich es mir näher überlege, so haben Sie recht«, gab Sir Mulberry, ein Lächeln unterdrückend, zu. »Aber Sie haben doch gewiß nicht im Sinn, den ganzen Weg wieder zu Fuß zurückzulegen?«

»O nein«, erwiderte Mrs. Nickleby, »ich will einen Omnibus benützen. Ach, ich bin freilich nicht in Omnibussen gefahren, als mein armer Nikolas noch lebte. – Aber Sie wissen, Schwager, wie's geht.«

»Ja, ja. – Aber wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben und ausruhen?« sagte Ralph, der sonst selten eine Erfrischung anbot, wenn nichts dabei zu verdienen war, auffallend rasch.

»Ach, lieber Gott, nein«, lehnte Mrs. Nickleby mit einem Blick auf die Uhr zögernd ab.

»Lord Frederic«, riß Sir Mulberry das Gespräch an sich, »wir haben mit Mrs. Nickleby einen Weg. Wir müssen doch dafür sorgen, daß sie sicher in einem Omnibus untergebracht wird.«

»J-a freilich«, näselte der Lord.

»Ach, eine solche Ehre wäre allzugroß«, zierte sich Mrs. Nickleby.

Aber Sir Mulberry und Lord Frederic bestanden darauf, ihr diese Ehre zu erweisen, und verließen, sie in die Mitte nehmend, das Haus, ohne auf Ralph Rücksicht zu nehmen, der – und zwar nicht mit Unrecht – einsah, daß er als stummer Zuschauer eine weniger lächerliche Rolle spielen würde, als wenn er sich in die Verhandlungen einmischte. Die gute Dame fühlte sich überglücklich sowohl durch die Aufmerksamkeiten, die ihr von zwei adeligen Herren erwiesen wurden, wie auch durch die feste innerliche Überzeugung, daß Kate jetzt mindestens zwischen zwei ungeheuer reichen und durchaus tadellosen Freiern die Wahl habe.

Während sie sich so einem Strom von Gedanken, die alle mit der künftigen Größe ihrer Tochter in Verbindung standen, hingab, wechselten Sir Mulberry und sein Freund über dem Hut weg, den die arme Frau nicht zu Hause gelassen zu haben so bedauerte, Blicke des Einverständnisses und ließen sich in hohem Entzücken und nicht minder respektvoll über Miss Nicklebys mannigfaltige Vorzüge aus. »Welche Wonne, welcher Trost, welches Glück muß nicht dieses holde Wesen für Sie sein!« rief Sir Mulberry mit dem Timbre wärmsten Gefühls in der Stimme.

»Das ist sie in der Tat, Sir«, versetzte Mrs. Nickleby. »Sie ist das sanfteste und edelherzigste Geschöpf von der Welt – und so verständig!«

»Man sieht ihr den Versta-and an«, bekräftigte Lord Frederic mit der Miene eines Mannes, dem ein Urteil in derartigen Dingen zukommt.

»Ich versichere Ihnen, sie ist es, Mylord. Als sie in dem Institut in Devonshire war, galt sie allgemein für das gescheiteste Mädchen, und es waren doch viele recht verständige unter den Pensionärinnen – das muß wahr sein. Fünfundzwanzig junge Damen, von denen jede fünfzig Guineen – die Nebenausgaben nicht mit eingerechnet – bezahlte, darunter die beiden Miss Dowdles, die vollendetsten, elegantesten und bezauberndsten jungen Damen. – Ach, du mein Himmel«, fuhr Mrs. Nickleby fort, »ich werde nie vergessen, wieviel Freude sie mir und ihrem armen Vater bereitete, als sie in der Pension war. – Nie! Wenn ich nur an die herrlichen Briefe denke, in denen sie uns jedes Halbjahr schrieb, daß sie die Erste in der ganzen Anstalt sei und bessere Fortschritte gemacht habe als alle andern! Ach, ich darf gar nicht mehr daran denken! Die Mädchen schrieben die Briefe alle selber«, fügte Mrs. Nickleby wichtig hinzu, »und der Lehrer besserte sie nachher mit einem Vergrößerungsglas und einer silbernen Feder aus; wenigstens glaube ich, daß es selbst verfaßte Briefe waren, obgleich es Kate nicht ganz gewiß behaupten konnte. Jedenfalls weiß ich aber, daß es ein Musterbrief war, den alle abzuschreiben hatten, und die Eltern mußten dann natürlich eine große Freude darüber haben.«

Mit solchen und ähnlichen Reminiszenzen verkürzte Mrs. Nickleby den Herren den Weg, bis sie endlich bei dem Omnibushalteplatz anlangten. Die neuen vornehmen Bekannten wollten sie aus lauter Höflichkeit nicht verlassen, bis sie wirklich abgefahren wäre, und nahmen bei dieser Gelegenheit, wie Mrs. Nickleby später oft erzählte, ihre Hüte »ganz« ab und küßten sich die strohfarbigen Glacehandschuhfingerspitzen, bis der Wagen ihnen aus dem Gesicht entschwand.

Dann drückte sie sich in die hinterste Ecke des Omnibus, schloß die Augen und überließ sich einer Fülle der angenehmsten Betrachtungen. Kate hatte nie ein Wort von diesen Herren gesprochen, »und dies«, dachte sie, »beweist, daß sie einen von ihnen begünstigt«. Aber welchen von beiden? Der Lord war der jüngere und sein Rang entschieden der höhere; aber Kate war nicht das Mädchen, das sich durch derartige Rücksichten bestimmen ließ. »Ich werde ihren Neigungen nie einen Zwang antun«, sagte sich Mrs. Nickleby. »Aber, in der Tat, ich glaube, es kann gegenüber Seiner Lordschaft und Sir Mulberry von einer schwierigen Wahl gar keine Rede sein. Sir Mulberry ist ein aufmerksamer, galanter Herr, hat so viel Manier, so viel Takt und überhaupt so viel, was für ihn spricht. Ich hoffe, es ist Sir Mulberry – ja gewiß, es muß Sir Mulberry sein!« Und dann kehrten Mrs. Nicklebys Gedanken zu ihrer alten Prophezeiung zurück, und sie »erinnerte« sich, wieviel hundertmal sie gesagt hätte, Kate würde ohne Mitgift eine weit bessere Partie machen als anderer Leute Töchter mit Tausenden von Pfunden. Als sie sich aber dabei mit der lebhaften Phantasie einer Mutter die Schönheit und Anmut des armen Mädchens vergegenwärtigte, die sich so ganz ohne Murren den Mühseligkeiten und Beschwerden der letzten Zeit unterzogen hatte, da schwoll ihr das Herz, und die Tränen rollten ihr über die Wangen.

Ralph ging inzwischen in seinem kleinen Bureau auf und ab, nicht wenig durch das, was eben vorgefallen, beunruhigt. Es wäre die gröbste Verleumdung gewesen, wenn jemand gesagt haben würde, Ralph hätte je – für irgendein Geschöpf Gottes – Liebe oder Teilnahme empfunden; dessenungeachtet aber beschlich ihn hin und wieder ein Gedanke an seine Nichte, der eine leichte Färbung von Mitleid hatte, freilich nur ein matter Schimmer, im günstigsten Falle ein schwacher, kränkelnder Strahl, der durch die düstere Wolke von Haß oder Gleichgültigkeit, mit denen er alle Menschen betrachtete, brach, aber dennoch ein Etwas, das ihm das arme Mädchen in einem bessern und reinern Lichte zeigte, als ihm bis jetzt die Menschheit überhaupt erschienen war.

»Ich wollte«, dachte er, »ich hätte es nicht getan. Und doch es wird diesen Laffen an mich fesseln, solange noch Geld bei ihm zu holen ist; freilich ein Mädchen verkaufen! – Ihr Versuchung, Beleidigung, Roheit in den Weg zu werfen! – Aber ich habe fast zweitausend Pfund Profit heute schon – an ihm! – Pah! Weg damit! Heiratstiftende Mütter tun jeden Tag das nämliche.«

Und dann setzte er sich nieder und zählte die Möglichkeiten für und wider an den Fingern ab.

»Wenn ich die Kerle heute nicht auf die richtige Spur gebracht haben würde, hätte es dieses einfältige Weib getan. – Je nun, wenn ihre Tochter so standhaft ist, wie es den Anschein hat, was kann ihr daraus Übles erwachsen? – Ein bißchen Quälerei, ein wenig Demütigung, ein paar Tränen, na«, sagte Ralph laut vor sich hin und schloß seine eiserne Kasse ab, »soll sie sich selber durchhelfen. – Ihr Geschick liegt in ihrer eigenen Hand.«


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