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24. Kapitel

Miss Snevelliccis großes Benefiz und Nikolas' erstes Auftreten auf der Bühne.

Nikolas war am Morgen zeitig wach und hatte kaum begonnen, sich anzukleiden, als er Tritte auf der Treppe vernahm und gleich darauf auch die Stimmen Mr. Folairs und des tragischen Helden, Mr. Lenvilles, unterschied.

»Zu Hause? zu Hause?« rief Mr. Folair.

»Holla, ho! Sind Sie drinnen?« ertönte Mr. Lenvilles Baß.

»Hol der Henker die Burschen!« dachte Nikolas. »Sie wollen wahrscheinlich bei mir frühstücken. – Haben Sie nur einen Augenblick Geduld, meine Herren, ich werde sogleich die Türe öffnen«, setzte er laut hinzu.

Die Herren baten ihn, sich Zeit zu lassen, und hielten inzwischen, um sich die Zeit zu vertreiben, auf dem sehr engen Vorraum zu dem nicht geringen Verdrusse der einen Stock tiefer unten wohnenden Hausleute mit ihren Spazierstöcken eine Fechtübung ab.

»Wollen Sie jetzt hereinkommen«, forderte Nikolas sie auf, als er seine Toilette beendigt hatte.

»Im Namen von allem, was schrecklich ist, machen Sie doch keinen solchen Lärm draußen.«

»Ein ungemein behagliches Nestchen«, sagte Mr. Lenville ins Zimmer tretend, nachdem er vorher seinen Hut abgenommen hatte, um durch die Türe kommen zu können. »Verteufelt niedlich.«

»Für jemand, der in derartigen Dingen etwas eigen ist, dürfte es ein bißchen gar zu niedlich sein«, entgegnete Nikolas; »wenn es auch unzweifelhaft recht bequem ist, alles, was man braucht, mit einem bloßen Ausstrecken des Armes erreichen zu können, ohne vom Stuhl aufstehen zu müssen.«

»Oh, es ist durchaus nicht zu klein für einen allein lebenden Mann«, meinte Mr. Lenville. »Übrigens – hem, meine Frau, Mr. Johnson; ich hoffe, sie wird eine hübsche Rolle in Ihrem Stück bekommen?«

»Ich überflog gestern nachts den französischen Text«, sagte Nikolas; »ich denke, es wird sich machen lassen.«

»Und was gedenken Sie für mich selbst zu tun, lieber Freund?« forschte Mr. Lenville, stöberte mit seinem Spazierstock in dem spärlichen Feuer umher und wischte dann die Zwinge an seinen Rockschößen ab. »Gibt es etwas Wildes und Tobendes darin?«

»Sie werfen Weib und Kinder zum Hause hinaus und erstechen in einem Anfall von Wut und Eifersucht Ihren ältesten Sohn.«

»Habe ich wirklich etwas der Art?« rief Mr. Lenville. »Nun, das lasse ich mir gefallen.«

»Dann«, fuhr Nikolas fort, »kriegen Sie Gewissensbisse bis zum letzten Akt und fassen den Entschluß, sich selbst zu entleiben. Wie Sie aber die Pistole vor die Stirne halten, schlägt eine Glocke – zehn.«

»Ich verstehe«, rief Mr. Lenville. »Sehr gut.«

»Sie halten inne. Sie erinnern sich, in Ihrer Kindheit einmal eine Glocke ›zehn‹ schlagen gehört zu haben. Die Pistole entsinkt Ihrer Hand – Sie sind überwältigt –, Sie brechen in Tränen aus und bleiben ein tugend- und musterhafter Charakter für Ihr ganzes übriges Leben.«

»Kapital!« rief Mr. Lenville. »Das ist eine sichere Karte – eine sichere Karte. Wenn der Vorhang in diesem Augenblick fällt, setzt's einen donnernden Applaus.«

»Gibt's auch was Gutes für mich?« fragte Mr. Folair besorgt.

»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte Nikolas. »Sie spielen den treu ergebenen Diener und werden mit der Frau und dem Kind aus dem Hause gejagt.«

»Man kann nicht loskommen von dem verdammten Wunderkind«, seufzte Mr. Folair. »Wahrscheinlich beziehen wir dann ein armseliges Quartier, wo ich jeden Lohn zurückweise und mit sentimentalen Phrasen um mich werfe?«

»Richtig«, versetzte Nikolas, »das ist der Gang des Stückes.«

»Ich muß einen Tanz dabei haben«, bestand Mr. Folair auf seinem angestammten Recht. »Jedenfalls werden Sie einen für das Wunderkind einlegen müssen. Da geht es schon in einem Aufwaschen, wenn Sie ein ›pas de deux‹ draus machen.«

»Es ist doch nichts leichter als das«, meinte Mr. Lenville, als er die verlegene Miene des angehenden dramatischen Dichters bemerkte.

»Auf Ehre, ich sehe nicht, wie sich das machen ließe«, wendete Nikolas ein.

»Machen ließe? – Ist doch klar wie dicke Tinte«, erklärte Mr. Lenville. »Tausend Element, wenn Sie das nicht sehen, haben Sie den Star. Sie bringen die Unglückliche, das Kind und den treuen Diener in ihre armselige Wohnung, nicht wahr? – Nun also. Die unglückliche Dame sinkt in einen Stuhl und verhüllt das Gesicht mit ihrem Taschentuch. ›Warum weinst du, Mama?‹ fragt das Kind. ›Weine nicht, Mama, oder du machst mich auch weinen.‹ – ›Und mich‹, fügt der treue Diener hinzu und wischt sich mit dem Rockärmel die Augen. – ›Was können wir tun, um dich wieder froh zu machen, Mama?‹ – ›Ach ja, was können wir tun?‹ schluchzt der treue Diener. – ›O Pierre‹, seufzt die Dame, ›ich wollte, ich könnte diese schmerzlichen Gedanken abschütteln.‹ ›Versuchen Sie es nur, Madame, versuchen Sie es nur. Geben Sie sich Mühe, suchen Sie Zerstreuung, Madame!‹ – ›Ich will lernen, meine Leiden mit Standhaftigkeit zu ertragen‹, sagt die Dame. ›Erinnerst du dich noch des Tanzes, mein wackrer Freund, den du in glücklicheren Tagen mit diesem süßen Engel aufführtest? Er hat damals nie verfehlt, mein Gemüt zu beruhigen. Oh, laß mich ihn noch einmal sehen, ehe ich sterbe.‹ – Da haben wir's. – Stichwort für das Orchester: ›ehe ich sterbe‹, dann geht's drauf und dran. – Tadellos – was, Thomas?«

»Ja, ja«, bekräftigte Mr. Folair; »die unglückliche Dame, von alten Erinnerungen überwältigt, fällt am Ende des Tanzes in Ohnmacht. Tableau!«

Nikolas faßte diese und noch andere Lehren, die das Ergebnis einer langjährigen Bühnenerfahrung waren, sofort auf, bewirtete die beiden Schauspieler mit einem Frühstück, so gut er konnte, und machte sich, sobald er sie endlich los geworden, augenblicklich an seine Arbeit, die ihm zu seiner großen Freude weit leichter von der Hand ging, als er anfangs gedacht hatte. Er war den ganzen Tag über ungemein fleißig und verließ sein Zimmer erst gegen Abend, um in das Schauspielhaus zu gehen, wo sich Smike bereits früher eingefunden hatte und eben im Begriffe war, zusammen mit einem anderen Herrn hinter den Kulissen den »allgemeinen Aufstand der Volksmenge« vorzubereiten.

Das Ensemble war durchgehend so verändert, daß er die einzelnen Personen kaum mehr erkannte. Falsches Haar, falsche Waden, falsche Farben, falsche Muskeln – kurz, alle waren ganz neue Wesen geworden. Mr. Lenville erschien als jugendlicher Krieger von ausgezeichneter Schönheit, Mr. Crummles, das breite Gesicht durch eine verfilzte Masse schwarzer Haare beschattet, als hochländischer Geächteter mit majestätischer Haltung, der eine der alten Herren als Gefängniswärter, und der andere als ehrwürdiger Patriarch. Der »komische Bauer« war ein tapferer Degen mit einem Stich ins Humoristische, die beiden Master Crummles waren in purpurgeborene Prinzen verwandelt und der blöde Liebhaber in einen verzagenden Gefangenen. Für den dritten Akt war ein grandioses Bankett vorbereitet, das aus zwei Pappendeckelschüsseln, einem Zwiebackteller, einer Wichseflasche und einem Essigkrug bestand – kurz, alle Zurüstungen trugen das Gepräge höchsten Prunkes.

Nikolas stand mit dem Rücken gegen den Vorhang gekehrt und betrachtete die Dekorationen des ersten Aktes – unter denen hauptsächlich ein gotischer Bogengang auffiel, der, ungefähr zwei Fuß niedriger als Manneshöhe, Mr. Crummles gleich bei Beginn der ersten Szene durchzulassen hatte – oder horchte auf ein paar Leute, die einsam auf der Galerie Nüsse knackten. Er machte sich schon so seine Gedanken, ob das wohl das ganze Auditorium sein werde, als der Direktor auf ihn zukam und ihn vertraulich anredete.

»Wir haben eine recht hübsche Einnahme gehabt, Mr. Johnson. Vier Vordersitze in der Mitte und die ganze Seitenloge.«

»Wahrhaftig?« versetzte Nikolas. »Vermutlich eine Familie.«

»Ja. Es ist wirklich rührend, sechs Kinder, die nur kommen, wenn das Wunderkind spielt.«

Es wäre wohl schwer gewesen, das Theater an einem Abend zu besuchen, an dem das Wunderkind nicht spielte, denn es trat bei jeder Vorstellung und nicht nur in einer, nein, oft in zwei oder drei Rollen auf; aber Nikolas, der die Gefühle eines Vaterherzens wohl zu würdigen wußte, enthielt sich, auf diesen nichtssagenden Umstand hinzuweisen, und ließ daher Mr. Crummles fortreden.

»Also sechs; Papa und Mama acht, Tante neun, Gouvernante zehn, Großvater und Großmutter zwölf. Dann ist noch ein Bedienter da, der mit einem Korb Orangen und einem Krug Brotwasser im Gang steht und durch die kleine Glasscheibe in der Logentüre gratis zusieht – alles das um den Spottpreis von einer Guinee. Die Leute profitieren eben dabei, wenn sie eine ganze Loge nehmen.«

»Ich wundere mich nur, daß Sie für das Geld so viele Personen zulassen«, bemerkte Nikolas.

»Läßt sich nicht ändern. In der Provinz sind sie's so gewöhnt. Wenn sechs Kinder da sind, kommen auch sechs Erwachsene mit, um sie auf den Schoß zu nehmen. Eine Familienloge enthält immer die doppelte Personenzahl. – Klingeln Sie dem Orchester, Grudden!«

Sogleich hörte man drei Geigen stimmen. Das hielt so lange an, als mutmaßlich die Geduld des Publikums andauerte; dann ertönte wiederum ein Zeichen, daß die Musik ernstlich anfangen solle, und prompt fiel das Orchester mit einer Volksweise mit unfreiwilligen Variationen ein.

War Nikolas schon über den Wechsel, der mit den männlichen Schauspielern vorgegangen war, erstaunt, so machte ihn die Veränderung der Damen geradezu stumm. Aus einem behaglichen Winkel der Direktorloge heraus erblickte er Miss Snevellicci in der ganzen Glorie eines weißen, mit einem Goldsaum verzierten Mousselinkleides, Mrs. Crummles in der vollen Majestät der Gattin eines Geächteten, Miss Bravassa mit aller Süßigkeit einer Busenfreundin Miss Snevelliccis, und Miss Belvawney in den weiten seidenen Höschen eines Pagen, der überall seine Pflicht tut und schwört, in dem Dienste von jedermann zu leben und zu sterben. – Bei dem Anblicke solchen Glanzes konnte er seine Bewunderung natürlich nicht länger zurückhalten, applaudierte lebhaft und legte eine möglichst gespannte Aufmerksamkeit für alles, was auf der Bühne vorging, an den Tag.

Das Stück war höchst interessant. Es gehörte keiner besonderen Zeit, keinem besonderen Volke, keinem besonderen Lande an, war aber vielleicht deshalb nur um so spannender, da niemand auch nur die entfernteste Ahnung haben konnte, wie es enden würde. – Ein Geächteter hatte irgendwo etwas glücklich durchgeführt und kam unter Jubel und Geigenklang triumphierend in seine Heimat zurück, um seine Gattin, eine Dame von männlicher Denkungsart, zu umarmen. Es war viel von den Gebeinen ihres Vaters die Rede, die noch unbegraben zu sein schienen, obgleich sich nicht erraten ließ, ob dieser wichtige Umstand auf eine Schrulle des alten Herrn selbst oder auf einer unverzeihlichen Nachlässigkeit seitens seiner Verwandten beruhte. Die Gattin des Geächteten kam nun auf irgendeine Weise mit einem Patriarchen in Verbindung, der in einem fernen Schlosse lebte und der Vater mehrerer in dem Stücke vorkommender Personen war, dabei aber selbst nicht genau wußte, welcher. Er geriet in Ungewißheit darüber, ob er die rechten oder die unrechten in seinem Schlosse aufgezogen hätte, und da er sich eher der letzteren Ansicht zuneigte, suchte er den Sturm in seiner Seele durch ein Bankett zu beschwichtigen, bei welcher Feierlichkeit ein Mann in einem Mantel die inhaltsschweren Worte rief: »Nimm dich in acht!« Kein Mensch – das Publikum ausgenommen – wußte, daß dieser Jemand der Geächtete selbst war, der sich aus unerklärlichen Gründen, vielleicht mit unredlichen Absichten auf die silbernen Löffel, gleichfalls eingefunden hatte.

Eine angenehme kleine Überraschung boten dabei gewisse Liebeshändel zwischen dem verzagenden Gefangenen und Miss Snevellicci einerseits und dem humoristischen Degen und Miss Bravassa andererseits. Mr. Lenville spielte mehrere höchst tragische Szenen im Dunkeln, und zwar anläßlich gewisser gurgelabschneiderischer Unternehmungen, die glücklicherweise durch die Gewandtheit und den Mut des humoristischen Degens, der das ganze Stück über den Horcher gespielt, und durch die Unerschrockenheit Miss Snevelliccis, die sich in Hosen mit einem Körbchen voll Erfrischungen und einer Blendlaterne nach dem Gefängnis ihres Geliebten geschlichen hatte, vereitelt wurden. Schließlich stellte sich heraus, daß der Patriarch der Mann war, der die Gebeine des Schwiegervaters des Geächteten so geringschätzig behandelt hatte. Um ihn zu töten, erschien die Gattin des Geächteten selbst auf dem Schlosse. Leider verirrte sie sich in ein finsteres Gemach, in dem nach langem Herumtappen im Dunkeln jedermann jemanden faßte und natürlich für den Falschen hielt, was zu Pistolenschießen, Mord und Totschlag und schließlichem Fackeltanz führte. Der Patriarch hatte jetzt nicht länger mehr Grund, sich zu verbergen, und erklärte mit weiser Miene, er wisse nunmehr alles hinsichtlich seiner Kinder und wolle ihnen alles sagen, wenn sie mit ihm hineingingen; er nahm dabei die günstige Gelegenheit wahr, die jungen Leute zu vermählen, und legte ihre Hände ineinander unter voller Beistimmung des unermüdlichen Pagen, der glücklich am Leben geblieben war und mit seiner Mütze nach den Wolken, mit der Rechten aber nach der Erde deutete, um den Segen des Himmels dadurch herabzuflehen und gleichzeitig dem Vorhang den Wink zu geben, zu fallen, was dieser denn auch unter allgemeinem Beifall tat.

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte Mr. Crummles, als Nikolas wieder auf die Bühne kam.

– Mr. Crummles war sehr rot und erhitzt, denn ein Geächteter muß fürchterlich brüllen. –

»In der Tat ein kapitales Stück«, lobte Nikolas. »Namentlich Miss Snevellicci war vorzüglich.«

»Das Mädel ist ein Genie«, rief Mr. Crummles, »ein wahres Genie. Apropos, ich beabsichtige, Ihr Stück zu ihrem Benefiz auf die Bühne zu bringen. Bei einem solchen Anlaß muß es unbedingt ziehen; und selbst angenommen, daß es nicht ganz so ausfiele, wie wir erwarten, liegt schließlich das Risiko auf ihrer Seite und nicht auf der unserigen.«

»Auf der Ihrigen, wollen Sie wohl sagen.«

»Sagte ich nicht auf der meinigen?« fragte Mr. Crummles unbefangen. »Also Montag über acht Tage! Was meinen Sie dazu? Sie sind dann wohl damit fertig und haben gewiß auch lange vorher die Liebhaberrolle einstudiert.«

»Von einem ›lange vorher‹ wird wohl keine Rede sein«, sagte Nikolas; »aber um diese Zeit hoffe ich gesattelt zu sein.«

»Gut also. Betrachten wir die Sache als abgemacht. Aber jetzt muß ich Sie noch etwas fragen. Bei solchen Gelegenheiten muß ein bißchen – wie soll ich sagen – ein bißchen die Werbetrommel gerührt werden.«

»Bei den Gönnern wahrscheinlich. Nicht?«

»Freilich, bei den Gönnern. Aber die Sache liegt so: die Snevellicci hat hier schon so viele Benefize gehabt, daß es eines besonderen Köders bedarf. Sie hatte ein Benefiz, als ihre Stiefmutter starb, und ein zweites nach dem Tode ihres Onkels. Ich und meine Frau haben unsere Benefize gehabt an dem Jahrestag der Geburt des Wunderkindes, an dem unserer Verehelichung und bei anderen derartigen Anlässen, so daß es wirklich etwas schwerhält, neue Gründe zu finden. – Möchten Sie nicht dem armen Mädchen ein bißchen beistehen, Mr. Johnson?« schmeichelte Mr. Crummles, ließ sich auf eine Trommel nieder und füllte seine Nase mit Schnupftabak.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte Nikolas.

»Glauben Sie nicht, sich morgen früh ein halbes Stündchen frei machen zu können, um mit ihr einige der angesehensten Persönlichkeiten der Stadt zu besuchen?«

»Um Himmels willen«, fuhr Nikolas mit der Miene lebhaftesten Widerwillens auf; »das ist doch unmöglich!«

»Das Kind geht nämlich auch mit«, sagte Mr. Rummels. »Ich habe natürlich sofort meine Erlaubnis dazu gegeben. Es liegt durchaus nichts Ungebührliches darin. Miss Snevellicci ist eine hochachtbare junge Dame. Sie würden ihr einen großen Dienst damit leisten; – der Londoner Autor des neuen Stückes in eigener Person! Sein erstes Auftreten auf den Brettern! Es müßte das Haus füllen, Mr. Johnson!«

»Ich möchte nicht gerne jemand eine Aussicht verkümmern, am allerwenigsten einer Dame«, erwiderte Nikolas; »aber wirklich, ich muß es entschieden ablehnen, an dem Werbegang teilzunehmen.«

»Nun, was sagt Mr. Johnson dazu, Vincent?« mischte sich Mrs. Rummels ein, die mit Miss Snevellicci unbemerkt herangetreten war.

»Er weigert sich, meine Liebe«, erklärte Mr. Crummles mit einem vorwurfsvollen Blick auf Nikolas.

»Er weigert sich? Unmöglich!«

»Ach, ich hoffe doch nicht«, girrte Miss Snevellicci.

»Ach seien Sie nicht so grausam. O Gott! So etwas nur denken zu müssen, wo man schon so zuversichtlich darauf gehofft hat.«

»Mr. Johnson wird nicht darauf bestehen, Kind«, tröstete sie Mrs. Crummles. »Wir denken besser von ihm und sind überzeugt, daß Galanterie, Menschenfreundlichkeit und alle besseren Gefühle seines Wesens sich vereinigen werden, um ihn für die Sache zu gewinnen.«

»Um so mehr, wo der Direktor selbst alles aufbietet«, fügte Mr. Crummles lächelnd hinzu.

»Und die Gattin des Direktors«, ergänzte Mrs. Crummles in ihrem gewohnten Tragödinnenton. »Kommen Sie, kommen Sie; ich weiß gewiß, Sie werden sich erweichen lassen.«

»Ich bin nicht stark genug«, gab Nikolas, wankend gemacht durch den gemeinsamen Ansturm, nach, »einer Bitte zu widerstehen, solange nicht etwas entschieden Unrechtes von mir verlangt wird; und, vielleicht abgesehen von einem kleinen Opfer von Stolz, wußte ich schließlich nicht, was mich in gegenwärtigem Falle daran hindern könnte. Ich kenne hier niemand und bin selbst auch unbekannt. Also sei es. Ich gebe nach.«

Miss Snevellicci errötete vor Freude und konnte gar nicht genug Dankesworte stammeln, und auch Mr. und Mrs. Crummles geizten damit nicht. Nikolas sollte also am nächsten Morgen um elf Uhr Miss Snevellicci abholen. Und bald darauf trennte sich die Gesellschaft – er ging, um nach Hause zu kommen und an seinem Drama zu arbeiten, Miss Snevellicci, um sich für das Nachspiel anzukleiden, und der uneigennützige Theaterdirektor nebst Gattin, um den wahrscheinlichen Gewinn des besprochenen Benefizes zu berechnen, von dessen Ertrag ihnen kontraktmäßig zwei Drittel zufallen mußten.

Am andern Morgen erschien Nikolas zur festgesetzten Stunde bei Miss Snevellicci, die in dem Hause eines Schneiders in der Lombard Street wohnte. Den Hausflur durchdrang ein starker Bügeleisengeruch, und die Tochter des Schneiders, die die Tür öffnete, erschien in der gewissen Aufgeregtheit, die stets auf Wäschetage schließen läßt.

»Wohnt hier Miss Snevellicci?«

Die Schneiderstochter bejahte.

»Möchten Sie vielleicht die Güte haben, ihr zu sagen, daß Mr. Johnson hier ist?«

»Ah, belieben nur die Treppe heraufzukommen«, antwortete die Schneiderstochter.

Nikolas folgte der jungen Dame und wurde in ein kleines Zimmer im ersten Stock geführt. Aus dem gedämpften Tassenklirren im Nebenzimmer konnte man entnehmen, daß Miss Snevellicci gerade ihr Frühstück im Bett einnahm.

»Sie möchten sich freundlich ein wenig gedulden«, meldete die Schneiderstochter nach einer kurzen Abwesenheit, während das Klirren im Nebenzimmer nachgelassen und einem Flüstern Platz gemacht hatte.

Mit diesen Worten zog sie die Jalousien auf, und als sie dadurch Mr. Johnsons Aufmerksamkeit von dem Zimmer weg nach der Straße abgeleitet zu haben glaubte, nahm sie einige am Kamin aufgehängte Gegenstände weg, die eine große Ähnlichkeit mit Strümpfen hatten, und schoß damit hinaus.

Da sich außerhalb des Fensters nicht viel Anziehendes bot, sah sich Nikolas mit mehr Neugierde im Zimmer um, als er vielleicht sonst getan haben würde. Auf dem Sofa lagen eine alte Gitarre, mehrere abgerissene Notenhefte und die üblichen Haarwickel nebst einigen zerknitterten Theaterzetteln und einem Paar schmutziger weißer Atlasschuhe mit großen blauen Rosetten. Über einer Stuhllehne hing ein halbfertiges Mousselinschürzchen mit kleinen, von roten Bändern umsäumten Seitentaschen, wie es ein Kammerkätzchen auf dem Theater und folglich kein anderes lebendes Wesen zu tragen pflegt. In einer Ecke schlummerte das winzige Paar Stulpenstiefel, in denen Miss Snevellicci den kleinen Jockey spielte, und auf einem Sessel daneben ein kleines Päckchen, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit den zu den Stiefeln gehörigen Hosen hatte.

Das Interessanteste von allem aber war wohl ein Album, das zwischen einigen unordentlich umherliegenden Duodeztheaterschriften breit aufgeschlagen dalag, die Seiten beklebt mit verschiedenen kritischen Notizen über Miss Snevelliccis Spiel sowie Auszüge aus verschiedenen Provinzzeitungen, unter denen besonders ein poetischer Erguß ins Auge fiel, der folgendermaßen begann:

»Sing, Liebesgott, sag an, ob Not dich hat gelenkt,
als du die Snevellicci uns geschenkt,
uns erbeben zu machen
mit ihrem Lachen
mit ihren Blicken
uns zu entzücken!

Weitere unzählige schmeichelhafte Zeitungskritiken wie –

»...Wir entnehmen einer Ankündigung auf der Rückseite der heutigen Nummer unseres Blattes, daß die bezaubernde und hochbegabte Miss Snevellicci kommenden Dienstag ihre Benefiz-Vorstellung hat, für welche Gelegenheit bereits eine Affiche an die Straßenecken angeklebt ist, deren Reichhaltigkeit sogar imstande wäre, selbst das Herz der ärgsten Misanthropen hüpfen zu machen. Überzeugt, daß unser Theaterpublikum seinen stets bewährten Sinn für die gehörige Würdigung hoher Vorzüge und persönlicher Werte, durch den es sich seit langen Jahren so vorteilhaft auszeichnete, nicht verloren hat, glauben wir, versprechen zu dürfen, daß diese bezaubernde Künstlerin vor einem vollen Hause erscheinen wird.« – »An die p. t. Korrespondenten: J. S. ist irrig berichtet, wenn er glaubt, daß die hochbegabte und schöne Miss Snevellicci, die sich jeden Abend in unserem hübschen kleinen Theater aller Herzen gewinnt, nicht dieselbe Dame sei, der der junge Edelmann von unermeßlichem Vermögen, der etwa hundert Meilen von der guten Stadt York wohnte, einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir wissen aus zuverlässigster Quelle, daß Miss Snevellicci tatsächlich die in jenes geheimnisvolle und romantische Abenteuer verwickelte Dame ist, deren Benehmen bei diesem Anlasse ihrem Kopfe und Herzen nicht weniger Ehre machte, als ihre Bühnentriumphe die sprechendsten Belege für ihr hohes Talent sind...«

– bildeten eine förmliche Sammlung von Artikeln, die sämtlich mit der gesperrt gedruckten Aufforderung: »man komme rechtzeitig« schlossen und den Hauptinhalt von Miss Snevelliccis Album ausmachten.

Nikolas hatte bereits einen großen Teil dieser aufgeklebten Papierschnitzel durchgelesen und sich eben in einen umständlichen und trauervollen Bericht über den Gang der Ereignisse vertieft, die daran schuld gewesen, daß Miss Snevellicci auf einer Orangenschale, die ein Ungeheuer in Menschengestalt – so sagte die Zeitung – auf die Bühne von Winchester geworfen hatte, ausgeglitten war und sich den Fuß verstaucht hatte, als die junge Dame in eigener Person, ihren Kohlenkübelhut auf dem Kopfe und vollständig zum Ausgehen angekleidet, hereinhüpfte und tausendmal um Verzeihung bat, daß sie ihren verehrten Freund so lange habe warten lassen.

»Aber die gute Led«, erklärte sie, »mit der ich zusammen wohne, wurde in der letzten Nacht so krank, daß ich schon glaubte, sie würde in meinen Armen den Geist aufgeben.«

»Ich würde sie um dieses Los nur beneidet haben«, versetzte Nikolas, »obschon es mir um der Dame willen leid getan hätte.«

»Ach, was Sie doch für ein Schmeichler sind«, schmollte Miss Snevellicci und knöpfte sich in süßer Verwirrung ihren Handschuh zu.

»Wenn es Schmeichelei ist, Ihre Reize und Ihre sonstigen hohen Vorzüge zu bewundern«, entgegnete Nikolas, seine Hand auf das Album legend, »so haben Sie hier noch bessere Proben davon.«

»Ach, Sie böser, grausamer Mensch – Sie haben es gelesen!? Ach, da kann ich Ihnen ja vor Scham nicht mehr ins Gesicht sehen!« rief Miss Snevellicci, nahm hastig das Album vom Tisch und schloß es in einen Schrank. »Nein, diese unachtsame Led! Wie konnte sie es nur so offen herumliegen lassen!«

»Und ich dachte schon, Sie selbst seien so gütig gewesen, es hinzulegen, um mich seine Lektüre genießen zu lassen«, sagte Nikolas, mühsam ein Lächeln unterdrückend.

»Da irren Sie. Nicht um die Welt hätte ich es Sie sehen lassen! Ich könnte mich zu Tod ärgern; aber die gute Led ist so unbekümmert, man kann ihr rein nichts anvertrauen.«

Hier wurde das Gespräch durch den Eintritt des Wunderkindes unterbrochen, das bis zu diesem Augenblick rücksichtsvoll im Nebenzimmer geblieben war und sich nun ungemein graziös mit einem winzigen, grünen, breitgefransten Sonnenschirm ohne Handgriff präsentierte. Das gab das Zeichen für den Aufbruch.

Miss Crummles erwies sich als eine etwas unbequeme Begleiterin, denn zuerst gingen ihr die Bänder ihres rechten und dann die ihres linken Schuhes auf, und als diese Unfälle gutgemacht waren, zeigte sich's, daß das eine Bein der weißen Höschen länger als das andere war; und dann wieder fiel der grüne Sonnenschirm in ein Kellergitter und konnte nur mit vieler Mühe heraufgeangelt werden. Da sie die Tochter des Direktors war, durfte man sie natürlich nicht ausschelten, und Nikolas zwang sich daher, alles in bestmöglicher Laune hinzunehmen.

Das erste Haus, zu dem sie Arm in Arm zu dritt ihre Schritte lenkten, lag auf einer ziemlich respektabel aussehenden Terrasse.

Auf Miss Snevelliccis bescheidenen Doppelschlag öffnete ein Boy, der auf die Frage, ob Mrs. Curdle zu Hause sei, die Augen weit aufriß, den Mund bis an die Ohren verzog und die Antwort gab, daß er es nicht wisse, aber nachsehen wolle. Er führte sodann die Herrschaften in ein Wartezimmer, wo gleich darauf zwei weibliche Dienstboten unter irgendeinem, an den Haaren herbeigezogenen Vorwand die Schauspielerin beaugenscheinigen kamen. Erst als er mit ihnen im Hausflur eine Weile geflüstert und gekichert hatte, verfügte er sich die Treppe hinauf, um Miss Snevellicci anzumelden.

Mrs. Curdle galt in Kunst- und Literaturkreisen als eine Dame, deren Geschmack sogar in London anerkannt worden wäre.

Ihr Gatte hatte eine Abhandlung von vierundsechzig Seiten Großoktav über den Charakter des seligen Mannes der Wärterin in »Romeo und Julia« geschrieben, von dem Shakespeare wörtlich sagt: – »hob er sie – Gott hab ihn selig, den lust'gen Mann vom Boden auf.« Mr. Curdle hatte darin die wichtige Frage erörtert, ob der Betreffende schon bei Lebzeiten ein »lust'ger Mann« gewesen oder ob ihm seine Witwe nur aus Zärtlichkeit dieses Prädikat beigelegt hätte. Ebenso war ihm auch der Beweis geglückt, daß jedes von Shakespeares Stücken durch veränderte Interpunktionen zu einem ganz andern gemacht werden könne und einen durchaus verschiedenen Sinn erhielte; es ist daher unnötig, zu sagen, daß er ein großer Kritiker und ein tiefer, höchst origineller Denker war.

»Ach, Miss Snevellicci«, rief Mrs. Curdle, als sie ins Besuchszimmer rauschte; »ja, wie geht es Ihnen denn?«

Miss Snevellicci machte einen anmutigen Knicks und hoffte, daß sich Mrs. Curdle wohl befände – desgleichen Mr. Curdle, der fast im selben Augenblick ins Zimmer trat. Mrs. Curdle war in eine Art Matinee gekleidet und balancierte ein winziges Häubchen ganz oben auf dem Kopf; Mr. Curdle trug einen weiten Schlafrock und hielt den rechten Zeigefinger an die Stirne, etwa wie man's auf Sternes Porträts sehen kann, mit dem er, wie man ihm des öfteren versichert hatte, eine sprechende Ähnlichkeit haben sollte.

»Ich wagte es, Ihnen meine Aufwartung zu machen, um mir Ihren Namen für mein Benefiz zu erbitten, Madam«, begann Miss Snevellicci hold errötend und brachte eine Liste zum Vorschein.

»Oh, ich – ich weiß wirklich nicht, wie ich mich dazu stellen soll«, zierte sich Mrs. Curdle. »Die Glanzperiode des Theaters ist dahin, nehmen Sie doch Platz, Miss Snevellicci –; und mit dem Drama ist's gänzlich vorbei. – Gänzlich!«

»Als eine schöne Verkörperung der Phantasiegebilde des Dichters, als eine Verstofflichung menschlicher Intellektualität, die unsere träumerischen Augenblicke mit strahlendem Lichte vergoldet und dem geistigen Auge eine neue zauberhafte Welt erschließt, von diesem Standpunkte aus betrachtet, ist es mit dem Drama vorbei, vollkommen vorbei«, bekräftigte Mr. Curdle.

»Wer von den jetzt Lebenden ist imstande, uns alle jene wechselnden und prismatischen Farben vorzuführen, in denen uns Hamlets Charakter erscheint?« seufzte Mrs. Curdle.

»Ja wer? – Auf der Bühne nämlich –«, fügte Mr. Curdle hinzu, einen Vorbehalt zu seinen eigenen Gunsten machend. »Hamlet?

– Pah! Lächerlich! Heute jemand den Hamlet spielen! Vorbei – vollkommen vorbei.«

Ganz ergriffen von solch schmerzlichen Betrachtungen, seufzte das Ehepaar und saß eine Weile da, ohne ein Wort sprechen zu können. Dann wandte sich Mrs. Curdle an Miss Snevellicci und fragte, auf welches Stück ihre Wahl gefallen wäre.

»Auf ein ganz neues«, antwortete Miss Snevellicci. »Mr. Johnson hier ist der Autor. Er erweist mir die Ehre, selbst mitzuspielen. – Es ist sein erstes Debüt.«

»Ich hoffe, Sie haben doch die Einheit im Auge behalten, Sir?« fragte Mr. Curdle interessiert.

»Das Original ist französisch«, wich Nikolas geschickt aus.

»Es ist reich an Handlung, der Dialog lebendig, die Charaktere sind scharf gezeichnet –«

»Nützt alles nichts ohne strenge Berücksichtigung der Einheit, Sir«, unterbrach Mr. Curdle. »Die Einheit ist im Drama die Hauptsache.«

»Darf ich fragen«, entgegnete Nikolas, der zwischen der Achtung, die er beobachten zu müssen glaubte, und einem unwiderstehlichen Kitzel, die offenkundige Albernheit des Kunstmäzens bloßzulegen, schwankte, »darf ich fragen, was Sie unter der ›Einheit‹ verstehen?«

Mr. Curdle hustete und überlegte.

»Die Einheit, Sir«, begann er endlich, »ist eine Vollständigkeit, eine Art universellen Ineinanderfügens hinsichtlich des Ortes und der Zeit, eine gewisse generelle Unität, wenn ich mich eines so markanten Ausdrucks bedienen darf. Dies halte ich für die dramatische Einheit, soweit ich dem Gebiet meine Aufmerksamkeit zuwenden konnte; ich äh – ich habe allerdings viel über den Gegenstand gelesen und nachgedacht. Wenn ich die Rollen dieses Kindes durchgehe«, fuhr Mr. Curdle zu dem Wunderkind gewendet fort, »so finde ich eine Einheit des Gefühles, einen Umfang, einen Wechsel der Kolorits, eine Wärme der Farben, einen Ton, eine Harmonie, eine Glut, eine künstlerische Entwicklung origineller Auffassungen, nach denen ich mich vergebens unter älteren Schauspielern umsehe. Ich weiß nicht, ob ich mich Ihnen begreiflich gemacht habe?«

»Vollkommen«, beteuerte Nikolas.

»Nun gut«, sagte Mr. Curdle, sein Halstuch zurechtzupfend; »dies ist meine Definition von der dramatischen Einheit.«

Mrs. Curdle hatte dieser lichtvollen Erläuterung mit großem Wohlgefallen zugehört und schaltete jetzt die Frage ein, was Mr. Curdle davon hielte, die Liste zu unterzeichnen.

»Ich weiß nicht, meine Liebe – auf Ehre, ich weiß nicht«, tat Mr. Curdle sehr apart. »Wenn wir unsern Namen daruntersetzen, geschieht es natürlich mit dem Vorbehalt, daß man unser Erscheinen nicht als eine Bürgschaft für die gute Darstellung nimmt. Die Welt muß erfahren, daß wir dem Stück durch unsere Namen keine Sanktion erteilen wollen, sondern daß diese Auszeichnung lediglich der Person Miss Snevelliccis gilt. Unter dieser Voraussetzung jedoch betrachte ich es sozusagen als Pflicht, daß wir der gesunkenen Bühnenkunst unsern Schutz zuteil werden lassen, wäre es auch nur um der Ideenassoziationen willen, die sich daran knüpfen. Können Sie mir zwei Schillinge und sechs Pence auf eine halbe Krone herausgeben, Miss Snevellicci?«

Die Schauspielerin suchte in allen Ecken ihres rosa Strickbeutels, aber da war nichts zu finden. Nikolas murmelte einen Scherz über die leeren Taschen der Schriftsteller und hielt es für das beste, die Förmlichkeit des Umhertastens in den seinigen ganz zu unterlassen.

»Warten Sie«, sagte Mr. Curdle, »zweimal vier ist acht – vier Schillinge für ein Logenbillett, Miss Snevellicci, ist übrigens ungemein teuer für den gegenwärtigen Stand des Theaters, drei halbe Kronen sind sieben Schillinge und sechs Pence. Ich denke, wir werden uns wegen der sechs Pence nicht veruneinigen – was meinen Sie, Miss Snevellicci?«

Die arme Miss Snevellicci nahm die drei halben Kronen mit Lächeln und Knicksen entgegen, und Mrs. Curdle gab noch einige nachträgliche Anweisungen hinsichtlich Reservieren der Plätze, des Ausstaubens der Sitze und zweier reiner Theaterzettel, die sie gleich aus der Druckerei haben wollte, worauf sie zum Zeichen, daß die Audienz geschlossen sei, die Klingel zog.

»Abgeschmacktes Volk!« sagte Nikolas, als sie wieder auf der Straße waren.

»Glauben Sie mir«, seufzte Miss Snevellicci, seinen Arm nehmend, »ich muß mich noch sehr glücklich schätzen, daß sie nicht alles schuldig geblieben sind und nur sechs Pence abgezogen haben. Geben Sie acht, wenn Ihr Stück gefällt, so muß alle Welt hören, daß man Sie immer begünstigt hat, fallen Sie aber durch, dann haben die es natürlich vorausgesehen.«

In dem nächsten Hause, das sie besuchten, blühte ihnen ein glorreicher Empfang, denn hier wohnten die sechs Kinder, die von den öffentlichen Leistungen des Wunderkindes so ganz und gar hingerissen waren und jetzt, als man sie aus der Spielstube heruntergerufen hatte, Miss Crummles mit den Fingern in die Augen griffen und ihr auf die Zehen traten, kurz, ihr die mannigfaltigen kleinen Aufmerksamkeiten erwiesen, die dem zarten Alter eigentümlich sind.

»Ich werde zuverlässig meinen Mann überreden, eine ganze Loge zu nehmen«, erklärte die Dame des Hauses nach einem ungemein huldreichen Empfang. »Ich möchte aber nur zwei von den Kindern mitnehmen und die übrigen Plätze lieber mit Herren besetzen, – Bewunderer von Ihnen, Miss Snevellicci. – August, du Lausebengel, wirst du das kleine Mädchen in Ruhe lassen!«

Diese Mahnworte galten einem jungen Herrn, der das Wunderkind von hinten gezwickt hatte, offenbar in der Absicht, sich zu überzeugen, ob es ein wirkliches Mädchen oder nur eine Puppe wäre.

»Sie sind wahrscheinlich sehr ermüdet«, wendete sich die Mama wieder zu Miss Snevellicci; »Sie müssen ein Glas Wein annehmen. Pfui, Charlotte, schämst du dich nicht? – Miss Lane, ich muß Sie wirklich bitten, besser auf die Kinder achtzugeben!«

Miss Lane war die Gouvernante, und die an sie gerichtete Aufforderung betraf das zwanglose Benehmen der jüngsten Miss Borum, die dem Wunderkinde den kleinen grünen Sonnenschirm wegstibitzt hatte und ihn eben fortschleppte, ohne sich die trostlosen Blicke der bestürzten Eigentümerin zu Herzen zu nehmen.

»Sagen Sie, wo haben Sie nur Ihr Spiel gelernt?« fuhr die gutmütige Mrs. Borum wieder zu Miss Snevellicci gewendet fort. »Ich kann gar nicht begreifen – Emma, laß doch diese Grimassen –, wie man in dem einen Augenblick lachen und in dem andern weinen kann; und das alles so natürlich! –«

»Ich fühle mich ungemein glücklich, aus Ihrem Munde ein so hohes Lob zu vernehmen«, bedankte sich Miss Snevellicci. »Ich bin ganz entzückt zu hören, daß ich Ihnen gefalle.«

»Ja, ja, wem sollten Sie nicht gefallen?« rief Mrs. Borum. »Ich würde zweimal wöchentlich ins Theater gehen, wenn ich könnte; ich bin ganz in die Kunst vernarrt. Sie greifen einem nur bisweilen gar zu sehr ans Herz. Sie versetzen mich oft in einen Zustand, daß ich laut aufschluchzen muß! – Barmherziger Himmel, Miss Lane, wie können Sie nur ruhig zusehen, daß die Rangen das arme Kind so quälen.«

Wirklich war das Wunderkind bereits auf dem besten Wege, in Stücke gerissen zu werden. Zwei kräftige kleine Jungen hatten sich ihrer Hände bemächtigt und zerrten sie, um ihre Stärke zu versuchen, nach verschiedenen Richtungen. Für Miss Lane waren übrigens die erwachsenen Schauspieler viel zu wichtig, als daß sie auf solche Kleinigkeiten hätte achten können, und sie kam daher erst infolge dieser Aufforderung dem kleinen Mädchen zu Hilfe. Man labte es mit einem Glas Wein, und bald darauf entfernte es sich mit seinen Begleitern, ohne einen ernsteren Schaden genommen zu haben, als daß sein rosa Gazehut platt gedrückt und sein weißes Kleid nebst Höschen ziemlich zerknüllt worden war.

Es sollte für den an solche Sachen wenig gewöhnten Mr. Johnson ein Morgen der Prüfung werden, denn noch viele andere Mäzene mußten besucht werden, und jedermann wünschte etwas Besonderes. Einige Tragödien, andere Komödien, die einen machten Einwürfe gegen den Tanz, die andern wollten fast nichts als Tänze. Einige meinten, der komische Sänger wäre entschieden schlecht, andere hofften, er würde mehr zu tun bekommen, als es gewöhnlich der Fall sei; einige wollten nicht versprechen zu kommen, weil andere nicht hatten versprechen wollen zu kommen, und wieder andere wollten nicht kommen, eben weil andere kamen. Miss Snevellicci mußte an dem einen Ort zusichern, daß sie etwas weglassen, an dem andern, daß sie etwas hinzufügen wolle, und verpflichtete sich nach und nach zu einem Tagesrepertoire, das, wenn es schon sonst kein anderes Verdienst haben würde, wenigstens umfassend genug sein müsse (Arien, ein paar Zweikämpfe und mehrere Tänze), und dann kehrten sie völlig erschöpft von der Anstrengung des Tages nach Hause zurück.

Nikolas beendigte sein Stück, von dem sogleich eine Leseprobe gehalten wurde, und machte sich dann an seine eigene Rolle, die er mit großem Fleiße einstudierte und nach dem Urteile der ganzen Gesellschaft ganz vortrefflich spielte.

Endlich erschien der große Tag. Die Ausrufer wurden am Morgen herumgeschickt, um das Abendrepertoire in allen Straßen bei dem Ton einer Schelle zu verkünden. Besondere Zettel von drei Fuß Länge und neun Zoll Breite wurden in allen Richtungen ausgeteilt, in die Hausflure geworfen, unter die Türen gesteckt, in allen Läden aufgelegt und sogar an den Wänden der Häuser angeklebt – wenn auch hier der Erfolg nicht vollkommen entsprach, denn wegen Erkrankung des befugten Zettelanklebers hatte eine weniger wissenschaftlich gebildete Person dieses Amt übernommen und einen Teil der Affichen quer und den Rest verkehrt aufgepappt.

Um halb sechs Uhr strömten vier Leute durch die Galerietür; um dreiviertel auf sechs war die Menge auf wenigstens ein Dutzend angewachsen, und um sechs Uhr wurden die Fußstöße gegen die Türe geradezu fürchterlich, und als der ältere Master Crummles endlich öffnete, sah er sich genötigt, eiligst zu retirieren, um das nackte Leben zu retten. In den ersten zehn Minuten waren bereits fünfzehn Schillinge in die Kasse geflossen!

Hinter den Kulissen herrschte eine ungewohnte Aufregung. Miss Snevellicci transpirierte derart, daß ihr die Schminke kaum auf dem Gesicht halten wollte. Mrs. Crummles war so nervös, daß sie sich kaum auf ihre Rolle besinnen konnte. Miss Bravassa gingen vor Hitze und Angst die Haare aus den Locken, und der Direktor selbst sah alle Augenblicke durch das Loch im Vorhang und eilte dann zurück, um erregt zu verkünden, daß schon wieder ein neuer Zuschauer im Parterre angekommen sei.

Endlich schwieg das Orchester, und der Vorhang rauschte in die Höhe. Die erste Szene, in der nichts Besonderes vorfiel, wurde noch verhältnismäßig ruhig aufgenommen; aber als in der zweiten Miss Snevellicci von dem Wunderkinde begleitet auftrat – welch donnernder Applaus! Die Herrschaften in der Borumloge standen auf wie ein Mann, schwenkten ihre Hüte und Taschentücher und brüllten ihre Bravos. Mrs. Borum und die Gouvernante warfen Kränze auf die Bühne, von denen einige die Lampen umwarfen und einer die Glatze eines dicken Herrn im Parterre krönte, der jedoch vor lauter Aufmerksamkeit und Begeisterung diese Ehre anfänglich gar nicht einmal bemerkte. Der Schneider und seine Familie trampelten gegen das Getäfel der oberen Logen, daß es beinahe in Trümmer ging; der Ingwerbierjunge blieb ganz verzaubert in der Mitte des Hauses stehen, und ein junger Leutnant, der für einen Anbeter Miss Snevelliccis galt, verzierte sein Auge mit einem Monokel, wahrscheinlich um eine Träne zu verbergen. Die Benefiziantin knickste immer tiefer, und immer lauter und stürmischer wurde der Applaus. Als gar das Wunderkind einen der rauchenden Kränze aufhob und ihn von der Seite über Miss Snevelliccis linkes Auge hielt, erreichte er seine höchste Höhe; dann jedoch nahm das Stück ungestört seinen Fortgang.

Aber erst als Nikolas mit Mrs. Crummles seine Glanzszene hatte und Mrs. Crummles (seine unwürdige Mutter) ihn mit Hohnlachen einen anmaßenden Knaben nannte und er ihr kühn Trotz bot – welch rasender Beifall! Und als er mit dem andern Herrn wegen der jungen Dame in Händel geriet und, einen Pistolenkasten hervorziehend, erklärte, sich mit ihm in diesem Zimmer schießen zu müssen, bis das ganze Mobiliar von dem Blute des einen, wenn nicht beider, bespritzt sei, als er später seiner Mutter allerlei Ehrentitel gab, weil sie das Vermögen der jungen Dame nicht herausgeben wollte, worauf sie endlich einlenkte und dadurch auch ihn weicher stimmte, so daß er auf ein Knie niedersank und um ihren Segen flehte – was schrien, weinten und schluchzten nicht da die Damen des Auditoriums zusammen! Als er hinter einem Vorhang versteckt war und der versuchte Verwandte mit einem scharfen Schwerte nach allen Richtungen, nur nicht nach der, wo man deutlich Nikolas' Beine sehen konnte, hinstieß – welch ein Angstruf tönte da nicht durch das ganze Haus! Seine Miene, seine Haltung, sein Gang, sein Blick und alles, was er sagte oder tat, wurde gepriesen. Sooft er deklamierte, ging Beifallsrauschen durch das ganze Haus. Und als endlich in der Brunnen- und Waschzuberszene Mrs. Grudden das Strontianfeuer anzündete und alle, auch die bei der Szene nicht beteiligten Mitglieder des Ensembles hereinkamen, um in verschiedenen Richtungen niederzustürzen – nicht etwa, weil dies mit dem Gang des Stückes zu tun gehabt hätte, sondern lediglich der Apotheose wegen –, da machte sich das Auditorium, das inzwischen beträchtlich angewachsen war, durch einen so tobenden, wiehernden und stampfenden Jubel Luft, wie er seit Jahr und Tag in diesem Hause nicht gehört worden war.

Kurzum, nicht nur das Glück des neuen Stückes, sondern auch das des neuen Schauspielers war gemacht. Immer und immer wieder mußte Miss Snevellicci an Nikolas' Arm vor die Rampe.


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