Charles Dickens
Londoner Skizzen
Charles Dickens

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Master Kitterbells Taufe

Mr. Nikodemus Dumps oder, wie seine Bekannten ihn zu nennen pflegten, »der lange Dumps«, war ein Hagestolz, sechs Fuß hoch und fünfzig Jahre alt – mürrisch, totengräberisch, wunderlich und boshaft. Er war nur vergnügt, wenn er unglücklich war und fühlte sich stets unglücklich, wenn er die meiste Ursache zur Fröhlichkeit hatte. Sein einziges wahrhaftes Vergnügen bestand darin, jedermann um sich her verdrießlich oder sorgenvoll zu sehen, und erst wenn dies der Fall war, konnte man von ihm sagen, daß er seines Lebens froh wurde. Er war mit einem Amt bei der Bank mit jährlichen fünfhundert Pfund geplagt und mietete eine Wohnung in Pentonville, weil er aus seinen Fenstern die Aussicht auf den ganz nahen Kirchhof hatte. Er kannte jeden Grabstein auf das genaueste, und jedes Leichenbegängnis schien seine lebhafteste Teilnahme zu erregen. Seine Freunde nannten ihn sauertöpfisch; er bestand darauf, er sei nervenschwach. Sie hießen ihn einen Glückspilz: allein er beteuerte, der unglücklichste Mensch von der Welt zu sein. Kalt, wie er war, und unglücklich, wie er sich selbst nannte, war er doch nicht ganz unempfänglich für wärmere Gefühle und Neigungen, Er verehrte das Andenken des berühmten Whist-Schriftstellers Hoyle, da er selbst ein ausgezeichneter und unermüdlicher Whistspieler war; er kicherte vor innerlichem Behagen, wenn er einen verdrießlichen und ungeduldigen Mitspieler hatte. Den König Herodes verehrte er wegen des bethlehemischen Kindermords wie einen Heiligen; denn wenn er irgendein Geschöpf mehr als ein anderes haßte, so war es ein Kind. Übrigens mißfiel ihm freilich alles, und zwar in ziemlich gleichem Maße; vielleicht aber galten Kabrioletts, alten Frauen, Türen, die nicht schließen wollten, Musikdilettanten und Cads (Omnibuskondukteure) seine größten Antipathien. Er schickte dem Verein der Gesellschaft für Unterdrückung des Lasters beträchtliche Beiträge, um das Vergnügen zu haben, harmlose Belustigungen hindern zu helfen, und steuerte sehr reichlich zur Unterstützung zweier reisender Methodistenprediger in der holdseligen Hoffnung bei, daß recht viele durch die Umstände Begünstigte und Glückliche in dieser Welt durch die unterstützten Prediger bekehrt und durch Furcht vor der andern Welt unglücklich werden würden.

Mr. Dumps hatte einen Neffen, der seit einem Jahr verheiratet war und bei seinem Oheim einigermaßen in Gunst stand, weil er einen trefflichen Gegenstand zur Übung des Unheils stiftenden, Verdruß bereitenden Talents seines Onkels abgab. Mr. Charles Kitterbell war ein kleiner, gedrückter Mann mit einem breiten, gutgelaunten Gesicht. Er sah aus wie ein zusammengeschrumpfter Riese mit teilweise wiederhergestelltem Kopf und Antlitz und schielte dermaßen, daß es für jemand, der mit ihm sprach, rein unmöglich war dahinterzukommen, nach welcher Richtung er hinsähe. Seine Blicke schienen an die Wand geheftet, und man geriet vor ihnen außer Fassung; man bemühte sich vergebens, sie zu fesseln oder festzuhalten, und hätte sich vor ihnen verstecken mögen. Es war nur ein Glück, daß sie nicht ansteckten. Außerdem war Mr. Charles Kitterbell der leichtgläubigste und prosaischste Mann, der jemals eine Frau und ein Haus in der Großen Russelstraße, Bedfordsquare, nahm. Onkel Dumps ließ übrigens »Bedfordsquare« immer aus, und sagte dafür schauderhafterweise »Tottenham-Court-Road«.

»Wahrhaftig, Onkel, Sie müssen mir's versprechen, Gevatter zu stehen«, sagte Mr. Kitterbell, als er sich eines Morgens bei seinem verehrten Verwandten befand.

»Kann's, kann's in der Tat nicht«, entgegnete Dumps.

»Aber warum denn nicht? Mary wird Sie für sehr unfreundlich halten. Es ist ja nur eine geringe Mühe.«

»Was die Mühe betrifft«, erwiderte der unglücklichste Mann von der Welt, »so denke ich gar nicht daran; allein meine Nerven sind in einem Zustand, daß ich die Taufhandlung nicht aushalten kann. Du weißt, daß ich nicht gern ausgehe. – Charles, um des Himmels willen, schaukle dich nicht so auf dem Stuhl, ich könnte wahnsinnig dabei werden.«

Mr. Kitterbell hatte sich seit einer Viertelstunde, ohne alle Rücksicht auf seines Onkels Nerven, auf dem Geschäftsstuhl in der Schwebe gehalten, so daß der Stuhl auf einem Bein balancierte.

»Bitte um Verzeihung«, sagte er bestürzt; »aber kommen Sie doch, Onkel! Wenn es ein Knabe ist, so müssen wir zwei Paten haben.«

»Wenn es ein Knabe ist!« sagte Dumps; »warum sagst du mir nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist?«

»Ich würde es Ihnen sehr gern sagen, wenn ich nur könnte; allein das Kind ist ja noch ungeboren.«

»Noch ungeboren!« wiederholte Dumps, und ein Hoffnungsstrahl erhellte sein düsteres Antlitz. »Nun, es kann ein Mädchen werden, und dann bedarfst du meiner Patenschaft nicht; oder es wird ein Knabe, und dann kann er vor der Taufe sterben.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte der harrende junge Ehemann mit sehr langem Gesicht.

»Ich auch nicht«, stimmte ihm Dumps bei, der offenbar anfing, vergnügt zu werden. »Ich auch nicht; allein, in den ersten drei Tagen eines Kindeslebens kommen sehr häufig betrübende Fälle vor; der Kinnbackenkrampf ist sehr gewöhnlich, und gefährliche Darmkatarrhe bleiben fast nie aus.«

»O Himmel, Onkel!« keuchte der kleine Kitterbell.

»Ja, ja; am vorigen Dienstag kam meine Hauswirtin mit einem allerliebsten Knaben nieder; Donnerstag abend hat ihn die Wärterin auf dem Schoße – er ist so gesund und munter wie möglich – plötzlich wird er schwarz im Gesicht – man ruft den Arzt – wendet alle möglichen Mittel an, allein –«

»Entsetzlich!« unterbrach der geängstigte Kitterbell.

»Natürlich starb das Kind, doch es kann sein, daß dein Kind am Leben bleibt; und sollt' es ein Knabe sein und bis zur Taufe am Leben bleiben, so werd' ich dann freilich wohl Gevatter stehen müssen.«

Dumps hatte böse Vorahnungen und war deshalb offenbar in guter Laune.

»Ich danke Ihnen, Onkel«, sagte sein äußerst unruhig gewordener Neffe und drückte ihm die Hand so herzlich, als wenn ihm der Sonderling einen wesentlichen Dienst geleistet hätte. »Es wird jedoch am besten sein, wenn ich meiner Frau Ihre Andeutungen mitteile.«

»Wenn sie nervenschwach ist, so sag ihr wenigstens von meiner Hauswirtin Schicksal nichts«, erwiderte Dumps, der natürlich die ganze Geschichte ersonnen hatte; »obwohl es vielleicht deine Pflicht als Ehemann wäre, sie jedenfalls auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Als Dumps ein paar Tage später beim Frühstück die Zeitung las, fiel ihm plötzlich die Geburtsanzeige eines jungen Kitterbells in das Auge.

»'s ist wirklich ein Knabe geworden!« rief er aus und warf das Zeitungsblatt auf den Tisch, faßte sich jedoch bald wieder, da seine Blicke gleich nachher auf eine lange Liste gestorbener Kinder fielen.

Es vergingen sechs Wochen, und da er keine Einladung von seinem Neffen erhielt, fing er an, sich mit dem Gedanken zu schmeicheln, daß das Kind gestorben wäre. Ein Billett zerstörte jedoch seine angenehmen Hoffnungen.

Teurer Onkel!

Sie werden hocherfreut sein, von mir zu hören, daß meine geliebte Mary das Wöchnerinnenzimmer verlassen hat und daß Ihr Großneffe und künftiger Pate vortrefflich gedeiht. Er war anfangs sehr klein, ist aber viel größer geworden, und die Wärterin sagt, daß er mit jedem Tage zunähme. Er schreit ziemlich viel und hat eine sehr sonderbare Farbe, was Mary und mich unruhig genug machte; doch die Wärterin sagt, daß es natürlich sei, und da wir von Dingen dieser Art noch nicht viel wissen und verstehen, so beruhigen wir uns vollkommen bei dem, was die Wärterin sagt. Wir glauben, daß er ein sehr kluges Kind werden wird, und die Wärterin glaubt es ganz gewiß, da er nie einschlafen will. Sie können sich leicht denken, daß wir sehr glücklich sind; wir haben nur etwa über ein wenig Ermüdung zu klagen, da er uns keine Nacht schlafen läßt; doch die Wärterin sagt, wir müßten uns daran gewöhnen, es wäre in den ersten sechs bis acht Monaten immer so. Er ist geimpft worden, allein, der Operateur hat sich etwas ungeschickt gezeigt und mit der Lymphe einige kleine Glasstückchen in den Arm gebracht, woher es vielleicht kommt, daß der Knabe ein wenig widerspenstig ist; zum wenigsten meint dies die Wärterin. Wir denken, ihn Freitag um zwölf Uhr in der St. Georgskirche in der Hartstraße Frederick Charles William taufen zu lassen. Ich bitte, kommen Sie nicht später als ein Viertel vor zwölf Uhr. Wir werden einige Freunde zum Abendessen bei uns haben, an dem Sie natürlich teilnehmen müssen. Ich füge mit Leidwesen hinzu, daß das liebe Kind heute ein wenig unruhig ist, ich fürchte, weil es Fieber hat. Glauben Sie, lieber Onkel, daß ich stets bin

Ihr ergebener  
Charles Kitterbell

N. S. Wir haben soeben die Unruhe des kleinen Frederick entdeckt. Sie liegt in keinem Fieber, wie ich befürchtete, sondern die Wärterin hat ihm gestern abend zufällig eine Nadel in das Bein gestochen. Wir haben sie herausgenommen, und er ist stiller geworden, obgleich er noch immerfort weint.«

Es ist fast unnötig zu sagen, daß das mitgeteilte interessante Schreiben dem hypochondrischen Dumps wenig zur Freude gereichte. Zurücktreten konnte er nicht wieder; er machte indessen die beste Miene – d. h. eine ungewöhnlich jammervolle – zum bösen Spiele und ließ für den kleinen Kitterbell einen artigen silbernen Becher mit den Buchstaben F. C. W. K. nebst obligaten Verzierungen anfertigen.

Am Montag war schönes, am Dienstag köstliches Wetter, der Mittwoch war beiden genannten Tagen gleich, und der Donnerstag übertraf sie alle; vier schöne Tage hintereinander in London! Die Mietskutscher wurden aufrührerisch, und die dem Fußgänger so dienstwillig aufwartenden Gassenkehrer fingen an, das Dasein einer Vorsehung zu bezweifeln. Der »Morning Herald« zeigte in seinen Spalten an, man habe eine alte Frau in Camden Town sagen hören, daß sich die ältesten Leute keines so beständigen schönen Wetters zu erinnern wüßten, und die Schreiber in Islington mit großen Familien und kleinen Gehältern verabschiedeten ihre schwarzen Gamaschen, verschmähten ihre einst grün gewesenen baumwollenen Regenschirme und stolzierten in weißen Strümpfen und rein gebürstetem Schuhwerk zur Stadt. Dumps sah dem allen mit der Miene tiefster Verachtung zu – sein Triumph stand nahe bevor – er wußte, daß es regnen würde, sobald er ausginge, und wenn das Wetter vier Wochen statt vier Tage schön gewesen wäre; er fühlte sich jammervoll glücklich in der Überzeugung, daß der Freitag ein sehr regnerischer Tag werden würde – und er hatte recht.

»Ich wußt's vorher«, sagte Dumps, als er sich am Freitagmorgen um halb zwölf Uhr Mansion-House gegenüber umschaute; »ich wußt's vorher, denn ich bin in im Spiel, und das ist genug.«

In der Tat war das Wetter hinlänglich schlecht, um auch hoffnungslustigere Leute, als Dumps war, zu entmutigen. Es hatte seit acht Uhr ohne Aufhören geregnet, und alle Fußgänger sahen naß und kotbespritzt aus. Alle Arten vergessener oder längst beiseite gestellter Regenschirme waren wieder hervorgesucht, die Gardinen der Kabrioletts sorgfältig verschlossen worden, und die letztern glichen den geheimnisvollsten Bildern in Mrs. Radcliffes Schlössern. Die Omnibuspferde rauchten wie Dampfmaschinen; niemand dachte daran, zeitweiligen Schutz unter Torwegen oder Bogen zu suchen, da das Wetter von jedermann als hoffnungslos erkannt wurde. Alles eilte und drängte triefend und in Schweiß gebadet hastig aneinander vorbei. Dumps stand still; er konnte nicht daran denken zu gehen, da er sich zur Taufe angekleidet hatte. Nahm er ein Kabriolett, so war er überzeugt, daß er umgeworfen werden würde, und eine Mietskutsche erschien ihm bei seiner Sparsamkeit zu teuer. An der Ecke gegenüber hielt ein Omnibus – der Fall war verzweifelt – Dumps hatte nie gehört, daß ein Omnibus umgeworfen oder daß die Pferde mit einem solchen durchgegangen wären; und warf der Cad ihn um, so konnte er ihn dafür vor Gericht belangen.

»Hallo, Sir!« rief ihm der junge Gentleman zu, der die Würde des Cad bei den »Dorfburschen« – wie das erwähnte Gebäude hieß – bekleidete.

Dumps eilte hinüber.

»Hier, Sir!« rief ihm der Rosselenker des »Hark away« zu, und fuhr gerade vor die Wagentür des Nebenbuhlers; »hier, Sir – der ist voll.«

Dumps stand unschlüssig still, worauf die Dorfburschendirigenten den »Hark away« mit einem Strome von Schimpfwörtern überschütteten. Der Streit wurde jedoch vom »Admiral Napier« auf eine für alle Parteien befriedigende Weise beigelegt, indem der Admiral den langen Dumps um den Leib faßte und ihn mitten in sein Fuhrwerk hineinschleuderte, das eben herangekommen war und dem nur noch der Sechzehnte inwendig fehlte.

»Alles in Ordnung«, sagte der Admiral, und fort rasselte das Gebäude wie eine Feuerspritze im vollen Galopp mit seinem weggekaperten Passagier, der die Stellung eines halbaufgeklappten Stiefelknechts zu behaupten suchte und bei jedem Stoße bald zur einen, bald zur anderen Seite fiel, wie »ein Jack-im-Grün« am Maitag, der der Dame mit dem Kochlöffel hin und her taumelnd nachhüpft.Die Schornsteinfeger in London halten am 1. Mai einen Aufzug, wobei ein Mädchen Gaben in einem Kochlöffel einsammelt und fortwährend Sprünge macht und ein Bursche ihr nachhüpft, der vom Kopf bis auf das Steinpflaster mit einem kegelförmigen Futteral umgeben ist, das ganz dicht mit frischen Maien umflochten und an der Spitze mit einer Krone geschmückt ist.  Anm. d. Übers.

»Um des Himmels willen, wo soll ich sitzen?« fragte der Unglückliche einen alten Herrn, dem er soeben zum vierten Male auf den Leib gefallen war.

»Wo Sie belieben, nur nicht auf mir«, erwiderte der alte Herr verdrießlich.

Es gelang Dumps endlich, sich einen Sitzplatz zu erringen zwischen einem Fenster, das sich nicht verschließen lassen wollte, und einem Mann, der den ganzen Morgen ohne Regenschirm umhergewandert war und aussah, als wenn er in einer Wassertonne gelegen hätte – nur noch nasser.

»Schlagen Sie doch die Tür nicht so«, sagte Dumps zu dem Kondukteur, als dieser vier Passagiere hinausgelassen hatte; »meine Nerven halten es unmöglich aus.«

»Sagte da ein Herr was?« entgegnete der Cad, steckte den Kopf in den Wagen und bemühte sich, auszusehen, als ob er nicht verstanden hätte.

»Ich sagte, Sie möchten die Tür nicht so heftig zuschlagen«, wiederholte Dumps mit einem Gesicht, das dem des Treffbuben in Krämpfen glich.

»'s ist ganz besonders mit dieser Tür, Sir; sie schließt nicht ohne Zuschlagen«, erwiderte der Cad, öffnete die Tür, so weit er konnte, und schlug sie zum Beweise seiner Angabe mit dem lautesten Krachen zu.

»Bitte um Vergebung, Sir«, redete ein kleiner, kurzatmiger alter Mann, der ihm gegenüber saß, Dumps an; »bitte um Vergebung; aber haben Sie nicht auch bemerkt, daß von fünf Omnibuspassagieren an einem Regentage immer vier mit großen, baumwollenen Regenschirmen einsteigen, die weder Griffe noch Spitzen haben?«

»Nein, Sir, ich habe die Bemerkung noch nicht gemacht«, entgegnete Dumps; er hörte es zwölf schlagen und schrie, da der Omnibus eben an Drury-Lane vorüberrasselte, wo er hinausgelassen zu werden bestimmt hatte: »Hallo, hallo! – wo ist der Cad?«

Der Cad hörte nicht. Einige mutwillige Passagiere kicherten. Der Omnibus rollte an der St. Giles-Kirche vorüber. Dumps wurde ganz heiser und matt von vergeblichem Rufen.

»Halt!« rief endlich der Cad. »Ich will mich fressen lassen, wenn ich den Herrn nicht vergessen hab'«, der bei Drury-Lane abgesetzt werden wollte. – Machen's ein bissel hurtig, Sir, wenn's beliebt!«

Er öffnete die Wagentür und half Dumps so kaltblütig hinaus, als wenn »alles in Ordnung« wäre. Dumps' Entrüstung gewann dieses Mal die Oberhand über seinen bittern Gleichmut. »Drury-Lane!« keuchte er mit der Stimme eines Knaben, der zum ersten Male in ein kaltes Bad geht.

»Drury-Lane, Sir? – ja, Sir – an der dritten Ecke rechter Hand, Sir!«

Dumps' Zorn beherrschte ihn ganz; er faßte seinen Regenschirm mit festem Griff und ging mit großen Schritten und mit dem hartnäckigen Entschluß davon, seine Fahrt nicht zu bezahlen. Es traf sich so merkwürdig, daß der Cad gerade der entgegengesetzten Meinung war, und der Himmel mag wissen, wozu diese Meinungsverschiedenheit geführt haben würde, wenn sie nicht durch den Kutscher zu einem sehr schicklichen und befriedigenden Ende gebracht worden wäre.

»Hallo!« rief dieses respektable Individuum, auf dem Bocke stehend und sich mit der einen Hand auf das Omnibusdach stützend; »hallo, Tom, sag dem Herrn, wenn er sich betrogen fühlte, wollten wir ihn umsonst nach Edgeware-Road mitnehmen und ihn bei Drury-Lane absetzen, wenn wir zurückkämen. Da kann er nichts gegen haben.«

Es war in der Tat nichts dawider einzuwenden; Dumps zahlte die bestrittenen sechs Pence, stand nach einer Viertelstunde vor seines Neffen Haustür in der Großen Russelstraße und wurde sofort eingelassen. – Im Hause deutete alles darauf hin, daß Vorbereitungen getroffen wurden, abends »einige Freunde« zu empfangen. Das sehr heiß und geschäftig aussehende Hausmädchen führte Dumps in ein vorderes, sehr stattlich möbliertes Besuchszimmer, in dem auf allen Tischen kleine Körbe, Porzellanfiguren, Rosa- und Goldalbums, regenbogenfarbige kleine Bücher und dergleichen Sächelchen zur Schau standen und lagen.

»Ah, Onkel«, rief Kitterbell Dumps entgegen; »wie befinden Sie sich? Liebe Mary – mein Onkel. Ich denke, Sie haben Mary schon gesehen, Sir?«

»Habe schon das Vergnügen gehabt«, erwiderte der lange Dumps, doch so, daß es der Ton seiner Stimme und seine Mienen sehr zweifelhaft machten, ob er jemals in seinem Leben dergleichen empfunden habe

»Gewiß«, sagte Mrs. Kitterbell mit einem schmachtenden Lächeln und ein wenig hustend; »gewiß – hm – jeder Freund meines Charles – hm – und noch weit mehr jeder Anverwandte ist –«

»Ich kenne deine Gesinnung, meine Liebe«, unterbrach sie der kleine Kitterbell, indem er seine Gattin auf das zärtlichste anblickte und dabei aussah, als wenn er nach den Häusern gegenüber schaute; »möge dich der Himmel dafür segnen.«

Er begleitete diese letzteren Worte mit einem so süßen Lächeln und einem so zärtlichen Händedruck, daß Onkel Dumps' Galle erregt wurde.

»Jane, sag der Wärterin, daß sie den Kleinen herunterbringen möchte«, befahl Mrs. Kitterbell dem Hausmädchen.

Mrs. Kitterbell war eine große, dünne junge Frau mit sehr hellem Haar und einem auffallend weißen Gesicht – eine der jungen Frauen die, obwohl man schwerlich zu sagen wüßte, warum, stets den Gedanken an kalten Kalbsbraten hervorrufen. Das Hausmädchen ging, und die Wärterin kam, und zwar mit einem sehr, sehr kleinen Bündel auf den Armen, das in einen blauen Mantel mit weißem Pelzbesatz eingehüllt und in dem das Kindlein verborgen war.

»Nun, Onkel«, sagte Kitterbell, indem er mit einer triumphierenden Miene das Gesicht des Kindes enthüllte, »was meinen Sie, wem sieht er ähnlich?«

Mrs. Kitterbell wiederholte kichernd die Frage, nahm ihres Gatten Arm und sah Dumps mit so viel Freundlichkeit, als sie anzunehmen imstande war, in das Gesicht.

»Gütiger Himmel, wie klein er ist!« rief der liebenswürdige Oheim aus, mit sehr gut nachgemachter Überraschung zurückschreckend; »in der Tat, ganz merkwürdig klein.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte der arme kleine Kitterbell, ein wenig verblüfft. »Er ist jetzt ein Ungeheuer gegen das, was er anfangs war – nicht wahr, Wärterin?«

»'s ist ein Herz«, sagte die Wärterin ausweichend und das Kind an die Brust drückend. Sie hätte freilich nichts dawider gehabt, eine Unwahrheit zu sagen, allein, sie mochte sich nicht um Dumps' halbe Krone bringen.

»Aber wem sieht er ähnlich?« fragte der kleine Kitterbell zum zweiten Male.

Dumps sah auf das kleine rosa Bündel hinunter und sann eben nach, wie er die jungen Eheleute am besten ärgern könnte.

»Meinen Sie nicht, daß er mir ähnlich sieht?« fragte sein Neffe mit einer schalkhaften Miene.

»Dir ganz bestimmt nicht«, erwiderte Dumps mit nicht zu mißdeutender nachdrücklicher Betonung. »Nein, dir sieht er nicht im mindesten ähnlich – keine Spur von Ähnlichkeit.«

»Mary?« fragte Kitterbell kleinlaut.

»Auch nicht, Charles; nicht von fern. Ich bin in solchen Dingen natürlich kein kompetenter Richter, allein ich glaube wirklich, er ist einer der kleinen, interessanten Steinfiguren ähnlich, wie man sie bisweilen eine Trompete blasend auf Grabmonumenten sieht.«

Die Wärterin beugte sich über das Kind nieder und unterdrückte nur mit großer Mühe ein lautes Gelächter. Die Eltern sahen fast ebenso jammervoll wie der liebenswürdige Oheim aus.

»Sie werden schon noch besser sagen können, wem er ähnlich sieht«, bemerkte der niedergeschlagene kleine Vater. »Sie sollen ihn heute abend ohne Mantel sehen.«

»Ich danke dir«, sagte Dumps mit Empfindungen, die von allem, was Dankbarkeit heißt, sehr weit entfernt waren.

»Es ist aber Zeit, daß wir aufbrechen, Liebe«, sagte Kitterbell zu seiner Frau. »Onkel, wir treffen den andern Paten und die Patin in der Kirche – Mr. und Mrs. Wilson – ganz allerliebste Leute. Meine liebe Mary, du hast dich doch warm angekleidet?«

Mrs. Kitterbell bejahte.

»Willst du nicht lieber noch einen Schal umbinden?« sagte der besorgte Gatte.

»Es ist nicht nötig, mein süßes Herz«, erwiderte die bezaubernde Mutter, Dumps' dargebotenen Arm nehmend.

Sie stiegen in die Mietskutsche, und Dumps unterhielt Mrs. Kitterbell während der Fahrt zur Kirche damit, daß er ihr mit großer Anschaulichkeit weitläufig die Gefahren der Zahnfieber, Masern, Blattern, Brechdurchfälle, Krämpfe und anderer Kinderkrankheiten schilderte.

Die etwa fünf Minuten währende Taufe ging vorüber, ohne daß sich etwas Besonderes dabei ereignet hätte. Der Geistliche war zu einem Mittagessen in einer entfernten Vorstadt eingeladen und hatte vorher noch in weniger als einer Stunde zwei Wöchnerinnen einzusegnen, drei Kinder zu taufen und einen Leichensermon zu halten. Die Gevattern sprachen daher in des Täuflings Namen, »zu entsagen dem Teufel und allen seinen Werken«, und der kleine Kitterbell war getauft im Umsehen und ohne Gefährdung, nur fehlte wenig, daß Dumps das unter den Händen des Geistlichen in das Taufbecken hätte fallen lassen. Mit schwerem Herzen und der qualvollen Aussicht auf eine Abendgesellschaft langte Dumps um zwei Uhr in seiner Wohnung an.

Der Abend kam – und auch Dumps' Tanzschuhe, schwarze, seidene Strümpfe und weißes Halstuch. Der unglückliche Pate kleidete sich in eines Freundes Kontor an und begab sich von dort zu Fuß – denn es hatte zu regnen aufgehört, und das Wetter war erträglich geworden – in einer Stimmung fünfzig Grad unter Null nach der Großen Straße. Er ging langsam seines Weges, sah so bärbeißig aus wie das Gallionsbild eines Kriegsschiffes und entdeckte bei jedem Schritte neue Ursachen des Verdrusses. Er wendete sich eben um eine Ecke, als ein anscheinend betrunkener Mensch gegen ihn anrannte und ihn niedergeworfen haben würde, wenn er nicht hilfreich von einem elegant kleideten jungen Herrn gehalten worden wäre. Der Stoß hatte jedoch seine Nerven so sehr erschüttert und seinen Anzug in eine so schmähliche Unordnung gebracht, daß er kaum aufrecht stehen konnte. Der Herr gab ihm den Arm und geleitete ihn äußerst gefällig bis zum Fernival-Gasthaus. Dumps empfand zum ersten Male in seinem Leben Dankbarkeit und Neigung zur Höflichkeit und schied von dem jungen Mann unter vielen eifrigen Versicherungen, sich ihm höchlich verpflichtet zu fühlen.

»Es gibt doch wenigstens einige Wohlgesinnte in der Welt«, dachte der misanthropische Dumps im Weitergehen.

Als er sich Kitterbells Haus näherte, klopfte dort oben ein Kutscher an, aus dessen Wagen eine alte Dame und ein alter Herr und drei Kopien der alten Dame in rosa Kleidern und Schuhen ausstiegen.

»'s ist eine große Gesellschaft«, seufzte der unglückliche Gevatter und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirn. Es währte einige Zeit, ehe er sich überwinden konnte zu klopfen; und als er eingelassen wurde, den geputzten Mietaufwärter und den Hausflur so glänzend erleuchtet sah und das Gesumm vieler Stimmen und die Töne einer Harfe und zweier Violinen sein Ohr trafen, drängte sich ihm sogleich die wehmütige Überzeugung auf, daß seine Vermutungen nur zu wohl begründet wären.

Der kleine Kitterbell schoß unendlich geschäftig aus dem kleinen Hinterstübchen mit einem Korkzieher in der Hand heraus und begrüßte ihn.

»Guter Gott!« rief Dumps aus, als er sich in das Hinterstübchen begab, um seine Schuhe anzuziehen, die er in der Rocktasche mitgebracht hatte, und eine Menge Flaschen und Gläser erblickte; »wie viele Gäste hast du denn oben?«

»O, nicht mehr als fünfunddreißig; und wir werden ein ordentliches warmes Essen haben. Mary hielt es für besser wegen des Redenhaltens und all dem. Aber um des Himmels willen, Onkel, was haben Sie denn? Was haben Sie verloren? Ihre Brieftasche?«

Dumps stand da mit einem Schuh, durchsuchte seine Taschen und schnitt dabei die schrecklichsten Gesichter.

»Nein«, sagte er in Tönen redend, wie Desdemona mit dem Kissen auf dem Munde.

»Ihr Markenkästchen – Ihre Schnupftabaksdose – Ihren Hausschlüssel?« ließ Kitterbell schnell wie Blitze eine weitere Frage auf die andern folgen.

»Nein, nein!« ächzte Dumps, fortwährend seine Taschen durchsuchend.

»Vielleicht – vielleicht den Becher, von dem Sie heute morgen sprachen?«

»Ja, den Becher!« entgegnete Dumps, auf einen Stuhl sinkend.

»Wie konnten Sie aber auch so etwas verlieren?« sagte Kitterbell. »Sind Sie gewiß, daß Sie ihn eingesteckt haben?«

»O weh! jetzt wird mir alles klar!« rief Dumps plötzlich aus. »Ich unglückseliger Mensch – ich bin zur Qual geboren; jetzt ist mir alles klar: es war der elegante, gefällige junge Herr!«

»Mr. Dumps!« schrie mit Stentorstimme der in einen Aufwärter verwandelte Obsthändler, indem er dem ziemlich wieder gefaßten Paten eine halbe Stunde später die Tür des Gesellschaftszimmers öffnete. Aller Augen wendeten sich nach der Tür, und Dumps, der sich so behaglich und an seiner Stelle fühlte wie ein Lachs auf einem Kiesweg, trat ein.

»Freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte Mrs. Kitterbell, ohne im mindesten zu ahnen, wie verwirrt und elend der Unglückliche war; »erlauben Sie mir, Sie den Meinigen vorzustellen. Meine Mutter, Mr. Dumps – mein Vater – meine Schwestern.«

Dumps ergriff die Hand der Mutter mit so viel Wärme, als wenn die alte Dame seine eigene Mutter gewesen wäre, verbeugte sich vor den jungen Frauenzimmern und gegen einen Herrn hinter ihm, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, der eine Verbeugung nach der andern machte.

»Onkel«, sagte der kleine Kitterbell, nachdem Dumps ein paar Dutzend erlesenen Freunden vorgestellt worden war, »Sie müssen mir vergönnen, daß ich Sie meinem Freunde Danton dort hinten vorstelle. Ein ganz ausgezeichneter Mensch! Ich weiß gewiß, daß er Ihnen gefallen wird – hier, wenn's beliebt.«

Dumps folgte so langsam wie ein zahmer Bär.

Mr. Danton war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem beträchtlichen Vorrat von Unverschämtheit und einem sehr kleinen Maß von Verstand und Kenntnissen. Er war besonders bei den jungen Damen von sechzehn bis sechsundzwanzig ausnehmend beliebt, verstand, die Töne des Waldhorns bewundernswürdig nachzuahmen, sang ganz unnachahmlich komische Lieder und konnte seinen Verehrerinnen impertinente Albernheiten und Plattheiten auf die einnehmendste Weise von der Welt sagen. Er hatte, Gott weiß wie, den Ruf erlangt, ein äußerst witziger Kopf zu sein, und natürlich lachten alle, die ihn kannten, sobald er nur den Mund öffnete.

Dumps wurde ihm und er Dumps vorgestellt. Mr. Danton verbeugte sich und drehte ein Damentaschentuch, das er in der Hand hatte, auf eine höchst komische Weise. Jedermann lächelte.

»Sehr warm«, sagte Dumps, der es notwendig erachtete, etwas zu sagen.

»Es war gestern noch wärmer«, bemerkte der witzige Danton, und alle Umstehenden lachten laut.

»Es gewährt mir großes Vergnügen, Ihnen zu Ihrem ersten Auftreten in der Vater- – Gevatterrolle wollte ich sagen – Glück zu wünschen«, fuhr Danton fort.

Die jungen Damen waren in Ekstase, und die Herren wollten sich vor Lachen ausschütten.

Ein allgemeines Bewunderungsgesumm unterbrach das Gespräch. Die Wärterin mit dem Kinde trat herein. Die jungen Damen umringten sie augenblicklich; denn die Mädchen sind in Gesellschaft stets unendlich verliebt in Kinderchen.

»Oh, welch ein liebes Kind!« rief die eine.

»Du süßes Herzchen!« eine zweite.

»Welch ein himmlisches kleines Wesen!« eine dritte im Tone der allerhöchsten Bewunderung und Zärtlichkeit.

»Was für allerliebste kleine Arme« jubelte eine vierte und hielt einen Arm des Kindes empor, der etwa von der Größe und Gestalt eines gerupften Hühnerbeins war.

»Geben Sie ihn mir einmal her, Wärterin«, sagte eine fünfte.

»Kann er schon die Augen öffnen, Wärterin?« fragte eine sechste, die vollkommenste Unschuld spielend.

Mit einem Wort, die unverheirateten Damen erklärten das Kind einstimmig für einen Engel, und die verheirateten gestanden einhellig, daß es das hübscheste sei, das sie je gesehen hätten – ihre eigenen ausgenommen.

Der Tanz wurde wieder begonnen und über Mr. Danton geurteilt, daß er sich selbst übertreffe. Mehrere junge Damen entzückten die Gesellschaft und gewannen sich selbst Bewunderer durch sentimentale Lieder, die sie mit großem Ausdruck sangen. Die jungen Herren »machten sich höchst angenehm«, wie Mrs. Kitterbell sagte; die Mädchen ließen ihre Gelegenheiten nicht unbenutzt vorübergehen, und alles verhieß einen köstlichen und köstlich endenden Abend. Dumps hatte sich jedoch einen Plan – einen kleinen Spaß nach seiner Art ausgedacht und war fast vergnügt. Er spielte einen Rubber und verlor ihn bis auf den letzten Point, was er, wie Mr. Danton sagte, mit Willen getan, indem es sein letzter, sein Ziel-Point, beim Spiel gewesen. Die ganze Gesellschaft lachte. Dumps antwortete durch einen weit besseren Scherz, allein niemand lächelte auch nur, mit Ausnahme des Wirts, der es für seine Pflicht zu halten schien, über alles zu lachen, bis er schwarz im Gesicht war. Nur in einer einzigen Beziehung ging nicht alles, wie es sollte – die Spielleute spielten nicht mit so viel Feuer, wie man es hätte wünschen mögen; indes konnten sie allerdings eine genügende Entschuldigung anführen. Sie hatten nämlich schon den ganzen Tag auf einem Dampfschiff gespielt, das eine muntere Gesellschaft nach Gravesend hin- und zurückgefahren hatte.

Das Souper war ausgesucht. Mrs. Kitterbell hatte vier Zuckertempel auf den Tisch stellen lassen, die sich vortrefflich ausgenommen hätten, wenn sie nicht zusammengeschmolzen wären, ehe sich die Gesellschaft zu Tisch setzte. Ebenso lief das Wasser eines Beckens mit einer allerliebsten Mühle auf das Tischtuch über, statt daß die letztere umlief. Es fehlte nicht an allen möglichen Leckerbissen, nur ein paarmal an reinen Tellern. Mr. Kitterbell rief sich heiser danach, sie kamen dennoch nicht, und die Herren, denen sie fehlten, erklärten, es tue gar nichts, sie wollten ein jeder den Teller einer Dame nehmen. Mrs. Kitterbell belobte sie wegen ihrer Galanterie; der Obsthändler rannte umher, bis ihm seine acht Schillinge sehr sauer verdient vorkamen; die jungen Damen aßen nicht viel, aus Furcht, daß es unromantisch aussehen könnte, und die verheirateten Damen aßen soviel wie möglich, aus Furcht, nicht genug zu bekommen; es wurde viel Wein getrunken, und alle sprachen und lachten nicht wenig.

»Pst, pst!« sagte der kleine Kitterbell aufstehend und mit sehr wichtiger Miene. »Meine Liebe«, rief er seiner Gattin am anderen Ende des Tisches zu, »übernimm es, für Mrs. Marwell und deine Frau Mutter und die übrigen verheirateten Damen zu sorgen; ich bin überzeugt, die Herren werden die jungen Damen bewegen, ihre Gläser zu füllen.«

»Meine Damen und Herren«, begann der lange Dumps mit einer echten Grabstimme und Bußpredigtbetonung, indem er sich wie der Geist im Don Juan erhob, »wollen Sie die Güte haben, Ihre Gläser zu füllen? Ich wünsche sehr, eine Gesundheit auszubringen.«

Es folgte ein tiefes Stillschweigen, die Gläser wurden gefüllt, und man sah nur noch ernsthafte Gesichter.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Dumps langsam fort, »ich –«

Hier ahmte Mr. Danton ein paar Takte Waldhornmusik nach, und zwar so durchdringend und natürlich, daß der nervenschwache Dumps wie elektrisiert war und die übrige Gesellschaft ausgelassen lachte.

»Zur Ordnung, zur Ordnung!« rief der kleine Kitterbell, indem er seine Lachlust zu bemeistern suchte.

»Zur Ordnung!« riefen die Herren.

»Danton, seien Sie ruhig«, herrschte ein engerer Bekannter den Frevler an, ohne sein Lachen ganz unterdrücken zu können.

Dumps faßte sich sehr bald wieder, zumal er nur wenig außer Fassung gekommen, denn er war ein ziemlich guter Redner, und hub noch einmal an. »Meine Damen und Herren, ich habe es mir erlaubt, aufzustehen, um Ihnen eine Gesundheit vorzuschlagen, da dergleichen meines Wissens Gebrauch bei Taufschmäusen ist und ich einer der Paten Master Frederick Charles William Kitterbells bin.« (Seine Stimme bebte bei diesen Worten, denn er erinnerte sich des Bechers.) »Ich brauche kaum zu sagen, daß mein Vorschlag dahin geht, auf das Wohlsein und Gedeihen des jungen Herrleins zu trinken, zu dessen Ehren wir hier versammelt sind. (Beifall.) Meine Damen und Herren, wir können unmöglich annehmen, daß seine Eltern, deren aufrichtige Freundinnen und Freunde wir alle sind, ihre Lebensbahn zurücklegen werden, ohne ihre Leidenskraft auf schwere Proben gestellt zu sehen, ohne manch großes Leid, viel herben Kummer, ohne Verluste zu erleiden!«

Hier hielt der arglistige, schalkhafte Dumps inne, zog langsam und bedächtig ein großes, weißes Tuch aus der Tasche, und mehrere Damen folgten seinem Beispiele.

»Daß sie lange damit verschont bleiben mögen, ist mein inbrünstiges Flehen, mein heißester Wunsch.« (Die Großmutter begann hier vernehmlich zu schluchzen.) »Ich hoffe und vertraue, meine Damen und Herren, daß das liebe Kind, dessen Tauffeier uns zusammengeführt hat, seinen liebenden Eltern nicht durch einen frühen Tod entrissen, daß seine jetzt scheinbar gute Gesundheit nicht durch ein langsames Siechtum zerstört werden möge.« (Dumps blickte sardonisch umher, denn er sah, daß er beträchtlichen Eindruck bei den verheirateten Damen hervorgebracht hatte.) »Ich weiß, daß Sie meinen Wunsch teilen, daß es leben möge zur Freude und zum Trost seines Vaters und seiner Mutter.« (Hier rief Mr. Kitterbell: »hört, hört!« und schluchzte gerührt.) »Doch sollte der Knabe nicht so werden, wie wir es von ihm wünschen – sollte er dereinst vergessen, was er seinen zärtlichen Eltern schuldig ist und verdankt – sollten sie so unglücklich sein, an ihm zu erfahren, wie traurig wahr es ist, daß ›ein undankbarer Sohn schlimmer ist als der Zahn einer giftigen Schlange‹–«

Hier stürzte Mrs. Kitterbell mit dem Tuche vor den Augen und von mehreren Damen begleitet hinaus und sank im Vorzimmer in heftigen Krämpfen zu Boden; ihr Gatte war fast in demselben Zustande, und Dumps hatte sich großen Beifall erworben, denn wie es auch sei, man läßt sich gern rühren.

Kaum braucht indes hinzugefügt zu werden, daß Onkel Dumps' Rede den Freuden des Abends ein Ende machte. Weinessig, Hirschhorn und kaltes Wasser waren urplötzlich so sehr an der Tagesordnung, wie es kurz zuvor Glühwein und Backwerk gewesen waren. Man brachte Mrs. Kitterbell in ihr Schlafgemach, die Spielleute wurden verabschiedet, aller Scherz wie alles Lachen und Schäkern hörten auf, und die Gesellschaft entfernte sich in aller Stille. Dumps entfernte sich zuerst und ging leichten Schrittes und mit einem (für ihn) fröhlichen – Herzen nach Hause. Seine Hauswirtin will ihn auf eine eigentümliche Weise lachen gehört haben, sobald er seine Tür hinter sich verschlossen hatte; eine Behauptung, die jedoch zu unwahrscheinlich ist, als daß man ihr Glauben schenken könnte.

Kitterbells Familie hat sich seit der Zeit sehr vermehrt; er erfreut sich jetzt zweier Knaben und eines Mädchens und sieht sich, da er seine Kinderzahl binnen kurzem abermals vergrößert zu sehen erwartet, nach einem passenden Taufpaten um. Er ist jedoch entschlossen, ihm zwei Bedingungen zu stellen. Der Taufpate soll sich erstlich feierlich verpflichten, durchaus keine Rede beim Nachtisch zu halten, und zweitens auf keinerlei Weise mit »dem unglücklichsten Manne von der Welt« in Verbindung stehen zu dürfen.

 

ende

 


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