Charles Dickens
Londoner Skizzen
Charles Dickens

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Das neue Jahr

Nächst Weihnacht ist Neujahr die lustigste Zeit des ganzen Jahres. Es gibt weinerliche Leute, die das neue Jahr mit Wachen und Fasten beginnen, als wenn es ihnen obläge, beim Begräbnis des alten in der Rolle des Hauptleidtragenden zu agieren. Wir können jedoch nicht umhin, es weit schmeichelhafter sowohl für das entschwindende alte als das eben erscheinende neue Jahr zu halten, daß man in fröhlicher Lust den alten Knaben entläßt und das neugeborene Kindlein begrüßt.

Im alten Jahr muß sich doch wohl einiges zugetragen haben, worauf wir mit einem Lächeln heiterer Erinnerung, wo nicht mit Gefühlen innigen Danks zurückblicken können; und jede Rechts- und Billigkeitsregel verpflichtet uns ja, von dem neuen Jahr anzunehmen, daß es gut sein werde, bis es sich des ihm bewiesenen Vertrauens unwürdig gezeigt hat.

Dies ist unsere Ansicht der Sache; und weil wir sie hegen, sitzen wir hier, trotz unserem Respekt vor dem alten Jahr, dessen letzte Augenblicke, indem wir die Feder führen, dahinschwinden: sitzen wir hier am letzten Abend des alten Jahres eintausendachthundertundsechsunddreißig an unserem Kamin und schreiben diese Skizze und schlürfen unseren Grog mit so fröhlicher Miene, als wenn sich gar nichts Außerordentliches, das unseren Gleichmut hätte stören können, zugetragen hätte oder zutragen könnte.

Mietskutschen und Equipagen rasseln in ewiger Folge die Straße hinauf und herunter und tragen ohne Zweifel geputzte Gäste in gefüllte Gesellschaftszimmer; laute und wiederholte Doppelschläge an die Tür des Hauses mit den grünen Jalousien gegenüber verkünden der ganzen Nachbarschaft, daß jedenfalls eine große Gesellschaft in der Straße gegeben wird; und wir sahen durch unser Fenster und obendrein durch den Nebel, bis er so dick wurde, daß wir Licht bringen ließen und unsere Vorhänge zuzogen, Konditorlehrlinge mit grünen Kästen auf den Köpfen und Karren voll von Geräten für die Abendgesellschaften nach den vielen Häusern eilen, in denen sich Silvestergesellschaften versammelten.

Uns deucht, wir können uns eine solche Gesellschaft so lebhaft vorstellen, als wenn wir, gehörig befrackt und beballschuht, bei Ankündigung unseres Namens an der Besuchszimmertür ständen – etwa in dem Hause mit den grünen Jalousien. Man gibt dort eine Ballgesellschaft, denn als wir heute morgen bei unserem Frühstück saßen, sahen wir, daß im Besuchszimmer der Teppich weggenommen wurde, und wenn es noch weiteren Beweises bedürfte und wenn wir die Wahrheit sagen müssen, wir sahen erst eben noch eine der jungen Damen nicht weit von einem Schlafzimmerfenster einer anderen das Haar »machen«, und zwar in einem so glänzenden Stil, wie er nur für eine Ballgesellschaft statthaft ist. – Der Herr des Hauses mit den grünen Jalousien ist ein öffentlicher Beamter; wir schließen es aus dem Schnitt seines Rockes, der Schleife seines Halstuchs und der Selbstgenügsamkeit seines Ganges – schon die grünen Jalousien haben ein Somerset-House-Air.Im prachtvollen Somerset-House befinden sich die Büros fast aller Zweige der Staatsverwaltung.  Anm. d. Übers.

Horch! Ein Kabriolett! Der Anlangende ist ein jüngerer Attaché aus demselben Büro, ein nicht wenig auf sein Äußeres haltender junger Mann mit einer Neigung zu Schnupfen und Hühneraugen. Er erscheint in tuchbesetzten Stiefeln, bringt die Schuhe in der Rocktasche mit und zieht sie im Hausflur an. Der Aufwärter im letzteren ruft seinen Namen einem zweiten Aufwärter – einem verkleideten Pedell des Büros – in einem blauen Leibrock zu.

Der Aufwärter auf dem ersten Treppenabsatz geht dem jungen Herrn nach dem Besuchszimmer voran, öffnet die Tür und schreit hinein: »Mr. Tupple!« Der Hausherr, der am Kamin politisiert und sich gewärmt hat, tritt ihm entgegen und erkundigt sich nach seinem Befinden. »Meine Liebe, dies ist Mr. Tupple« (die Dame vom Hause knickst verbindlich); »Mr. Tupple, meine älteste Tochter; liebe Julie, Mr. Tupple; Tupple, meine anderen Töchter und mein Sohn«, – und Mr. Tupple reibt sich die Hände sehr stark, verbeugt sich in einem fort links und rechts, bis die ganze Familie vorgestellt ist, läßt sich sodann auf einen Stuhl an der Sofaecke nieder, eröffnet eine Unterhaltung mit den jungen Damen über das Wetter, die Theater, das alte Jahr, die neueste Mordtat, den Luftballon, die Ärmel der Frauenkleider, die Lustbarkeiten der »Season« und eine Menge anderer Gegenstände des Tagesgesprächs. Abermalige Doppelschläge! Welch eine zahlreiche Gesellschaft – welch ein unaufhörliches Unterhaltungsgesumm und Kaffeeschlürfen! Wir sehen Tupple im Geist auf seiner höchsten Glanzstufe. Er hat soeben die Tasse der dicken alten Dame dem Aufwärter gereicht und verliert sich jetzt in dem Haufen der jungen Herren an der Tür, um den andern Aufwärter, ehe er hinausgeht, abzufangen und sich des Semmeltellers für die Tochter der alten Dame zu bemächtigen; und als er mit dem Teller am Sofa vorübergeht, wirft er den jungen Damen einen so herablassenden und vertraulichen Erkennungs- und Gönnerblick zu, als ob er sie von Kindheit an gekannt hätte.

Ein bezaubernder junger Mensch, der Mr. Tupple – ein vollkommener Kavalier – und welch ein herrlicher Gesellschafter! Und was sein Lachen betrifft! – Niemand verstand jemals Papas Scherze nur halb so gut wie Mr. Tupple, der sich bei jedem neuen Witzwort vor Lachen ausschütten wollte. Und welch ein angenehmer Mitspieler er ist! – Spricht während der ganzen Partie, und so romantisch, mit so erstaunlich viel Gefühl, wenn er sich auch anfangs etwas leichtfertig zeigte. Mit einem Worte, ein wahres Herz! Bei den jungen Herren ist er freilich eben nicht beliebt. Sie bespötteln ihn und stellen sich, als ob sie ihn verachteten; aber jedermann weiß, es ist purer Neid, und sie brauchten sich ganz und gar nicht zu bemühen, ihn zu verkleinern, denn die Mutter hat gesagt, er solle künftig zu jeder Mittagsgesellschaft eingeladen werden, schon um die Gäste zwischen den Gängen zu unterhalten und ihre Aufmerksamkeit zu beschäftigen, wenn eine unerwartete Verzögerung in der Küche einträte.

Bei Tisch zeigt sich Mr. Tupple noch mehr zu seinem Vorteil, als er es den ganzen Abend getan hat, und wenn der Hausherr die Gesellschaft bittet, die Gläser zu füllen, um Glück zum neuen Jahre zu trinken, ist Mr. Tupple so unendlich spaßhaft, besteht darauf, daß sämtliche junge Damen wirklich gefüllte Gläser haben müssen, trotz ihrer wiederholten Versicherungen, unmöglich austrinken zu können, bittet endlich um die Erlaubnis, Vaters Worten noch einige wenige hinzufügen zu dürfen, und hält eine so glänzende und poetische Rede über das neue und alte Jahr, wie man sich nur eine denken kann.

Nachdem die Gesundheit getrunken ist und die Damen sich entfernt haben, ersucht Mr. Tupple sämtliche Herren um die Gunst, abermals ihre Gläser zu füllen, denn er hat eine zweite Gesundheit in Vorschlag zu bringen. Die Herren rufen: »Hört, hört!« lassen die Flaschen herumgehen, und sobald der Wirt erklärt hat, daß die Gläser gefüllt seien und daß man auf die Gesundheit warte, erhebt sich Mr. Tupple und erlaubt sich, die Anwesenden daran zu erinnern, wie sehr sie durch die Fülle blendender Eleganz und Schönheit, die das Besuchszimmer an diesem Abend gewährt habe, entzückt, und wie hold umfangen ihre Sinne, wie gefesselt ihre Herzen gewesen durch den zauberischen Verein liebenswürdiger Damen. (Lautes und mehrfaches Hört!) Sosehr er (Tupple) sich indes sonst geneigt fühlen möge, die Abwesenheit der Damen, zu beklagen, so könne er doch nicht umhin, einigen Trost in der Erwägung zu finden, daß es ihm eben durch ihre Nichtanwesenheit möglich werde, eine Gesundheit vorzuschlagen, die er jetzt nur vorschlagen könne – die Gesundheit der Damen (großer Beifall), unter denen die holdseligen Töchter des trefflichen Wirts gleich sehr durch ihre Schönheit wie durch ihre feine Bildung hervorglänzten. Er forderte die Herren auf, ihre Gläser zu Ehren der Damen und auf ein glückliches neues Jahr für sie zu leeren. (Verlängerter Beifall, unter dem man jedoch deutlich hört, wie die Damen über den Köpfen der Herren den spanischen Tanz miteinander üben.)

Das Beifallrufen ist kaum vorüber, als ein junger Herr in einer rosa Unterweste ziemlich unten am Tische äußerst unruhig hin und her zu rücken anfängt und starke Anzeichen eines geheimen Wunsches blicken läßt, seinen Gefühlen durch eine Rede Luft zu machen. Der schlaue Tupple bemerkt es sogleich und beschließt, es dadurch zu verhindern, daß er selbst das Wort abermals nimmt. Er steht daher mit feierlich-wichtiger Miene auf und hofft, daß man ihm erlauben werde, noch eine Gesundheit vorzuschlagen (großer Beifall); ist überzeugt, daß alle von der Gastlichkeit – er könne sagen, der glänzenden Gastlichkeit –, die sie an diesem Abend von ihren ehrenwerten Wirten erfahren hätten, auf das tiefste durchdrungen sind (unbegrenzter Beifall). Obwohl dies die erste Gelegenheit ist, bei der ihm die hohe Freude zuteil geworden sei, an diesem Tische zu sitzen, so hat er doch seinen Freund Dobble schon lange und genau gekannt; er hat in Geschäftsverbindung mit ihm gestanden und wünscht, daß alle Anwesenden Dobble so gut kennen möchten wie er selbst. (Der Wirt hustet.) Er kann die Hand auf das Herz legen und seinen festen Glauben aussprechen, daß es nie und nirgends einen besseren Mann, einen besseren Gatten, einen besseren Vater, einen besseren Bruder, einen besseren Sohn, einen besseren Anverwandten und wohlmeinenderen Freund gegeben habe als Dobble. (Lautes Hört!) Die Anwesenden haben ihn an diesem Abende im friedlichen Schoße seiner Familie gesehen – daß sie ihn doch morgens sehen könnten bei Ausübung der schweren Pflichten seines Amts! – gesammelt beim Zeitungslesen, anspruchslos bei Unterzeichnung seines Namens, würdevoll bei seinen Antworten auf die vielfachen an ihn gerichteten Fragen, ehrerbietig in seinem Benehmen gegen die Vorgesetzten, majestätisch in seiner Haltung gegen die Pedelle. (Hurras.) Wenn er (Tupple) den trefflichen Eigenschaften seines Freundes Dobble die verdiente Würdigung angedeihen lasse, was könne er sagen, wenn er von einer Dame wie Mrs. Dobble zu reden beginne? Sollte es erforderlich sein, daß er sich über die Tugenden und Vorzüge dieser liebenswürdigen Frau verbreite? Nein; er will das Zartgefühl seines Freundes schonen, wenn er ihm die Ehre erlaubt, ihn so zu nennen. Mr. Dobble junior! (Mr. Dobble junior, der gerade den Mund zu einer beträchtlichen Weite ausgedehnt hat, um eine ausgezeichnet schöne Apfelsine hineinzustecken, unterbricht seine Operationen und nimmt die schickliche Miene tiefer Melancholie an.) Er (Tupple) begnügt sich, einfach zu sagen – und ist von der freudigen Zustimmung aller ihn Anhörenden vollkommen überzeugt, daß sein Freund Dobble so hoch über jedem Manne stehe, den er je gekannt, als Mrs. Dobble alle Damen, die er jemals gesehen hätte (ihre Töchter ausgenommen) überrage, und will damit schließen, daß er die Gesundheit vorschlägt: »Die ehrenwerten Wirte, und mögen sie noch viele glückliche und frohe Jahre leben!«

Die Gesundheit wird mit Jubel getrunken – der Wirt dankt – und die ganze Gesellschaft verfügt sich zu den Damen. Junge Herren, die vor dem Abendessen zum Tanzen zu schüchtern waren, finden Zungen und Tänzerinnen; die Musiker verraten durch unzweideutige Symptome, daß sie in das neue Jahr »hinein« getrunken haben, während die Gesellschaft draußen gewesen, und das Tanzen hat seinen Fortgang bis spät in den Neujahrsmorgen hinein.

Wir haben kaum das letzte Wort des letzten Absatzes niedergeschrieben, als der erste Schlag der Mitternachtsstunde von den Kirchen umher ertönt. Es liegt etwas Schaurigfeierliches in dem Klang. Genaugenommen mag er in der Neujahrsnacht nicht herzbewegender sein als in jeder anderen, und die Stunden entfliehen zu anderen Zeiten ebenso rasch, und wir beachten ihre Flüchtigkeit nur wenig. Allein, wir messen unser Leben eben nach Jahren; ernst und feierlich sind darum die Töne, die uns verkünden, daß wir abermals an einer der zwischen uns und dem Grabe errichteten Marken stehen, und ob und wie wir uns seiner auch erwehren möchten, unwiderstehlich drängt sich uns der Gedanke auf, daß wir, wenn die Glocke abermals ein neues Jahr verkündigt, die so oft vernachlässigte Mahnung vielleicht nicht mehr vernehmen, daß vielleicht alle jetzt noch in uns glühenden warmen Gefühle erloschen sind.

Doch es hat zwölf Uhr geschlagen, und die das neue Jahr begrüßenden Glocken klingen lustig zusammen. Hinweg denn mit allen düstern Betrachtungen! Wir waren glücklich und froh im vergangenen und werden froh und glücklich, so es Gott gefällt, auch in diesem Jahre sein. Und da wir allein sind und es weder tanzend noch singend empfangen können – wohlan! das Glas an die Lippen, und: Sei herzlich willkommen, du Jahr Eintausendachthundertsiebenunddreißig!

 


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