Charles Dickens
Londoner Skizzen
Charles Dickens

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Die Mietskutschenstände

Wir behaupten, daß die Mietskutschen – im eigentlichen Sinne – der Hauptstadt allein eigentümlich sind. Man wird uns einwenden, es gebe auch in Edinburgh, Liverpool, Manchester und anderen großen Städten Mietskutschenstände. Wir gestehen den genannten Städten gern den Besitz gewisser Fuhrwerke zu, die fast ebenso unsauber aussehen und sich fast ebenso langsam von der Stelle bewegen mögen als die Londoner Mietskutschen: stellen aber mit Unwillen in Abrede, daß sie auch nur den mindesten Anspruch erheben können, sich mit den Londonern in Beziehung auf Stände, Kutschen oder Pferde zu vergleichen.

Betrachten wir eine gewöhnliche, rumpelkastige und baufällige Londoner Mietskutsche von der alten Art: Wer möchte dann wohl so kühn sein wollen, zu behaupten, daß er jemals auf der ganzen Erde ein Ding gesehen habe, das ihr irgendwie geglichen hätte – es müßte denn sein, eine andere Mietskutsche vom selben Datum. Wir haben seit neuestem auf gewissen Ständen – und sagen es mit tiefem Kummer – Halbchaisen und Kutschen, grün- oder gelblackiert, und zwar nicht übel – mit vier Rädern von derselben Farbe wie die Kästen gesehen, da es doch jedermann, der dem Gegenstande seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zur Genüge bekannt ist, daß jedes Rad von verschiedener Farbe und Größe sein sollte. Dies sind Neuerungen und, gleich anderen, die man mißbräuchlich Verbesserung nennt, bedenkliche Zeichen der gegenwärtigen Unruhe in den Meinungen und Gesinnungen der Nation und der geringen Achtung, die derzeit unsern, durch ihr Alter geheiligten öffentlichen Einrichtungen gezollt wird. Warum sollen Mietskutschen reinlich sein? Unsere Vorfahren fanden und ließen sie schmutzig. Warum sollen wir, von dem fiebrischen Wunsche fortwährender »Bewegung« getrieben, mit einer Schnelligkeit von sechs Meilen die Stunde durch die Straßen rollen, während sie zufrieden waren, wenn sie sich vier Meilen die Stunde über das Pflaster rumpeln ließen? Dies sind ernstliche Erwägungen. Die Mietskutschen sind ein Teil und Zubehör der Landesgesetze – sie wurden durch die Gesetzgebung eingeführt und durch die Weisheit des Parlaments beschildert und numeriert.

Warum sind sie denn aber von Kabrioletts und Omnibussen in den Hintergrund gedrängt worden? Oder aber, warum gestattet man den Leuten, rasch zu fahren für achtzehn Pence die Meile, nachdem das Parlament feierlich beschlossen hatte, daß sie langsam fahren und einen Schilling dafür bezahlen sollten? Wir halten inne und warten auf eine Antwort – und fangen einen neuen Abschnitt an, da wir keine Hoffnung haben, eine Antwort darauf zu bekommen.

Unsere Bekanntschaft mit den Mietskutschenständen rührt aus alter Zeit her. Wir sind ein umherwandelndes Kursbuch und fühlen uns gleichsam eingebunden und aufgeschnitten, um stets bereit zu sein, Auskunft über strittige Punkte zu geben. Wir kennen alle Aufwärter der Mietskutschenstände innerhalb drei Meilen von Covent-Garden von Person und würden versucht sein zu glauben, daß sämtliche Mietskutschenpferde dieses Bezirks uns gleichfalls von Person kennten, wenn die Hälfte von ihnen nicht blind wäre. Wir nehmen ein großes Interesse an den Mietskutschen, fahren aber selten in einer, da wir sonderbarerweise, wenn wir es tun, fast immer umwerfen. Wir sind ebenso große Freunde von Mietskutschen- wie anderen Pferden, als Mr. Martin von der Äpfelhändlerberühmtheit,Mr. Martin von Galway, ein Irländer, ging ausdrücklich in das Parlament, um Gesetze gegen die Tierquäler zu veranlassen, und zog häufig Tierquäler vor die Gerichte, besonders die Apfelhändler, die ihre Ware auf Eseln zur Stadt zu bringen pflegten. Er setzte übrigens seine Absichten im Parlament nicht durch, weil man fürchtete, daß die von ihm vorgeschlagenen Gesetze zu sehr zu Schikanen mißbraucht werden würden; allein seine edlen Bestrebungen hatten doch den Erfolg, daß die Tierquäler und namentlich die Apfelverkäufer in Harnisch gerieten und daß man von seinen Zeiten an ein Abnehmen der Grausamkeiten gegen die Tiere bemerkte.  Anm. d. Übers. und reiten desungeachtet nie. Wir halten uns kein anderes als nur ein Steckenpferd – vertrauen uns nicht gern dem Rücken eines Rosses an, sondern halten uns dafür lieber an einen Rehrücken – und folgen lieber unsern eigenen Neigungen – als einem gehetzten Fuchse. Wir überlassen diese Mittel, geschwinder über die Erde fortzukommen oder auch auf sie niedergeworfen zu werden, denen, die Gefallen daran finden, und nehmen unsern Stand bei den Mietskutschenständen – oder sitzen ihnen vielmehr lieber in behaglicher Ruhe gegenüber.

Ein solcher Kutschenstand befindet sich gerade unter dem Fenster, an dem wir schreiben, und sämtliche Mietskutschen sind gerade fort, eine einzige ausgenommen, die aber für ein wahres Muster aller übrigen gelten kann. Sie ist ein großer viereckiger Kasten, schmutziggelb (wie eine gallsüchtige Brünette), mit sehr kleinen Glasscheiben, aber sehr großen Fensterrahmen. Die Schläge sind mit einem verblichenen Wappenschilde verziert, das ziemlich wie eine sezierte Fledermaus aussieht; die Achse ist rot und die meisten Räder sind grün. Der Bock ist teilweise von einem alten Reiserock, einer Sammlung von Mantelkragen – und einem wunderbar aussehenden Behang verhüllt; und das Stroh, womit das Kanevaskissen ausgestopft ist, guckt an mehreren Stellen hervor, gleichsam als wenn es mit dem Heu rivalisieren wollte, das aus den Ritzen des Kutscherkastens hervordringt. Die Pferde stehen mit niederhängenden Köpfen und mit den dünnen und zottigen Mähnen und Schweifen eines Schaukelpferdes geduldig auf ein wenig feuchtem Stroh, fahren zuckend zusammen und schütteln das Geschirr; und von Zeit zu Zeit hebt eins die Schnauze zum Ohre des andern empor, als wenn es ihm zuflüstern wollte, es möchte den Kutscher wohl meucheln. Der Kutscher selbst sitzt bei einem Gläschen, und der Kutschstandwärter exerziert ein sehr kunstvolles Manöver, indem er vor dem Brunnen, die Hände in den Taschen, so tief sie haben hineingehen wollen, unermüdlich den rechten und linken Fuß (um sie sich warm zu erhalten) abwechselnd und mit Energie hebt und senkt, als ob er immer fortzueilen dächte, doch stets auf derselben Stelle bleibt.

Auf einmal öffnet das Hausmädchen mit den rosa Bändern in Nr. 5 gegenüber die Haustür, und vier kleine Kinder stürzen heraus und schreien was sie können: »Kutsche, Kutsche!« Der Wärter schießt nach den Pferden hin, faßt die Zäume und zieht daran sie und auch die Mietskutsche, dabei fortwährend nach dem Kutscher rufend, vor das Haus. Der Kutscher antwortet aus dem Schenkstübchen, die Straße hallt nach einiger Zeit vom Geklapper der Holzsohlen des Herbeilaufenden wider, und er und der Wärter vereinigen ihre umständlichen Anstrengungen, um endlich zu erreichen, daß die Kutsche gerade vor und in gehöriger Entfernung von der Haustür zu stehen kommt, so daß die Kinder ganz außer sich vor Vergnügen sind. Welch ein Getümmel! Die alte Dame, die das Haus während der letzten vier Wochen bewohnt hat, kehrt auf das Land zurück. Eine Schachtel nach der andern wird herausgebracht, und die eine Hälfte der Kutsche ist im Nu mit Gepäck angefüllt: die Kinder sind jedermann im Wege, und das jüngste, das bei dem Versuch, einen Regenschirm zu tragen, auf die Nase gefallen ist, wird blutend und widerstrebend hineingetragen. Die Kinder verschwinden, und es erfolgt eine kurze Pause. Die alte Dame küßt sie ohne Zweifel der Reihe nach ab. Endlich erscheint sie, begleitet von ihrer verheirateten Tochter, sämtlichen Kindern und beiden Hausmägden, denen es unter dem Beistand des Kutschers und Standwärters gelingt, sie glücklich in die Arche hineinzuheben. Man reicht ihr einen Mantel und einen kleinen Korb hinein, der (wir getrauen uns fast darauf zu schwören) ein Fläschchen mit Spirituosen und Butterschnitten mit Fleisch enthält. Der Kutschentritt wird befestigt, der Schlag zugeworfen. »Tom, Golden Cross, Charing Cross«, sagte der Standwärter, die Kinder rufen der Großmutter noch zwanzig Lebewohls zu, die Kutsche rasselt in einer Schnelligkeit von drei Meilen die Stunde über das Pflaster fort, und die Mutter und die Kinder gehen wieder hinein – mit Ausnahme eines kleinen Bösewichts, der von einer der Mägde verfolgt, so schnell ihn seine Füße tragen wollen, die Straße hinunterrennt. Die Magd ist nicht übel damit zufrieden, eine Gelegenheit zu erhalten, ihre Reize sehen zu lassen. Sie bringt den Flüchtling endlich zurück, wirft einige holdselige Blicke herüber nach uns oder dem Bierjungen (wir sind unserer Sache nicht ganz gewiß), verschließt die Tür, und der Kutschenstand ist gänzlich verlassen.

Nicht selten hat uns das innige Behagen höchlich ergötzt, womit eine nach einer Mietskutsche entsendete Ausläuferin im Inneren Platz nahm oder das unsägliche Vergnügen, womit die zum gleichen Zwecke ausgeschickten Knaben den Bock zu erklimmen pflegen. Nie aber hat uns eine Mietskutschengesellschaft mehr belustigt als die, die wir vor einigen Tagen in Tottenham-Court-Road sahen. Es war eine Hochzeitsgesellschaft, und sie kam aus einer der schlechteren Straßen unweit Fitzroy- Square; die Braut in einem dünnen weißen Kleid und mit einem großen, roten Gesicht, die Brautjungfer, ein kleines, kurzes und dickes, munteres junges Frauenzimmer, natürlich in demselben angemessenen Kostüm, und der Bräutigam und der Bräutigamsführer in blauen Röcken, gelben Westen und weißen Beinkleidern und Handschuhen. An der Ecke der Straße standen sie still und riefen mit unbeschreiblich wichtigen Gebärden nach einer Kutsche. Sobald sie eingestiegen waren, warf die Brautjungfer einen roten Schal, den sie ohne Zweifel absichtlich dazu mitgebracht hatte, nachlässig über die Nummer des Kutschschlags, offenbar um die Vorübergehenden glauben zu machen, daß die Mietskutsche eine Privatequipage sei; und so fuhren sie ab, vollkommen überzeugt, daß die Täuschung gelänge, und ganz ohne Ahnung, daß ein Schild mit einer Nummer, so groß wie die Schiefertafel eines Schulknaben, hinten angebracht war. Einen Schilling die Meile! Die Fahrt war fünf und mehr wert, für sie zum wenigsten.

Welch ein interessantes Buch eine Mietskutsche müßte liefern können, wenn sie einen Kopf hätte und darin so viel bergen könnte wie in ihrem Innern! Die Selbstbiographie einer Invalidin ihres Geschlechtes würde sicher nicht weniger unterhaltend sein als die Autobiographie eines invaliden Mietsschriftstellers oder Theaterdichters und dürfte ebensoviel von ihren Reisen um den Pol des Kutschenstands wie die der anderen von ihren Expeditionen nach dem Pole zu berichten haben. Wie viele Geschichten würde sie von den Leuten erzählen können, die sie von einem Orte zum anderen geführt haben und die sich bald in Geschäften, bald des Vergnügens halber in ihr umherkutschieren ließen! Und wie zahllose und verschiedene Leute benutzten sie: das Landmädchen, die Putznärrin, die trunkene Dirne, der unerfahrene Lehrling, der abgefeimte Betrüger, der ehrliche Mann und der durchtriebenste Schurke!

Sprecht mir nur nicht von Kabrioletts! Ja, sie sind schön und gut in eiligen Fällen, wo Hals und Kragen, Leben und Tod daran hängen, wo es gilt, in einer gegebenen Zeit nach Hause oder in die ewigen Hütten befördert zu werden. Doch abgesehen davon, daß ein Kabriolettführer jener würdigen Haltung ermangelt, die den Mietskutscher auszeichnet und ihm ganz eigentümlich ist, so wolle man nicht vergessen, daß ein Kabriolett ein Ding von gestern her und nie etwas Besseres gewesen ist. Ein Mietskabriolett war immer ein Mietskabriolett, vom Anbeginn seiner öffentlichen Laufbahn an; wogegen eine Mietskutsche ein Überrest vormaliger Hochadligkeit – ein Opfer der Mode – ein Mobilarstück einer alt-englischen Familie ist, deren Wappenschild trägt, einst von Dienern in deren Livree eskortiert und vor längerer oder kürzerer Zeit, ihres Schmucks und Glanzes entkleidet, gleich einem geschniegelten, funkelnden, zu seinem Posten nicht mehr jung genug erfundenen Bedienten in die Welt hinausgestoßen wurde – auf tiefere und immer tiefere Stufen der vierrädrigen Erniedrigung hinabsank, und endlich zu einem Still- und Kutschenstande gelangte!

 


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