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2. Pip trägt entsetzliche Lügen vor

Neuntes Kapitel.
Reuige Bekenntnisse.

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Als ich zu Hause anlangte, war meine Schwester außerordentlich neugierig, Alles auf das genaueste über Miß Havisham zu erfahren, und sie legte mir deshalb eine große Menge Fragen vor. Da ich dieselben aber nicht mit genügender Ausführlichkeit beantwortete, erhielt ich viele heftige Püffe an den Hinterkopf und zwischen die Schultern und mein Gesicht wurde auf schmachvolle Weise an der Küchenwand gerieben.

Falls die Furcht, nicht verstanden zu werden, in demselben Grade in den Herzen anderer Kinder lebt, wie dies in dem meinigen der Fall war – was ich für wahrscheinlich halte, da ich durchaus keinen Grund für die Vermuthung sehe, daß ich ein ganz außergewöhnliches Kind gewesen wäre – so ist dies der Schlüssel zu vielen Verheimlichungen. Ich war überzeugt, daß man mich nicht verstehen würde, falls ich das, was ich bei Miß Havisham gesehen und erlebt, beschrieb, wie ich es gesehen und aufgefaßt hatte. Und nicht allein dies, sondern ich fühlte, daß man auch Miß Havisham nicht verstehen würde; und obgleich sie mir selbst vollkommen unverständlich war, so hatte ich doch ein Gefühl, als ob etwas Niedriges und Verrätherisches darin liege, falls ich sie (Fräulein Estellas gar nicht zu erwähnen) den Betrachtungen der Frau Joe preisgäbe. Folglich sagte ich so wenig, wie ich konnte, und wurde demzufolge mit dem Gesichte gegen die Küchenwand gestoßen.

Das Schlimmste aber war, daß der alte Renommist, Onkel Pumblechook, den die Neugierde verzehrte, Alles zu erfahren, was ich gesehen und gehört hatte, zur Theezeit herübergefahren kam, um sich über die Einzelheiten Aufschluß geben zu lassen; denn der bloße Anblick dieses Quälgeistes mit seinen fischigen Augen, seinem offenen Munde und dem sandgelben Haare, das neugierig zu Berge stand, und seiner von einfältiger Arithmetik schwellenden Weste, machte mich auf förmlich boshafte Weise zurückhaltend.

»Nun, Junge,« begann Onkel Pumblechook, sobald er in dem Ehrensitze neben dem Feuer Platz genommen. »Wie ist Dir's da oben in der Stadt ergangen?«

Ich antwortete: »Ziemlich gut, Sir«, und meine Schwester drohte mir mit der Faust.

»Ziemlich gut?« wiederholte Mr. Pumblechook. »Ziemlich gut ist gar keine Antwort. Erzähl uns, was Du mit Ziemlich gut sagen willst, Junge?«

Vielleicht verhärtet Kalk, auf die Stirn gerieben, das Gehirn bis zur Halsstarrigkeit. Jedenfalls war meine Halsstarrigkeit jetzt, da ich Kalk von der Küchenwand auf der Stirne hatte, unerschütterlich. Ich überlegte eine Weile und antwortete dann:

»Ich meine, ziemlich gut, Sir.«

Meine Schwester war, indem sie einen Ausruf der Ungeduld ausstieß, im Begriffe auf mich loszustürzen – ich hatte auch nicht einen Schatten von Beistand, denn Joe war in der Schmiede beschäftigt – als Mr. Pumblechook sich mit den Worten dazwischenlegte: »Nein! Verlieren Sie nicht die Geduld. Ueberlassen Sie ihn nur mir.«

Darauf drehte Mr. Pumblechook mich zu sich herum, wie wenn er beabsichtigte, mir das Haar zu schneiden oder einen Zahn auszureißen, oder irgend eine derartige Operation an mir zu vollziehen, und sagte:

»Erstens (um Deine Gedanken zu ordnen): wieviel machen vierunddreißig Pence?«

Ich berechnete die Folgen, falls ich »Vierhundert Pfund« antwortete, und da ich fand, daß dieselben zu meinem Nachtheile ausfallen würden, ging ich der richtigen Antwort so nahe, wie ich konnte – und das war ungefähr um acht Pence falsch. Mr. Pumblechook ließ mich dann die ganze Tabelle von »zwölf Pence machen einen Schilling« bis zu »Vierzig Pence machen drei Schillinge und vier Pence« hersagen und fragte dann mit triumphirender Miene, als ob er mich jetzt gefangen habe: » Jetzt also! Wieviel machen vierundreißig Pence?« Woraus ich nach einer langen Pause des Nachdenkens antwortete: »Ich weiß nicht.« Und ich ärgerte mich in dem Grade, daß ich wirklich fast bezweifle, ob ich es wußte.

Mr. Pumblechook arbeitete mit dem Kopfe, wie mit einem Bohrer, wie wenn er es aus mir herausbohren wollte, und sagte: »Machen vierunddreißig Pence, zum Beispiel, sieben Schillinge sechs Pence und drei Farthing?«

»Ja!« sagte ich. Und obgleich meine Schwester mich augenblicklich ohrfeigte, so war es mir doch eine große Freude, zu sehen, daß meine Antwort ihm seinen Spaß verdorben und ihn völlig zum Schweigen brachte.

Als er sich wieder erholt hatte, fragte er, mit fest über der Brust verschlungenen Armen und indem er wieder fest auf mich hineinbohrte:

»Junge! Wie sieht Miß Havisham aus?«

»Sie ist sehr groß und hat schwarzes Haar,« sagte ich ihm.

»Ist das wahr, Onkel?« fragte meine Schwester.

Mr. Pumblechook nickte bejahend; woraus ich sofort schloß, daß er Miß Havisham nie gesehen hatte, denn sie war weder groß, noch hatte sie schwarzes Haar.

»Gut!« sagte Mr. Pumblechook mit eingebildeter Miene. »Jetzt wollen wir ihn schon kriegen! Wir fangen an, uns geltend zu machen, wie, Madame?«

»Wirklich, Onkel,« entgegnete Frau Joe, »ich wollte, Sie hätten ihn immer bei sich. Sie verstehen so gut, ihn mürbe zu machen.«

»Nun, Junge! und was machte sie, als Du heute hineinkamst?« fragte Mr. Pumblechook weiter.

»Sie saß,« entgegnete ich, »in einer schwarzen Sammetkutsche.«

Mr. Pumblechook und Frau Joe stierten einander an – wozu sie allerdings Ursache hatten – und wiederholten Beide:

»In einer schwarzen Sammetkutsche?«

»Ja«, sagte ich, »und Miß Estella – das ist ihre Nichte, glaube ich, – reichte ihr auf einem goldenen Teller Kuchen und Wein durchs Kutschenfenster. Und wir hatten alle Kuchen und Wein auf goldenen Tellern. Und ich stieg hinten auf, um meinen Theil zu verzehren, weil man mirs befahl.«

»War sonst noch Jemand da?« fragte Mr. Pumblechook.

»Vier Hunde«, sagte ich.

»Große oder kleine?«

»Furchtbar große«, sagte ich, »und sie bissen sich um Kalbscotelettes, die sie aus einem silbernen Korbe fraßen.«

Mr. Pumblechook und Frau Joe stierten einander abermals im unbegrenztesten Erstaunen an. Ich war förmlich wahnsinnig – ein Zeuge, der unter Folterqualen auch das Unmögliche bekennt – und im Stande, ihnen die unerhörtesten Dinge zu erzählen.

»Aber wo, in aller Welt, war diese Kutsche?« frug meine Schwester.

»In Miß Havishams Zimmer.« Sie glotzten einander wiederum an. »Aber es waren keine Pferde davor,« fügte ich als beschränkende Clausel hinzu, nachdem ich einen Augenblick mit der abenteuerlichen Idee umgegangen, vier reichgeschirrte Rosse daran zu spannen, welche ich jedoch schnell wieder verwarf.

»Kann dies möglich sein, Onkel?« fragte Frau Joe. »Was kann der Junge meinen?«

»Das will ich Ihnen sagen, Madam,« sagte Mr. Pumblechook. »Meiner Ansicht nach ist es eine Portechaise gewesen. Sie ist überspannt, wie Sie wissen – sehr überspannt – überspannt genug, um ihr Leben in einer Portechaise hinzubringen.«

»Haben Sie sie je darin gesehen, Onkel?« frug Frau Joe.

»Wie konnt ich das?« entgegnete er, gezwungen, dies einzuräumen, »wenn ich sie im ganzen Leben nie mit einem Auge erblickt habe?«

»Du meine Güte, Onkel! Und doch haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Nun, wissen Sie denn nicht,« sagte Mr. Pumblechook verdrießlich, »daß man mich, wenn ich da war, bis draußen an ihre Thür führte; und dann stand die Thür halb offen, und sie sprach zu mir durch die Thür hindurch. Sagen Sie mir nicht, daß Sie das nicht wissen, Madam. Indessen, der Junge ging hin, um dort zu spielen. Was hast Du gespielt, Junge?«

»Wir spielten mit Fahnen,« sagte ich. (Ich bitte, hier bemerken zu dürfen, daß ich meiner mit Staunen gedenke, wenn ich mich der Lügen erinnere, deren ich mich bei dieser Gelegenheit schuldig machte.)

»Fahnen!« wiederholte meine Schwester.

»Ja,« sagte ich. »Estella schwenkte eine blaue Fahne und ich eine rothe, und Miß Havisham schwenkte eine, die ganz mit kleinen goldenen Sternen besäet war, aus dem Kutschenfester. Und dann schwangen wir Alle unsere Schwerter und riefen Hurrah!«

»Schwerter!« wiederholte meine Schwester. »Wo nahmt Ihr die Schwerter her?«

»Aus einem Schranke,« sagte ich, »und ich sah auch Pistolen darin, und Marmelade und Pillen. Und es war kein Tageslicht im Zimmer, sondern es brannten – bloß Kerzen.«

»Das ist wahr, Madam,« sagte Mr. Pumblechook, ernst mit dem Kopfe nickend. »So verhält sich die Sache, denn soviel habe ich selbst gesehen.« Worauf Beide mich anstierten, und ich sie, indem ich meinem Gesichte einen auffallenden Ausdruck der Wahrheit und Aufrichtigkeit verlieh und mit meiner rechten Hand mein rechtes Hosenbein faltete.

Hätten sie mir noch mehr Fragen vorgelegt, so würde ich mich ohne Zweifel verrathen haben, denn ich war gerade schon im Begriff, ihnen zu erzählen, daß ein Luftballon im Hofe gewesen, und würde es gewagt haben,wäre ich nicht im Geiste noch zwischen diesem Phänomen und einem Bären in der Brauerei unentschieden gewesen. Doch waren sie so sehr mit den Wundern beschäftigt, die ich ihrer Phantasie bereits vorgeführt hatte, daß ich glücklich entkam. Der Gegenstand beschäftigte sie noch immer, als Joe von seiner Arbeit hereinkam, um eine Tasse Thee zu trinken, und meine Schwester erzählte ihm, mehr zu ihrer eigenen Erleichterung, als um ihn damit zu unterhalten, meine angeblichen Erlebnisse.

Als ich aber Joe seine blauen Augen öffnen und in hülflosem Erstaunen rund damit um die Küche schweifen sah, da erfaßte mich die Reue; doch nur in Bezug auf ihn – wegen der anderen Beiden nicht im Geringsten. Vor Joe, und nur vor ihm allein, erschien ich mir als ein junges Ungeheuer, während sie dasaßen und darüber debattirten, welche Erfolge mir aus Miß Havishams Gunst und Bekanntschaft erwachsen würden. Sie bezweifelten durchaus nicht, daß Miß Havisham »Etwas für mich thun« würde; ihre Zweifel betrafen nur die Form, die dieses »Etwas« annehmen würde. Meine Schwester bestand auf »Vermögen«. Mr. Pumblechook dagegen neigte sich mehr der Annahme zu, daß sie ein hübsches Lehrgeld für mich zahlen würde, um mir in irgend einem noblen Geschäfte eine Stelle zu verschaffen – wie zum Beispiel im Korn- und Samenhandel. Joe fiel bei Beiden in die tiefste Ungnade, indem er die schlaue Vermuthung aussprach, daß man mich mit einem der Hunde, die sich um die Kalbscotelettes gebissen, beschenken würde. »Wenn ein Narr keine besseren Ansichten, als solche, auszusprechen hat,« sagte meine Schwester, »und wenn Du noch Arbeit vor hast, so kannst Du lieber hingehen und sie verrichten.« Worauf Joe ging.

Als Mr. Pumblechook fortgefahren und meine Schwester beim Aufwaschen war, schlich ich mich in die Schmiede zu Joe und blieb bei ihm, bis er für den Abend fertig war. Dann sagte ich:

»Ehe das Feuer ganz ausgeht, Joe, möchte ich Dir noch etwas sagen.«

»So Pip?« sagte Joe, indem er sich den hölzernen Bock, den er beim Beschlagen der Pferde benutzte, ans Schmiedefeuer zog; »dann rede. Was ists, Pip?«

»Joe«, sagte ich, indem ich seinen zurückgekrämpten Hemdsärmel faßte und zwischen meinem Daumen und Zeigefinger hin und herrollte. »Du weißt doch, was ich Euch von Miß Havisham erzählt habe?«

»Ob ichs weiß!« sagte Joe. »Das wollt ich meinen. Wunderbar!«

»Es ist etwas Schreckliches, Joe; es ist nicht wahr.«

»Wovon sprichst Du, Pip?« sagte Joe, indem er sich voll Staunen zurückwarf. »Du willst doch nicht gesagt haben, daß es lauter –«

»Ja; lauter Lügen, Joe.«

»Aber doch nicht Alles, Pip? Du willst doch nicht sagen, daß keine schwarze Sammetku– wie?« Denn ich stand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Aber es waren doch wenigstens Hunde da, Pip? Komm, Pip,« sagte Joe mit überredender Stimme, »wenn auch keine Kalbscotelettes, so waren doch wenigstens Hunde da?«

»Nein, Joe.«

»Doch ein Hund?« sagte Joe. »Ein ganz kleiner? Komm, Pip.«

»Nein, Joe, es war auch nicht ein einziger da.«

Während ich hoffnungslos die Blicke auf Joe heftete, betrachtete er mich mit der äußersten Bestürzung.

»Pip, alter Kerl! Das kann nimmer angehen, alter Junge! Was denkst Du Dir nur, wohin Dich das führen wird?«

»'S ist ganz schrecklich, nicht wahr, Joe?«

»Schrecklich?« rief Joe aus; »es ist fürchterlich. Was ist Dir nur eingefallen?«

»Ich weiß nicht, was mir eingefallen ist, Joe,« entgegnete ich, indem ich seinen Hemdsärmel fahren ließ und mich mit gesenktem Haupte zu seinen Füßen in die Asche setzte; »aber ich wollte, Du hättest mich nicht gelehrt, die Buben im Kartenspiel ›Unter‹ zu nennen; und ich wollte, meine Stiefel wären nicht so dick und meine Hände nicht so grob.«

Und dann erzählte ich Joe, daß ich mich sehr unglücklich fühle, und daß ich nicht im Stande gewesen sei, mich Frau Joe und dem alten Pumblechook verständlich zu machen, da sie so hart gegen mich seien; und daß eine wunderschöne junge Dame bei Miß Havisham gewesen, die furchtbar stolz sei und gesagt habe, ich sei ordinär: und daß ich wisse, ich sei gemein, und daß ich sehr wünsche nicht gemein zu sein, und daß mir die Lügen in den Mund gekommen, ich wisse selbst nicht wie.

Dies war ein psychologischer Fall, der für Joe wenigstens ebenso schwer zu ergründen war, wie für mich. Doch nahm Joe ihn sofort ganz aus der Region der Psychologie heraus und wurde dadurch seiner Herr.

»Eines ist wenigstens ganz sicher, Pip,« sagte Joe nach einigem Grübeln, »nämlich, daß Lügen immer Lügen bleiben. Wie sie auch kommen mögen, sie sollten gar nicht kommen, und sie kommen vom Vater aller Lügen, und führen zu ihm hin. Sag Du keine Lügen mehr, Pip. Das ist gewiß nicht die rechte Art, um vom Gemeinen sich loszumachen, alter Kerl! Und was das ›Gemeinsein‹ betrifft, so versteh ich das gar nicht. Du bist sogar in mancher Beziehung ungemein. Du bist ganz ungemein klein. Und dann bist Du ungemein gelehrt.«

»Nein, ich bin sehr weit zurück und sehr unwissend, Joe.«

»Aber sieh doch nur, was Du gestern Abend für einen Brief geschrieben hast. Und noch dazu mit gedruckter Schrift! Ich habe Briefe gesehen – ja, und von vornehmen Leuten! und ich wollte drauf schwören, daß sie nicht mit gedruckter Schrift geschrieben waren,« sagte Joe.

»Ich habe beinah nichts gelernt, Joe. Du hast bloß eine so große Meinung von mir, und das ist Alles.«

»Nun, Pip,« sagte Joe, »ob dem so ist oder ob dem nicht so ist, Du mußt ein gewöhnlicher Gelehrter sein, ehe Du ein ungewöhnlicher werden kannst, sollte ich meinen. Der König auf seinem Throne mit der Krone auf dem Kopfe kann nicht sitzen und mit gedruckter Schrift seine Parlamentsacten schreiben, wenn er nicht als unbeförderter Prinz erst sein Alphabet gelernt hat – ach!« fügte Joe mit bedeutungsvollem Kopfschütteln hinzu, »und zwar hat er mit A anzufangen und sich dann bis Z hindurch zu arbeiten. Und ich weiß, was das heißt, obgleich ich nicht sagen kann, daß ichs gethan habe.«

Es lag hierin einige Hoffnung für mich, und ich fühlte mich einigermaßen ermuthigt.

»Ob nun gewöhnliche Leute, ich meine in Bezug auf Profession und Verdienst gewöhnlich,« fuhr Joe nachdenklich fort, »nicht besser daran thäten, sich zu den Gewöhnlichen zu halten, anstatt auszugehen, um mit Ungewöhnlichen zu spielen – und das erinnert mich, daß ich hoffe, es war wenigstens eine Fahne da.«

»Nein, Joe.«

»Es thut mir leid, daß keine Fahne da war, Pip. Aber wie dem nun sein mag, die Sache kann jetzt nicht vorgenommen werden, ohne Deine Schwester klabasterig zu machen, und daran ist gar nicht zu denken, wenigstens, daß wir es absichtlich thäten. Sieh her, Pip, und höre, was Dir ein wahrer Freund sagt. Und dies sagt Dir Dein wahrer Freund. Wenn Du das Ungewöhnliche nicht erreichen kannst, indem Du gerade darauf zugehst, so wirst Du's nimmer durch krumme Wege erreichen. Also keine Lügen mehr, Pip, und lebe brav und sterbe glücklich.«

»Du bist doch nicht böse mit mir, Joe?«

»Nein, mein alter Junge. Aber da ich finde, daß die Lügen ganz erschrecklich waren, womit ich die meine, die sich auf die Kalbscotelettes und das Hundebeißen bezogen, so möchte ich Dir als Dein aufrichtiger Freund wohl rathen, Pip, daß, wenn Du heut Abend hinauf und zu Bette gehst, Du ihrer in Deinem Gebet erwähntest. Das ist Alles, alter Kerl, und thus niemals wieder.«

Als ich in mein Dachstübchen kam und mein Nachtgebet sprach, vergaß ich nicht, was Joe mir anempfohlen, und doch war mein junges Gemüth in einem so verstörten, undankbaren Zustande, daß ich, lange nachdem ich mich niedergelegt, darüber nachdachte, wie gewöhnlich und ordinär Estella Joe, der nichts als ein Schmied war, finden würde, wie dick seine Stiefeln und wie grob seine Hände. Ich dachte daran, wie Joe und meine Schwester jetzt in der Küche säßen, und wie ich selbst aus der Küche herauf ins Bett gekommen, und wie Miß Havisham und Estella nie in der Küche saßen, sondern über so gewöhnliche Sitten so hoch erhaben seien. Ich schlief mit der Erinnerung an das, was ich bei Miß Havisham »zu thun pflegte«, ein; wie wenn ich, anstatt weniger Stunden, Wochen oder Monate dort zugebracht, und als ob es ein ganz alter, bekannter Gegenstand der Erinnerung gewesen, anstatt erst an diesem Tage entstanden zu sein.

Es war dies ein denkwürdiger Tag für mich, denn er bewirkte große Veränderungen in mir und meinen Schicksalen. Aber so geht es in jedes Menschen Leben. Man denke sich irgend einen gewissen Tag aus seinem Leben herausgestrichen, und wie verschieden wäre dann der ganze Lauf desselben gewesen. Haltet inne, Ihr, die Ihr dieses leset, und denkt einen Augenblick an die lange Kette von Eisen oder Gold, von Dornen oder Blumen, die Euch nie gefesselt haben würde, wäre nicht an jenem denkwürdigen Tage ihr erstes Glied gebildet worden.

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