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Siebentes Kapitel.
Vertrauliche Abendunterhaltungen.

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Zu jener Zeit, als ich auf dem Kirchhofe stand und die Familiengrabsteine las, hatte ich eben Gelehrsamkeit genug, um die Inschriften herausbuchstabiren zu können. Doch war mein Verständniß ihrer einfachen Bedeutung kein sehr richtiges, denn ich glaubte, die Worte: »Ehefrau des Obigen« seien mit schmeichelhafter Bezugnahme auf meines Vaters Erhebung zu einer besseren Welt geschrieben: und hätte man mit irgend einem meiner verstorbenen Verwandten das Wort »Unten« in Verbindung gebracht, so würde ich ohne Zweifel von diesem Mitglied meiner Familie die ungünstigste Meinung gefaßt haben. Auch waren meine Begriffe über die theologischen Maximen, welche mein Katechismus mir einprägte, durchaus ungenau, denn ich erinnere mich lebhaft einer Vermuthung, daß meine Erklärung: »selbigen Weges zu wandeln alle Tage meines Lebens«, mich der Verpflichtung unterzöge, stets in einer bestimmten Richtung von unserem Hause durchs Dorf zu gehen, und diesen Weg nie dadurch zu wechseln, daß ich beim Stellmacher hinunterbog, oder bei der Mühle vorbei zurückkam.

Sobald ich alt genug sein würde, sollte ich zu Joe in die Lehre kommen, und bis ich mit dieser Würde bekleidet werden konnte, sollte ich nicht, wie Frau Joe sich ausdrückte, verhätschelt oder verzogen werden. Deshalb war ich nicht nur eine Art Handlanger in der Schmiede, sondern wurde auch, wenn je einer der Nachbarn Jemanden als Vogelscheuche, oder zum Steinesammeln oder irgend einer derartigen Arbeit bedurfte, mit solchen Anstellungen begünstigt. Damit jedoch unsere vornehmere Stellung hierdurch nicht compromittirt werde, stand auf dem Kaminsimse in der Küche eine Sparbüchse, in welche, wie man öffentlich bekannt zu machen Sorge trug, mein Verdienst geworfen wurde. Ich habe eine unbestimmte Idee, daß derselbe schließlich zur Bezahlung der Nationalschuld beitragen sollte, jedenfalls weiß ich, daß ich keine Hoffnung hatte, jemals persönlich an dem Schatze betheiligt zu werden.

Mr. Wopsles Großtante hielt eine Abendschule im Dorfe; das heißt, sie war eine lächerliche Frau mit wenigen Mitteln und vielen Gebrechen, welche jeden Abend von sechs bis sieben Uhr in der Gesellschaft der Jugend, welche für dieses belehrende Privilegium drei Groschen die Woche zahlte, des süßen Schlummers pflegte. Sie hatte ein Häuschen von drei Zimmern gemiethet, und Mr. Wopsle hatte die Stube im obern Geschosse inne, wo wir Schüler ihn sehr laut und auf sehr würdevolle, furchtbare Weise lesen und hin und wieder auf die Decke stampfen hörten.

Es ging eine Sage, daß Mr. Wopsle die Schüler vierteljährlich einmal examinire. Was er bei diesen Gelegenheiten jedoch in Wirklichkeit that, war, daß er seine Aermel umkrämpte, sein Haar sträubte und uns die Rede des Marcus Antonius an Cäsars Leiche vordeclamirte. Dieser Rede folgte stets Collins Ode an die Leidenschaften, in welcher ich Mr. Wopsle besonders als die Rache verehrte, die »ihr blutig Schwert laut donnernd niederwarf«, und »mit wildem Blick griff nach der Kriegsdrommete.« Es war damals noch nicht wie im späteren Leben mit mir, als ich in die Gesellschaft der Leidenschaften gerieth, und diese mit Collins und Wopsle verglich, welcher Vergleich einigermaßen zum Nachtheile der beiden Herren ausfiel.

Mr. Wopsles Großtante hatte außer diesem Erziehungsinstitute – in demselben Zimmer – auch noch einen Allerleikram. Sie hatte keine Ahnung von den Waaren, welche sie besaß, oder von dem Preise irgend einer derselben. Aber in einer Schublade lag ein schmutziges kleines Memorandenbuch, welches als Preisverzeichniß diente, und nach diesem Orakel erledigte Biddy ihre Verkaufsangelegenheiten. Biddy war die Enkelin von Mr. Wopsles Großtante. Ich bekenne, daß ich mich der Lösung des Problems: welche Art von Verwandte sie demnach von Mr. Wopsle war, nicht gewachsen fühle. Sie war, wie ich, eine Waise, und, wie ich, durch die Hand aufgezogen. Sie war, wie es mich dünkte, am meisten durch ihre Extremitäten bemerkbar; denn ihr Haar war stets ungekämmt, ihre Hände waren ungewaschen und ihre Schuhe zerrissen und an den Fersen niedergetreten. Diese Beschreibung muß jedoch als sich auf die Wochentage beschränkend aufgenommen werden. An Sonntagen ging sie festlich geschmückt in die Kirche.

Zum Theil durch eigene Anstrengungen, mehr aber noch durch Biddys Hülfe, als durch die von Mr. Wopsles Großtante, gelang es mir, mich wie durch einen Dornbusch durch das Alphabet hindurchzuarbeiten, wobei mir jedoch jeder einzelne Buchstabe bedeutendes Kratzen und Stöhnen verursachte. Darauf gerieth ich unter jene Diebe, die neun Zahlen, welche jeden Abend etwas Neues zu thun schienen, um sich zu verstellen und jedem Erkennen Hohn zu bieten. Endlich aber fing ich auf eine blödsichtige tappende Weise ein ganz klein wenig zu lesen, zu schreiben und zu rechnen an.

Eines Abends saß ich mit meiner Schreibetafel im Kaminwinkel und machte große Anstrengungen, um einen Brief an Joe zu Stande zu bringen. Ich glaube, es muß ein ganzes Jahr nach unserer Jagd in den Marschen gewesen sein, denn es war eine lange Zeit nachher, und dazu Winter und harter Frost. Mit einem Alphabet auf dem Herde zu meinen Füßen – zur Bezugnahme – gelang es mir in ungefähr zwei Stunden folgende Epistel zurecht zu bringen:

»mEin LieBeR JO Ich hOffe dU bIst GAns wOhL Ich HOffe dAs icH dJR BalD unTErIcht GÄBe Kan JO un Dan WOlln WIr uNs Ser FReun Und WEn Ich eRst dEin lEhrLinG BiN WOlln wIr sOlchEn jux HAbEn un ImMeR dEin PiP.«

Es war keine unumgängliche Nothwendigkeit für mich vorhanden, mich schriftlich mit Joe zu unterhalten, denn er saß neben mir, und wir waren allein. Dennoch aber übergab ich diese schriftliche Mittheilung (Tafel und Alles) mit eigenen Händen, und Joe nahm sie wie ein Wunder von Gelehrsamkeit auf.

»Ich sage, Pip, alter Kerl!« rief Joe aus, indem er seine blauen Augen weit öffnete; »was Du für 'n Gelehrter bist! Wie?«

»Das möcht ich sein,« sagte ich, auf die Tafel blickend, wie er sie in der Hand hielt, wobei mich eine trübe Ahnung beschlich, daß die Schrift etwas hügelig sei.

»Hier ist wahrhaftig ein J,« sagte Joe, »und ein O, so gut wie's nur sein kann! Hier ist ein I und ein O, Pip, und ein Jo, Joe.«

Ich hatte Joe noch niemals mehr, als dieses eine einsylbige Wort laut lesen hören, und hatte am letzten Sonntage, als ich in der Kirche unser gemeinsames Gebetbuch zufällig umgekehrt hielt, bemerkt, daß ihm dies genau so bequem war, als ob ich es richtig gehalten hätte. Da ich jedoch die gegenwärtige Gelegenheit zu benutzen wünschte, um zu entdecken, ob ich in meinem Unterrichte mit Joe ganz von vorne anzufangen haben werde, sagte ich: »Ja, aber jetzt lies auch das Uebrige, Joe.«

»Das Uebrige! Wie, Pip?« sagte Joe, das Geschriebene mit langsam suchendem Auge durchblickend, »Eins, zwei, drei. Hier sind wahrhaftig drei J-en und drei O-en, und drei J-O-en, Joe-en drin, Pip!«

Ich lehnte mich über Joes Schulter und las ihm mit Hülfe meines Zeigefingers den ganzen Brief vor.

»Erstaunlich!« sagte Joe, als ich damit zu Ende war. »Du bist wirklich 'n Gelehrter!«

»Wie buchstabirst Du Gargery, Joe?« fragte ich, ihn bescheiden protegirend.

»Ich buchstabire es gar nicht,« sagte Joe.

»Aber angenommen, Du buchstabirtest es?«

»Das kann nicht angenommen werden,« sagte Joe. »Aber ich lese darum doch außerordentlich gern.«

»Wirklich, Joe?«

»Ganz außerordentlich gern. Man soll mir nur«, sagte Joe, »ein gutes Buch oder eine gute Zeitung geben und mich vor einem guten Feuer hinsetzen, und ich verlange nichts weiter. Du meine Güte!« fuhr er fort, indem er sich ein wenig die Knie rieb, »wenn man dann zuletzt an ein J und ein O kommt, und sagt: Hier ist endlich ein J-O, Joe, wie interessant sich das liest!«

Ich entnahm hieraus, daß Joes wissenschaftliche Bildung, wie die Dampfkraft, noch in ihrer Kindheit sei. Um das Gespräch fortzusetzen, frug ich:

»Bist Du nie in die Schule gegangen, Joe, als Du noch so klein warst, wie ich?«

»Nein, Pip.«

»Warum bist Du nicht in die Schule gegangen, Joe, als Du so klein warst, wie ich?«

»Je nun, Pip,« sagte Joe, indem er das Schüreisen aufnahm und, wie dies seine Gewohnheit, wenn er gedankenvoll war, sich damit zu beschäftigen anfing, daß er langsam zwischen den beiden untersten Eisenstäben das Feuer lichtete. »Das will ich Dir sagen. Mein Vater, Pip, war dem Trunke ergeben, und wenn er betrunken war, pflegte er ganz unbarmherzig auf meine Mutter loszuhämmern. Es war ziemlich das einzige Hämmern, was er that, außer wenn er auf mich loshämmerte. Und er hämmerte mit einer Kraft auf mir herum, die ihres Gleichen nur in der Kraft hatte, mit der er nicht auf seinen Amboß hämmerte. Hörst Du zu und verstehst Du mich, Pip?«

»Ja, Joe.«

»Die Folge davon war, daß meine Mutter und ich ihm mehre Male fortliefen; und dann ging meine Mutter auf Arbeit aus, und dann sagte sie: ›Joe,‹ sagte sie, ›jetzt sollst Du, wills Gott, was lernen‹, und schickte mich in die Schule. Aber mein Vater war so gut von Herzen, daß er es nicht ohne uns aushalten konnte. Und so pflegte er denn mit einem furchtbaren Haufen von Menschen anzukommen und einen solchen erschrecklichen Lärm vor der Thür des Hauses zu machen, in dem wir wohnten, daß die Leute genöthigt waren, sich nicht mehr um uns zu bekümmern und uns auszuliefern. Und dann nahm er uns mit nach Hause und hämmerte uns. Und dies, siehst Du, Pip,« sagte Joe, indem er mit seinem nachdenklichen Feuerschüren innehielt und mich anblickte, »dies war nachtheilig für mein Lernen.«

»Gewiß, Du armer Joe!«

»Aber vergiß nicht, Pip,« sagte Joe, indem er ein paar richterliche Schläge mit seinem Schüreisen auf den obersten Eisenstab führte, »wir müssen Jedem zukommen lassen, was ihm gebührt, und Allen gleiche Gerechtigkeit widerfahren lassen: mein Vater war ungeheuer gut von Herzen, siehst Dus wohl?«

Ich sah es nicht; aber ich enthielt mich das zu sagen.

»Nun!« fuhr Joe fort, »Einer muß Feuer drunter machen, oder der Topf kann nicht ins Kochen kommen, wie, Pip?«

Ich sah dies ein und gab es zu.

»Die Folge war, daß mein Vater nichts dagegen einzuwenden hatte, daß ich auf Arbeit ginge; und so ging ich denn in meiner jetzigen Profession, die auch die seinige war, wenn er nur was gethan hätte, auf Arbeit, und ich kann Dir sagen, Pip, ich arbeitete tüchtig. Mit der Zeit war ich im Stande ihn zu ernähren, und ich ernährte ihn, bis er an Apfelflexie starb. Und es war meine Absicht, folgenden Vers auf seinen Grabstein setzen zu lassen:

Wenn er auch sonst der Tugend bar.
Er doch sehr gut von Herzen war.«

Joe sagte diesen Vers mit so augenscheinlichem Stolze und so sorgfältiger Deutlichkeit, daß ich ihn fragte, ob er ihn selbst gemacht.

»Ich hab ihn gemacht,« sagte Joe, »ganz allein, Pip. Ich hatte ihn in einer Minute fertig. Es war, als hätte ich mit einem einzigen Schlage ein Hufeisen herausgeschlagen. Ich war in meinem ganzen Leben nicht so erstaunt – konnte meinem eigenen Kopfe nicht glauben – um Dir die Wahrheit zu sagen, ich konnte nicht glauben, daß es mein eigener Kopf war. Wie gesagt, Pip, es war meine Absicht, ihm diese Inschrift setzen zu lassen; aber Verse kosten Geld, wie man sie auch einhauen lassen mag, ob groß, ob klein, und es unterblieb. Außer dem, was die Träger bekamen, brauchten wir alles Geld, das wir hatten, für meine Mutter. Sie war von schlechter Gesundheit und brach ganz zusammen. Es währte nicht lange, so folgte sie ihm, die arme Seele, und hatte endlich auch ihr Theil an Ruh und Frieden.«

Joes blaue Augen wurden ein wenig wässerig; er rieb erst das eine, dann das andere auf höchst unangemessene, ungemüthliche Weise mit dem runden Knopfe am obern Ende des Schüreisens.

»Es war darauf sehr einsam, hier so allein zu leben,« sagte Joe, »und ich wurde mit Deiner Schwester bekannt. Und, Pip,« hier blickte Joe mir fest ins Gesicht, als ob er wisse, ich werde nicht mit ihm übereinstimmen, »Deine Schwester ist eine gewaltig schöne Frau.«

Ich konnte nicht umhin, in einem unverkennbaren Zustande des Zweifels ins Feuer zu blicken.

»Was auch immer die Ansichten der Familie, oder die Ansichten der Welt über diesen Gegenstand sein mögen, Pip, Deine Schwester ist« – Joe schlug nach jedem dieser Worte ein Mal mit dem Schüreisen auf den obersten Eisenstab – »eine – gewaltig – schöne – Frau.«

Es fiel mir nichts Besseres zu sagen ein als: »Es freut mich, daß Du das findest, Joe.«

»Mich auch«, sagte Joe, »es freut mich auch sehr, daß ich das finde, Pip. Wenn die Haut auch ein wenig zu roth, oder hier und da ein wenig zu viel Knochen ist, was macht das mir aus?«

Ich bemerkte scharfsinnig, falls es ihm nichts ausmache, wen es da sonst etwas anginge?

»Versteht sich!« sagte Joe. »So ists. Du hast ganz recht, alter Junge! Als ich mit Deiner Schwester bekannt wurde, sprach alle Welt davon, wie sie Dich durch die Hand groß zog. Und das war sehr freundlich von ihr, wie alle Leute sagten, und ich sagte es mit. Was Dich betrifft,« sagte Joe mit einem Gesicht, als ob er etwas recht Häßliches erblicke: »hättest Du ahnen können, wie außerordentlich klein und welk und jämmerlich Du aussahest – Du meine Güte! Du würdest die verächtlichste Meinung von Dir selbst gefaßt haben!«

Da mir dies nicht besonders gefiel, sagte ich:

»Kümmere Dich nicht um mich, Joe.«

»Aber ich kümmerte mich doch um Dich, Pip,« entgegnete er mit liebevoller Einfachheit. »Als ich Deiner Schwester vorschlug, sich mit mir zu verloben und sich mit mir in der Kirche aufbieten zu lassen, sobald sie bereit und gewillt sei, in die Schmiede zu kommen, da sagt ich zu ihr: Und bring das arme kleine Kind mit. Gott erbarme sich des armen kleinen Dings, sagte ich zu Deiner Schwester, dafür wird noch Platz in der Schmiede sein!«

Ich brach in Thränen aus und bat um Verzeihung und herzte ihn, indem ich beide Arme um seinen Nacken schlang. Er ließ das Schüreisen fallen, um mich ebenfalls zu herzen, und sagte:

»Immer die besten Freunde, wie, Pip? Weine nicht, alter Junge!«

Als diese kleine Unterbrechung vorüber war, fuhr Joe fort:

»Na, und jetzt, Pip, – hier sind wir, wie Du siehst! Darauf kommts ungefähr hinaus: hier sind wir! Wenn Du mich aber jetzt im Lernen vornimmst, Pip (und ich sage Dir im Voraus, daß ich sehr langsam lerne, ganz erschrecklich langsam), so muß Frau Joe nicht zu viel von dem zu wissen kriegen, was wir vorhaben. Es muß vielmehr, wie ich wohl sagen darf, heimlich geschehen. Und warum heimlich? Das will ich Dir sagen, Pip.«

Er hatte das Schüreisen wieder aufgenommen, ohne welches er, wie ich fest glaube, seine Demonstration nicht würde zu Stande gebracht haben.

»Deine Schwester liebt die Regierung.«

»Liebt die Regierung, Joe?« Ich war sehr überrascht, denn es kam mir eine schattenhafte Idee (und, wie ich hinzufügen zu müssen fürchte, die Hoffnung), daß Joe sich zu Gunsten der Lords der Admiralität oder der Finanzen von ihr scheiden zu lassen gedenke.

»Liebt die Regierung,« sagte Joe, »womit ich sagen wollte, sie mag gern Dich und mich regieren.«

»O!«

»Und sie sieht nicht gern Gelehrte im Hause um sich,« fuhr Joe fort, »und insbesondere würde sie nicht gern sehen, daß ich gelehrt würde, aus Furcht, daß ich mich einmal erheben könnte. Wie eine Art Rebeller, verstehst Du?«

Ich war im Begriff, eine Frage zu thun, und war bis »Warum –« gekommen, als Joe mich unterbrach.

»Wart' einen Augenblick. Ich weiß, was Du sagen willst. Pip; wart' einen Augenblick! Ich leugne nicht, daß Deine Schwester hin und wieder den Großmogul gegen uns spielt. Ich leugne nicht, daß sie uns Schlingen legt und uns dann schlecht tractirt. Zu solchen Zeiten, wo Deine Schwester klabasterig wird, Pip,« Joe sprach dies flüsternd und mit einem Blicke auf die Thür, »zwingt mich die Aufrichtigkeit, zuzugeben, daß sie ein Drache ist.«

Joe sprach das vorletzte Wort aus, als ob es wenigstens mit einem Dutzend großer D beginne.

»Warum erhebe ich mich nicht? Das, glaub ich, war die Bemerkung, die Du machen wolltest, als ich Dich unterbrach, Pip?«

»Ja, Joe.«

»Nun,« sagte Joe, das Schüreisen in die linke Hand nehmend, um mit der rechten seinen Backenbart zu fassen (mir schwand alle Hoffnung auf ein entschiedenes Auftreten Joes, sobald er sich dieser friedfertigen Beschäftigung hingab), »Deine Schwester hat einen Meistergeist. Einen Meistergeist.«

»Was ist das?« fragte ich, in der Hoffnung, ihn zum Stehen zu bringen. Aber Joe war mit seiner Definition bereitwilliger da, als ich erwartet hatte, und brachte mich durch eine Cirkeldefinition, indem er mit einem festen Blicke: »Sie!« antwortete, vollkommen zum Schweigen.

»Und ich bin kein Meistergeist,« fuhr Joe fort, als er seinen Blick von mir wandte und sich wieder mit seinem Barte zu thun machte. »Und dann, Pip, – und dies wünsch ich Dir sehr ernstlich einzuprägen, alter Junge – ich habe bei meiner armen Mutter so viel davon gesehen, wie sich ein armes Frauenzimmer plackt und schindet und ihr ehrliches Herz bricht, und doch ihr Lebtag weder Ruhe noch Frieden kriegt, daß ich die größte Furcht habe, unrecht an einer Frau zu handeln, und ich will mich viel lieber ein Bischen nach der andern Seite hin irren, und selbst ein Bischen Unannehmlichkeit zu leiden haben. Ich wollte nur, daß es blos auf mich allein fiele, Pip; ich wollte es gäbe keinen ›faulen Peter‹ für Dich, alter Kerl; ich wollte, ich könnte Alles auf mich nehmen; aber dies ist das Lange und Breite von der Geschichte, Pip, und ich hoffe, Du wirst mirs nachsehen, wo mirs nicht glückt.«

So jung ich damals auch war, so glaube ich doch, daß sich von jenem Abende eine neue Bewunderung für Joe in mir herschrieb. Wir standen nach wie vor auf dem Fuße der Gleichheit; aber wenn ich später zuweilen ruhig dasaß und Joe ansah und an ihn dachte, hatte ich ein neues Gefühl, wie wenn ich mir jetzt im Innersten meines Herzens bewußt war, zu ihm empor zu sehen.

»Uebrigens,« sagte Joe, indem er aufstand, um frische Kohlen auf das Feuer zu schütten, »macht unser Kukuk da oben schon Anstalten, Acht zu schlagen, und ›sie‹ ist noch immer nicht zurück! Ich hoffe nur, Onkel Pumblechooks Klepper hat nicht etwa einen Vorderfuß auf ein Stück Eis gesetzt und ist kopfüber gepurzelt.«

Frau Joe fuhr gelegentlich an Markttagen mit Onkel Pumblechook aus, um ihm im Einkaufe derjenigen Haushaltgegenstände und Waaren behülflich zu sein, bei welchen das Urtheil einer Frau erforderlich war; denn Onkel Pumblechook war Junggesell, und setzte kein Zutrauen in seine häusliche Bedienung. Der heutige Tag war ein solcher Markttag und Frau Joe auf einer solchen Expedition begriffen.

Joe schürte das Feuer und kehrte den Herd ab, und dann gingen wir hinaus, um auf den Wagen zu horchen. Es war ein trockener, kalter Abend, der Wind blies scharf und der Reif war weiß und hart. Wenn in dieser Nacht ein Mann in den Marschen läge, so müßte er vor Kälte sterben, dachte ich; und dann schaute ich zu den Sternen hinauf und dachte, wie schrecklich es sein müsse, mit zu ihnen gewendetem Gesicht dazuliegen und zu erfrieren, und in ihrer ganzen funkelnden Menge weder Hülfe noch Erbarmen zu sehen.

»Hier kommt das Pferd,« sagte Joe, »und klingelt wie 'n ganzes Geläute!«

Der Schall seiner Hufeisen klang auf dem harten Wege förmlich wie Musik, als es in weit schnellerm Trabe als gewöhnlich daher kam. Wir brachten einen Stuhl heraus, um Frau Joe beim Absteigen behülflich zu sein, schürten das Feuer noch ein Mal, damit sie ein helles Fenster sähe, und überschauten die Küche dann noch ein Mal zum Schlusse, ob auch Alles an Ort und Stelle sei. Als wir hiermit fertig waren, fuhren sie vor, bis zu den Augen eingehüllt. Frau Joe war bald gelandet und Onkel Pumblechook bald abgestiegen und hatte eine Decke über den Klepper geworfen, und dann gingen wir Alle in die Küche, in die wir so viel kalte Luft mit hineinbrachten, daß dieselbe alle Hitze aus dem Feuer zu vertreiben schien.

»Nun,« sagte Frau Joe, indem sie sich mit Hast und Aufregung enthüllte und ihren Hut zurückwarf, so daß derselbe an seinen Bändern über ihren Rücken baumelte, »wenn dieser Junge heut Abend nicht dankbar ist, so wird er es im Leben nicht werden.«

Ich sah so dankbar aus, wie es einem Jungen nur möglich ist, der vollkommen in Unwissenheit ist, weshalb er sich dieses Aussehens zu befleißigen hat.

»Ich will hoffen,« sagte meine Schwester, »daß er nicht verhätschelt wird. Aber darüber habe ich meine Befürchtungen.«

»Sie ist nicht der Art, Madam,« sagte Mr. Pumblechook; »sie weiß besser Bescheid.«

Sie? Ich schaute Joe an und machte mit meinen Lippen und Augenbrauen eine Bewegung, welche »Sie?« bedeutete. Joe schaute mich an und machte mit Lippen und Augenbrauen dieselbe Bewegung. Da meine Schwester ihn dabei ertappte, fuhr er sich mit begütigender Miene, wie er es bei solchen Gelegenheiten zu thun pflegte, mit der Hand über die Nase und sah sie an.

»Was giebts?« sagte meine Schwester auf ihre bissige Manier, »brennts Haus etwa?«

»Es sagte nur Jemand«, bemerkte Joe höflich, »Etwas wie von – einer Sie.«

»Und wahrscheinlich ist sie 'ne Sie,« sagte meine Schwester, »wenn Du nicht Miß Havisham einen Er nennst. Und ich bezweifle, ob selbst Du Dich unterstehen würdest, so weit zu gehen.«

»Miß Havisham oben in der Stadt?« sagte Joe.

»Giebt es vielleicht eine Miß Havisham unten in der Stadt?« entgegnete meine Schwester. »Sie will, daß dieser Junge da zu ihr kommt und spielt. Und natürlich wird er es thun. Und ich rathe ihm, zu spielen,« sagte meine Schwester, indem sie den Kopf gegen mich schüttelte, als Ermuthigung für mich, außerordentlich lebhaft und munter zu sein, »oder ich wills ihm eintränken.«

Ich hatte von Miß Havisham oben in der Stadt – meilenweit in der Runde hatte alle Welt von Miß Havisham oben in der Stadt gehört – wie von einer steinreichen, finstern alten Dame gehört, die in einem großen, finstern Hause, das gegen Räuber verbarricadirt war, wohnte, und in tiefer Zurückgezogenheit lebte.

»Na, wer hätte das gedacht!« sagte Joe verwunderungsvoll, »Wie kommt sie nur dazu, Pip zu kennen?«

»Dummkopf!« rief meine Schwester aus; »wer hat gesagt, daß sie ihn kennt?«

»Weil Jemand«, bemerkte Joe abermals höflich, »soeben was davon erwähnte, sie wollte, daß er hinkäme und spielte.«

»Und konnte sie vielleicht nicht Onkel Pumblechook fragen, ob er einen Knaben kennte, der hinkommen und bei ihr spielen könnte? Ist es nicht eine Möglichkeit, daß Onkel Pumblechook ein Miethmann von ihr ist und daß er zuweilen – wir wollen nicht von vierteljährlich oder halbjährlich sagen, denn das hieße zu viel von Dir verlangen – aber zuweilen hingeht, um seine Miethe zu bezahlen? Und konnte sie bei einer solchen Gelegenheit nicht Onkel Pumblechook fragen, ob er nicht einen Knaben kenne, der hinkommen und bei ihr spielen könne? Und konnte nicht Onkel Pumblechook, der immer so rücksichtsvoll an uns denkt, obgleich Du dies nicht glauben willst, Joseph,« – in einem Tone des tiefsten Vorwurfes, als ob er der herzloseste aller Neffen sei – »diesen Jungen nennen, der so hochmüthig hier steht (was, wie ich hiemit feierlich erkläre, nicht der Fall war), und für den ich mich ewig abgeplackt und geschunden habe?«

»Sehr gut!« rief Onkel Pumblechook, »sehr gut gesagt! Sehr hübsch gegeben! Sehr gut! Jetzt, Joseph, jetzt weißt Du, wie die Sache sich verhält.«

»Nein, Joseph,« sagte meine Schwester noch immer in einem Tone des Vorwurfes, während Joe sich mit abbittender Miene mit dem Rücken der Hand über die Nase strich, »Du weißt noch nicht – obgleich Du Dirs vielleicht einbilden magst – wie die Sache sich verhält. Denn Du weißt noch nicht, daß Onkel Pumblechook, der sich bewußt ist, daß, soviel man weiß, dieser Junge sein Glück machen kann, wenn er zu Miß Havisham geht, sich erboten hat, ihn heute Abend in seinem eigenen Wagen mitzunehmen, und ihn diese Nacht bei sich zu behalten und morgen früh mit eigener Hand zu Miß Havisham zu bringen. Und Herr Du meine Güte!« rief meine Schwester in plötzlicher Desperation ihren Hut abwerfend aus, »hier stehe ich und schwatze mit diesen Mondkälbern und lasse Onkel Pumblechook warten, und den Klepper sich draußen erkälten, und dabei ist der Junge vom Kopf bis zur Sohle voller Ruß und Schmutz!«

Mit diesen Worten stürzte sie auf mich zu, wie ein Adler sich auf ein Lamm stürzt, und dann wurde mein Gesicht in eine hölzerne Schale im Gußsteine gezwängt, mein Haupt unter den Zapfen der Wassertonne gehalten und ich selbst geseift, geknetet, abgetrocknet, geklopft, geharkt und gestriegelt, bis ich wirklich ganz von Sinnen war. (Ich darf mir wohl hier die Bemerkung erlauben, daß ich mich für besser von der kratzenden Wirkung eines Trauringes, der auf unsympathetische Weise über das menschliche Antlitz hin und her fährt, unterrichtet halte, als sonst irgend eine lebende glaubwürdige Quelle.)

Als der Reinigungsproceß zu Ende, wurde ich, wie ein junger Büßender in Sackleinwand, in reine Wäsche von der allersteifsten Sorte gesteckt, und dann in meinen engsten, fürchterlichsten Anzug gezwängt. Dann wurde ich Mr. Pumblechook übergeben, welcher mich förmlich entgegennahm, wie wenn er der Sherif gewesen wäre, und dann die Rede gegen mich losließ, die er sich, wie ich wußte, mir längst zu halten gesehnt hatte: »Sei stets dankbar, Junge, gegen alle Deine Freunde, aber am dankbarsten gegen Die, welche Dich durch die Hand groß gezogen haben!«

»Lebewohl, Joe!«

»Gott sei mit Dir, Pip, mein alter Junge!« Ich hatte mich noch niemals von Joe getrennt, und unter der vereinigten Wirkung meiner Gefühle und der vielen Seife in meinen Augen konnte ich zuerst, als ich im Wagen saß, keine Sterne sehen. Aber sie kamen einer nach dem andern funkelnd zum Vorschein, ohne jedoch irgend welches Licht auf die Fragen zu werfen, warum in aller Welt ich zu Miß Havisham spielen ging, und was in aller Welt man dort von mir zu spielen verlangen würde.

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