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Achtes Kapitel.
Ein Schritt vorwärts im Leben.

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Mr. Pumblechooks Geschäft in der Hauptstraße unseres Marktfleckens hatte ein pfefferkörniges und mehliges Aussehen, wie sich dies von dem Geschäft eines Korn- und Samenhändlers erwarten läßt. Es schien mir, daß er, im Besitze so vieler kleiner Schubladen in seinem Gewölbe, ein sehr glücklicher Mann sein mußte: und als ich in ein Paar von den unteren Schubladen blickte und darinnen die zusammengebundenen Packete in grauem Papier liegen sah, erging ich mich in Muthmaßungen, ob wohl an schönen Tagen die Blumensamen und Zwiebeln sich sehnten ihre Bande zu sprengen und aufzublühen.

Es war früh am Morgen nach meiner Ankunft, daß ich mich diesen Betrachtungen hingab. Man hatte mich am Abend vorher sofort ins Bette geschickt, und zwar auf eine Dachkammer mit abschüssigem Dache, so niedrig, daß nach meiner Berechnung die Ziegel in der Ecke, wo das Bett stand, keinen Fuß breit von meinen Augenbrauen sein konnten. An eben diesem frühen Morgen entdeckte ich auch die merkwürdige Verwandtschaft zwischen Sämereien und Manchestersammethosen. Mr. Pumblechook trug Manchestersammethosen und sein Gehülfe desgleichen; und es war überhaupt in dem allgemeinen Aussehen und Dufte der Sammethosen soviel von den Eigenschaften der Sämereien und in dem allgemeinen Aussehen und Duften der verschiedenen Samenarten soviel von den Eigenschaften der Sammethosen, daß ich kaum das Eine vom Andern zu unterscheiden vermochte. Bei derselben Gelegenheit machte ich auch die Bemerkung, daß Mr. Pumblechooks Art und Weise, sein Geschäft zu führen, darin bestand, daß er nach der gegenüberliegenden Seite der Straße und nach dem Sattler blickte, welcher seinem Gewerbe dadurch vorzustehen schien, daß er kein Auge von dem Wagenbauer verwandte; daß dieser sich seinen Lebensunterhalt verdiente, indem er die Hände in die Taschen steckte und den Bäcker betrachtete, welcher seinerseits mit verschlungenen Armen dastehend den Gewürzkrämer anstierte, der vor seiner Thüre stand und den Apotheker angähnte.

Der Uhrmacher, der beständig mit einem Vergrößerungsglase vor dem Auge sich über sein kleines Pult beugte, und dem stets eine Gruppe von Männern in Arbeitskitteln durchs Fenster zuschaute, schien mir in der ganzen Hauptstraße fast der Einzige, dessen Beschäftigung seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Mr. Pumblechook und ich frühstückten um acht Uhr in dem Wohnstübchen hinter dem Laden, während der Gehülfe seinen Becher Thee und seine dicke Butterschnitte auf einem Erbsensacke im Laden verzehrte. Ich fand in Mr. Pumblechook einen erbärmlichen Gesellschafter. Er theilte nämlich in Bezug auf meine Diät ganz die Ansicht meiner Schwester, welche behauptete – oder wenigstens nach diesem Grundsatze handelte – daß die Kost auf meine Kasteiung und Demüthigung berechnet sein müßte. Er gab mir in Verbindung mit möglichst vieler Krume vom Brode möglichst wenig Butter und that eine solche Menge warmen Wassers in meine Milch, daß es viel aufrichtiger von ihm gewesen wäre, wenn er die Milch ganz fortgelassen hätte. Diese Genüsse würzte er durch eine Unterhaltung über Arithmetik. Als ich ihm einen höflichen Guten Morgen bot, sagte er mit pomphafter Miene: »Siebenmal neun, Junge!« Und wie konnte ich wohl an einem fremden Orte und mit leerem Magen hierauf antworten? Ich war hungrig, doch ehe ich noch einen Bissen hatte verschlucken können, fing er ein laufendes Rechenexempel an, welches die ganze Mahlzeit über dauerte.

»Sieben? Und vier? Und acht? Und sechs? Und zwei? Und zehn?« Und so weiter. Und wenn ich mit einem Exempel fertig war, gelang es mir nur mit größter Mühe, einen Bissen zu essen oder einen Trunk zu nehmen, so kam schon das nächste; während er gemüthlich dasaß und nichts rieth und statt dessen auf eine (wenn man mir den Ausdruck hingehen lassen will) stopfende, gefräßige Weise gebratenen Speck und heiße Semmeln aß!

Aus diesen Gründen war ich sehr froh, als es zehn Uhr war und wir uns auf den Weg zu Miß Havisham machten, obgleich ich in Bezug auf mein zu beobachtendes Benehmen unter dem Dache dieser Dame nichts weniger als beruhigt war. In weniger als einer Viertelstunde langten wir vor Miß Havishams Hause an, einem alten Ziegelsteingebäude von sehr düsterem Aussehen, und außerdem verwahrt mit einer großen Anzahl von Eisenstäben. Einige von den Fenstern waren zugemauert; von denen, welche frei geblieben, waren aber die unteren alle mit rostigen Eisengittern versehen. Vor dem Hause war ein Hof, den ebenfalls ein Eisengitter schützte; darum mußten wir, nachdem wir geschellt hatten, warten, bis Jemand kommen würde, um es für uns zu öffnen.

Während wir vor dem Thore warteten, lugte ich hinein (selbst in diesem Augenblicke noch, sagte Mr. Pumblechook: Und vierzehn? aber ich that, als hörte ich ihn nicht) und erblickte auf der einen Seite des Hauses eine große Brauerei; doch wurde augenblicklich nicht darin gebraut und es schien, als ob sie schon seit langer, langer Zeit unbenutzt gestanden hätte.

Es wurde ein Fenster geöffnet und eine helle Stimme fragte: Wer ist da? worauf mein Führer antwortete: Pumblechook. Die Stimme entgegnete: Ganz recht, worauf das Fenster wieder geschlossen wurde und eine junge Dame mit Schlüsseln in der Hand über den Hof gegangen kam.

»Dies«, sagte Mr. Pumblechook. »ist Pip.«

»So? Also dies ist Pip?« entgegnete die junge Dame, die sehr hübsch war, und sehr stolz zu sein schien; »komm herein, Pip.«

Mr. Pumblechook wollte ebenfalls mit hineingehen, aber sie hielt ihn mit dem Thore zurück.

»O!« sagte sie, »wünschten Sie vielleicht, mit Miß Havisham zu sprechen?«

»Falls Miß Havisham mich zu sprechen wünscht;« erwiederte er mit verblüffter Miene.

»Ach!« sagte das Mädchen, »aber sie wünscht Sie nicht zu sprechen, sehen Sie.«

Sie sagte dies auf so zurückweisende, alle fernere Erörterung ausschließende Art, daß Mr. Pumblechook, obgleich in seiner Würde verletzt, nichts dagegen einwenden konnte. Aber er blickte mich strenge an – als ob ich ihn beleidigt hätte – und ging dann, nachdem er in vorwurfsvollem Tone folgende Worte an mich gerichtet: »Junge! Daß Du durch Dein Betragen hier Denjenigen Ehre machst, die Dich mit der Hand groß gezogen haben!« Ich war nicht ganz von der Befürchtung frei, daß er zurückkommen und durch das Thor hindurch mir noch die Frage, »Und sechszehn?« vorlegen würde. Aber er unterließ es.

Meine junge Führerin schloß das Thor, und wir gingen über den Hof. Derselbe war rein und gepflastert, aber in jeder Spalte wuchs das Gras. Zwischen den Brauereigebäuden war ein kleiner Verbindungsweg, dessen Pförtchen offen standen; die ganze Brauerei dahinter stand ebenfalls offen bis an die hohe Schlußmauer, und Alles war leer und unbenutzt. Der kalte Wind schien hier kälter zu blasen, als außerhalb des Thores, und pfiff gellend an den offenen Seiten der Brauerei aus und ein, wie in dem Takelwerke eines Schiffes auf offener See.

Sie sah mich nach der Brauerei hinblicken und sagte: »Du könntest, ohne Dir zu schaden, all das starke Bier trinken, das dort jetzt gebraut wird, Junge.«

»Das will ich glauben, Miß,« sagte ich ziemlich verlegen.

»Lieber nicht versuchen, dort jetzt noch Bier zu brauen, es würde sehr bald sauer werden, wie – Junge?«

»Es sieht fast so aus. Miß.«

»Nicht, daß irgend Jemand den Versuch zu machen geneigt wäre,« fuhr sie fort, »denn das ist jetzt Alles vorbei, und das ganze Gebäude wird unbenutzt dastehen bleiben, bis es zusammenfällt. Was aber das starke Bier betrifft, so ist davon genug unten in den Kellern, genug um drin das ganze Herrenhaus zu ersäufen.«

»Ist das der Name von diesem Hause, Miß?«

»Einer von seinen Namen, Junge.«

»Dann hat es mehr Namen als einen, Miß?«

»Ja, noch einen. Sein anderer Name war Satis; was Griechisch oder Lateinisch oder Hebräisch, oder alle Drei zusammen – oder mir alles Eins – für Genug ist.«

»Genughaus,« sagte ich, »das ist ein sonderbarer Name, Miß.«

»Ja,« sagte sie, »aber das hatte mehr zu bedeuten, als es ausdrückte. Es sollte heißen, als es vergeben wurde, daß Derjenige, der es besäße, Nichts weiter brauchen könne. Sie müssen zu jener Zeit sehr leicht zu befriedigen gewesen sein. Aber komm weiter, Junge.«

Obgleich Sie mich so oft »Junge« nannte, und zwar mit einer Gleichgültigkeit, die nichts weniger als schmeichelhaft war, so stand sie doch ziemlich mit mir in einem Alter, oder war doch nur um ein Weniges älter, als ich. Aber da sie ein Mädchen und sehr schön und unbefangen war, schien sie weit älter, als ich, und ihr Wesen gegen mich war so verachtend, als ob sie wenigstens einundzwanzig Jahre alt und eine Königin gewesen wäre.

Wir gingen durch eine Seitenthür ins Haus – über die große Vorderthür waren zwei Ketten hingezogen – und das Erste, was mir auffiel, war, daß die Gänge alle finster waren und das Mädchen ein brennendes Licht hier hatte stehen lassen. Sie nahm dasselbe auf und dann gingen wir durch noch mehr Gänge und eine Treppe hinauf, und noch immer war Alles finster und ihr Licht allein leuchtete uns.

Endlich kamen wir an eine Zimmerthür, und sie sagte:

»Geh hinein.«

Ich entgegnete mehr aus Furchtsamkeit als aus Höflichkeit:

»Nach Ihnen, Miß.«

Hierauf erwiderte sie:

»Mache Dich nicht lächerlich, Junge; ich gehe nicht hinein;« und ging verachtend fort – und, was noch schlimmer war, nahm das Licht mit.

Dies war sehr ungemüthlich, und ich fing beinahe an, mich zu fürchten. Indessen, da man nichts weiter von mir verlangte, als daß ich an die Thür klopfe, so klopfte ich, und wurde von drinnen aufgefordert, hereinzukommen. Ich trat ein und sah mich in einem ziemlich großen Zimmer, das durch Wachskerzen hell erleuchtet war. Es war auch keine Spur von Tageslicht sichtbar. Das Zimmer war, wie ich nach der Ausstattung vermuthete, ein Toilettezimmer, obgleich viele von den Formen und Zwecken der verschiedenen Gegenstände mir damals völlig unbekannt waren. Vor Allen war jedoch ein großer, mit einer Draperie behangener Tisch ins Auge fallend, auf welchen ein vergoldeter Spiegel stand, ein Meuble, das ich auf den ersten Blick als den Toilettetisch einer vornehmen Dame erkannte.

Ob ich dies ebenso schnell entdeckt haben würde, falls keine vornehme Dame vor demselben gesessen, vermag ich nicht zu sagen. Dort, in einem Armstuhle, den einen Arm auf den Tisch stützend und auf die Hand desselben ihr Haupt lehnend, saß die seltsamste Dame, die ich je gesehen habe oder sehen werde.

Sie war in reiche Stoffe gekleidet – in Atlas, Spitzen und Seide – Alles weiß. Auch ihre Schuhe waren weiß. Ein langer weißer Schleier hing von ihrem Haare herab, und in dem Haare trug sie einen Brautkranz, aber ihr Haar war weiß. Auf dem Halse und an den Händen funkelten Juwelen und auf dem Tische lagen noch mehrere funkelnde Kleinode. Kleider, die jedoch nicht so kostbar waren, wie das Kleid, welches sie trug, lagen, und halb gepackte Reisekoffer standen um sie her. Sie war nicht ganz mit ihrem Anzuge fertig, denn sie hatte erst einen Schuh angezogen und der andere stand neben ihrer Hand auf dem Tische; ihr Schleier war nicht ganz befestigt und sie hatte ihre Uhr und Kette noch nicht angethan und eine Spitze für den Ausschnitt ihres Kleides lag mit ihrem Taschentuche, ihren Handschuhen, Blumen, ihrem Gebetbuche und jenen Juwelen – Alles in einem wirren Haufen – um den Spiegel herum.

Es war nicht gleich in der ersten Minute, daß ich alle diese Sachen sah, obgleich ich in der ersten Minute mehr sah, als man wohl denken mag. Aber ich sah, daß Alles vor mir, was weiß hätte sein sollen, dies vor langer, langer Zeit gewesen, jetzt aber seinen Glanz verloren hatte und gelb und verblichen war, und daß ihr von ihrem Schönheitsglanze nichts übrig geblieben, als der Glanz ihrer tief gesunkenen Augen. Ich sah, daß das Kleid einer wohlgerundeten jungen Frauengestalt paßte, und daß es jetzt lose auf einer Gestalt hing, die zu lauter Haut und Knochen zusammengeschrumpft war. Man hatte mich einmal auf einem Jahrmarkte in eine Wachsfiguren-Bude geführt, um, ich weiß nicht welche unmögliche Persönlichkeit auf dem Paradebette liegen zu sehen. Dann war ich einmal in einer unserer alten Marschkirchen gewesen, um ein Skelet in den Ueberbleibseln reicher Gewänder zu sehen, welches man aus einem Gewölbe unter dem Kirchenpflaster herausgegraben hatte. Und die Wachsfigur sowohl als das Skelet schienen dunkle Augen zu haben, die sich bewegten und mich anblickten. Ich hätte fast laut aufgeschrieen, wenn ich gekonnt hätte.

»Wer ist da?« sagte die Dame an dem Tische.

»Pip, Madame.«

»Pip?«

»Mr. Pumblechooks Junge, Madame, Der zum Spielen herkommen sollte.«

»Komm näher. Laß Dich ansehen. Komm ganz nahe heran.«

Als ich vor ihr stand und ihren Augen auswich, geschah es, daß ich im Einzelnen von den sie umgebenden Gegenständen Notiz nahm und zugleich bemerkte, daß ihre Uhr sowohl, als die Wanduhr im Zimmer zwanzig Minuten vor neun Uhr stehen geblieben waren.

»Sieh mich an,« sagte Miß Havisham. »Fürchtest Du Dich auch nicht vor einer Frau, welche, seit Du geboren wurdest, die Sonne nicht mehr gesehen hat?«

Ich bedaure zu sagen, daß ich mich nicht schämte, die ungeheure Lüge zu sagen, die in dem Worte »Nein!« enthalten war.

»Weißt Du, was ich hier berühre?« sagte sie, indem sie ihre Hände, eine auf die andere, auf ihre linke Seite legte.

»Ja, Madame.« (Dies erinnerte mich an den jungen Mann.)

»Was ist es?«

»Ihr Herz.«

»Gebrochen!«

Sie sprach dies Wort mit einem eifrigen Blicke, starkem Nachdrucke und einem gespenstischen Lächeln, in wichtig thuender Weise. Sie ließ die Hände dort eine kleine Weile ruhen und nahm sie dann langsam und als ob sie schwer geworden, wieder fort.

»Ich langweile mich,« sagte Miß Havisham, »ich bedarf der Zerstreuung, aber ich bin fertig mit Männern und Weibern. Spiele.«

Ich denke, der streitsüchtigste Leser wird mir zugeben, daß sie einem unglücklichen Knaben unter den Umständen in der ganzen Welt nichts Schwereres hätte zu thun aufgeben können.

»Ich habe zuweilen Krankenlaunen,« fuhr sie fort, »und ich habe jetzt eine Krankenlaune, daß ich ein Kind spielen sehen möchte. Nun, mache!« sagte sie mit einer ungeduldigen Bewegung der Finger ihrer rechten Hand; »spiele, spiele, spiele!«

Für einen Augenblick kam mir, in der großen Angst vor meiner Schwester, der verzweifelte Einfall, in der Rolle von Mr. Pumblechooks zweiräderigem Wagen ums Zimmer zu laufen. Aber ich fühlte, daß ich nicht das Herz zu der Darstellung hatte; ich stand und sah Miß Havisham, wie es ihr geschienen haben muß, trotzig an, denn sie sagte, nachdem wir einander eine ziemliche Weile angeschaut:

»Bist Du tückisch und halsstarrig?«

»Nein, Madame; aber es thut mir Ihretwegen leid, daß ich gerade jetzt nicht spielen kann. Falls Sie sich über mich beschwerten, so würde meine Schwester sehr böse auf mich werden, und deshalb wollte ich schon spielen, wenn ich nur könnte; aber es ist mir hier Alles so neu, und so fremd, und so vornehm, und so traurig.« – Ich schwieg, aus Furcht, zu viel zu sagen oder bereits zu viel gesagt zu haben, und wir schauten einander abermals an.

Ehe sie wieder sprach, wandte sie ihre Blicke von mir ab und auf ihr Kleid, auf den Toilettetisch und endlich auf ihr Bild im Spiegel.

»So neu für ihn,« murmelte sie, »so alt für mich; für ihn so fremd, und mir so bekannt; so traurig für alle Beide! Rufe Estella!«

Da sie sich noch immer betrachtete, glaubte ich, sie rede noch zu sich selbst, und verhielt mich deshalb ruhig.

»Rufe Estella!« wiederholte sie, mich mit ihren Augen anblitzend. »Das wirst Du doch wohl können. Rufe Estella. Von der Thür aus.«

So in einem dunkeln, geheimnißvollen Corridor in einem unbekannten Hause zu stehen und einer hochmüthigen jungen Dame, die sich weder sehen lassen, noch antworten wollte, »Estella« zuzuschreien, wobei es mir schien, als nähme ich mir eine große Freiheit heraus, indem ich auf diese Weise ihren Namen brüllte, war fast ebenso schlimm, als auf Commando zu spielen. Endlich aber antwortete Estella, und ihr Licht kam wie ein Stern den dunklen Gang entlang.

Miß Havisham machte ihr ein Zeichen, näher heran zu kommen, nahm eines der Kleinode vom Tische und versuchte, wie sich dasselbe auf ihrem schönen jungen Arme und in ihrem hübschen braunen Haare ausnehme.

»Es wird eines Tages Dir gehören, mein Kind, und Du wirst guten Gebrauch davon zu machen verstehen. Laß mich sehen, wie Du mit diesem Knaben Karten spielst.«

»Mit diesem Knaben? Aber er ist ja nur ein ganz gewöhnlicher Bauernjunge!«

Mir schien, als ob ich Miß Havisham antworten hörte – nur war dies so sehr unwahrscheinlich –: »Nun? Kannst Du nicht sein Herz brechen?«

»Was kannst Du spielen, Junge?« frug mich Estella mit der größten Verachtung.

»Nichts als ums Leben Im englischen Original heißt es an dieser Stelle: »Nothing but beggar my neighbor, miss.« Miss Havisham antwortet: »Beggar him.« Die Übertragung auf das deutsche »Leben und Tod« bringt, insbesondere durch die Antwort von Miss Havisham, eine Zuspitzung. »Beggar my neighbor«, auch bekannt als »Strip Jack naked«, ist in England seit spätestens 1840 belegt und hat durch Dickens' Roman noch weitere Popularität erhalten. - Anm.d.Hrsg., Miß.«

»Bring ihn ums Leben,« sagte Miß Havisham zu Estella. Und darauf setzten wir uns zum Kartenspiel.

Hier war es, wo ich bemerkte, daß Alles im Zimmer, wie die beiden Uhren, vor langer Zeit stehen geblieben war. Ich sah, daß Miß Havisham das Kleinod genau wieder an dieselbe Stelle legte, von der sie es aufgenommen. Während Estella die Karten mischte und gab, warf ich wieder einen Blick auf den Toilettetisch und bemerkte, daß der Schuh, welcher einst weiß und jetzt gelb war, niemals getragen worden sei. Ohne diese Stockung, dieses Stillstehen all der verblichenen, und verfallenen Gegenstände hätten selbst das vergilbte Brautkleid auf der verschrumpften Gestalt und der lange Schleier nicht so sehr wie Leichentücher aussehen können.

Und so saß sie leichenhaft da, während wir Karten spielten. Die Spitzen und Garnirungen an ihrem Brautkleide sahen aus, wie wenn sie von einem erdigen Papier gemacht wären und als müßten sie unter der leichtesten Berührung zusammenbröckeln. Ich wußte damals noch nichts von den Entdeckungen, welche man gelegentlich an Körpern macht, die in alten Zeiten begraben worden und in Staub zerfallen, sowie man ihrer zum ersten Male deutlich ansichtig wird; aber ich habe seitdem oft gedacht, daß sie ausgesehen haben muß, als ob der erste Strahl des natürlichen Tageslichtes, den man auf sie fallen ließe, sie in Staub und Asche verwandeln würde.

»Er nennt die Buben ›Unter‹, dieser Junge!« sagte Estella verachtend, ehe wir noch unser erstes Spiel zu Ende gespielt. »Und was für grobe Hände er hat. Und was für dicke Stiefeln!«

Ich hatte noch nie vorher daran gedacht, mich meiner Hände zu schämen, fing aber jetzt an, sie wirklich sehr mittelmäßig zu finden. Ihre Verachtung war so gewaltig, daß sie ansteckend wurde und sich auch auf mich übertrug.

Sie gewann das Spiel und darauf gab ich die Karten. Ich vergab mich, was ganz natürlich war, da ich wußte, daß sie auflauerte, bis ich etwas verkehrt machen würde, und dann nannte sie mich einen dummen, ungeschickten Bauerjungen.

»Du sagst nichts von ihr!« bemerkte Miß Havisham, zu mir gewendet. »Sie sagt viel Bitteres von Dir, aber Du sagst gar nichts von ihr. Was denkst Du von ihr?«

»Ich mag es nicht sagen,« stotterte ich.

»Sag mirs ins Ohr,« sagte Miß Havisham sich zu mir herab neigend.

»Ich denke, daß sie sehr stolz ist,« sagte ich flüsternd.

»Was sonst noch?«

»Daß sie sehr hübsch ist.«

»Was sonst noch?«

»Daß sie sehr beleidigend ist.« (Sie betrachtete mich in diesem Augenblicke gerade mit einem Ausdrucke tiefsten Abscheus.)

»Sonst noch etwas?«

»Daß ich heim gehen möchte.«

»Und sie niemals wiedersehen, obgleich sie so hübsch ist?«

»Ich weiß nicht, ob ich sie nicht doch noch wiedersehen möchte, aber ich möchte jetzt gern heim gehen.«

»Das sollst Du bald,« sagte Miß Havisham laut. »Spielt das Spiel zu Ende.«

Hätte ich nicht das eine gespenstische Lächeln zu Anfange auf Miß Havishams Gesicht gesehen, so hätte ich glauben müssen, daß es überhaupt nicht zu lächeln im Stande wäre. Dasselbe war in einen argwöhnisch grübelnden Ausdruck verfallen – wahrscheinlich zu derselben Zeit, wo Alles um sie her erstarrt war – und es sah aus, als ob nichts in der Welt es je wieder würde erheben können. Ihre Brust war eingefallen, so daß sie gebeugt saß; ihre Stimme war gesunken, so daß sie leise und wie im Grabestone sprach; und Alles mit einander genommen sah sie aus, als ob sie an Leib und Seele, innerlich und äußerlich, unter der Wucht eines gewaltigen Schlages zusammengesunken sei.

Ich spielte das Spiel mit Estella zu Ende und sie gewann abermals. Sie warf die Karten, als sie dieselben alle gewonnen hatte, mit einer Miene auf den Tisch, als ob sie sie dafür, daß sie mir abgewonnen waren, verachtete.

»Wann werde ich Dich wieder herkommen lassen?« sagte Miß Havisham. »Laß mich überlegen.«

Ich begann sie zu erinnern, daß es heute Mittwoch sei, als sie mich mit der ungeduldigen Bewegung der Finger ihrer rechten Hand unterbrach.

»Da! stille! Ich weiß nichts von den Tagen der Woche, nichts von den Wochen im Jahre. Komm in drei Tagen wieder, hörst Du?«

»Ja, Madame.«

»Estella, führe ihn hinunter. Gieb ihm zu essen und laß ihn, während er ißt, umher wandern und sich umsehen. Geh, Pip.«

Ich folgte dem Lichte hinunter, wie ich ihm hinauf gefolgt war, und sie stellte es wieder an die Stelle, wo wir es gefunden hatten. Bis jetzt, wo sie den Seiteneingang öffnete, war mirs, ohne daß ich daran gedacht hatte, gewesen, als müsse es Nacht sein. Darum war ich von der Helle des Tageslichtes ganz überwältigt, und es schien mir, als ob ich viele Stunden lang drinnen in dem Kerzenlichte zugebracht hätte.

»Du sollst hier warten, Du Junge,« sagte Estella, und verschwand, indem sie die Thür schloß.

Ich benutzte die Gelegenheit, wo ich mich allein im Hofe sah, um meine groben Hände und meine dicken Stiefeln zu betrachten. Meine Meinung von diesen Zugaben war keine günstige. Sie hatten mich früher nie beunruhigt, jetzt aber thaten sie dies als ein Paar entschieden ordinäre Anhängsel. Ich beschloß, Joe zu fragen, wie er dazu gekommen, mich jene Karten, welche Buben hießen, »Unter« nennen zu lehren? Ich wünschte, Joe wäre etwas feiner erzogen gewesen, wodurch ich es ebenfalls geworden sein würde.

Estella kehrte mit etwas Brod und Fleisch und einem Töpfchen mit Bier zurück. Sie setzte das Töpfchen auf das Steinpflaster des Hofes nieder und gab mir Brod und Fleisch, ohne mich dabei anzusehen, so verachtend, als wenn ich ein Hund gewesen wäre. Ich fühlte mich so gedemüthigt, verletzt, getreten, beleidigt, aufgebracht, traurig – ich kann nicht den rechten Ausdruck für den Schmerz finden – Gott weiß, wie derselbe sein mochte – daß mir die Thränen in die Augen kamen. Sowie das Mädchen sie erblickte, zeichnete sich in ihrem Gesichte eine Freude darüber, daß sie die Ursache davon gewesen. Dies gab mir Kraft, die Thränen zurückzudrängen und das Mädchen anzusehen: worauf sie verachtend den Kopf zurückwarf – aber, wie es mir schien, mit einem Bewußtsein, daß sie sich zu früh gefreut, mich so gekränkt zu haben – und verließ mich.

Aber als sie fort war, sah ich mich nach einer Stelle um, in der ich mein Gesicht verbergen könne, und ging hinter eines der Pförtchen, welche nach der Brauerei führten, wo ich meinen Arm gegen die Mauer und auf ihn meinen Kopf lehnte und weinte. Während ich weinte, stieß ich die Mauer mit meinen Füßen und riß mich heftig im Haare; so bitter waren meine Gefühle und so schneidend der Schmerz ohne Namen, daß er eines Gegenreizes bedurfte.

Die Erziehung, welche meine Schwester mir hatte angedeihen lassen, hatte mich empfindlich gemacht. In der kleinen Welt, in welcher Kinder leben – von wem sie immer erzogen werden mögen – giebt es, wie ich überzeugt bin, Nichts, das so fein von ihnen empfunden wird, als Ungerechtigkeit. Es mögen nur kleine Ungerechtigkeiten sein; aber das Kind selbst ist klein, und seine Welt ist klein und es ist ihm sein Wiegenpferd vergleichsweise ein ebenso großes Thier, als uns ein großes, knochiges irländisches Jagdpferd. Ich hatte seit meiner frühesten Kindheit in meinem Innern einen unausgesetzten Kampf mit der Ungerechtigkeit geführt. Ich hatte, von der Zeit an, wo ich zu sprechen angefangen, gewußt, daß meine Schwester in ihren launenhaften, heftigen Züchtigungen ungerecht gegen mich war. Ich hatte eine feste Ueberzeugung gehegt, daß der Umstand, daß sie mich mit der Hand aufgezogen, ihr nicht das Recht gebe, mich auch durch Püffe aufzuziehen. Jedes Mal, wo es Strafe, Ungnade oder andere Bußkämpfe für mich gab, hatte sich diese Ueberzeugung aufs Neue in mir bestärkt, und dem Umstande, daß ich auf eine einsame, schutzlose Weise so viel hierüber grübelte, schreibe ich größtentheils meine moralische Furchtsamkeit und Empfindsamkeit zu.

Ich überwand meine verletzten Gefühle dies Mal dadurch, daß ich sie an der Brauereimauer und an meinen Haaren ausließ, und dann wischte ich mir mit meinem Aermel das Gesicht ab und kam wieder hinter dem Pförtchen hervor.

Es war in der That ein wüster Ort. Sogar das Taubenhäuschen im Brauereihofe sah aus, als ob irgendein starker Wind es einst auf seinem Pfahle schief geblasen und als ob die Tauben darin sich durch das Hinundherschwanken auf der See gewähnt haben müßten, falls sich Tauben darin aufgehalten hätten. Aber in dem Taubenschlage waren keine Tauben, in den Ställen keine Pferde, in den Schweinekoben keine Schweine, im Vorrathshause kein Malz, in den Kupferkesseln und dem Kühlfaß kein Geruch von Malz oder Bier. Jede Spur und jede Art von Duft aus der Brauerei mochte mit ihrem letzten Rauche verdampft sein. In einem Nebenhofe war eine Wildniß von leeren Tonnen, denen eine saure Erinnerung an bessere Tage anhaftete; doch war sie zu sauer, um für eine Probe des dahingegangenen Bieres gelten zu können – und in diesem Punkt scheinen mir jene Einsiedler-Tonnen viel Aehnlichkeit mit anderen Einsiedlern zu haben.

Hinten am äußersten Ende der Brauerei befand sich ein wüster Garten mit einer alten Mauer: doch war letztere nicht so hoch, um mich zu verhindern, hinaufzuklettern und mich lange genug festzuhalten, um zu sehen, daß der wüste Garten zum Hause gehörte, daß er mit Unkraut überwachsen, daß aber auf den gelbgrünen Pfaden eine Spur war, als ob dort zuweilen Jemand wandle und daß Estella eben in diesem Augenblicke dort abgewandt von mir umherging. Doch sie schien überall zu sein. Denn als ich der Versuchung wich, welche die Tonnen mir boten, und darauf umherzuspazieren begann, sah ich sie ebenfalls am Ende des Tonnenhofes auf ihnen umher gehen. Sie hatte den Rücken mir zugewandt und hielt ihr hübsches braunes Haar mit beiden Händen ausgebreitet von sich ab; sie schaute sich nicht um und war augenblicklich wieder verschwunden. Ebenso in der Brauerei selbst – womit ich das große, innen gepflasterte, hohe Gebäude meine, wo ehedem das Bier gebraut und noch jetzt die Brauereigeräthschaften aufbewahrt wurden. Als ich dasselbe zuerst betrat und, von seiner Düsterheit etwas beängstigt, an der Thür stehen blieb, sah ich sie zwischen den erkalteten Herden hindurch, dann eine leichte eiserne Treppe hinan und oben auf einer eisernen Galerie hinausgehen, als ob sie in den Himmel hinaufginge.

Es war an dieser Stelle und in diesem Augenblicke, daß etwas sehr Seltsames in meiner Phantasie vorging. Ich fand es damals seltsam, aber später ist es mir noch weit seltsamer erschienen. Ich wandte meine Blicke, die durch das Aufblicken in die frostige Luft ein wenig verschleiert waren, einem großen hölzernen Balken in einem niedrigen Winkel des Gebäudes rechts neben mir zu, und erblickte dort eine Gestalt, die am Halse aufgehangen war. Eine Gestalt ganz in vergilbten weißen Kleidern, und die nur einen Schuh anhatte; und diese Gestalt hing so, daß ich sehen konnte, daß die verblichenen Spitzen des Kleides wie erdiges Papier aussahen, und daß das Gesicht Miß Havishams Gesicht war, über welches eine Bewegung zuckte, wie wenn sie mich zu rufen versuchte. In dem Entsetzen, diese Gestalt dort zu sehen, und dem der gewissen Ueberzeugung, daß dieselbe einen Augenblick vorher nicht dort gewesen, rannte ich zuerst von ihr fort, dann aber auf sie zu. Aber mein Entsetzen war größer denn je, als ich gar keine Gestalt mehr dort fand.

Nichts Geringeres als das frostige Licht des heitern Himmels, als der Anblick der Leute, welche außerhalb des Gitterthores vorübergingen, und als die belebende Wirkung der Ueberreste von Brod, Fleisch und Bier, hätten mir meine Fassung wieder geben können. Selbst diesen kräftigen Hülfstruppen wäre es vielleicht nicht so schnell gelungen, mich wieder herzustellen, hätte ich nicht Estella mit den Schlüsseln kommen sehen, um mich hinaus zu lassen. Sie würde guten Grund haben, verachtend auf mich herabzusehen, dachte ich, falls sie sähe, daß ich mich fürchtete; und sie sollte keinen Grund dazu haben.

Sie blickte mich triumphirend an, als sie an mir vorbeiging, als freue sie sich, daß meine Hände so grob und meine Stiefeln so dick seien, und dann öffnete sie das Thor und hielt es offen für mich. Ich war im Begriffe hinauszugehen, ohne sie anzusehen, als sie mich höhnisch mit der Hand berührte.

»Warum weinst Du nicht?« sagte sie.

»Weil mir nicht so zu Muthe ist,« sagte ich.

»Es ist Dir doch danach zu Muthe,« sagte sie; »Du hast schon geweint und bist nahe daran, noch ein Mal anzufangen.«

Sie lachte hochmüthig, schob mich hinaus und verschloß das Thor wieder hinter mir. Ich ging geradewegs nach Mr. Pumblechooks Hause, und fand ihn zu meiner unaussprechlichen Erleichterung nicht daheim. Demzufolge gab ich dem Gehülfen den Auftrag, ihm zu sagen, an welchem Tage ich wieder bei Miß Havisham erwartet werde, und machte mich dann auf den vier Meilen langen Weg nach der Schmiede. Und während des ganzen Weges dachte ich an Alles, was ich gesehen, und überlegte tief, welch ein gemeiner Bauerjunge ich sei, welche groben Hände und dicken Stiefeln ich hätte, und wie ich in die gemeine Gewohnheit verfallen, Buben »Unter« zu nennen, wie ich viel unwissender sei, als mir dies am Abende vorher geschienen, und wie ich überhaupt mich in einem schlimmen, sehr ordinären Zustande befinde.

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