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Ich war vollkommen darauf vorbereitet, einen Constabel in der Küche vorzufinden, der gekommen sei, um mich zu verhaften. Doch war nicht allein kein Constabel angelangt, sondern auch der Diebstahl noch nicht einmal entdeckt.
Frau Joe war unbeschreiblich beschäftigt, das Haus für die Festlichkeiten des Tages herzurichten, und Joe war auf die Küchenschwelle gestellt worden, damit er nicht vor die Kehrichtschaufel geriethe – ein Gegenstand, mit welchem ihn sein Schicksal unfehlbar in Collision brachte, wenn meine Schwester die Stuben gründlich zu kehren im Begriff war.
»Und wo in aller Welt bist Du gewesen?« war Frau Joes Weihnachtsgruß, als ich und mein Gewissen uns sehen ließen.
Ich sagte, ich sei bei der Weihnachtsmusik gewesen.
»Ah! Nun,« sagte Frau Joe, »Du hättest Schlimmeres thun können.«
»Das unterliegt keinem Zweifel«, dachte ich.
»Wenn ich nicht eine Schmiedsfrau und (was ganz dasselbe ist) eine Sklavin wäre, die ihre Schürze nie ablegt, hätte ich auch vielleicht hingehen können, um die Weihnachtsmusik zu hören,« sagte Frau Joe. »Ich höre sie sehr gern, die Weihnachtsmusik, und das ist natürlich der Grund, weshalb ich sie nie zu hören kriege.«
Joe, der sich mir nach in die Küche gewagt hatte, als die Kehrichtschaufel sich vor uns zurückzog, strich sich, wenn Frau Joe ihn ansah, mit begütigender Miene mit der Hand über die Nase, und als sie wegsah, legte er heimlich seine beiden Zeigefinger übereinander, um mir dadurch anzudeuten, daß sie wieder einmal ein Kreuz für ihn sei. Dies war so sehr ihr Normalzustand, daß Joe und ich oft wochenlang mit Bezug auf unsere Finger für wahre Kreuzfahrer gelten konnten.
Wir sollten ein prachtvolles Essen haben, bestehend aus gesalzenem Schweinfleisch mit Grünkohl und einem Paar gebratener Kapaunen. Eine schöne Pastete von gehacktem Fleische war bereits am Tage vorher angefertigt (was wohl den Umstand erklärte, daß das übriggebliebene Fleisch noch nicht vermißt wurde), und der Pudding war eben jetzt im Kochen. Diesen großartigen Arrangements hatten wir es zu verdanken, daß wir ohne alle Ceremonie in Bezug auf Frühstück abgefertigt wurden; »denn,« sagte Frau Joe: »es fällt mir gar nicht ein, bei Allem, was ich noch zu thun habe, noch ein feierliches Frühstücken und Vollstopfen und Aufwaschen für Euch anzustiften, das versichere ich Euch!«
Demnach wurden uns unsere Butterbrodstücke ausgetheilt, als wenn wir zweitausend Mann Truppen auf einem Geschwindmarsche gewesen wären, anstatt nur ein Mann und ein Knabe zu sein; wozu wir mit abbittenden Gesichtern aus einem Kruge auf dem Anrichtetische Milch und Wasser tranken. Inzwischen hängte Frau Joe frische weiße Fenstervorhänge auf, nagelte eine neue geblümte Garnirung anstatt der alten über den breiten Kamin hin, und öffnete das kleine Staatszimmer jenseit des schmalen Vorsaales, das zu keiner andern Zeit des Jahres benutzt wurde, sondern den Rest desselben in einem kühlen Schleier von Seidenpapier zubrachte, der sich sogar auf die vier kleinen weißen Porzellanpudel auf dem Kaminsimse erstreckte, von welchen jeder eine schwarze Schnauze hatte, einen Blumenkorb im Maule trug und genau das Ebenbild des andern war. Frau Joe war eine sehr reinliche Haushälterin, besaß aber die ausgezeichnete Kunst, ihre Reinlichkeit ungemüthlicher und abstoßender zumachen, als die Unsauberkeit selbst. Reinlichkeit kommt nach der Gottseligkeit, aber es giebt Leute, die auch die Gottseligkeit unausstehlich machen.
Da meine Schwester so viel zu thun hatte, ging sie durch Stellvertreter in die Kirche, das heißt Joe und ich gingen hin. In seinen Arbeitskleidern war Joe ein wohlgebauter, charakteristisch aussehender Schmied; in seinen Sonntagskleidern aber sah er eher wie eine Vogelscheuche in guten Vermögensverhältnissen, als wie sonst irgend Etwas aus. Nichts, das er an diesen Tagen trug, schien ihm zu passen oder ihm zu gehören; seine Kleider spannten Joe förmlich in den Bock. Bei gegenwärtiger Gelegenheit trat er in einem vollen Staate von Sonntagsbußkleidern aus seiner Stube und sah aus, wie ein Bild des Jammers. Was mich betrifft, so muß meine Schwester eine allgemeine Idee gehabt haben, daß ich als ein junger Missethäter geboren, von einem Constabel (an meinem Geburtstage) in Empfang genommen, arretirt und ihr übermacht worden, damit sie die beleidigte Majestät des Gesetzes an mir räche. Ich wurde stets behandelt, als ob ich gegen alle Vorschriften der Vernunft, der Religion, der Moralität und gegen das Abreden meiner besten Freunde darauf bestanden habe, geboren zu werden. Selbst wenn ich zum Schneider geführt wurde, damit er mir einen neuen Anzug mache, erhielt der Künstler Befehl, mir die Kleider wie eine Art Besserungsmittel anzufertigen und mir unter keiner Bedingung den freien Gebrauch meiner Glieder zu gestatten.
Joe und ich mußten daher, wenn wir zur Kirche gingen, für mitleidige Seelen einen rührenden Anblick abgeben. Und doch waren meine äußeren Leiden gar nichts im Vergleiche mit dem, was ich im Innern dulden mußte. Die Angst, welche mich befiel so oft Frau Joe in die Nähe der Speisekammer, oder auch nur aus der Stube gegangen war, kam nur den Gewissensbissen gleich, die ich bei dem Gedanken an Das fühlte, was meine Hände gethan. Unter der Last meines gottlosen Geheimnisses überlegte ich, ob wohl die Kirche mächtig genug sein würde, mich gegen die Rache des furchtbaren jungen Mannes zu schützen, falls ich mich ihr offenbarte? Es kam mir der Gedanke, daß der Augenblick, wo man das Aufgebot lesen und der Geistliche: So erklärt es denn jetzt! sagen würde, der geeignete Moment für mich sein dürfte, um mich zu erheben und um eine Privatconferenz in der Sacristei zu bitten. Ich bin weit entfernt, mit Bestimmtheit zu versichern, daß ich nicht unsere kleine Gemeinde durch diese äußerste Maßregel in Erstaunen gesetzt haben würde, falls es nicht gerade statt eines gewöhnlichen Sonntags Weihnachtstag gewesen wäre.
Mr. Wopsle, der Küster, sollte bei uns zu Mittag speisen; sowie Mr. Hubble, der Stellmacher, und Gemahlin; und Onkel Pumblechook (Joes Onkel, aber Frau Joe eignete ihn sich zu), der ein wohlhabender Krämer im nächsten Städtchen war und in seinem eigenen Wagen fuhr. Die Stunde des Essens war halb zwei Uhr. Als Joe und ich zu Hause anlangten, fanden wir, daß der Tisch gedeckt, Frau Joe festlich gekleidet, das Mittagsmahl in seiner Zubereitung weit vorgeschritten, die vordere Hausthür, durch welche die Gesellschaft ihren Einzug halten sollte (was zu keiner andern Zeit vorfiel), geöffnet, kurz daß Alles im höchsten Grade glänzend war. Und noch immer kein Wort von dem Diebstahle!
Die Zeit kam, ohne meinen Gefühlen Erleichterung zu bringen, und mit ihr kamen die Gäste. Mr. Wopsle, im Besitz einer römischen Nase und einer großen, blanken, kahlen Stirne, hatte eine sehr tiefe Stimme, auf welche er ungemein stolz war. Man sagte sogar unter seinen Bekannten, daß er den Geistlichen, falls man ihm den Willen ließe, »zum Sack hinein und heraus« lesen würde. Er selbst bekannte, daß, falls die Kirche »offen« wäre, womit er meinte: für Concurrenz offen, so würde er nicht daran verzweifeln, sich noch in derselben bemerkbar zu machen. Da die Kirche aber nicht »offen« war, so blieb er, wie schon erwähnt, unser Küster. Aber er strafte die »Amens« fürchterlich; und wenn er das Lied angab – wobei er stets den ganzen Vers vortrug – blickte er rund in der Gemeinde umher, wie wenn er sagen wollte: »Ihr habt meinen Freund, den Pfarrer, da über mir gehört; jetzt möchte ich wissen, was Ihr zu diesem Style sagt!«
Ich ließ die Gesellschaft ein – indem wir thaten, als ob die Thür für gewöhnlich geöffnet werde – und zwar zuerst Mr. Wopsle, dann Mr. und Frau Hubble und zuletzt Onkel Pumblechook. NB. Mir war unter Androhung der schwersten Strafen verboten, ihn Onkel zu nennen.
»Frau Joe,« sagte Onkel Pumblechook, ein großer, schwer athmender, langsamer Mann in mittleren Jahren, mit einem Munde wie ein Fisch, matt stierenden Augen und sandfarbenem Haare, das auf seinem Haupte gerade in die Höhe stand, so daß er aussah, als ob er soeben im Begriffe gewesen, zu ersticken, und sich in dieser Minute erst wieder erholt habe; »ich habe Ihnen, dem Feste zu Ehren – habe ich Ihnen, Madam, eine Flasche Sherrywein gebracht – und ich habe Ihnen, Madam, eine Flasche Portwein gebracht.«
An jedem Christtage erschien er, als wie mit etwas ganz Neuem, mit genau denselben Worten und indem er die beiden Flaschen wie ein Paar Keulen trug. Und an jedem Christtage entgegnete Frau Joe, wie sie es jetzt that: »O, Onkel Pum-ble-chook! Dies ist zu freundlich!« Und jeden Christtag erwiederte er, wie jetzt: »Es ist nicht mehr, als was Ihnen zukommt. Und nun, wie gehts Euch Allen und was macht der kleine Taugenichts?« womit er mich meinte.
Wir speisten bei diesen Gelegenheiten in der Küche und zogen uns dann zu dem aus Aepfeln, Nüssen und Apfelsinen bestehenden Dessert in das Staatsstübchen zurück, was eine Abwechselung war, die ungefähr dem Wechsel von Joes Arbeitskleidern zu seinen Sonntagskleidern entsprach. Meine Schwester war diesmal außerordentlich lebhaft, wie sie überhaupt gewöhnlich in Frau Hubbles Gesellschaft weit liebenswürdiger war, als in irgend einer sonstigen. Ich entsinne mich Frau Hubbles als einer lockigen, spitzigen kleinen Person, in Himmelblau gekleidet, die traditionell eine jugendliche Stellung einnahm, weil sie – ich weiß nicht zu welcher entlegenen Zeit – Mr. Hubble geheirathet hatte, als sie viel jünger gewesen als er. Ich entsinne mich des Mr. Hubble als eines zähen, hochschulterigen, gebeugt gehenden alten Mannes mit einem sägespänigen Dufte und sehr weit gespreizten Beinen: so daß ich in meinen jüngeren Tagen immer einige Meilen offenen Landes zwischen ihnen liegen sah, wenn ich ihm draußen begegnete.
In dieser ehrenwerthen Gesellschaft würde ich mich, selbst wenn ich die Speisekammer nicht geplündert gehabt, in einer falschen Stellung gefühlt haben. Nicht weil ich an einer scharfen Ecke des Tisches eingeklemmt saß, die sich mir in die Brust bohrte, während der Pumblechookische Ellbogen mein Auge traf; nicht weil ich nicht sprechen durfte (mich verlangte gar nicht danach, zu sprechen), noch weil man mich mit den sehnigen Stücken der Keulen von den Kapaunen tractirte, und mit jenen den Fetzen des Schweinefleisches, auf welche das Schwein, da es noch lebte, am wenigsten Ursache hatte, stolz zu sein. Nein; das Alles hätte mich nicht bekümmert, wenn man mich nur hätte in Ruhe lassen wollen. Aber dies war der Gesellschaft unmöglich. Sie schienen die Gelegenheit für eine verlorene anzusehen, falls sie die Unterhaltung nicht auf mich richteten und mich alle Augenblicke die Schärfe derselben fühlen ließen. Ich hätte eben so gut ein unglückseliger kleiner Stier in einer spanischen Arena sein können, so erbarmungslos wurde ich von diesen moralischen Picadores gestachelt.
Es fing an, so wie wir uns nur zu Tische gesetzt hatten. Mr. Wopsle sprach den Segen mit theatralischer Declamation – wie es mir jetzt vorkommt, wie ein religiöses Mittelding zwischen dem Gespenst im Hamlet und Richard dem Dritten – und schloß mit der sehr angenehmen Hoffnung, daß wir »aufrichtig dankbar« sein möchten. Worauf meine Schwester mich mahnend fixirte und mit leiser, vorwurfsvoller Stimme sagte: »Hörst Du's? Dankbar sollst Du sein.«
»Und besonders,« sagte Onkel Pumblechook, »sei dankbar, Junge, Denjenigen, die Dich mit der Hand aufgefüttert haben.«
Frau Hubble schüttelte den Kopf und frug, indem sie mich mit einem kummervollen Vorgefühle betrachtete, daß nichts Gutes aus mir werden könne: »Wie geht es nur zu, daß die Jugend niemals dankbar ist?«
Dieses moralische Geheimniß schien zu tief für die Gesellschaft, bis Mr. Hubble es ganz kurz mit den Worten löste: »Von Natur sündhaft.«
Alle murmelten: »Sehr wahr!« und blickten mich auf besonders unangenehme persönliche Weise an.
Joes Ansehen und Einfluß waren (wo möglich), wenn Gesellschaft da war, noch geringer als gewöhnlich. Aber er tröstete mich stets und stand mir bei, wo er nur konnte, und zwar auf seine eigene Weise, welche bei Tische darin bestand, daß er mir Brühe gab, wenn welche vorhanden war. Da heute reichlich Brühe da war, löffelte Joe hier ungefähr ein halbes Nösel davon auf meinen Teller.
Als das Essen etwas vorgeschritten war, nahm Mr. Wopsle mit einiger Strenge die Predigt durch und deutete, für den wie gewöhnlich vorausgesetzten Fall, wo die Kirche »offen« wäre, darauf hin, welch eine Art von Predigt er gehalten haben würde. Nachdem er die Gesellschaft mit einigen Hauptpunkten aus jener Rede beehrt, bemerkte er, daß er den Gegenstand der heutigen Homilie für schlecht gewählt halte: was um so weniger zu entschuldigen, fügte er hinzu, da es doch in der Welt so viele Gegenstände gebe.
»Wieder wahr,« sagte Onkel Pumblechook. »Sie habens getroffen, Sir! Gegenstände genug giebts in der Welt für Die, welche sie anzugreifen verstehen. Daran liegts bloß. Man braucht gar nicht weit zu gehen, um einen Gegenstand zu finden, wenn man ihn nur anzufassen weiß.« Dann fügte Mr. Pumblechook nach kurzem Nachdenken hinzu: »Nehmt nur einmal Schweinefleisch. Ist das kein Gegenstand? Wenn Ihr einen Gegenstand braucht, da nehmt nur einmal Schweinefleisch!«
»Sehr wahr, Sir. Man könnte aus einem solchen Text manche Lehre für die Jugend ziehen,« sagte Mr. Wopsle; und ich wußte, ehe er es noch aussprach, daß er mich in die Sache hineinziehen würde.
(»Höre wohl zu!« sagte meine Schwester in strenger Parenthese zu mir.)
Joe gab mir noch etwas Brühe.
»Schwein,« fuhr Mr. Wopsle mit seiner tiefsten Stimme fort und indem er mit seiner Gabel auf meine errötheten Wangen deutete, wie wenn er meinen Taufnamen ausgesprochen hätte, »Schwein und Sau begleiteten den verlornen Sohn. Man führt uns die Gefräßigkeit der Schweine als ein abschreckendes Beispiel für die Jugend an.« (Mir schien dies vollständig treffend für Wopsle, der eben erst das Schweinfleisch als fett und saftig belobt hatte.) »Was in einem Schweine zu verabscheuen ist, ist noch viel mehr bei einem Knaben zu verabscheuen.«
»Oder Mädchen,« meinte Mr. Hubble.
»Natürlich, bei einem Mädchen auch, Mr. Hubble,« sagte Mr. Wopsle etwas gereizt, »aber hier ist ja kein Mädchen anwesend.«
»Und überdies,« sagte Mr. Pumblechook sich scharf zu mir wendend, »bedenke, wofür Du dankbar zu sein hast. Wenn Du als Quiekferkel in die Welt gekommen wärest –«
»Das war er, wenn es je eines gegeben hat,« sagte meine Schwester nachdrucksvoll.
Joe gab mir noch etwas Brühe.
»Nun ja, aber ich meine als vierfüßiges Ferkel,« sagte Mr. Pumblechook. »Wenn Du als ein solches geboren worden, wärest Du da jetzt wohl hier? Fällt Dir gar nicht ein –«
»Ausgenommen in jener Gestalt«, sagte Mr. Wopsle, der Schüssel zunickend.
»Aber von der Gestalt spreche ich nicht, Sir,« erwiederte Mr. Pumblechook, dem es unangenehm war, unterbrochen zu werden. »Ich meine, indem er sich mit ältern und besseren Leuten unterhielte und dadurch bildete, und indem er im Schooße des Wohlstandes schwelgte. Hätte er das thun können? Nein, gewiß nicht. Und was wäre wohl Deine Bestimmung gewesen?« fragte er abermals zu mir gewandt. »Man hätte Dich für so und so viel Schillinge, je nach dem Marktpreise des Artikels verkauft, und Dunstable der Fleischer wäre an Dein Strohlager getreten, hätte Dich unter seinen linken Arm gesteckt, und mit dem rechten seinen Rockschooß in die Höhe gehoben, um sein scharfes Messer herauszunehmen, und hätte Dein Blut vergossen und Dir Dein Leben genommen. Da hätte es kein Auffüttern durch die Hand für Dich gegeben. Nicht die Spur!«
Joe bot mir noch etwas Brühe an, die ich mich jedoch anzunehmen fürchtete.
»Er war Ihnen eine ungeheure Mühe, Madam,« sagte Frau Hubble, meine Schwester bemitleidend.
»Mühe? Mühe?« wiederholte meine Schwester. Und dann begann sie einen furchtbaren Katalog von all den Krankheiten, die ich mir hatte zu Schulden kommen lassen, von all den Schlaflosigkeiten die ich begangen, von all den hohen Plätzen, von denen ich herabgefallen, und all den niedrigen, in die ich hineingeplumpst, von all den Verletzungen, die ich mir zugefügt, und von den vielen Malen, wo sie gewünscht hatte, daß ich in meinem Grabe wäre, und ich mich auf das widerspänstigste geweigert, mich dorthin zu verfügen.
Ich denke mir, die Römer müssen einander sehr durch ihre Nasen geärgert haben. Vielleicht wurden sie in Folge derselben die unruhigen Leute, die sie waren. Jedenfalls ärgerte Mr. Wopsles römische Nase mich in dem Grade während der Aufzählung meiner Vergehen, daß ich mich sie zu zwicken sehnte, bis er heulen würde. Aber Alles, was ich bisher erduldet, war wie gar nichts im Vergleiche mit den fürchterlichen Gefühlen, welche mich in der Pause nach meiner Schwester Erzählung ergriffen, in welcher Pause Alle (wie ich mir schmerzlich bewußt war) mich mit Entrüstung und Abscheu angeblickt hatten.
»Indeß,« sagte Mr. Pumblechook, indem er die Gesellschaft geschickt zu dem Thema zurückführte von welchem sie abgeschweift war, »ist Schweinfleisch, wenn gekocht, zu fett, nicht wahr?«
»Nehmen Sie einen kleinen Rum, Onkel,« sagte meine Schwester.
O Himmel, endlich war es gekommen! Er mußte ihn schwach finden, würde dies sagen, und ich war verloren! Ich klammerte mich mit beiden Händen fest unter dem Tischtuche an das Tischbein und erwartete mein Schicksal.
Meine Schwester ging, um den Steinkrug zu holen, brachte denselben mit zurück und schenkte ihm sein Glas daraus voll. Es wollte sonst Niemand Rum trinken. Der Unglückliche spielte mit seinem Glase, nahm es auf, hielt es gegen das Licht, setzte es wieder nieder und verlängerte meine Qual. Inzwischen waren Frau Joe und Joe eifrig beschäftigt, auf dem Tische für Pudding und Pastete Platz zu machen.
Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Indem ich mich fortwährend mit Händen und Füßen fest an das Tischbein klammerte, sah ich den Unglücklichen endlich wieder mit dem Glase zu tändeln anfangen, dann es erheben, lächeln, den Kopf zurücklegen und den Rum hinuntergießen. Augenblicklich hinterher aber griff die Gesellschaft eine unaussprechliche Bestürzung, als er aufsprang, sich mehre Male in einer Art von krampfhaftem Keuchhustentanze rundum drehte und dann aus dem Zimmer stürzte; darauf erblickte man ihn durchs Fenster, wie er heftig umherstampfte, gräßliche Gesichter schnitt und dem Anscheine nach den Verstand verlor.
Ich hielt mich noch immer am Tische fest, während Frau Joe und Joe zu ihm hinauseilten. Ich wußte nicht, wie ich es gemacht, aber ich hegte keinen Zweifel, daß ich ihn auf irgend eine Weise ermordet hatte. In dieser meiner fürchterlichen Lage war es mir eine große Erleichterung, als er zurückgebracht wurde und, indem er sich rund in der Gesellschaft umschaute, als ob sie es sei, die ihm nicht gut bekommen, auf seinen Stuhl sank und mit einem kurzen Schnappen das inhaltschwere Wort »Theer« aussprach.
Ich hatte die Rumflasche aus dem Theerwasserkruge wieder gefüllt. Ich wußte, daß sich Pumblechook bald noch schlechter befinden werde. Der Tisch bewegte sich, als ob ich ein Medium unserer Zeit gewesen wäre, durch die krampfhafte Gewalt meines Griffes.
»Theer!« rief meine Schwester, starr vor Erstaunen; »wie in aller Weit konnte Theer da hinein kommen?«
Onkel Pumblechook jedoch, welcher in diesem Hause eine Allmacht war, wollte das Wort, wollte von dem Gegenstande nichts mehr hören; er winkte gebieterisch mit der Hand, daß man ihn fallen lasse, und bat sich Wachholderbranntwein und heißes Wasser aus. Meine Schwester, die bereits auf eine beunruhigende Weise nachdenklich geworden, hatte sich jetzt mit dem Herbeiholen des Wachholderbranntweins, des heißen Wassers, des Zuckers, der Citronenschale, und dann mit der Mischung des Ganzen zu beschäftigen. Für dieses Mal wenigstens war ich gerettet. Ich hielt noch immer das Tischbein fest, aber jetzt war es mit der Inbrunst der Dankbarkeit.
Allmälig wurde ich ruhig genug, um das Tischbein loszulassen und mich an dem Pudding zu betheiligen. Mr. Pumblechook aß Pudding – Alle aßen Pudding. Der Gang war zu Ende, und Mr. Pumblechook begann unter dem belebenden Einflusse seines Getränkes zu strahlen. Ich fing an zu hoffen, daß ich für diesen Tag glücklich durchkommen werde, als meine Schwester zu Joe sagte:
»Reine Teller, – kalte.«
Ich erfaßte augenblicklich wieder das Tischbein und drückte es an meine Brust, als ob es der Gefährte meiner Jugend und der Freund meines Herzens gewesen wäre. Ich sah voraus, was kommen würde, und fühlte, daß ich dieses Mal in der That verloren sei.
»Sie müssen«, sagte meine Schwester anmuthsvoll zu den Gästen, »Sie müssen zum Schlusse noch von einem herrlichen, köstlichen Geschenke Onkel Pumblechooks kosten.«
So? Laß sie nicht sich der Hoffnung hingeben, es zu kosten!
»Sie müssen wissen«, sagte meine Schwester sich erhebend, »daß es eine Pastete ist; eine gewürzige Schweinfleischpastete.«
Die Gesellschaft murmelte ihren Beifall, und Onkel Pumblechook, der sich bewußt war, sich um seine Mitmenschen verdient gemacht zu haben, sagte, förmlich munter – den Umständen nach:
»Nun, Frau Joe, wir wollen unser Bestes thun; lassen Sie uns einen Schnitt in diese besagte Pastete thun.«
Meine Schwester ging hinaus, um die Pastete zu holen. Ich hörte ihre Schritte sich der Speisekammer nähern. Ich sah Mr. Pumblechook sein Messer balanciren. Ich sah in Mr. Wopsles römischen Nüstern wiedererwachenden Appetit. Ich hörte Mr. Hubble die Bemerkung machen: daß ein Stückchen Pastete ohne Schaden auf jedes mögliche Gericht gepackt werden könne, und ich hörte Joe sagen: »Du sollst auch ein Stück haben, Pip.« Ich bin nie vollkommen sicher gewesen, ob ich nur im Geiste einen lauten Schrei der Angst ausstieß, oder ob derselbe von der ganzen Gesellschaft gehört wurde. Ich fühlte, daß ich es nicht länger ertragen könne und davonlaufen müsse. Ich ließ das Tischbein fahren und rannte fort aus allen Kräften.
Aber ich lief nicht weiter als bis zur Hausthür, denn hier stürzte ich kopfüber in eine Patrouille mit ihren Gewehren: einer der Soldaten hielt mir ein Paar Handschellen entgegen und sagte:
»Hier sind wir ja, aufgepaßt, komm!«
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