Charles Dickens
Dombey und Sohn – Band 2
Charles Dickens

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Dreiundvierzigstes Kapitel.

Nachtwachen

Florence, seitdem längst aus ihrem Traume erwacht, bemerkte mit Wehmut die Entfremdung, die zwischen ihrem Vater und Edith stattfand und mit jedem Tage weiter und bitterer wurde. Der Schatten, der auf ihrem Lieben und Hoffen lag, wurde immer tiefer, und der alte Schmerz, der eine kleine Weile geschlummert hatte, lastete schwerer als je auf ihr.

Es war hart – wie hart, konnte niemand besser wissen als Florence –, die natürliche Zuneigung eines treuen, warmen Herzens in Kummer umwandeln und statt zärtlichen Schutzes und liebevoller Sorgfalt nur Hintansetzung und düstere Zurückweisung finden zu müssen. Wie schwer, in tiefster Seele ihre Gefühle zu tragen und nie das Glück auch nur einer leichten Erwiderung zu empfinden! Aber noch viel schlimmer war es, entweder an ihrem Vater oder an Edith, die ihr beide so teuer waren, zweifeln und an ihre Liebe zu dem einen oder der andern abwechselnd nur mit Scheu denken zu müssen.

Und doch kam es bei Florence allmählich so weit; es war eine Aufgabe, die ihr sogar von der Reinheit ihrer Seele auferlegt wurde und der sie nicht ausweichen konnte. Sie sah, daß ihr Vater gegen Edith ebenso kalt und starrsinnig, so hart und unbeugsam war, wie gegen sie selbst. War es möglich, fragte sie sich mit hervorquellenden Tränen, daß ihre eigene teure Mutter durch solche Behandlung unglücklich geworden – daß der Gram ihren frühen Tod herbeigeführt hatte? Dann dachte sie daran, wie vornehm und stolz sich Edith gegen jedermann benahm, nur gegen sie nicht – mit welcher Geringschätzung sie ihren Vater behandelte –, wie sie sich so fern von ihm hielt, und was sie ihr am Abend ihrer Ankunft im Hause gesagt hatte. In solchen Augenblicken kam es Florence fast als ein Verbrechen vor, daß sie jemand lieben konnte, der ihrem Vater so schroff gegenüberstand, und daß dieser, wenn er es wußte, sie in seinem einsamen Gemach für eine unnatürliche Tochter halten mußte, die zu dem alten, so viel beweinten Fehler, von Geburt an nie die väterliche Liebe gewinnen zu können, auch dieses neue Unrecht hinzufügte. Aber das nächste freundliche Wort, der nächste freundliche Blick von Edith erschütterte diese Gedanken wieder und ließ sie ihr im Lichte schwarzen Undanks erscheinen; denn wer, als die neue Mutter, hatte ihr tief verwundetes, vergehendes Herz aufgerichtet und war ihre beste Trösterin gewesen? So in ihrem edlen Wesen gegen beide hingezogen, ihr Elend fühlend und im steten Zweifel, ob sie ihre Pflicht gegen sie erfülle, legten Florence ihre umfassendere Liebe und Ediths Nähe eine weit schwerere Last auf, als sie getragen hatte, während sie noch ihr Geheimnis ungeteilt in dem traurigen Hause bewahrte und ehe ihre schöne Mama ein Dämmerlicht darauf geworfen hatte.

Ein großes Unglück, das dieses bei weitem überwogen haben würde, blieb Florence erspart. Sie hatte nie die mindeste Ahnung davon, daß Edith durch ihre Liebe zu ihr die Kluft zwischen ihrem Vater nur erweiterte und ihm neuen Grund zur Abneigung gab. Wie schmerzhaft hätte ihr der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit fallen müssen, welche Opfer würde nicht das arme, liebevolle Mädchen zu bringen versucht haben, und der Himmel weiß, wie schnell und sicher unter einer solchen Last ihr stiller Hingang zu jenem höheren Vater gewesen wäre, der die Liebe seiner Kinder nicht verschmäht und schwer geprüfte, gebrochene Herzen nicht zurückweist! Es war gut, daß ein solcher Argwohn nie in ihr auftauchte.

Zwischen Florence und Edith wurde nie ein Wort über diese Dinge gesprochen. Letztere hatte erklärt, daß sie sich hierin nie einigen könnten – daß ein Grabesschweigen darüber herrschen müsse, und Florence fühlte, daß sie recht hatte.

So standen die Dinge, als ihr Vater leidend und kaum der Bewegung fähig nach Hause gebracht wurde; er hatte sich düster in seine eigenen Zimmer zurückgezogen, wo Dienstboten seiner warteten, ohne daß ihm Edith nahe kam, und kein Freund oder Gesellschafter ihm zur Seite stand als Mr. Carker, der gegen Mitternacht das Haus verließ.

»Und was er für eine saubere Gesellschaft ist, Miß Floy«, sagte Susanna Nipper. »O, er ist ein köstliches Stück Ware. Wenn er je ein Zeugnis braucht, so soll er nur nicht zu mir kommen, dies möge er sich gesagt sein lassen.«

»Liebe Susanna, sprich nicht so«, entgegnete Florence.

»O, Ihr könnt gut sagen, ›sprich nicht so‹, Miß Floy«, erwiderte die Nipper in großer Gereiztheit; »aber mit Erlaubnis, wir kommen in der Tat in eine solche Enge, daß es einem alles Blut in Steck- und Nähnadeln umwandelt, die überall mit ihren Spitzen stechen. Mißversteht mich nicht, Miß Floy, ich will nichts gegen Eure Stiefmama sagen, die mich immer behandelt hat, wie man es von einer Lady erwarten darf, obschon sie's etwas hoch nimmt, wenn ich gleich mir nicht anmaßen darf, ihr in dieser Beziehung einen Vorwurf zu machen; aber wenn nun gar solche Mrs. Pipchinsen kommen, die über uns gesetzt sind und an der Tür Eures Papas wie Krokodile auf der Lauer liegen – es ist nur gut, daß sie keine Eier legen –, so hat man allen Grund, außer sich zu geraten!«

»Du weißt, Susanna«, versetzte Florence, »Papa hat eine gute Meinung von Mrs. Pipchin und auch das Recht, seine Haushälterin zu wählen. Laß das also.«

»Gut, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »und wenn Ihr mir dies befehlt, so hoffe ich nichts mehr und nichts weniger, Miß, als daß Mrs. Pipchin wie unreife Stachelbeeren auf mich wirken.«

Susanna war an jenem Abend – es war der, an dem Mr. Dombey nach Haus gebracht worden war – in ihrem Vortrag ungewöhnlich eifrig und nahm gar keine Rücksicht auf die Punktation; denn Florence hatte sie hinuntergeschickt, um nach ihrem Vater zu fragen, und sie war bei dieser Gelegenheit genötigt gewesen, ihren Auftrag an ihre Todfeindin Mrs. Pipchin auszurichten, die, ohne Mr. Dombey davon in Kenntnis zu setzen, eine von Miß Nipper sogenannte schnippische Antwort auf eigene Verantwortlichkeit nahm. Die Jungfer legte dies als eine große Anmaßung von seiten dieser musterhaften Märtyrerin der peruvianischen Minen und für einen Schimpf gegen ihre junge Dame aus, der nicht verziehen werden könne, und insoweit war ihre Aufregung speziell. Aber seit der Hochzeit hatte sie sich in einem Zustande unablässig sich steigernden Argwohns und Mißtrauens befunden, da sie wie die meisten Menschen ihrer Geistesrichtung, die gegen Personen von weit höherer Stellung eine lebhafte und aufrichtige Zuneigung bewahren, sehr eifersüchtig war – eine Eifersucht, die natürlich Edith galt, weil diese ihr altes Reich teilte und zwischen sie und ihre junge Gebieterin getreten war. So sehr es auch Susanna Nipper zu stolzer Freude gereichte, daß Florence aus dem Schauplatz ihrer alten Vernachlässigung an den ihr gebührenden Platz vorrückte und die schöne Gattin ihres Vaters zur Gefährtin und Beschützerin hatte, konnte sie doch nicht ohne Murren und ohne ein unbestimmtes Gefühl von Groll irgendeinen Teil ihres alten Besitzes der schönen Frau überlassen, um so weniger, da sie den Stolz und die Leidenschaftlichkeit in dem Charakter der Dame schnell erfaßt hatte und diese Eigenschaften sehr uneigennützig zu würdigen wußte. Die Heirat hatte sie notwendig etwas in den Hintergrund gedrängt, und sie blickte daher auf die häuslichen Angelegenheiten im allgemeinen mit der unerschütterlichen Überzeugung, daß bei Mrs. Dombey nichts Gutes herauskommen könne, obschon sie bei allen möglichen Gelegenheiten anzukündigen bemüht war, daß sie nichts gegen dieselbe einzuwenden habe.

»Susanna«, bemerkte Florence, die noch in tiefen Gedanken an ihrem Tisch saß, »es ist sehr spät. Ich brauche heute nichts mehr.«

»Ach, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »ich wünsche mir wahrhaftig oft die alten Zeiten zurück, in denen ich mit Euch noch viel länger aufblieb und vor Müdigkeit einschlief, während Ihr noch brillenhell wachtet; aber Ihr habt jetzt eine Stiefmutter, Miß Floy, die Euch Gesellschaft leistet, und ich darf ihr in der Tat dankbar sein für diese Ablösung. Ich habe nicht ein Wort dagegen einzuwenden.«

»Ich werde nie vergessen, wer meine alte Gefährtin war, als ich keine andere hatte, Susanna«, erwiderte Florence sanft.

Dabei schlang sie ihren Arm um den Nacken ihrer dienenden Freundin, zog ihr Gesicht zu sich nieder, küßte sie und wünschte ihr gute Nacht. Dies rührte Miß Nipper dermaßen, daß sie zu schluchzen anfing.

»Ich will jetzt wieder hinuntergehen, meine teure Miß Floy«, sagte Susanna, »und sehen, was Euer Vater macht, denn ich weiß, Ihr grämt Euch um seinetwillen; laßt mich deshalb hinunter, damit ich selbst an seine Tür poche.«

»Nein«, sagte Florence. »Geh zu Bett. Wir werden es ja morgen hören. Ich will morgen selbst nachfragen. Ohne Zweifel ist Mama unten gewesen« – Florence errötete, da sie keiner solchen Hoffnung Raum gab – »oder vielleicht noch dort. Gute Nacht.«

Susanna war in einer zu weichen Stimmung, um über die Wahrscheinlichkeit von Mrs. Dombeys Besuch bei ihrem Gatten ihre eigene Ansicht auszudrücken, und entfernte sich schweigend. Sobald sich Florence allein sah, verbarg sie, wie sie oft in früheren Tagen getan hatte, ihr Antlitz in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Elend dieser häuslichen Zwietracht, die so lang gehegte, jetzt vernichtete Hoffnung – wenn man es anders eine Hoffnung nennen konnte –, je das Herz ihres Vaters zu gewinnen, ihr Zweifeln und Fürchten zwischen beiden, die Hinneigung ihres unschuldigen Herzens zu der neuen Mutter sowohl, als zu ihrem Erzeuger, der herbe Gram darüber, daß alles, was sie so verheißungsvoll vor sich gesehen, ein derartiges Ende nehmen sollte – dies waren die Betrachtungen, die sich in ihrem Geiste drängten und ihre Tränen reichlicher strömen ließen. Mutter und Bruder tot, der Vater kalt gegen sie, Edith schroff und abstoßend gegen ihn, aber doch voll Liebe gegen sie und von ihr geliebt – es schien, als ob ihre Zuneigung nie gedeihen könne, wem sie dieselbe auch zuwenden mochte. Diese vernichtende Vorstellung wurde zwar bald beseitigt; aber die Gedanken, denen sie entsprungen, waren zu zwingend und wahr, als daß sie auch dieser sich hätte entschlagen können. Sie verbrachte eine trostlose Nacht.

In ihrem Nachdenken trat stets das Bild ihres Vaters vor sie hin, der verwundet, in Schmerzen und allein in seinem Zimmer lag, die trägen Stunden in einsamer Qual verbringend, ohne daß ihn diejenigen pflegten, die ihm am nächsten stehen sollten. Der entsetzliche Gedanke, bei dem sie die Hände zusammenschlug, obschon er ihrem Geiste kein neuer war, drängte sich, ihren ganzen Körper erschütternd, ihr auf, er könnte sterben, ohne sie wiederzusehen oder ihren Namen auszusprechen. Zitternd vor Aufregung faßte sie den Entschluß, wieder die Treppe hinunterzuschleichen und sich an seine Tür zu wagen.

Sie horchte zuerst an ihrer eigenen. Im Hause herrschte die tiefste Ruhe, und alle Lichter waren ausgelöscht. Wie lange, lange her ist es, dachte sie, seit jener nächtlichen Wanderung nach seiner Tür. O wie lange – versuchte sie zu denken –, seit sie um Mitternacht in sein Zimmer getreten und er sie nach dem Fuß der Treppe zurückgeführt hatte!

Mit demselben kindlichen Gefühl wie ehedem, mit denselben schüchternen Augen und wallendem Haar schlich Florence, ihrem Vater in ihrer frühen, jungfräulichen Blüte so fremd wie in ihrer Kindheit, lauschend die Treppe hinunter und näherte sich seinem Zimmer. Niemand im Hause rührte sich. Die Tür war angelehnt, um der Luft Zutritt zu lassen, und drinnen alles so still, daß sie das Knistern des Feuers hören und die Pendelschläge der Uhr zählen konnte, die auf dem Kaminsims stand.

Sie blickte hinein. Die Haushälterin saß, von einer Decke umhüllt, in einem Armstuhl vor dem Feuer und schlief. Die Tür zwischen diesem und dem nächsten Zimmer war nicht ganz geschlossen, und ein Schirm stand davor; aber es brannte ein Licht dort, das den Rand seines Bettes erhellte. Alles war so still, daß man schon aus seinem Atem entnehmen konnte, er schlafe. Dies gab ihr den Mut, um den Schirm herumzugehen und in das Gemach hineinzusehen.

Der Anblick seines schlafenden Gesichtes machte sie so betroffen, als habe sie nicht erwartet, es zu sehen. Sie war wie an die Stelle gebannt und hätte bleiben müssen, selbst wenn er erwacht wäre.

Über seine Stirne lief eine Wunde, und man hatte sein Haar benetzt, das jetzt wirr und zusammengeklebt auf dem Kissen lag. Der eine seiner Arme lag, in einen Verband gehüllt, auf der Decke, und der Schlafende sah ungemein blaß aus. Es war jedoch nicht dies, was Florence nach dem ersten raschen Blick und der gewonnenen Überzeugung seines Schlafens an den Boden fesselte. Der feierliche Eindruck, den der Anblick auf sie machte, hatte einen ganz andern Grund.

Sie hatte in ihrem ganzen Leben sein Gesicht nie gesehen, ohne daß – wenigstens war es ihr so vorgekommen – ihre Nähe einen unangenehmen Einfluß auf dasselbe übte. Sie hatte es nie gesehen, ohne daß die Hoffnung in ihr erstarb und ihr Auge sich senkte vor seiner starren, lieblosen, abstoßenden Härte. Und als sie jetzt hinblickte, zeigte es sich ihr zum erstenmal frei von der Wolke, die es seit ihrer Kindheit umdüstert hatte. Statt ihrer lag jetzt stille, ruhige Nacht darauf. Er sah aus, als sei er schlafen gegangen mit einem Segenswunsche über seine Tochter.

Erwache, liebloser Vater! Erwache jetzt, finsterer Mann! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt. Erwache!

Kein Wechsel auf seinem Gesicht! Sie blickte ängstlich hin, und die regungslose Ruhe rief ihr die Gesichter der Heimgegangenen ins Gedächtnis. So sahen sie aus, so mußte er einst aussehen, so sie, sein weinendes Kind, das sich nur nach dem Wann fragte, so die ganze umgebende Welt mit ihrer Liebe, ihrem Haß und ihrer Gleichgültigkeit! Wenn diese Zeit kam, wurde sie ihm vielleicht nicht schwerer um dessenwillen, was sie jetzt zu tun im Begriffe war, ihr aber sicherlich leichter.

Mit verhaltenem Atem schlich sie an sein Bett, beugte sich über ihn und gab seinem Gesicht einen leichten Kuß; dann legte sie ihr Köpfchen für eine kurze Weile an seine Seite und schlang den Arm, mit dem sie ihn nicht zu berühren wagte, um das Kissen, auf dem er ruhte.

Erwache, unseliger Mann, solange sie nahe ist! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt; ihr Fuß ist schon im Hause. Erwache!

In ihrem Geiste betete sie zu Gott, er möchte ihren Vater segnen und ihn, wenn es möglich sei, milder gegen sie stimmen – wo nicht, ihm vergeben, wenn er unrecht tue, und ihr dieses Gebet verzeihen, das ihr fast eine Sünde zu sein schien. Dann blickte sie wieder mit von Tränen geblendeten Augen auf ihn nieder, schlich sich schüchtern zurück, verließ sein Zimmer, ging durch das andere und war verschwunden.

Er kann jetzt fortschlafen. Er mag fortschlafen, solange er Lust hat. O daß er beim Erwachen sich umsehe nach jener schmächtigen Gestalt und sie in seiner Nähe finde, wenn die Stunde gekommen ist!

Traurig und mit gramerfülltem Herzen stieg Florence leisen Schrittes die Treppe hinan. Seit ihrem Herunterkommen war das ruhige Haus noch unheimlicher geworden. Der Schlaf, den sie aber in Mitte der stillen Nacht gesehen, hatte ihr zumal das feierliche Bild von Leben und Tod gezeigt. Ihr eigenes verstohlenes Treiben machte die Nacht geheimnisvoll, schweigsam und bedrückend. Sie war nicht imstande, in ihr Schlafzimmer zu gehen, sondern trat in den Salon, wo der umwölkte Mond durch die Blenden hereinschien, und schaute in die leeren Straßen hinaus.

Der Wind ächzte kläglich. Das Licht der Lampen brannte bleich und zitterte, als ob es friere. Fern am Himmel zeigte sich ein Dämmern von etwas, das nicht ganz Dunkelheit, aber auch nicht Licht zu nennen war, und die ahnungsvolle Nacht schauderte rastlos wie ein Sterbender vor seinem angstvollen Ende. Florence erinnerte sich, wie sie während einer ähnlich frostigen Nacht an einem Krankenlager gewacht hatte, und fühlte wie in einem geheimen, natürlichen Widerwillen dagegen ihren Einfluß. Es war jetzt so gar, so gar unheimlich.

Ihre Mama war in dieser Nacht nicht nach ihrem Zimmer gekommen – dies mit ein Grund, warum sie so lang aufgeblieben. In ihrer Unruhe und in ihrem glühenden Wunsche, jemand in ihrer Nähe zu haben, mit dem sie sprechen konnte, richtete Florence, um den schweren Bann des Düsters und Schweigens zu brechen, ihre Schritte nach dem Zimmer, wo Edith schlief.

Die Tür war innen nicht abgesperrt und wich leicht dem zögernden Druck ihrer Hand. Sie erstaunte sehr, ein hellbrennendes Licht zu finden, noch mehr aber, als sie beim Hineinsehen bemerkte, daß ihre Mama, erst halb entkleidet, noch immer vor der knisternden Asche des entschwindenden Feuers saß. Die Augen derselben waren aufwärts gerichtet, und in ihrem Glanze, in Ediths Gesicht, Gestalt und in den Händen, die die Armlehnen des Stuhls umfaßt hielten, als ob sie aufspringen wollte, erkannte Florence den Ausdruck einer so wilden Aufregung, daß sie davor erschrak.

»Mama«, rief sie; »was ist Euch?«

Edith fuhr zusammen, und in ihrem Gesicht drückte sich ein so eigentümlicher Zug von Furcht aus, daß Florence nur noch erschrockener wurde.

»Mama«, sagte sie, hastig näher tretend; »liebe Mama, was gibt es denn?«

»Ich bin nicht wohl gewesen«, versetzte Edith zitternd und mit demselben befremdlichen Ausdruck ihres Antlitzes. »Ich habe schlimme Träume gehabt, meine Liebe.«

»Und noch gar nicht im Bett gewesen, Mama?« entgegnete Florence.

»Nein«, erwiderte Edith. »Halbwache Träume.«

Ihre Züge wurden allmählich sanfter. Sie ließ Florence herankommen, schlang ihre Arme um sie und sagte in mildem Ton:

»Aber was macht mein Vögelchen hier – was macht mein Vögelchen hier?«

»Ich bin unruhig gewesen, Mama, weil ich Euch heute nacht nicht sah und weil ich nicht wußte, wie es dem Papa geht! Deshalb – –«

Florence hielt inne.

»Ist es schon spät?« fragte Edith, sanft die Locken zurückstreichend, die sich mit ihrem eigenen schwarzen Haar gemengt hatten und auf ihr Gesicht niedergefallen waren.

»Sehr spät. Nahezu Tag.«

»Nahezu Tag?« wiederholte sie erstaunt.

»Liebe Mama, was habt Ihr mit Eurer Hand gemacht?« fragte Florence.

Edith zog sie plötzlich zurück und betrachtete sie einen Augenblick mit dem früheren Ausdruck von Furcht – es lag eine Art scheuen Zurückbebens darin; dann aber entgegnete sie hastig.

»Nichts, nichts. Ein Stoß. Meine Florence!« fügte sie hinzu, und ihre Brust wogte schwer, während sie zugleich in ein leidenschaftliches Weinen ausbrach.

»Mama!« sagte Florence. »Was kann, was soll ich tun, um Euch glücklicher zu machen. Gibt es denn gar nichts?«

»Gar nichts«, lautete die Antwort.

»Wißt Ihr es auch gewiß? Wäre es nicht möglich? Ihr werdet mir gewiß keine Vorwürfe machen«, sagte Florence, »wenn ich jetzt, trotz unserer Übereinkunft, von dem spreche, was meine Gedanken vorzugsweise beschäftigt.«

»Es ist vergeblich«, versetzte sie, »vergeblich. Ich habe dir gesagt, meine Liebe, daß ich von schlimmen Träumen heimgesucht wurde. Nichts kann sie anders machen, oder ihr Kommen hindern.«

»Ich verstehe Euch nicht«, entgegnete Florence, Edith in das aufgeregte Gesicht blickend, das immer düsterer zu werden schien.

»Ich träumte«, fuhr Edith mit gedämpfter Stimme fort, »von einem Stolz, der völlig machtlos ist fürs Gute, aber allmächtig für das Böse – von einem Stolz, der mich viele schimpfliche Jahre gequält und gehetzt hat, immer nur auf sich selbst zurückprallend –, von einem Stolz, der seine Besitzerin mit dem Bewußtsein der tiefsten Demütigung heimsuchte und sie nie unterstützte, dieselbe zu ahnden, ihr auszuweichen, oder zu sagen: ›dies darf nicht geschehen‹ – von einem Stolz, der unter gehöriger Leitung vielleicht zu besseren Dingen geführt haben würde, in seiner falschen, verkehrten Richtung aber wie alles andere, das der gleichen Besitzerin gehört, Selbstverachtung zur Folge hatte und am Ende nur in zugrunde richtender Unerschrockenheit bestand.«

Sie sah Florence nicht an und richtete auch ihre Worte nicht an das Mädchen, sondern sprach weiter, als ob sie allein wäre.

»Ich habe von Gleichgültigkeit und Härte geträumt, die aus dieser Selbstverachtung hervorgingen. O des elenden, unnützen, kläglichen Stolzes, der mit gedankenlosen Schritten sogar an den Altar trat, dem alten bekannten winkenden Finger nachgebend – o Mutter, Mutter! – während er ihn verachtete und ein für allemal lieber sich selbst gehaßt, als sich täglich seinen stets in neuer Gestalt auftretenden Foltern preisgegeben hätte. Trauriges, armes Geschöpf!«

Die Aufregung wurde übermächtig in ihr, und sie warf Florence wieder denselben Blick zu, wie bei ihrem Eintritt.

»Und ich träumte«, sagte sie, »daß er in einem ersten, späten Versuch, ein besseres Ziel zu erringen, niedergetreten wurde von einem schändlichen Fuß, obschon er Widerstand leistete. Es träumte mir, er sei verwundet, bedrängt und mit Hunden gehetzt worden. Aber er stellt sich zur Wehr und will sich nicht ergeben; nein, dies kann er nicht, selbst wenn er wollte; aber er sieht sich gezwungen, den Menschen zu hassen, gegen ihn aufzutreten und ihm Trotz zu bieten.«

Ihre Hand umfaßte den zitternden Arm, den sie in dem ihrigen hielt, fester, und als sie auf das verwunderte, erschreckte Antlitz niederschaute, wurden ihre Züge ruhiger.

»O Florence!« sagte sie, »ich bin heute nacht fast wahnsinnig geworden!«

Ihr stolzes Haupt sank demütig auf den Nacken des Mädchens nieder, und sie weinte abermals.

»Verlaß mich nicht! Bleibe mir nahe! Ich habe keine Hoffnung, als in dir!« Diese Worte wiederholte sie oft und vielmal.

Sie wurde bald wieder ruhiger. Florences Tränen und ihr Wachen zu so später Stunde erfüllte sie mit Mitleid. Da der Tag jetzt dämmerte, nahm Edith das Mädchen in ihre Arme, brachte es, ohne selbst niederzuliegen, auf ihr Bett, nahm daneben ihren Sitz und forderte es zu dem Versuch auf, zu schlafen.

»Denn du bist müde und unglücklich, mein Herz; du bedarfst der Ruhe.«

»Ach, teure Mama, heute nacht bin ich in der Tat unglücklich«, sagte Florence. »Aber auch Ihr seid müde und unglücklich.«

»Nicht, wenn du mir schlafend so nahe liegst, mein Herz.«

Sie küßten einander, und die erschöpfte Florence versank allmählich in einen sanften Schlummer. Aber als sich ihre Augen vor dem Gesicht neben ihr schlossen, kamen ihr so traurige Gedanken über das Gesicht oben, daß ihre Hand Edith nahete, als suche sie Trost bei ihr, obschon sie auch in dieser Gebärde zögerte, als fürchte sie, damit eine Sünde an ihm zu begehen. So versuchte sie in ihrem Schlaf die beiden zu versöhnen und ihnen zu zeigen, daß sie das eine wie das andere liebe; aber es wollte nicht gehen, und ihr wacher Gram bildete einen Teil ihrer Träume.

Edith, die an dem Bett saß, blickte auf die dunkeln Wimpern nieder, die feucht auf den glühenden Wangen lagen. Inniges Mitleid erfüllte ihre Seele, denn sie kannte die Wahrheit. Aber kein Schlaf senkte sich auf ihre Augen. Als der Tag kam, saß sie noch immer wachend da, die kleine Hand in der ihrigen, und wenn sie auf das geängstigte Gesicht niederschaute, flüsterte sie bisweilen: »Bleibe mir nahe, Florence. Ich habe keine Hoffnung, als in dir!«

 


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