Charles Dickens
Dombey und Sohn – Band 2
Charles Dickens

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Neununddreißigstes Kapitel.

Weitere Abenteuer des Schiffskapitäns Edward Cuttle.

Sicheren Fußes und kräftigen Willens hatte die Zeit so sehr vorwärts gedrängt, daß das Jahr, das der alte Instrumentenmacher seinem Freund als Termin für Eröffnung des den Brief begleitenden, versiegelten Pakets anberaumt hatte, nahezu abgelaufen war. Demzufolge begann Kapitän Cuttle Abend für Abend mit den Gefühlen unruhiger Neugierde danach zu sehen.

Wir müssen ihm zur Ehre nachrühmen, daß ihm ebensowenig der Gedanke kam, das Päckchen auch nur eine Stunde vor Ablauf der Frist zu erbrechen, wie es ihm eingefallen sein würde, sich selbst zu öffnen, um die Anatomie seines eigenen Leibes zu studieren. Er holte es nur bei einem gewissen Stadium seiner ersten Abendpfeife heraus, legte es auf den Tisch und blickte in stummem Ernst zwei oder drei Stunden durch den Rauch danach hin, als ob es einen Zauber enthielte. Bisweilen rückte der Kapitän, nachdem es ziemlich lange in solcher Weise vor ihm gelegen hatte, seinen Stuhl allmählich weiter und weiter ab, als wolle er sich der unheimlichen Atmosphäre entziehen, obschon ihm dieses, wenn es auch wirklich seine Absicht war, nie gelang. Denn selbst an der Stubenwand übte das Paket noch immer seine bannende Kraft. Ja das Bild davon folgte sogar seinen Augen, wenn sie gedankenvoll an der Decke hinschweiften, legte sich vor ihm in die Kohlen, wenn sein Blick dem Feuer zugekehrt war, oder nahm das auffallendste Plätzchen in dem Schrank mit weißer Wäsche ein.

Was die »Herzensfreude« betraf, so erlitt die väterliche Zuneigung und Bewunderung des Kapitäns keinen Wechsel, wiewohl es bei der letzten Besprechung mit Mr. Carker zweifelhaft geworden war, ob seine frühere Einmengung zugunsten dieser jungen Dame und seines Knaben Wal'r ganz so günstig ausgefallen sei, wie er damals wirklich glaubte. Mit einem Wort: der Kapitän trug sich mit ernsten Bedenken, ob er durch jenen Schritt nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet habe. Deshalb leistete er denn auch in seiner Reue und Bescheidenheit die beste ihm erdenkliche Sühne dadurch, daß er sich in einer Weise beseitigte, die es ihm unmöglich machte, irgend jemandem nachteilig zu werden, und daß er sich sozusagen selbst als eine gefährliche Person über Bord warf.

Er begrub sich unter den Instrumenten, wagte sich nie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus und brach jeglichen Verkehr mit Florence oder Miß Nipper ab. Sogar von Mr. Perch hatte er sich bei erster Gelegenheit losgesagt, indem er diesem Gentleman trocken erklärte, er danke ihm für seine Gesellschaft, habe sich aber von allen solchen Bekannten losgelöst, da er nicht wisse, ob nicht durch ihn, ohne daß er es beabsichtige, ein Pulvermagazin in die Luft gesprengt werde. In dieser freiwilligen Einsamkeit verbrachte der Kapitän ganze Tage und Wochen, ohne mit jemandem anders ein Wort zu wechseln, als mit Rob, dem Schleifer, den er als ein Muster uneigennütziger Anhänglichkeit und Treue betrachtete. Die einzige Unterhaltung in seiner Abgeschiedenheit bestand darin, daß er abends mit seiner Pfeife im Mund das Päckchen anschaute und dabei an Florence und den armen Walter dachte, bis beide seiner nicht sehr reichen Phantasie als tot erschienen – hingegangen in ewiger Jugend als die schönen, unschuldigen Kinder seiner ersten Erinnerung.

In seinem Grübeln versäumte übrigens der Kapitän die eigene Ausbildung oder die des Schleifers durchaus nicht. Rob mußte ihm in der Regel jeden Abend eine Stunde lang aus einem Buche vorlesen, und da der Kapitän des unbedingten Glaubens lebte, daß alle Bücher wahr seien, so gelangte er auf diese Weise in den Besitz vieler merkwürdiger Kenntnisse. An Sonntagabenden las er vor Schlafengehen stets selbst eine gewisse göttliche Predigt, die vordem auf einem Berge gehalten wurde, und obgleich er gewohnt war, den Teil ohne Buch nach seiner eigenen Art zu zitieren, so las er sie doch augenscheinlich mit einem so ehrerbietigen Eingehen auf ihren himmlischen Geist, als könne er das griechische Original auswendig und als sei er imstande, über jeden Vers eine beliebige Anzahl scharfer theologischer Abhandlungen zu schreiben.

Rob, der Schleifer, dessen Ehrfurcht für die Heilige Schrift unter dem bewundernswürdigen System der Schleiferschule durch beharrliches Zerbeulen seiner intellektuellen Schienbeine an allen Eigennamen sämtlicher Judastämme, durch das eintönige Hersagen von schweren Versen, das ihm meist zur Strafe auferlegt worden, und durch die Sonntags je dreimal vorkommende Schaustellung seiner sechs Jahre alten Person in Lederhosen auf einer sehr hohen und sehr heißen Emporkirche, wo eine große Orgel gleich einer ungemein geschäftigen Biene gegen seinen schläfrigen Kopf summte, zur Entwicklung gekommen war – Rob, der Schleifer, tat, sobald der Kapitän zu lesen aufgehört hatte, als sei er ungemein erbaut, obschon er während der Vorlesung selbst in der Regel gähnte und döste – eine Tatsache, die der gute Kapitän freilich nie bei ihm argwöhnte.

Als Geschäftsmann hielt Kapitän Cuttle auch darauf, daß regelmäßig Buch geführt wurde. Er trug in dasselbe seine Beobachtungen über das Wetter und über den Zug der Frachtwagen und anderer Fuhrwerke ein, die in diesem Stadtteil morgens, und im Laufe des Tages nach Westen, abends aber nach Osten ihre Richtung zu nehmen pflegten. Als einmal in einer Woche zwei oder drei Personen ihn wegen Brillen »angingen« – so lautete nämlich der Eintrag – und, ohne gerade zu kaufen, wieder herzukommen versprachen, so folgerte der Kapitän daraus mit Zuversicht, daß das Geschäft im Zunehmen begriffen sei, und zeichnete auch diese Bemerkung in seinem Tagebuch auf, nachdem er zuerst notiert hatte, der Wind blase ziemlich frisch West bei Nord und habe im Lauf der Nacht umgeschlagen.

Eine der Hauptnöte des Kapitäns war Mr. Toots, der sehr häufig auf Besuch kam und, ohne viel Worte darüber zu verlieren, sich die Idee in den Kopf gesetzt zu haben schien, das kleine Hinterstübchen sei ein ganz herrliches Zimmer, um darin zu kichern. Er saß nämlich oft halbe Stunden da, ohne etwas anderes zu tun und ohne dem Kapitän auch nur im mindesten etwas mehr Vertrauen abzugewinnen. Der Kapitän, der durch seinen letzten Versuch vorsichtig gemacht worden war, konnte nicht mit sich ins reine kommen, ob Mr. Toots wohl in Wirklichkeit das gutmütige Subjekt, das er zu sein schien, oder nicht vielmehr ein durchtriebener, arglistiger und in der Verstellungskunst ausgelernter Heuchler sei. Seine häufigen Anspielungen auf Miß Dombey waren verdächtig; aber der Kapitän fühlte sich doch im geheimen durch Mr. Toots' Zutraulichkeit angezogen und unterließ es daher vorderhand, ein Urteil zu fällen. Dagegen faßte er ihn mit einer Schlauheit, die sich nicht beschreiben läßt, ins Auge, so oft Mr. Toots den Gegenstand, der seinem Herzen so nahe lag, zur Sprache brachte.

»Kapitän Gills«, platzte Mr. Toots seiner Gewohnheit nach eines Tages plötzlich heraus, »glaubt Ihr, daß Euch mein Vorschlag genehm sein könne, und wollt Ihr für mich Eure Beziehungen nutzbar machen?«

»Nun, mein Junge, ich will Euch sagen, wie die Sache liegt«, versetzte der Kapitän, der endlich über sein Handeln zu einem Entschluß gekommen war. »Ich habe mir die Sache überlegt.«

»Kapitän Gills, das ist sehr freundlich von Euch«, entgegnete Mr. Toots. »Ich bin Euch sehr dafür verbunden. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Gills, es würde ein Liebesdienst sein, wenn Ihr mich die Ehre Eurer Beziehungen teilhaftig werden ließet. Gewiß und wahrhaftig.«

»Ja, seht, Bruder«, fuhr der Kapitän langsam fort, »ich kenne Euch nicht.«

»Aber Ihr könnt mich nie kennenlernen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots in eifriger Beharrlichkeit, »wenn Ihr mir nicht das Vergnügen einer näheren Aussprache gönnen wollt.«

Der Kapitän schien ob der Originalität und dem Gewicht dieser Worte betroffen zu sein und sah Mr. Toots an, als denke er, es stecke am Ende doch weit mehr in ihm, als er erwartet hatte.

»Gut gesprochen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän mit gedankenvollem Kopfnicken, »und vollkommen richtig. Schaut aber einmal her. Ihr habt einige Äußerungen fallen lassen, aus denen ich entnehmen muß, daß Ihr ein gewisses holdes Geschöpf bewundert – ist es nicht so?«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ungestüm mit der Hand ausholend, in der er seinen Hut hielt, »Bewunderung ist nicht das rechte Wort. Bei meiner Ehre, Ihr habt gar keine Vorstellung von der Art meiner Gefühle. Wenn ich schwarz gefärbt und zu Miß Dombeys Sklaven gemacht werden könnte, so würde ich es als eine Auszeichnung betrachten. Ja, ich ließe es mich mein ganzes Vermögen kosten, wenn ich damit eine Umwandlung meiner Person in Miß Dombeys Hund zu erkaufen imstande wäre. Ich – ich glaube wahrhaftig, ich würde dann nie aufhören, mit meinem Schwanz zu wedeln. Gewiß, das würde das höchste Glück für mich sein, Kapitän Gills!«

Mr. Toots sprach dies mit feuchten Augen und drückte in tiefer Erregung seinen Hut gegen die Brust.

»Mein Junge«, versetzte der zum Mitleid bewegte Kapitän, »wenn Euch dies Ernst ist –«

»Kapitän Gills«, rief Mr. Toots, »ich bin in einem solchen Gemütszustand, und es ist mir so furchtbar ernst, daß ich es auf einem heißen Stück Eisen, auf einer glühenden Kohle, auf geschmolzenem Blei, auf brennendem Siegelwachs oder auf irgend etwas der Art beschwören wollte. Ja, ich würde mich sogar freuen über die Beschädigung, da sie mir eine Erleichterung brächte für meine Gefühle.«

Und Mr. Toots schaute hastig im Zimmer umher, als suche er irgendein zureichend schmerzliches Peinigungsmittel, um seinen fürchterlichen Vorsatz auszuführen.

Der Kapitän schob seinen Glanzhut auf dem Kopf zurück, strich mit der schweren Hand sein Gesicht, so daß seine Nase noch fleckiger wurde, trat vor Mr. Toots hin, packte ihn mit seinem Haken an dem Aufschlag seines Rocks und redete ihn mit folgenden Worten an, während Mr. Toots in großer Aufmerksamkeit und einiger Verwunderung ihm ins Gesicht schaute.

»Seht Ihr, mein Junge, wenn es Euch ernst ist«, sagte der Kapitän, »so seid Ihr ein Gegenstand der Gnade, und Gnade ist das glänzendste Kleinod in der Krone eines Engländers – lest darüber nach, was im Rule Britannia niedergelegt ist, und habt Ihr's gefunden, so erkennt darin den Freibrief, von dem schon die Engel im Paradies so oft gesungen haben. Haltet bei! Euer Vorschlag kommt mir ein wenig überraschend. Und warum? Weil ich, Ihr begreift dies, nur allein und ohne Kameradschaft in diesen Wassern segle, außerdem mir auch keine wünsche. Nimmermehr! Ihr habt mich zuerst angegangen wegen einer gewissen jungen Dame, in deren Dienst Ihr handeltet. Wenn nun Ihr und ich, wir beide überhaupt Kameradschaft halten sollen, so darf der Name jenes jungen Geschöpfs nie gesprochen oder auch nur angedeutet werden. Ich weiß nicht, was Schlimmes dabei herausgekommen sein mag, weil ich mich in diesem Punkt früher zu frei benahm, und muß deshalb abbrechen. Habe ich mich Euch gehörig klargemacht, Bruder?«

»Ihr werdet mich entschuldigen, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »wenn ich Euch bisweilen nicht ganz folgen kann. Aber auf mein Wort, ich – es ist eine schwere Aufgabe, Kapitän Gills, nicht von Miß Dombey sprechen zu sollen. Es liegt mir so fürchterlich schwer hier« – Mr. Toots berührte jetzt pathetisch mit beiden Händen seinen Busenstreif – »daß es mir Tag und Nacht gerade so vorkommt, als ob jemand auf mir sitze.«

»Das sind die Bedingungen«, sagte der Kapitän, »auf denen ich bestehen muß. Wenn sie Euch schwer vorkommen, Bruder, wie dies vielleicht der Fall sein mag, so schüttelt sie ab, scheert weiter und laßt sie lustig allein laufen.«

»Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, »ich weiß kaum, wie es zuging. Aber nach dem, was Ihr mir bei meinem ersten Besuche sagtet, kommt es mir vor, ich – ich könne in Eurer Gesellschaft weit besser an Miß Dombey denken, als fast mit jedem andern sonst von ihr sprechen. Wenn Ihr mir daher das Vergnügen Eurer Unterhaltung gönnen wollt, Kapitän Gills, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, sie auf Eure eigenen Bedingungen hin anzunehmen. Ich wünsche als ein Ehrenmann zu handeln, Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, indem er seine ausgestreckte Hand für einen Augenblick zurückhielt, »und muß Euch daher sagen, daß ich es nicht vermeiden kann, an Miß Dombey zu denken. In dieser Hinsicht nur ist es mir unmöglich, mich auf eine etwaige Bedingung einzulassen.«

»Mein Junge«, sagte der Kapitän, in dessen Meinung Mr. Toots durch sein aufrichtiges Zugeständnis sehr gestiegen war, »die Gedanken eines Menschen sind wie die Winde, und niemand kann auf die Dauer mit Sicherheit für sie einstehen. Unser Vertrag gilt also dem Sprechen?«

»Ja, dem Sprechen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots. »Ich glaube, mir insoweit Zwang auflegen zu können.«

Mr. Toots gab jetzt Kapitän Cuttle seine Hand darauf und letzterer verlieh ihm mit der Miene huldreicher Herablassung förmlich die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Mr. Toots schien durch diese Erwerbung sehr getröstet und erfreut zu werden; denn er kicherte während der übrigen Dauer seines Besuches mit großem Entzücken. Der Kapitän seinerseits war nicht übel zufrieden, so die Stellung eines Gönners einzunehmen, und lobte sich im geheimen selbst ob seiner Klugheit und Vorsicht.

Trotz des großen Vorrats von diesen eben genannten Eigenschaften blühte übrigens dem Kapitän am nämlichen Abend noch eine Überraschung in keiner geringeren Person, als dem ehrlichen, klugen Schleifer Rob. Dieser unschuldige Jüngling beugte sich, als er am nämlichen Tisch mit seinem Gebieter den Tee einnahm, ganz demütig über seine Tasse, schielte von der Seite nach dem Kapitän hin, der mit großer Schwierigkeit, aber viel Würde durch die Brille seine Zeitung las, und unterbrach endlich das Schweigen mit den Worten:

»O, ich bitte um Verzeihung, Kapitän, aber Ihr werdet wahrscheinlich keine Tauben brauchen, Sir?«

»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän.

»Weil ich die meinigen zu verkaufen wünsche«, sagte Rob.

»So?« entgegnete der Kapitän, die buschigen Augenbrauen ein wenig erhebend.

»Ja; ich will gehen, Kapitän, wenn Ihr nichts dagegen habt«, sagte Rob.

»Gehen? und wohin willst du gehen?« fragte der Kapitän, über die Brillengläser weg nach ihm zurückschauend.

»Wie – wußtet Ihr nicht, daß ich Euch verlassen will, Kapitän?« fragte Rob mit einem besonderen Lächeln.

Der Kapitän legte die Zeitung nieder, nahm seine Brille ab und faßte den Ausreißer fest ins Auge.

»O ja, Kapitän, ich will Euch hiermit aufgesagt haben. Ich glaubte, Ihr hättet dies vielleicht schon zum voraus wissen können«, sagte Rob, die Hände reibend und von seinem Tische aufstehend. »Wenn Ihr so gut sein wolltet, Euch bald anderweitig umzusehen, Kapitän, so würde mir damit ein großer Gefallen geschehen. Ich fürchte freilich, es wird nicht morgen früh schon geschehen können, Kapitän – oder glaubt Ihr?«

»Und du willst also fahnenflüchtig werden, mein Junge?« entgegnete der Kapitän, nachdem er geraume Zeit das Gesicht des Ausreißers gemustert hatte.

»O, es ist sehr hart für einen jungen Menschen, Kapitän«, rief der weichherzige Rob, der in einem Augenblick gekränkt und unwillig werden konnte, »wenn er nicht in rechtmäßiger Weise soll kündigen dürfen, ohne in solcher Weise angeschaut und ein Fahnenflüchtiger genannt zu werden. Ihr habt kein Recht, einem armen Burschen Schimpfnamen zu geben, Kapitän, und weil Ihr der Herr seid und ich nur der Diener bin, so folgt daraus nicht, daß Ihr mich beschimpfen dürft. Was habe ich denn Unrechtes getan? Laßt mich wissen, worin mein Verbrechen besteht, wenn Ihr so gut sein wollt, Kapitän.«

Der beleidigte Schleifer weinte und brachte seinen Ärmelaufschlag vor die Augen.

»Ja, Kapitän, nennt mir mein Verbrechen«, rief der gekränkte Jüngling. »Was bin ich gewesen und was habe ich getan? Habe ich irgend jemandem etwas gestohlen? Habe ich das Haus in Brand gesteckt? Wenn mich ein solcher Vorwurf treffen kann, warum übergebt Ihr mich nicht dem Gericht? Aber wie unrecht ist es nicht und welch schlimmer Lohn für treue Dienstleistung, wenn Ihr einem jungen Menschen, der Euch rechtschaffen gedient hat, seinen guten Ruf antastet, weil er um Euretwillen seinem besseren Fortkommen nicht im Wege stehen mag. Auf diese Weise verdirbt man junge Menschen und treibt sie auf unrechte Wege, In der Tat, ich kann mich nicht genug wundern über Euch, Kapitän.«

Alles das wurde in heulendem, weinerlichem Ton vorgetragen, während der Schleifer zu gleicher Zeit sich rücklings der Tür näherte.

»Du hast also schon eine andere Heuer in Aussicht?« sagte der Kapitän, kein Auge von ihm verwendend.

»Ja, Kapitän – wenn Ihr mich in solcher Weise angeht, so muß ich Euch sagen, daß ich eine andere Heuer in Aussicht habe«, rief Rob, mehr und mehr sich der Türe nähernd; »eine bessere Heuer, als ich hier hatte, und noch dazu eine, wo ich nicht einmal ein gutes Wort von Euch brauche, Kapitän. Dies ist ein Glück für mich, nachdem Ihr mich so in den Staub gezogen habt, weil ich arm und nicht in der Lage bin, um Euretwillen mir selbst im Licht zu stehen, Ja, ich habe eine andere Heuer, und wenn es Euch gleichgültig wäre. Kapitän, so würde ich lieber auf der Stelle gehen, als daß ich mir von Euch Schimpfnamen geben lasse, weil ich arm und nicht in der Lage bin, Euretwegen meinem besseren Fortkommen im Wege zu stehen. Warum macht Ihr mir Vorwürfe wegen meiner Armut und wegen meines Wunsches, mich zu verbessern? Wie könnt Ihr Euch selbst so herabwürdigen?«

»Schau jetzt her, mein Junge«, versetzte der friedliebende Kapitän, »und komm mir nicht mehr mit solchen Worten.«

»Dann müßt Ihr mir auch nicht mehr mit solchen Worten kommen«, erwiderte der gereizte Unschuldige, der immer lauter winselte und sich mehr und mehr rücklings der Ladentür näherte. »Es ist mir lieber, wenn Ihr mich umbringt, als wenn Ihr mir meine Ehre nehmt.«

»Vielleicht«, fuhr der Kapitän fort, »hast du schon etwas von einem Dinge gehört, das man einen Galgenstrick nennt?«

»Ob ich davon gehört habe, Kapitän«, rief der Schleifer höhnisch. »Nein, ich habe es nicht. In meinem Leben hörte ich nie etwas von einem solchen Artikel.«

»Gut«, sagte der Kapitän; »ich bin der Meinung, daß du recht bald mehr davon erfahren wirst, wenn du nicht scharf Auslug hältst. Ich verstehe mich auf deine Signale, mein Junge. Du kannst gehen.«

»O, ich kann sogleich gehen – kann ich, Kapitän?« rief Rob hocherfreut über seinen Erfolg. »Aber wohl gemerkt, ich habe nicht sogleich zu gehen verlangt, Kapitän. Ihr werdet mir doch ein Zeugnis nicht vorenthalten, weil Ihr mich aus freien Stücken fortschickt – und werdet mir nichts von meinem Lohn abrechnen, Kapitän?«

Der Kapitän bereinigte den letzteren Punkt, indem er die Zinnbüchse hervorlangte und dem Schleifer sein Geld voll auf den Tisch hinzählte. Schnüffelnd, schluchzend und schwer verwundet in seinen Gefühlen, nahm Rob die Stücke einzeln auf und band sie abgesondert in verschiedene Knoten seines Taschentuchs. Dann stieg er nach dem Dach hinauf und füllte seinen Hut und seine Tasche mit Tauben. Sobald er wieder heruntergekommen war, machte er unter noch lauterem Schnüffeln und Schluchzen, als werde sein Herz von alten Erinnerungen zerrissen, sein Bündel zusammen, greinte ein »gute Nacht, Kapitän, Kapitän. Ich verlasse Euch ohne Groll!«, gab auf der Türtreppe draußen zum Abschied dem kleinen Midshipman einen Nasenstüber und eilte dann in grinsendem Triumph die Straße hinunter.

Der Kapitän, der jetzt sich selbst überlassen war, nahm seine Zeitung wieder auf, als sei nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes vorgefallen und las mit dem größten Eifer fort. Aber er verstand kein Wort von dem vielen Gelesenen, denn durch das ganze Blatt rannte Rob der Schleifer die eine Spalte hinauf und die andere wieder hinunter.

Es ist zweifelhaft, ob sich der würdige Kapitän früher je so ganz verlassen gefühlt hatte, wie jetzt. Der alte Sol Gills, Walter und die Herzensfreude waren jetzt in der Tat für ihn verloren, und Mr. Carker, der ihn getäuscht hatte, verhöhnte ihn noch außerdem aufs grausamste. Sie alle fanden eine böse Ergänzung in dem falschen Rob, dem er so oft die warmen Empfindungen seines Herzens mitgeteilt, dem er Vertrauen geschenkt und dem er so gerne geglaubt hatte. Rob war für ihn, nachdem er seine alte Schiffsgesellschaft verloren, ein Gefährte gewesen. Ihn zu seiner Rechten hatte er das Kommando des kleinen Midshipman übernommen, und auf die Anhänglichkeit des Jungen bauend, war es ihm in der Güte seines Herzens fast vorgekommen, als seien sie beide schiffbrüchig und nach einem öden Platze verschlagen worden. Jetzt aber hatte derselbe treulose Rob Mißtrauen, Verrat und Gemeinheit in das kleine Stübchen gebracht, das bisher eine Art Heiligtum gewesen, und der Kapitän würde sich nicht gewundert haben, wenn auch dieses versunken wäre oder ihm sonst große Not bereitet hätte.

Deshalb las Kapitän Cuttle die Zeitung mit so tiefer Aufmerksamkeit, ohne etwas zu begreifen. Deshalb sagte er durchaus nichts über Rob zu sich selbst; ja, er gestand sich nicht einmal zu, daß er an ihn dachte, und wollte nicht in der entferntesten Weise anerkennen, daß Rob mit seinen Gefühlen, die mit denen des einsamen Robinson Crusoe zu vergleichen waren, etwas zu schaffen haben.

In der gleichen ruhigen, geschäftsmäßigen Weise ging der Kapitän noch spät nach Leadenhall Market hinüber und traf mit einem daselbst im Dienst aufgestellten Wächter die Übereinkunft, daß er jeden Abend und Morgen komme, um die Läden zu schließen und zu öffnen. Dann begab er sich nach dem Speisehaus, um die eine Hälfte der bisher an den Midshipman gelieferten täglichen Ration, und in das Wirtshaus, um das Bier des Verräters abzubestellen. »Mein junger Mann«, bemerkte der Kapitän gegen die junge Dame in der Schenkstube, »mein junger Mann hat sich verbessert, Miß,« Schließlich nahm er sich vor, von dem Bett unter dem Ladentisch selbst Besitz zu nehmen und, statt droben, als einziger Wächter des Eigentums hier zu schlafen.

Aus diesem Bett erhob sich fortan Kapitän Cuttle täglich und klappte um sechs Uhr morgens mit der trostlosen Miene Crusoes, der seine Toilette mit der Ziegenfellmütze beendigt, seinen Glanzhut auf den Kopf. Zwar hatte sich seine Furcht vor einem Besuch des Wildenstamms Mac Stinger wie bei jenem einsamen Gestrandeten die Besorgnis vor einem Einfall der Kannibalen durch die Zeit, die keine Abzeichen von solcher feindlichen Nähe blicken ließ, abgekühlt. Trotzdem fuhr er aber aus Gewohnheit in seinen Abwehroperationen fort, und es kam nie ein Weiberhut durch die Straße, ohne daß er ihn von seinem sichern Kastell aus gemustert hätte. Inzwischen begann sogar seine eigene Stimme für seine Ohren ein fremder Ton zu werden (Mr. Toots hatte ihm nämlich die briefliche Mitteilung gemacht, daß er sich nicht in London befinde). Auch mußte er bei dem Polieren und Verstauen der Vorräte, bei dem Lesen hinter dem Ladentisch oder beim Hinausschauen zum Fenster so viel denken, daß ihn bisweilen sogar der rote Rand, den der harte Glanzhut auf seiner Stirn zurückließ, im Übermaß seiner Betrachtungen schmerzte.

Das Jahr war nun abgelaufen, und Kapitän Cuttle hielt es für passend, das Päckchen zu öffnen. Aber er hatte stets im Sinne gehabt, dies in der Gegenwart Robs, des Schleifers, der es ihm überbrachte, zu tun, weil er der Ansicht war, die Eröffnung könne nur regelmäßig und seegerecht in der Anwesenheit eines Zeugen geschehen. Daß ihm der letztere abging, versetzte ihn in große Not, und die Kunde über die Rückkehr der vorsichtigen Clara, Kapitän John Bunsby, von einer Küstenfahrt, die er in dem Schiffsanzeiger las, bereitete ihm daher die größte Freude. Der Kapitän zögerte nicht, durch die Post einen Brief an diesen Philosophen abzusenden, in dem er Mr. Bunsby seinen Wohnplatz als ein unverletzliches Geheimnis einschärfte und sich einen baldigen Abendbesuch erbat.

Bunsby, der einer von jenen Weisen war, die nur aus Überzeugung handeln, brauchte einige Tage, bis die Überzeugung in seinem Kopfe haftete, er habe einen derartigen Brief erhalten. Als er sich jedoch endlich mit der Tatsache abgefunden hatte und ihrer Herr geworden war, schickte er seinen Jungen mit der Meldung ab – »Heute abend kommt er.« Der Beauftragte, der die Weisung hatte, diese Worte vorzubringen und dann wieder zu verschwinden, erfüllte seine Sendung wie ein mit Teer besudeltes Gespenst, dem es oblag, der betreffenden Person eine geheimnisvolle Warnung zugehen zu lassen.

Der Kapitän war erfreut über diese Nachricht, sorgte für Pfeifen und Grog und erwartete seinen Gast in dem Hinterstübchen. Um acht Uhr verkündete dem Kapitän ein tiefes Brüllen, als ginge es von einer Schiffsirene aus, und das Klopfen eines Stocks an die Ladentür, daß Bunsby neben Bord lag. Der zottige, verwilderte Ehrenmann mit seinem starren Mahagonigesicht wurde sogleich eingelassen. Wie gewöhnlich schien er für nichts in seiner Nähe ein Auge zu haben, sondern irgend etwas, das in einem ganz andern Weltteil vorging, aufmerksam zu beobachten.

»Bunsby«, sagte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »wie geht es, mein Junge – wie geht es?«

»Kamerad«, versetzte die Stimme in Bunsby, ohne daß der Kommandeur dabei selbst beteiligt zu sein schien, »ganz gut – ganz gut!«

»Bunsby!« sagte der Kapitän mit ununterdrückbarer Huldigung vor dem Genius seines Gefährten, »endlich seid Ihr hier, ein Mann, der eine Ansicht abgeben kann, die glänzender ist, als Diamanten – ja, gebt mir den Boten, den Burschen mit den Teerhosen, der für mich in dem Licht der Diamanten blitzt. Seht deswegen in Stanfells Budget nach, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt in die betreffende Buchseite ein Ohr ein. Habt Ihr doch hier an diesem Platz ein Gutachten abgegeben, das auf den Buchstaben eingetroffen ist.« Der Kapitän glaubte dies aus dem Grunde seines Herzens.

»So?« brummte Bunsby.

»Auf den Buchstaben«, bekräftigte der Kapitän.

»Warum?« brummte Bunsby, jetzt zum erstenmal seinen Freund ansehend. »In welcher Weise? Und wenn so, warum nicht? Darum.«

Mit diesen orakelhaften Worten – sie schienen den Kapitän fast schwindlig zu machen, da sie ihn auf ein so weites Meer von Mutmaßungen setzten – ließ sich der Weise den Lotsenrock ausziehen und begleitete seinen Freund nach dem Hinterstübchen, wo er sogleich nach der Rumflasche griff und sich ein Glas Steifen anfertigte. Dann langte er nach der Pfeife, füllte Tabak ein, zündete sie an und begann zu rauchen.

Kapitän Cuttle, der in allen diesen Stücken dem Beispiel seines Gastes folgte, obschon er das in sich gekehrte unverwüstliche Wesen des Kommandeurs nicht nachzuahmen vermochte, setzte sich in die andere Ecke des Kamins und sah seinen Gefährten mit hoher Achtung an, als erwartete er von diesem eine Ermutigung oder einen Ausdruck der Neugierde, um sodann auf seine eigenen Angelegenheiten übergehen zu können. Doch der Mahagoni-Philosoph schien nur für die Wärme und den Tabak empfänglich zu sein. Erst als er seine Pfeife entfernte, um für das Glas Platz zu machen, warf er mit ungemeiner Grämlichkeit die Bemerkung hin, daß sein Name Jack Bunsby sei. Diese Erklärung bot freilich nur einen geringen Anhalt für ein Gespräch, weshalb der Kapitän seine Aufmerksamkeit durch eine kurze, schmeichelhafte Einleitung zu fesseln suchte und dann die ganze Geschichte von Onkel Sols Verschwinden nebst dem Wechsel, der infolgedessen in seinen eigenen Verhältnissen herbeigeführt wurde, zu berichten. Zum Schluß legte er das Päckchen auf den Tisch.

Nach einer langen Pause nickte Mr. Bunsby mit dem Kopf.

»Soll ich öffnen?« fragte der Kapitän.

Bunsby nickte abermals.

Demgemäß erbrach Kapitän Cuttle das Siegel und öffnete den Umschlag, der zwei zusammengelegte Blätter mit den Überschriften: »Letzter Wille und Testament von Solomon Gills« – »Brief an Ned Cuttle« – enthielt.

Bunsby schien, das Auge auf die Küste von Grönland geheftet, bereit zu sein, den Inhalt anzuhören. Der Kapitän räusperte sich daher und begann den Brief laut zu lesen.

»›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Amerika zu reisen – –‹«

Der Kapitän hielt inne und blickte nach Bunsby hin, der seinerseits die Küste von Grönland nicht aus dem Auge verlor.

– »›und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen, wußte ich wohl, Ihr würdet meine Absicht, wenn ich Euch dieselbe mitteilte, vereiteln oder mich begleiten wollen. Deshalb hielt ich sie vor Euch geheim. Wenn Ihr je diesen Brief lest, Ned, so bin ich wahrscheinlich tot. Ihr werdet dann gerne einem alten Freund seine Torheit vergeben und der Unruhe, mit der er eine so abenteuerliche Reise antrat, Eure Teilnahme nicht versagen. Also nichts mehr davon. Ich habe geringe Hoffnung, daß mein armer Junge je diese Worte lesen oder Eure Augen mit dem Anblick seines offenen Gesichts erfreuen werde.‹ Nein, nein; er tut es nicht«, fügte Kapitän Cuttle in bekümmertem Nachdenken bei: »er tut es nie mehr. Dort liegt er, schon so lange Zeit –«

Mr. Bunsby, der ein musikalisches Ohr hatte, brüllte plötzlich: »in der Bay von Biscay, o!« und dies griff als ein geeigneter Tribut für den Wert des Hingeschiedenen den guten Kapitän so an, daß er seinem Gefährten dankbar die Hand drückte und die Augen wischen mußte.

»Ach ja«, sagte der Kapitän mit einem Seufzer, nachdem Bunsbys Gebrüll an dem Hochlichtfenster verhallt war. »Er hat lange sein schweres Leid mit sich herumgetragen. Wir wollen übrigens nachsehen, was wir weiter darüber finden.«

»Die Doktores haben da wohl nicht viel geholfen«, bemerkte Bunsby.

»Freilich nicht«, sagte der Kapitän. »Was könnten auch diese nützen in zwei- oder dreihundert Faden Wassertiefe.« Dann nahm er den Brief wieder auf und las weiter: »›Wenn er aber bei Eröffnung dieses Schreibens anwesend sein‹«, der Kapitän blickte unwillkürlich umher und schüttelte den Kopf, »›oder sonst zu irgendeiner Zeit davon erfahren sollte –‹« abermaliges Kopfschütteln von seiten des Kapitäns – »›so erteile ich ihm hiermit meinen Segen! Im Fall das beiliegende Papier nicht gesetzlich abgefaßt ist, so liegt nicht viel daran, denn es ist außer Euch und ihm keine beteiligte Person vorhanden, und mein Wunsch besteht einfach darin, daß die geringe Habe, die noch vorhanden ist, wenn er noch lebt – was ich leider nicht zu hoffen wage – auf ihn, andernfalls aber auf Euch komme, Ned. Ich weiß, Ihr werdet meinen Willen achten. Gott segne Euch dafür, wie auch für die viele Freundschaft, die Ihr erwiesen habt Eurem Solomon Gills‹. Bunsby!« fügte der Kapitän mit einer feierlichen Berufung an seinen Gefährten bei, »was denkt Ihr davon? Ihr seid ein Mann, der sich von Kindheit auf stets den Kopf zerbrochen und bei jedem Schädelbruch eine neue Erfahrung hineingekriegt hat. Was denkt Ihr jetzt davon?«

»Wenn er wirklich tot ist«, entgegnete Bunsby mit erstaunlicher Schnelligkeit, »so bin ich der Meinung, daß er nicht wieder zurückkommen wird; lebt er aber noch, so kriegt Ihr ihn ohne Zweifel wieder zu sehen. Sage ich dies für gewiß? Nein. Warum nicht? Weil die Erfahrung das erst bestätigen muß.«

»Bunsby!« sagte Kapitän Cuttle, der den Wert der Ansichten seines ausgezeichneten Freundes nach der Schwierigkeit ihres Verständnisses zu ermessen schien, in tiefster Bewunderung, »Ihr tragt mit Leichtigkeit eine Last Geist, die einen Mann von meinem Tonnengehalt versenken würde. Aber was das Testament betrifft, so bin ich nicht willens, wegen der Besitznahme des Eigentums Schritte zu tun. Gott verhüte dies! Ich werde es nur aufbewahren, bis sich rechtmäßigere Ansprüche dartun, und hoffe noch immer, daß der alte Sol Gills am Leben ist und zurückkommen wird. So seltsam es auch erscheinen mag, daß keine Nachrichten von ihm eingelaufen sind. Was haltet Ihr davon, Bunsby, wenn wir diese Papiere da wieder wegstauten und auf der Außenseite bemerkten, daß sie an dem und dem Tag in Gegenwart von John Bunsby und Ed'ard Cuttle geöffnet worden seien?«

Da Bunsby weder an der Küste von Grönland noch sonstwo irgendeinen Grund zu Einwendungen gegen diesen Vorschlag bemerkte, so wurde die Sache ausgeführt. Der große Mann wandte sein Auge für einen Moment der Gegenwart zu und brachte die Unterschrift auf den Umschlag, wobei er sich mit charakteristischer Bescheidenheit jeglichen Gebrauchs von großen Buchstaben enthielt. Nachdem Kapitän Cuttle gleichfalls mit seiner linken Hand unterzeichnet und das Paket in die eiserne Truhe eingeschlossen hatte, bat er seinen Gast, sich noch ein Glas und eine Pfeife zu füllen, ging ihm mit gutem Beispiel voran und versenkte sich dann beim Anblick des Feuers in eine Reihe von Betrachtungen über das mögliche Schicksal des armen alten Instrumentenmachers.

Aber jetzt kam eine Überraschung, die auf Kapitän Cuttle so erschreckend und überwältigend wirkte, daß ohne Bunsbys Anwesenheit notwendig eine Niederlage hätte erfolgen müssen und er von Stund' an ein verlorener Mann gewesen wäre.

Wie sich der Kapitän sogar in seiner Freude über einen solchen Gast die Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen konnte, die Tür nur zuzudrücken und nicht abzusperren, das ist eine von jenen Fragen, die wir für immer der Vermutung oder den unbestimmten Anschuldigungen des Schicksals überlassen müssen. Genug, daß in jenem ruhigen Augenblick durch die unverschlossene Tür Mrs. Mac Stinger in die Stube hereinwehte. Sie trug in ihren mütterlichen Armen den jugendlichen Alexander Mac Stinger, und in ihrem Gefolge waren Verwirrung und Rache, nicht zu gedenken der Miß Juliana Mac Stinger und ihres Bruders Charles Mac Stinger, der auf den Tummelplätzen seiner jugendlichen Spiele nur unter dem Namen Kuhley bekannt war. Ihr Eintritt war so schnell und geräuschlos wie das Rauschen des Windes in der Nähe der Ostindiendocks gewesen, und Kapitän Cuttle hatte sie kaum zu Gesicht bekommen als sein ruhiges gedankenvolles Gesicht plötzlich den Ausdruck des Schreckens und Entsetzens annahm.

Sobald er jedoch die volle Ausdehnung seines Mißgeschicks begriff, bewog ihn die Pflicht der Selbsterhaltung zu einem schleunigen Fluchtversuch. Er eilte nach der kleinen Tür hin, die von dem Stübchen aus nach der steilen Kellertreppe führte, und wollte diese kopfüber hinuntereilen, wie ein Mann, der, gleichgültig gegen Beulen und Quetschungen, es nur darauf abgesehen hat, sich in den Eingeweiden der Erde zu verbergen. Diese mutige Anstrengung wäre ihm auch wahrscheinlich gelungen, wenn ihn nicht die liebevollen Wesen Juliana und Kuhley, von denen jedes ihn an einem Bein hielt, mit kläglichem Geschrei als ihren Freund zurückgerufen hätten. Mittlerweile verrichtete Mrs. Mac Stinger, die sich nie auf eine wichtige Handlung einließ, ohne zuvor Alexander Mac Stinger umzukehren, eine scharfe Batterie von Klopsen gegen ihn spielen zu lassen und ihn dann zur Abkühlung auf den Boden zu setzen, wie ihn der Leser zum ersten Male erblickt hat – diese feierliche Zeremonie, als ob sie ihn bei gegenwärtigem Anlaß den Furien opfern wollte. Dann wandte sie sich mit voller Entschlossenheit auf den Kapitän zu, die den sich ins Mittel legenden Bunsby mit der Schärfe der Nägel zu bedrohen schien.

Illustration

Das Geschrei der beiden älteren Mac Stinger und das Gewinsel des jungen Alexander, der sozusagen eine schreckliche Kindheit verleben mußte, sintemal er während der Hälfte dieser schönen Daseinsperiode in seinem Gesicht alle Farben des Regenbogens zeigte, trug dazu bei, diese Heimsuchung um so furchtbarer zu machen. Der Schrecken hatte seinen Höhepunkt erreicht, als wieder Stillschweigen herrschte und der Kapitän mit großen Schweißtropfen auf der Stirn mit demütiger Miene Mrs. Mac Stinger gegenüber stand.

»O, Kapt'n Cuttle, Kapt'n Cuttle«, rief Mrs. Mac Stinger, ihr Kinn in eine starre Haltung bringend und im Einklang mit dieser das schüttelnd, was man, wenn die Schwäche ihres Geschlechtes nicht wäre, ihre Faust nennen könnte, »O, Kapt'n Cuttle, Kapt'n Cuttle, wagt Ihr es, mir noch ins Gesicht zu sehen, ohne in die Erde zu versinken?

Der Kapitän, der nichts weniger als waghalsig aussah, murmelte leise vor sich hin:

»Halt bei!«

»O, was war ich für eine schwache vertrauensvolle Törin, als ich Euch unter mein Dach aufnahm, Kapitän Cuttle!« fuhr Mrs. Mac Stinger fort. »Schon der Gedanke an die Wohltaten, mit welchen ich diesen Mann überhäufte, und an die Art, wie ich meine Kinder erzog, daß sie ihn liebten und ehrten, als ob er ihr Vater wäre, während es keinen Hauswirt und keinen Mieter in unserer Straße gibt, der nicht wüßte, daß ich durch diesen Mann und sein Gegurgel und Gewurgel« – das letztere Wort brauchte Mrs. Mac Stinger mehr zur Verstärkung und der Lautmalerei halber, als um irgendeine Idee damit auszudrücken – »mein Geld verlor. Sie rufen jetzt alle samt und sonders pfui über ihn aus, weil er eine fleißige Frau verlassen hat, die früh und spät tätig ist für das Beste ihrer jungen Familie und ihr bescheidenes Haus so reinlich hält, daß jeder sein Mittagessen und, wenn er Lust hätte, auch seinen Tee auf jedem Stubenboden und jeder Treppe einnehmen könnte, trotz all seines Gegurgels und Gewurgels: denn so viel Sorge und Mühe habe ich mir um seinetwillen gemacht!«

Mrs. Mac Stinger hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Gesicht glühte triumphierend ob dieser zweiten glücklichen Anführung von Kapitän Cuttles Gewurgel.

»Und er geht fo–o–o–rt!« rief Mrs. Mac Stinger, die letzte Silbe in einer Weise dehnend, daß der unglückliche Kapitän sich als den gemeinsten aller Menschen betrachten mußte, »und bleibt zwölf Monate aus! Ist das ein Gewissen? Er hat nicht den Mut, mir keck entgegenzutreten, sondern schleicht sich weg, wie ein Di–i–eb« – wieder lange Silbe. »Wenn mein Bübchen da«, fügte Mrs. Mac Stinger mit plötzlicher Hast bei, »es versuchen wollte, sich so fortzustehlen, so würde ich meine Mutterpflicht an ihm erfüllen, bis es über und über mit Schwielen bedeckt wäre.«

Der junge Alexander, der diese Worte als eine bestimmte Zusage deutete, die bald in Erfüllung gehen würde, überpurzelte sich vor Furcht und Schrecken, so daß er seine Schuhsohlen in die Höhe streckte, und begleitete diese Bewegung mit einem so betäubenden Geschrei, daß es Mrs. Mac Stinger nötig fand, ihn auf ihre Arme zu nehmen, wo sie ihn, so oft er wieder losbrach, durch ein Schütteln beruhigte, das alle seine Milchzähne zum Wackeln bringen konnte.

»Ja, ein sauberer Mann, dieser Kapt'n Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger mit einem scharfen Nachdruck auf der ersten Silbe seines Namens, »und es war wohl der Mühe wert, daß man sich um ihn kümmerte, um seinetwillen den Schlaf verlor, für ihn sich abzehrte, ihn sogar für tot hielt und wie toll die ganze Stadt auf- und abrannte, um nach ihm zu fragen! O, ein sauberer Mann! Ha, ha, ha, ha! Er verdient all diesen Schmerz und dieses Herzeleid, ja, noch viel mehr. Gott behüte, dies ist noch nichts! Ha, ha, ha, ha! – Kapt'n Cuttle«, fügte Mrs. Mac Stinger mit großer Strenge in Ton und Wesen bei, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr wieder nach Hause kommen wollt.«

Der erschreckte Kapitän schaute in seinen Hut hinein, als sehe er keine andere Möglichkeit, als ihn aufzusetzen und sich gefangen zu geben.

»Kapt'n Cuttle«, wiederholte Mrs. Mac Stinger in der gleichen entschiedenen Weise, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr nach Hause kommen wollt, Sir!«

Der Kapitän schien vollkommen bereitwillig zu sein, mitzugehen, murmelte aber einige Worte des Inhalts hin, daß sie keinen solchen Lärm darüber aufschlagen solle.

»Ja, ja«, legte sich Bunsby mit beschwichtigendem Ton ins Mittel. »Halt Frieden, mein Mädel, halt Frieden!«

»Und wer mögt Ihr sein, wenn ich fragen darf«, versetzte Mrs. Mac Stinger mit züchtigem Stolz. »Habt Ihr je in Nummer neun Brig-Place gewohnt, Sir? Mein Gedächtnis ist vielleicht schlecht, aber ich denke, bei mir wohntet Ihr nicht. Vor mir gehörte das Haus Nummer neun einer Mrs. Jollson, und vielleicht seht Ihr mich irrtümlicherweise für diese an. Nur in solcher Weise kann ich mir Eure Vertraulichkeit erklären, Sir.«

»Komm, laß das, mein Mädel – halt Frieden!« sagte Bunsby.

Kapitän Cuttle konnte es sogar von diesem großen Mann kaum glauben, obschon er es mit weit offenen Augen geschehen sah; aber Bunsby trat keck auf Mrs. Mac Stinger zu, schlang seinen rauhen blauen Arm um sie und begütigte sie durch die magische Art, wie er dies tat, und durch jene paar Worte – er sagte nichts weiter – so sehr, daß sie, nachdem sie ihn einige Augenblicke angesehen hatte, in Tränen zerschmolz. Ihr Mut war dahin, und ein Kind hätte sie jetzt besiegen können.

Vor Erstaunen sprachlos, sah der Kapitän zu, wie Mr. Bunsby diese unerbittliche Frau allgemach in den Laden hinaus expedierte, dann zurückkehrte, um Grog und ein Licht zu holen, beides ihr brachte und sie in solcher Weise begütigte, ohne daß er hierzu nur ein Wort zu brauchen schien. Dann kam er wieder in seinem Lotsenrocke herein und bemerkte: »Cuttle, ich bin im Begriffe, die alte Fracht heimzulotsen.«

Der Kapitän hätte nicht überraschter sein können, wenn man ihn selbst zum sicheren Transport nach Brig-Place in Fesseln gelegt hätte, als jetzt, da er die Familie mit Mrs. Mac Stinger an der Spitze friedlich abziehen sah. Er hatte kaum Zeit, seine Zinnbüchse herunterzunehmen und verstohlenerweise Juliana Mac Stinger, seinem vormaligen Liebling, und Kuhley, der um seines seemännischen Körperbaus willen natürliche Ansprüche an ihn hatte, einige Geldstücke in die Hand zu drücken, als der Midshipman schon von allen verlassen war und Bunsby als der Nachtrab des Häufleins die Tür hinter sich zudrückte, nachdem er zuvor dem Kapitän zugeflüstert, er wolle es schon recht machen und Ned Cuttle wieder aufsuchen, ehe er an Bord gehe.

Als der Kapitän wieder nach dem kleinen Stübchen zurückkehrte und sich daselbst allein fand, gab er anfangs der unruhigen Vorstellung Raum, er müsse wohl im Schlaf gewandelt oder mit Gespenstern und nicht mit einer Familie von Fleisch und Blut verkehrt haben. Dann folgte ein grenzenloses Vertrauen zu dem Kommandeur der vorsichtigen Clara, und die Bewunderung dieses großen Genius versetzte den Kapitän eigentlich in ein verzücktes Träumen. Gleichwohl begannen in dem Kapitän unruhige Bedenken anderer Art aufzutauchen, als die Zeit fortschritt, ohne daß Bunsby wieder erschien. War dieser wohl arglistig nach Brig-Place verlockt und daselbst als Geisel für seinen Freund in sichere Verwahrung genommen worden? In diesem Fall wurde es für den Kapitän Ehrensache, ihn durch Aufopferung seiner eigenen Freiheit zu erlösen. Hatte Mrs. Mac Stinger einen Angriff auf ihn gemacht, ihn geschlagen, und wollte er aus Scham über seine Niederlage sich nicht zeigen? War Mrs. Mac Stinger in der Wandelbarkeit ihrer Gemütsart auf andere Gedanken gekommen und vielleicht umgekehrt, um den Midshipman abermals zu erobern, während Bunsby unter dem Vorwande, sie einen kürzeren Weg zu führen, sich alle Mühe gab, die Familie in den abenteuerlichen wilden Plätzen der City so zu verwirren, daß sie nicht mehr wußte, wohin sie sich wenden sollte? Vor allem aber, was sollte Kapitän Cuttle tun für den Fall, daß er weder von den Mac Stingers, noch von Bunsby wieder etwas hörte? Denn unter einer so wundervollen und unvorhergesehenen Verkettung der Ereignisse ließ sich eine derartige Möglichkeit wohl denken.

Er ging mit sich zu Rate, bis er müde war; aber noch immer erschien kein Bunsby. Er hielt sein Bett unter dem Ladentisch bereit, damit er sich nur hineinzubugsieren brauchte; aber noch immer kein Bunsby. Nachdem ihn endlich der Kapitän für diesen Abend wenigstens schon aufgegeben und seine Kleider abzulegen angefangen hatte, ließ sich das Rasseln eines Wagens, der an der Tür haltmachte, und unmittelbar darauf Bunsbys Ruf vernehmen.

Der Kapitän zitterte bei dem Gedanken, er könnte die Mrs. Mac Stinger nicht losgeworden sein und sie in der Kutsche wieder mitgebracht haben.

Aber nein. Bunsby hatte keine andere Begleitung, als einen großen Koffer, den er mit eigenen Händen in den Laden hineinschaffte, wo er ihn niedersetzte, um darauf Platz zu nehmen. Kapitän Cuttle erkannte darin sogleich sein in Mrs. Mac Stingers Haus zurückgelassenes Eigentum und betrachtete jetzt, das Licht in der Hand, seinen Freund um so aufmerksamer, da er meinte, der späte Ankömmling müsse wohl schief geladen oder mit andern Worten betrunken sein. Es war jedoch schwer, hierüber ins klare zu kommen, da das Gesicht des Kommandeurs auch im nüchternen Zustand durchaus keinen Ausdruck zeigte.

»Cuttle«, sagte der Kommandeur, von dem Koffer aufstehend und den Deckel öffnend, »ist das Euer Zeug?«

Kapitän Cuttle sah hinein und überzeugte sich, daß es seine Habe war.

»Nicht wahr, Kamerad, das ist hübsch knapp und takelfest abgelaufen?« bemerkte Bunsby.

Der von Dank erfüllte Kapitän reichte ihm in seiner Verwirrung die Hand und wollte eben seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, als Bunsby sich durch einen Ruck seines Handgelenks wieder losriß und den Versuch machte, mit seinem beweglichen Auge zu blinzeln, obschon in seinem Zustand diese Anstrengung ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Dann öffnete er plötzlich die Tür und schoß weiter, um mit aller Eile nach der vorsichtigen Clara zurückzukehren – wenigstens war das stets seine Gewohnheit, sooft er etwas Rechtes ausgeführt zu haben meinte. Da Bunsby kein Freund von vielem Zuspruch war, so verzichtete Kapitän Cuttle darauf, am andern Tag zu ihm zu gehen oder nach ihm zu schicken, indem er sich vornahm, eine Weile abzuwarten, ob der Kommandeur nicht selbst etwas von sich hören lassen wolle. Er begann daher am nächsten Morgen wieder seine einsame Lebensweise und machte sich Tag um Tag Gedanken über Sol Gills, über Bunsbys Gutachten und über die Hoffnungen, die er um die Rückkehr des alten Mannes hegte. Letztere steigerten sich, je mehr der Kapitän sich mit ihnen trug, und er ging darin sogar so weit, daß er – wie er jetzt in seiner unerwarteten Freiheit wohl tun durfte – vor der Tür nach dem Instrumentenmacher auslugte, den Stuhl für ihn an seinen Platz stellte und das kleine Stübchen in die alte Ordnung brachte, für den Fall sein Freund unerwarteterweise in der Heimat anlangte. In weiser Vorsorge nahm er auch ein kleines Miniaturbild, das Walter als Schulknaben vorstellte, von seinem Nagel herunter, damit es nicht auf den zurückgekehrten Greis eine allzu erschütternde Wirkung übe. Bisweilen hatte der Kapitän sogar Ahnungen, daß er an diesem und jenem Tag ankommen müsse, und namentlich an einem Sonntag glaubte er seiner Sache so gewiß zu sein, daß er eine doppelte Portion Mittagessen bringen ließ. Aber der alte Solomon erschien nicht, und die Nachbarn bemerkten, daß der Seefahrer in dem Glanzhut den ganzen Nachmittag vor der Ladentür stand, wo er ohne Unterlaß die Straße aufwärts und abwärts schaute.

 


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