Paula Dehmel
Das grüne Haus
Paula Dehmel

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Sonnenkind

Kinder! Ihr müßt mich nicht gar zu sehr um neue Geschichten quälen! Seht mal, mein Geschichtenbäumchen, das hinten im Garten steht, ihr kennt es ja, das Nußbäumchen, wird ja unwirsch, wenn ich zu oft komme. Und das darf ich nicht böse machen, um Himmelswillen nicht! Denn wenn so ein Geschichtenbäumchen böse wird, kann es schlimm krank werden. Dann läßt es seine blanken Blätter hängen, und all die blauen Schmetterlinge und die roten und gelben Vögelchen, die es sonst besuchen kommen, fliegen erschrocken weg; bloß Spinnen und Raupen klettern an ihm herum. Da könnt ihr euch denken, daß die Geschichten und Märchen, die man herunterschüttelt, auch häßlich werden, so häßlich, das man sie gar nicht weiter erzählen mag. Darum also, ihr großen und kleinen Plappermäulchen, wartet, bis ich von selber mit dem »es war einmal« anfange; dann sind die Kirschen reif und frisch vom Baum, und schmecken gut. Aber, damit ihr heut nicht ganz leer ausgeht, will ich euch erzählen, wie ich zu dem schönen Bäumchen gekommen bin, und warum ich es so sehr lieb habe.

Mein Bruder Karl war zehn Jahre alt geworden und nach der Stadt aufs Gymnasium gekommen. Ich war nun ganz allein in unserm stillen Pfarrhause. Mein Brüderchen, dem ich so gut war, und mit dem man so schön spielen konnte, war fort. Ich lief wie verloren umher. Kein Spielzeug mochte ich anfassen; selbst mit Wächter, unserm großen Hunde, verstand ich mich nicht mehr. Meine Eltern sahen das ein paar Tage mit an, sagten nichts dazu und taten mir alles zuliebe. Als es aber nach einer Woche noch ebenso ging, nahm mich mein Vater vor, sagte, ich wäre schon ein großes Mädchen und dürfte mich nicht so gehn lassen. Ich sollte fleißig lesen und lernen, daß ich nicht dümmer bliebe als der Karl; und damit er sich recht freue, wenn er in den Ferien nach Hause käme, sollte ich ihm eine schöne Tasche für seine Kämme und Bürsten sticken, die das gute Mutterle schon für mich besorgt hätte.

Erst stand ich wie aus Holz und kriegte kein Wort heraus, mir saß etwas Dickes in der Kehle, dann fing ich laut an zu schluchzen, machte kehrt, lief meinem Vater weg, weg aus dem Hause, die Dorfstraße entlang, immer weiter, bis ich mitten im Felde war. Da stand die große Blutbuche auf dem schmalen Wege und leuchtete wie Feuer, da gab es keine Menschen, da wuchsen nur die blauen Kornblumen und die bunten Wicken, da konnte ich mich nach Herzenslust auf die Erde werfen und böse sein. Denn das war ich. Ich wollte Karl keine Tasche sticken; ich wollte nicht artig zu meinem Vater sein; ich wollte überhaupt nichts, gar nichts, bloß in der Sonne liegen und sehr weinen.

Die Sonne aber schien recht heiß, und ich muß wohl bald eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, stand ein schöner schlanker Junge vor mir; der hatte einen Büschel Nußblätter in der Hand und hielt sie zwischen mich und die Sonne. Ich sprang auf und machte große Augen. »Wer bist du? Wo kommst du her?« Er guckte mich freundlich an: »Ich bin Sonnenkind, ich weiß, daß du niemand zum Spielen hast; darum bin ich gekommen, ich will heut mit dir spielen. Paß mal auf!« Und er bewegte die Nußblätter, als ob er in den Himmel winke. Da kamen von allen Seiten große Schmetterlinge angeflogen, blaue, gelbe und rote und setzten sich auf die Blutbuche. Sonnenkind sang:

Sonnenvögelchen tanzen den Reigen
über den Zweigen,
über dem Korn.

Da flatterten die Schmetterlinge in die Luft, ordneten sich in Reihen, je nach ihrer Farbe, flogen übereinander, umeinander, durcheinander, je nachdem Sonnenkind die Nußblätter bewegte, bildeten Kreise und Sterne, klappten im Takt die Flügel auf und zu, und lösten sich zuletzt in einen großen flimmernden Kreis auf, der uns umtanzte. Ihr könnt euch gar nicht denken, wie herrlich das war! Sonnenkind aber winkte wieder mit den Zweigen; da senkten die Schmetterlinge wie zum Gruß ihre Fühlerchen und flogen weithin über das Feld.

Sonnenkind aber streckte die Nußzweige wieder aus und sang:

Ihr Elfenseelchen,
ihr Sonnenstrählchen,
kommt, ich will mit euch spielen!

Da fielen wohl hundert kleiner goldner Strahlen auf die Nußblätter; Sonnenkind ordnete sie und spielte mit ihnen Fangball. Er warf sie so seltsam geschickt in die Höhe und nach den Seiten, daß es wie lauter Blitze um uns zuckte, und daß ich vor Helligkeit gar nichts daneben erkennen konnte. Endlich hatte er alle in der Hand und fing an, mit den goldnen Dingern zu bauen. Wunderliche Türme wuchsen hoch, Brücken, unter denen das Wasser glänzte, goldne Gärten mit Springbrunnen und glühenden Blumen. Ich war wie verzaubert, faßte Sonnenkind um den Hals und küßte ihn. Er aber warf die Sonnenstrahlen wieder in die Luft, wo sie wie Sprühregen zergingen.

»Warte, nun wollen wir Greifen spielen«, sagte er und gab mir eins der großen Nußblätter. Da war mir, als hätte ich keine Füße; ich lief über die Ähren, ohne sie zu treten, ich konnte auf die Bäume, ohne zu klettern, und jauchzend versuchte ich Sonnenkind zu fangen; der aber war schneller als ich; immer, wenn ich dachte, ich hätte ihn, war er wieder weg und lachte mich mit seinen blauen Augen auffordernd an. Endlich, ich glaube, er hat sich mit Willen kriegen lassen, hielt ich ihn fest. Atemlos und lachend setzten wir uns auf einen Stein, legten die Hände um unsre Schultern und ruhten uns aus. Um uns blühten Kornblumen und wilder Mohn; ich machte einen Kranz für Sonnenkind und freute mich, wie schön der zu seinem blonden Haar stimmte.

»Wollen wir zum Schluß noch eine Eisenbahnfahrt machen?« fragte er, und als ich nickte, sang er:

Spinnlein spinnt
wie der Wind
eine Bahn für Sonnenkind.

Da kamen hundert große Spinnen angekrochen, und ehe ich's begreifen konnte, waren kleine Geleise in der Luft gesponnen und eine niedliche Lokomotive aus Nußschalen kam angesaust. »Fürchte dich nicht,« lachte Sonnenkind, »mein Wagen ist sicher,« und als er mich mit den Nußblättern berührte, waren wir klein wie Ameisen, und nun ging's blitzschnell über Wälder und Seen, über Städte, die wie Puppenhäuschen unten lagen, in die Welt hinein. Als wir am Mond vorbeikamen, machte der große Augen und rief:

»Wollt ihr wohl zu Bett, ihr Krabben?« Wir aber etschten ihn aus und fuhren weiter, bis ans Meer. Da sahen wir still zu, wie die großen Wellen kamen, an den Strand liefen und zurückfluteten; immer wieder, immer wieder, und hörten dem Brausen zu, das von weit her tönte und doch so nah war.

Als wir nach Hause fuhren, faßte ich Sonnenkind bei der Hand und sagte: »Willst du nicht bei mir bleiben? Ich habe dich so lieb, lieber als Bruder Karlmann; komm mit, meine Mutter wird sich auch freuen, du kannst in Karls Bett schlafen, und wenn wir fertig sind mit arbeiten, spielen wir zusammen.« Sonnenkind streichelte mir die Backen, küßte mich und sagte: »Nein, kleines Mädchen, so wie ich dich lieb habe, habe ich all die andern Kinder auch lieb; und wenn sie recht traurig sind, komme ich und spiele mit ihnen. Weißt du, wohin ich morgen gehen werde?« »Zu Karlmann,« rief ich, »gewiß zu Karlmann.« »Ja, das will ich, der arme Junge! Er bangt sich gewiß auch nach seinem Schwesterchen, und denk mal, du hast doch noch dein Muttchen, deinen lieben Vater und euren Wächter; – er hat niemand: lauter fremde Menschen, an die er sich erst gewöhnen muß.« Mir wurde ganz still im Herzen, als Sonnenkind so zu mir redete. Ich wollte ganz gewiß nicht mehr so unartig sein wie heut mittag, und gleich, wenn ich nach Hause käme, wollte ich die Stickerei für Karl anfangen. Als wir aus der kleinen Eisenbahn ausstiegen und wieder an der Blutbuche standen, sagte mir Sonnenkind Lebewohl. Ich sah ihn traurig an. »Wirst du denn nun nie mehr wiederkommen und so schön mit mir spielen?«

»Vielleicht,« sagte er, »vielleicht; aber weil du so liebe braune Augen hast und so gern mit deinem Bruder spielst, was nicht vieler Kinder Sache ist – will ich dir was Schönes schenken.« Damit nahm er einen der Nußzweige und pflanzte ihn in die Erde.

»Nimm ihn mit, wohin du immer kommst,« sagte er und küßte mich.

Dann ging er leise über das Ährenfeld, mitten in die Abendsonne hinein, die wie eine große, rote Blume am Himmel stand.

Als ich den Nußzweig aus der Erde zog, hatte er Wurzeln und ich pflanzte ihn in unsern Garten, wo er wuchs und gedieh.

So, Kinder, bin ich zu meinem lieben Geschichtenbäumchen gekommen, das mir all die schönen Märchen und Lieder erzählt und vorsingt. Wenn ich traurig bin, setze ich mich unter seine Zweige; da kommen die blauen Schmetterlinge und die bunten Vögelchen und wollen mich auf andere Gedanken bringen; und wenn das nicht hilft, mache ich die Augen zu. Dann sehe ich Sonnenkind in seiner Schönheit vor mir, höre seine liebe Stimme, und all die schönen Spiele, die wir zusammen gespielt haben, fallen mir wieder ein. Alle Traurigkeit ist da verflogen, und die Sonne guckt durch die dichtesten Wolken.

Wenn ihr mich an solchen Tagen besucht, spiele ich mit euch was ihr wollt! Aber neue Geschichten kann ich euch wirklich nicht immer erzählen!


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