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Erstes Kapitel

Am Fenster des alten herzoglichen Jagdschlosses Katelnburg stand ein Mann und blickte sinnend in die abendliche Landschaft hinaus.

Katelnburg liegt in den Ausläufern des Harzgebirges und diente vor etwa 200 Jahren als Wohnsitz des herzoglichen Oberjägermeisters von Moltke. Da dieser auch zugleich Kämmerer seines Herrn, des Herzogs Ernst August von Kalenberg, Göttingen und Grubenhagen war, so hielt er sich zumeist am Hofe zu Hannover auf und kam nur nach Katelnburg, wo Weib und Kind hausten, wenn seine Geschäfte ihn hierher führten.

Nun war einmal wieder erledigt, weshalb der Oberjägermeister gekommen; er wollte morgen von hier aufbrechen, in seine Hofstellung und sein Haus zu Hannover zurückkehren, zuvor aber stand er jetzt am Fenster und erwog einen Entschluß.

Baron Otto von Moltke war ein Mann in der Mitte der Vierzig, er besaß eine gedrungene Gestalt, ein gerötetes, strenges Gesicht und Augen, denen man es ansah, daß sie leicht im Zorn aufflackerten und dann furchtbar sein konnten, über diesen Augen hingen rotblonde, merkwürdig buschige Brauen, die sich bei verändertem Mienenspiel hoben und senkten. Dem Zeitgeschmack entsprechend, trug er eine Lockenperrücke, das Gesicht glatt rasiert, ein weißes Tuch um den Hals geknüpft, eine lange bordierte dunkelgrüne Tuchweste und einen ebensolchen Rock, der bis zu den Kniehosen herabreichte, die in hohen Stiefeln steckten. Seine Mienen waren zusammengezogen und nachdenklich und das graue Auge, ohne eigentlichen Blick, weit in die hügelige Landschaft hinausgerichtet.

Am Himmel hing schweres Gewölk, aber im Westen gelang es der scheidenden Sonne noch einmal mit blutrotem Glanz hervorzubrechen, wie es manchmal, wenn Schnee droht, zu geschehen pflegt. Ungeblendet schaute der Mann in den Purpurschein. Seine ganze Gestalt wurde davon übergossen, er fühlte es nicht, er weilte mit seinen Gedanken nicht in der Gegenwart, nicht an dieser Stelle. Seine eingekniffenen Lippen murmelten abgerissene Worte:

»Sie ist schön geworden – Schönheit ist Macht in sothanen Zeitläuften. O mein Haß! Alter Weggeselle, ewig hungernder, wann kann ich dich sättigen? – Es sei. Sehe ich, daß sie mir zur Last wird, schicke ich sie zurück. Versuchen wir's!« Und mit raschem Entschluß wandte er sich vom Fenster ab.

Wie er so durch das Zimmer stampfte und seinen Plan innerlich weiter spinnend, ein paarmal auf und ab schritt, konnte man an jeder Bewegung der eisernen Gestalt erkennen, daß Unschlüssigkeit und Zweifel mit seiner Art wenig gemein hatten. Dann, ganz im Klaren mit sich, verließ er das Gemach, überschritt einen langen weißgetünchten Gang mit niedriger Balkendecke, einem Fenster mit kleinen, in Blei gefaßten Scheiben und einzelnen Rehkronen an den Wänden, und öffnete hastig eine Thür.

Es war das Zimmer seiner Gemahlin, das der Oberjägermeister betrat, ein schlicht ausgestatteter und doch durch langjährigen Gebrauch wohnlicher Raum. Die Frau saß am Fenster und hielt eine Stickerei in den Händen, beim Eintritt ihres Gemahls fuhr sie erschreckend empor. Sie hatte eine feine, schlanke Gestalt und ein bleiches, vergrämtes Gesicht, das einst schön gewesen sein mochte. Ihre großen blauen Augen lagen tief in dunkeln Ringen und richteten sich mit scheuem Ausdruck auf den Kommenden.

Er blickte mit nichtachtender Miene über sie hin. »Ich habe Ihnen einen Entschluß zu notifizieren, Madame,« sprach er barsch. »Ihre Tochter soll sich präparieren, mich morgen bei guter Zeit nach Hannover zu begleiten.«

Die Frau Oberjägermeister wurde noch bleicher als zuvor und sank in den hinter ihr stehenden Sessel zurück: »Allein?« stammelte sie.

Mit schneidendem Ton und finster gesenkten Brauen, antwortete er: »Sie wissen, daß ich auf die Ehre Ihrer Begleitung ein für alle male renonciere.«

»Mein armes Kind,« sie hob flehend die schmalen wachsfarbenen Hände empor.

»Ihr Kind ist schön geworden, es soll Fortune machen; wollen sie es hier zwischen Bauern und Hunden verblühen lassen?«

In dem feinen Gesichte der Dame zuckte es, sie rang mit sich, ein Kampf zwischen Mutterliebe und grenzenloser Furcht vor dem rohen, gewaltthätigen Manne ihr gegenüber, bewegte ihre Seele. Sie sollte sich von ihrer Ulrike trennen, dies zarte, unschuldige Geschöpf ihrem Gemahl anvertrauen, es an den leichtfertigen Herzogshof senden, wo frivole französische Sitten immer mehr Eingang fanden? O sie wußte nur zu gut, wie gefährlich der Verkehr mit den großen Herren war! Und doch, konnte sie dem unbeugsamen Willen jenes Mannes Trotz bieten? Mit ineinander gerungenen Händen sagte sie: »Es ist so plötzlich – gönnen Sie uns Zeit – ich wage nicht Ulrike –.«

Er lachte roh auf: »So trauen Sie ihr nicht; Sie glauben Ihre Tochter müßte« –

»Otto!« – ein verzweifelter Schrei; ja er wollte ihr eine Grausamkeit ins Gesicht schleudern. »Könnte nicht wenigstens Mademoiselle Jeannette?«

Er sann nach, es mochte ganz bequem sein, wenn die alte Französin, halb Kammerfrau, halb Erzieherin, die hier schon lange bei seiner Gemahlin war, das Mädchen begleitete. An weiblicher Dienerschaft fehlte es ohnehin in seinem sonst wohl eingerichteten Hause in der Stadt.

» Eh bien – Meinetwegen,« stieß er hervor, »lassen Sie die Jeannette mitreisen.«

»Aber wie kann alles so rasch?«

»Das ist Ihre Affaire.«

»Das Kind hat gar keine passende Garderobe.«

»Läßt sich in der Stadt beschaffen.« Er rieb sich zufrieden die roten, behaarten Hände und murmelte auf seine Art behaglich: »Werde, denk' ich, bei ihrer hochfürstlichen Durchlaucht der Frau Herzogin Sophie oder bei der Frau Erbprinzeß ein Plätzchen als Hofjungfer für das Mädchen acquirieren.«

»O dies weltfremde Kind! Wie soll sich das finden?«

Als der Oberjägermeister seinen Willen kundgegeben hatte, verließ er das Gemach, und während die Frau noch schreckgelähmt und sinnend dasaß, hörte man schon seine laute Stimme unten bei den Ställen, wo er anordnete, daß diesen Abend noch zwei Gespanne vorausgehen und zu morgen, falls es in der Nacht Schnee gebe, ein paar Schlitten für die erste Strecke der Reise in Bereitschaft gesetzt werden sollten.

Frau Amalie von Moltke versuchte eben sich aufzuraffen, um die aufregende Kunde der morgenden Reise ihrer Tochter und der Französin mitzuteilen, als die Thür sich leise öffnete und ein schlankes, blondes Mädchen das Zimmer betrat.

Ja sie war schön, die zarte Ulrike; der Oberjägermeister hatte recht, welch ein sanftes, rosiges Gesicht, belebt von klug blickenden, blauen Augen! Die Mutter war ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen geeilt und hielt jetzt schluchzend ihr Kind umfaßt.

» Chère maman,« flüsterte das Mädchen, zärtlich zu der Weinenden herabgeneigt, »sein Sie doch ruhig, haben Sie es denn nicht gehört, der Herr Papa reisen ja morgen früh schon wieder ab.«

»Er reist,« stammelte die zitternde Frau, »aber nicht allein; er will dich – dich, mein alles, meine Ulla, mir entreißen, dich mit nach Hannover nehmen.«

»Mich – mich?«

»Ja dich und Jeannette.«

»Nach Hannover? Ich war nie da – was soll ich« –

»Er wünscht deine Gesellschaft. Du sollst ein Fräulein der Herzogin werden – o mein armes Kind, du kennst niemanden am Hofe, keinen Menschen in der großen Stadt!«

Zögernd und doch freudig sagte Ulrike: »O doch, chère maman, ich kenne Vetter Erich.«

»Wird er jetzt dort sein? Ich denke, er ist mit dem Prinzen Maximilian im Türkenkriege?«

»Der Herr Papa sagten, Prinz Maximilian sei mit seinem Adjutanten zurückgekehrt.«

»Erich ist ein ernster Mann, wohlgesinnt und zuverlässig.«

»Er wird für mich sorgen, wird mir guten Rat geben. Als er hier war, glaubte ich einen Bruder zu haben.«

Die Zeit drängte, einige Reisevorbereitungen waren unumgänglich nöthig. Wie überwältigend plötzlich kam dieser Aufbruch! Mademoiselle Jeannette Lenoir mußte benachrichtigt werden und sich zur Mitfahrt rüsten. Die Garderobe war einer Durchsicht zu unterziehen, Koffer wurden herbeigeschafft und gepackt und dazwischen immer das Unfaßliche der Trennung, die Angst und Qual des nahen Scheidens. Mutter und Kind hatten noch keinen Tag ohne einander verlebt. – Die Frau glaubte, das ihr Zugemutete nicht ertragen zu können.

In dem Herzen des jungen Mädchens begannen sich, neben dem Bedauern, die geliebte Mutter verlassen zu sollen, neben der Angst vor einem Zusammensein mit dem gefürchteten strengen Vater, doch etwas wie Spannung und Freude zu regen. Ein erster Ausflug in die Welt! Wie manches Wort war schon von den Hoffesten, dem Glanz und der Lust des städtischen Lebens in ihre ländliche Einsamkeit gedrungen. Das junge, frische Geschöpf fühlte einen Flügelschlag in ihrer Seele, ein Jubilieren und Trillern, worüber sie sich nicht klar werden konnte, woher das komme.

Beim Abendessen in dem braun getäfelten Speisezimmer, mit dem Kronleuchter von Hirschgeweihen über der Tafel und dem blanken Zinngerät zeigte sich der Oberjägermeister besser gelaunt als gewöhnlich. Er richtete sogar einmal das Wort an Mademoiselle Lenoir, einer hageren Person, mit krausem, schwarzem Haar und fragte sie, ob sie schon in einer großen Stadt wie Hannover gewesen sei. Die kleine Französin warf sich in die Brust und erwiderte, daß sie ein Jahr in Paris gelebt habe.

Da werde sie ja wohl verstehen, was eine Dame gebrauche, meinte er.

Nur einmal schleuderte er einem Jägerburschen, der bediente und ihn mißverstand, seinen Zinnbecher an den Kopf, und als der junge Mensch sich zitternd bückte, das Gefäß aufzuheben, griff der Herr zornig dem Burschen in's Haar und warf ihn unter Scheltworten zur Erde.

Die drei Damen erbebten, dem gestrengen Herrn war indeß dieser Zornesanfall etwas ganz Gewöhnliches, das ihn nicht lange aus der Stimmung brachte.

Ulrike schlief mit der Mutter in demselben Zimmer. Sie hatten miteinander noch lange Zeit an ihren Vorbereitungen für den morgenden Tag gearbeitet, jetzt lagen sie beide in ihren Betten und sagten sich gute Nacht.

Die Mutter that, was sie konnte, um ihre Gefühle zu beherrschen, sie wollte ihr Kind schonen; sie sah Ulrikens Erregung und wünschte, daß ihr zartes Mädchen vor der anstrengenden Reise etwas Schlaf finden möge. Jetzt, als rings um sie her tiefe Stille herrschte und ihr Kind zu schlafen schien, ließ die angsterfüllte und tief betrübte Frau ihren Thränen freien Lauf, sie schluchzte unter der Bettdecke und glaubte Ulrike nicht zu stören. Ein bleicher Schein vom Nachtlichte erfüllte das Gemach und spielte zuckend über die weißen Dielen, außen rieselte der erste Schnee herunter und trieb knisternd gegen die schwach erklirrenden, in Blei gefaßten Fensterscheiben. Ein Hund heulte manchmal leise unten im Stalle. Aus dem verschlossenen Nebenzimmer hörte man dann und wann das rollende Schnarchen des Oberjägermeisters.

Die erschütterte Frau glaubte in ihrem Jammer zu vergehen, da legten sich zwei weiche Arme um ihren Hals, eine zärtliche Stimme flehte: »O seien Sie nicht traurig,« und kleine, kräftige Hände halfen ihr, sich in den Kissen aufrichten. Ulrike saß im Nachtgewande auf dem Bettrande neben der Mutter, sie hatte noch nicht geschlafen und ertrug es nun nicht länger, die Geliebte weinen zu hören.

»Die Trennung wird nicht lange währen, chère maman! Der Herr Papa wird meiner bald überdrüssig sein, glauben Sie es mir.«

»O mein Kind, wenn ich es nur vermöchte, dich zu hüten! Dich vor der Sünde, der Reue, dem Elend zu beschützen!«

»Und warum werden Sie mich nicht begleiten?«

Die Frau erschrak, hastig sagte sie: »Ach ich bin ja zu krank, um in der großen Welt zu leben, das weiß dein Vater wohl und darum gönnt er mir hier meine Ruhe.«

Wenn nun auch das kluge Mädchen ahnte, daß der Vater nicht aus Rücksichtnahme und Güte ihre Mutter hier zurücklasse, sondern daß ein tiefes Zerwürfnis die Eltern trenne, so äußerte sie doch nichts darüber, sondern fragte:

»Ist es denn so schlimm da draußen in der Welt?«

»Ich fürchte es, und auf Jeanette wage ich mich nicht zu verlassen, sie ist im Grunde leichtfertig.«

»Aber ich bin es nicht, chère maman,« welch ein fester, zuversichtlicher Ton in der jungen Stimme lag; »mir soll kein Mensch zu nahe treten.«

»Ach, du kennst den gleißenden Schein, die Eitelkeiten, die Devotion vor den Großen, das böse Beispiel noch nicht! Ich habe dich schlicht und rein erzogen, hierher in unsere Einsamkeit ist kaum ein Ton von außen gedrungen. Du wirst staunen, geblendet sein, dein Herz wird sich regen, du wirst das Falsche nicht von dem Wahren zu unterscheiden wissen und wenn du zu mir zurückkehrst, bist du unzufrieden und verstört und wirst es in der bescheidenen Stille bei deiner armen Mutter kaum noch ertragen.«

»Aber muß denn ein junger Mensch nicht hinaus, sich im Leben versuchen, sich umsehen, selbst gut und böse kennen und unterscheiden lernen?«

Die Mutter seufzte, ihr verständiges Kind mochte recht haben, hier gab es nichts mehr zu lernen, nichts zu erleben.

»Sie haben mich auch nicht immer auf den Armen getragen, nicht lange an Ihrer Hand gehen lassen, ma chère maman, ich habe es gelernt, allein meine Glieder zu gebrauchen. Nun vergrößert sich der Platz, auf dem ich mich rühre, sollte das nicht gut und notwendig sein?«

So flüsterten sie noch lange miteinander. Die gequälte Frau gewann aus der Weise, wie Ulrike zu ihr sprach, Trost und begann sich mit dem Gedanken an die Trennung auszusöhnen, endlich sagte sie gepreßt: »Wie wird dein Vater mit dir umgehen? Er kann hart sein, wie sollst du das ertragen?«

»Ich kenne ja den Herrn Papa und hoffe ihn zufrieden zu stellen. Sie, meine Mutter, liebe ich. Ich will immer an Sie denken und nichts thun, was Ihnen mißfallen könnte.« Damit umfaßte Ulrike die Frau und küßte sie zärtlich. Endlich trennten sie sich und fanden nur noch eine kurze Ruhe vor dem in aller Frühe bestimmten Aufbruch.

Ein von bleigrauem Dunst getrübter Tagesschimmer breitete sich über die eingeschneite Landschaft, am Himmel hing schweres Gewölk, doch hatte es aufgehört zu schneien, als am herzoglichen Jagdschlosse zu Katelnburg zwei, mit kräftigen Pferden bespannte Schlitten vorfuhren. Es war ein kalter Morgen, die Rosse dampften, die Schellen klingelten und ein paar Hunde umsprangen bellend die Gefährte. Der erste Schlitten hatte zwei Sitze, er war mit warmen Fellen und Decken ausgestattet, ein großer Fuchspelz lag neben dem Kutscher auf der vorderen Bank. Der zweite Schlitten war ein langer Ackerwagen auf Kufen gesetzt; eine Menge Wild für die Hofküche in Hannover ward außer dem Gepäck der Reisenden herbeigeschleppt und darauf verladen.

Nun hielten die beiden Fuhrwerke vor der mit Geweihen gekrönten Hausthür des Gebäudes.

Im Eßzimmer hatte man gefrühstückt. Die Damen konnten wenig genießen, aber der Oberjägermeister saß noch vor einem Stück Wildbraten und einer Flasche mit Kornbranntwein.

Ulrike lag weinend in den Armen ihrer Mutter, die sich kaum aufrecht hielt. Auch Mademoiselle Jeanette vergoß einige Thränen der Rührung.

»Mein Kind, mein Einziges, Gott segne dich!« schluchzte die Mutter, »komm mir unverdorben heim, mein Liebling, mein Herzblatt!«

»Seien Sie ruhig, chère maman – Sie sollen mich nicht verlieren – ich – ich denke immer an Sie, ich liebe Sie über alles, ich bleibe Ihrer wert –«

Der Schmausende war jetzt fertig geworden. »Macht ein Ende mit dem Geflenne,« sagte er rauh und faßte die Tochter derb am Arm, sie hinaus zu führen. Ohne sich nach der halb ohnmächtig in einen Stuhl gesunkenen Frau umzusehen, raunte er seinem zitternden Kinde ins Ohr, während er es über den Hausflur zog:

»Sie hat gar kein Recht, dir Tugend zu predigen – sie – sie – die Pest über sie!«

Die Knie wankten der Scheidenden. Sie kannte den Unfrieden zwischen ihren Eltern, aber von solchen schrecklichen Worten begleitet, die Schwelle des heimatlichen Hauses zu überschreiten, war doch mehr als sie ertragen konnte und als sie je gefürchtet hatte. Sie vermochte sich nie zu besinnen, wie sie in den Schlitten gekommen war, ihr schien, als habe man sie getragen. Sie fand sich neben Jeanette und fühlte deren Arm, der sich stützend um sie legte.

Das blasse, thränenüberströmte Gesicht der Mutter, das hinter den trüben kleinen Scheiben des Eßzimmers erschien, war das erste, was sie wieder sehen und begreifen konnte. Indeß im nächsten Augenblicke hatte die scharfe Morgenluft sie völlig ermuntert.

Der Vater stand noch vor der Thür, Buchholz, der Privatdiener und Sekretär des Oberjägermeisters, zog ihm den großen Fuchspelz an, währenddem sprach der Herr barsch und zornig mit zwei Männern, die vor ihm standen.

Der eine war ein Wildhüter, er hielt einen jungen Bauernburschen am Kragen gepackt und berichtete, wie er ihn erwischt, als er eben einen in der Schlinge gefangenen Hasen sich über die Schulter geworfen habe.

»Es ist der Claus Heineke, Eure Gnaden, aus der Mühlenkate, er arbeitet beim Müller und hat sein gutes Brot.«

»Er Lump, wozu braucht er Braten?« schrie der Oberjägermeister den trotzig Dastehenden an.

»Mutter ist krank und die Hasen mästen sich in unserm Braunkohl,« murrte der Bursche.

Der Herr rollte die grauen, etwas hervorstehenden Augen, die buschigen Brauen flogen auf und ab, er riß die große Fahrpeitsche, die Buchholz hielt, dem Diener aus der Hand und schlug mit dem harten Stiel blindlings auf den Sünder los: »ich will's ihm legen noch obenein sein großes Maul aufzureißen, Kanaille!«

Der Bursche hob den Arm zum Schutz seines Kopfes und krümmte sich.

»Ins Halseisen mit dem Luder! Mach er kurzen Prozeß, Berend! Soll schon zahm werden, der Teufelsbraten. Haue er ihm fünfundzwanzig d'rauf. Prügle er ihm die Lust heraus am Schlingenlegen und Wilddieben!« Der Oberjägermeister wandte sich dem Schlitten zu.

Der Wildhüter Berend grinste vergnügt über sein ganzes breites Gesicht, daß es ihm noch gelungen war, einen so harten Urteilsspruch für den Frevler aus dem Munde des Herrn zu erlangen und schickte sich sofort an, die Strafe zu vollziehen.

Unweit der Hausthür befand sich das an einer Kette hängende Halseisen, auf der Erde der Klotz für die Füße. Mit Hilfe eines Jägerburschen wurde der sich lebhaft sträubende Übelthäter hier fest gelegt. Es war das Werk weniger Minuten. Sodann zog Berend eine kurze, starke Lederpeitsche mit daran herabhängenden Riemen aus seinem derben Wasserstiefel hervor und fing an, den entblößten Rücken des Unglücklichen mit wohlgezielten Streichen zu bearbeiten.

Die beiden Schlitten waren mittlerweile zur Abfahrt bereit, die mutig schnaubenden Rosse stampften den Schnee und schüttelten die Mähnen. Der Oberjägermeister hatte auf dem Sitze vor seiner Tochter Platz genommen, Buchholz, der neben ihm saß, reichte dem Herrn die Zügel, die Peitsche klatschte, die Schellen klingelten und die Pferde zogen an. Die ersten wilden Schreie des Gezüchtigten tönten in die Vorbereitungen zur Abfahrt.

Ulrikens Herz krampfte sich bei diesen Jammertönen zusammen. Ihre Blicke hingen unverwandt an dem Fenster, gegen welches die geliebte Mutter ihre bleiche Stirn gelehnt hatte. Es dünkte der Scheidenden in ihrem schmerzverwirrten Sinn, als gingen die Klagelaute von ihr selbst und der teuren Leidenden aus. Wie entsetzlich, so auseinander gerissen zu werden! Verblaßt war in diesem Augenblicke das farbenreiche Bild des Herzogshofes vor ihr, wenn sie es hätte wagen dürfen, wäre sie am liebsten wieder aus dem Schlitten gesprungen, wäre hineingeeilt zu dem bleichen Frauenbilde, hätte es umfaßt, wäre auf die Kniee gesunken, um die überströmenden Augen im Schoße der Mutter zu bergen, sich an sie zu klammern und sie niemals zu verlassen.

Doch vorbei, weiter, ins Leben hinein! Die Pferde setzten sich in Bewegung, der Schlitten glitt vorwärts. Ulrike sah nicht, wie das in Liebe aufgelöste Antlitz der Mutter vom Fenster verschwand, sie ahnte nicht, daß die Teure schmerzüberwältigt zusammenbrach und von der herbeieilenden Dienerin lange nicht aus ihrer Ohnmacht erweckt werden konnte.

Ulrike hatte in diesem herzbewegenden Augenblicke ihres ersten Scheidens aus der Heimat mit sich selbst und ihren überströmenden Empfindungen zu kämpfen.

Wie beängstigend erschien ihr plötzlich die Zukunft. Vergleichbar jener dunklen Wolkenwand, die den Fernblick in das weißverschneite Land verhängte. Da vor ihr saß ihr Vater, zügelte mit starker Faust die stallmutigen Pferde, schwang die Peitsche sausend und klatschend, sie sah ihn, sie hörte seine rauhe Stimme, allein sie fühlte sich ihm weltenfern. Er war so selten in Katelnburg gewesen, seine Besuche hatten das ganze Haus in Unruhe und Angst versetzt, er hatte Gericht über seine Forstbeamten und Jäger gehalten, grausame Strafen verhängt, war vor Tagesanbruch zur Jagd gefahren, spät abends zurückgekehrt und hatte sich um Weib und Kind kaum gekümmert. Jedermann atmete auf, wenn der Sturmwind vorüber gebraust war und wieder Frieden herrschte.

Die Mutter hatte am meisten unter jenen einzelnen Besuchen gelitten. Ulrike wußte schon lange, daß es stets einiger Zeit bedurfte, das Gemüt der zarten Frau nach solchen Erregungen wieder aufzurichten. Sie selbst hatte der Vater bis zu diesem Besuche kaum beachtet. Jetzt endlich sah er sie und nahm sie als sein Eigentum in Beschlag. Wie sollte sie mit ihm auskommen, der offenbar nicht ein Fünkchen Liebe für sie empfand, der sie von dannen schleppte wie eine Sache, die er eben gebrauchen konnte?

Ulrike klammerte sich angstvoll an ihre Begleiterin, »o gute Jeanette,« flüsterte sie, »stehen Sie mir bei in der Fremde, ich fürchte mich davor.«

Die Französin, im Grunde froh über die angenehme Aussicht einer Veränderung, tröstete mit vielen Worten ihre zitternde junge Herrin und versuchte, ihr die Zukunft in verlockenden Bildern zu zeigen.

Ulrike hörte zerstreut auf das Geplauder, ihr schien, als gehe es sie nichts an.

Unharmonisch tönte das Geschrei des gezüchtigten Wilddiebes in das süßliche Geflüster Jeanettens und begleitete die Abreisenden mit immer schwächer schallenden Lauten weit hinaus. So fuhr Ulrike, mit wunderlich verworrenen Empfindungen ringend, in den sich ballenden und feucht niedersinkenden Morgennebel hinein.


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