Alphonse Daudet
Briefe aus meiner Mühle
Alphonse Daudet

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Die Brieftasche Bixious.

An einem schönen Oktobermorgen, einige Tage vor meiner Abreise von Paris trat, während ich frühstückte, ein alter Mann in abgetragener und kotiger Kleidung bei mir ein, gebeugt und auf seinen langen Beinen vor Frost zitternd, wie ein gerupfter Storch. Das war Bixiou. Ja, Pariser, euer Bixiou, der grimmige und bezaubernde Bixiou, der tolle Spottvogel, der euch fünfzehn Jahre lang mit seinen Pamphlets und Karikaturen so oft ergötzt hat. Ach, der Unglückliche, wie traurig! Ohne eine Grimasse, die er beim Eintreten schnitt, hätte ich ihn nie wieder erkannt.

Den Kopf gegen die Schulter gebeugt, den Stock an den Lippen wie eine Klarinette, kam der berühmte Spaßvogel bis in die Mitte des Zimmers, warf fast meinen Tisch um und sagte mit kläglicher Stimme:

»Haben Sie Mitleid mit einem armen Blinden! . . .«

Das schien so natürlich nachgemacht, daß ich mich des Lachens nicht enthalten konnte. Aber er, sehr kalt:

»Sie glauben, daß ich scherze . . . Betrachten Sie meine Augen.«

Und er richtete zwei große lichtlose Augäpfel auf mich.

»Ich bin blind, mein Lieber, unheilbar blind . . . . So geht es, wenn man mit Vitriol schreibt. Ich habe mir bei dem hübschen Geschäft die Augen verbrannt; sehen Sie, das Licht ist weg und die Dille ist verdorben!« setzte er hinzu, indem er auf seine Augenlider zeigte, wo keine Spur der Wimpern mehr zu sehen war.

Ich war so bewegt, daß ich ihm nichts darauf zu erwidern fand. Mein Schweigen beunruhigte ihn:

»Sie arbeiten?«

»Nein, Bixiou, ich frühstücke. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?«

Er antwortete nicht, aber an dem Zittern seiner Nasenflügel sah ich wohl, daß er um sein Leben gern die Einladung angenommen hätte. Ich nahm ihn bei der Hand und ließ ihn an meiner Seite niedersitzen.

Während man ihm ein Gedeck besorgte, sog der arme Teufel den Duft der Speisen mit lächelnder Miene in seine Nase ein:

»Das riecht gut. Da werde ich mir etwas zu gute thun; es ist so lange her, daß ich nicht mehr frühstücke! Ein Dreierbrot alle Morgen, wenn ich von einem Ministerium zum andern laufe . . . Sie müssen nämlich wissen, daß ich wirklich von einem Ministerium zum andern laufe, es ist das meine einzige Beschäftigung . . Ich versuche nämlich ein Tabaksbureau zu erhaschen . . . Was wollen Sie? Man muß doch etwas zu essen haben. Ich kann nicht mehr zeichnen, ich kann nicht mehr schreiben . . . . Diktieren? . . . Ja, was? . . . Ich habe nichts im Kopfe, ich kann nichts erfinden. Sonst betrachtete ich mir die Grimassen von Paris, ich zeichnete sie und schrieb darüber. Das war mein Geschäft; nun ist es damit vorbei . . . . Da habe ich an ein Tabaksbureau gedacht, wohl verstanden: nicht auf den Boulevards. Ich kann auf diese Gunst keinen Anspruch machen, bin ich doch weder die Mutter einer Tänzerin, noch die Witwe eines höheren Offiziers. Nein! einfach ein kleines Provinzialbureau, recht weit von hier, in irgend einem Winkel der Vogesen. Da schaffe ich mir eine mächtige Porzellanpfeife an, nenne mich Hans oder Zebedäus, wie in Erckmann-Chatrian und tröste mich darüber, daß ich nicht mehr schreiben kann, indem ich aus den Werken meiner Zeitgenossen Tabaksdüten drehe.«

»Das ist alles, was ich verlange. Keine große Sache, nicht wahr? . . . . Und doch ist es teufelmäßig schwer, das zu erreichen . . . . Gleichwohl sollte es mir eigentlich an Protektionen nicht fehlen. Ich war ja sonst so gesucht. Bald war ich bei einem Marschall zur Tafel, bald bei einem Prinzen, bald bei einem Minister; alle diese Herren wollten mich haben, weil ich sie amüsierte oder weil sie Furcht vor mir hatten. Jetzt hat niemand mehr Furcht vor mir. Ach, meine Augen! meine armen Augen! . . . Und niemand ladet mich mehr ein. Es ist ja so traurig, den Kopf eines Blinden am Tische zu haben . . . . Geben Sie mir das Brot, ich bitte . . . . Ach, diese Banditen! Ich muß ihnen dieses unglückselige Tabaksbureau teuer genug bezahlen. Seit sechs Monaten wandre ich mit meiner Petition von Ministerium zu Ministerium. Früh komme ich an, wenn man Feuer in den Ofen anzündet oder wenn man die Pferde Seiner Excellenz einen Spaziergang um den mit feinem Sande bestreuten Hof machen läßt; und abends geh ich erst, wenn man die großen Lampen bringt und wenn es aus den Küchen nach allerhand Guten zu duften anfängt.«

»Mein ganzes Leben verbringe ich auf den Kisten der Vorzimmer, die das Feuerholz bergen. Die Thürsteher kennen mich auch recht gut. Wenn sie von mir sprechen, so heißt es: »der gute Kerl!« Und ich mache Witze, um ihre Protektion zu gewinnen oder ich zeichne auf einer Ecke ihres Tisches mit einem Zuge einen großen Schnurrbart, was sie zu lachen macht . . . . Dahin bin ich gekommen nach zwanzig Jahren des Erfolgs, des lärmenden Erfolgs, das ist das Ende eines Künstlerlebens! . . . Und nun zu denken, daß es in Frankreich vierzigtausend dumme Jungen giebt, denen unser Gewerbe das Wasser im Munde zusammenlaufen läßt! Zu denken, daß draußen in den Departements jeden Tag eine Lokomotive geheizt werden muß, um uns Körbe voll von Einfaltspinseln zu bringen, die sich heißhungrig in die Litteratur stürzen und gedruckten Spektakel machen wollen! . . . Arme Provinz mit deinen romantischen Ideen! Könnte doch Bixious Elend dir zur Warnung dienen!«

Darauf barg er die Nase in seinem Teller und fing gierig an zu essen, ohne ein Wort zu sagen . . . Es war ein Jammer, dem armen Menschen zuzusehen. Jede Minute verlor er sein Brot, seine Gabel, tastete er umher, um sein Glas zu finden . . . . Armer Mann! er war noch nicht daran gewöhnt.

*           *
*

Nach kurzer Zeit nahm er wieder das Wort:

»Wissen Sie, was mir noch schrecklicher ist? Das ist, daß ich meine Tagesblätter nicht mehr lesen kann. Man muß vom Handwerk sein, um das zu verstehen . . . . Manchmal abends beim Nachhausegehen kaufe ich eins, nur um diesen Geruch nach feuchtem Papier und frischen Novellen zu genießen . . . Das ist so schön! Und niemand zu haben, der sie mir vorliest! Meine Frau könnte es wohl, aber sie will nicht; sie behauptet, es gäbe da immer unter den vermischten Nachrichten Dinge, die sich nicht schickten! . . . Ach! diese alten Maitressen! Wenn sie einmal verheiratet sind, giebt es keine größeren Zierpuppen, als sie. Seit ich sie zur Madame Bixiou gemacht habe, hat sie sich für verpflichtet gehalten, eine Betschwester zu werden und was für eine! Wollte sie mich doch veranlassen, meine Augen mit Wasser von la Salette einzureiben! . . Und dann: geweihtes Brot, Almosen sammeln, kleine Chinesen und, weiß Gott was noch! . . . Wir sind in den ›guten Werken‹ bis an den Hals . . . . Und doch wäre es ein gutes Werk, mir meine Zeitungen vorzulesen. Aber nein, sie will nicht . . . . Wenn meine Tochter bei uns wäre, die würde sie mir vorlesen; aber nachdem ich blind geworden war, habe ich sie in Notre-Dame-des-Arts eintreten lassen, um das Futter für einen Mund zu ersparen.«

»Ja, ja, das ist auch eine, an der ich meine Freude haben kann! Es ist noch nicht neun Jahre her, daß sie das Licht der Welt erblickt hat, und schon hat sie alle Krankheiten gehabt . . . Und traurig! und häßlich! häßlicher als ich, wenn es möglich ist . . . . ein Ungeheuer! . . . Was wollen Sie? Ich habe nie etwas anderes zu machen verstanden, als Karikaturen . . . . Aber, mein Gott, was ich gut bin, Ihnen meine Familiengeschichten zu erzählen! Was kann das alles für Sie für ein Interesse haben? . . . Kommen Sie! Geben Sie mir noch ein wenig von diesem Branntwein. Ich muß mich auf den Weg machen. Von hier gehe ich auf das Standesamt. Da sind die Thürsteher nicht leicht in gute Laune zu versetzen. Es sind alles alte Professoren.«

Ich schenkte ihm seinen Branntwein ein. Er trank ihn in kleinen Schlückchen mit ganz gerührter Miene aus . . . . Plötzlich schien ihn ein neuer Gedanke zu ergreifen. Er erhob sich, sein Glas in der Hand, bewegte einen Augenblick seinen Kopf nach allen Richtungen wie eine blinde Viper, aber mit dem liebenswürdigen Lächeln eines Mannes, der eine Rede halten will und brach dann mit gellender Stimme, als ob er eine Tischgesellschaft von zweihundert Gedecken haranguieren wollte, in die Worte aus:

»Es gilt den Künsten! Den Wissenschaften! Der Presse!«

Und nun begann ein zehn Minuten langer Toast, die tollste und wunderbarste Improvisation, die jemals von diesem Gehirn zu Tage befördert wurde.

Denkt euch eine Revue des Jahres: unsere sogenannten litterarischen Versammlungen, unsere Streitigkeiten, alle spaßhaften Ereignisse einer excentrischen Welt, den Kehricht der Schriftstellerei, die kleinliche Hölle, in der man sich abschlachtet und ausweidet, in der man mehr von seinen Interessen spricht, als in bürgerlichen Kreisen, was nicht hindert, daß man dort eher Hungers stirbt, als anderwärts; alle unsre Feigheit; all unser Elend; dann die im Laufe des Jahres Gestorbenen; die feierlichen Beerdigungen; die Trauerrede des Herrn Abgeordneten, die stets anhebt: »Teurer und Vielbetrauerter!« ferner die Selbstmorde und die verrückt gewordenen; denkt euch das alles erzählt, bis in das Einzelnste zergliedert und mit den nötigen Handbewegungen begleitet durch einen geistreichen Grimassenschneider und ihr habt dann eine Vorstellung von der Improvisation Bixious.

*           *
*

Als der Toast beendigt, das Glas geleert war, fragte er, welche Zeit es sei und ging mit wilder Miene fort, ohne mich eines Grußes zu würdigen . . . . Ich weiß nicht, wie die Thürsteher des Herrn Duruy seinen Besuch heute Morgen aufnahmen; aber das weiß ich, daß ich mich niemals in meinem Leben so traurig, so wenig zur Arbeit aufgelegt gefühlt habe, als nach dem Weggange des entsetzlichen Blinden. Mit Schauder sah ich auf meine Feder, auf mein Tintenfaß. Am liebsten wäre ich fortgelaufen, weit fortgelaufen, um Bäume zu sehen, irgend etwas Gutes wahrzunehmen . . . Welcher Haß, großer Gott! welche Galle! Welche Sucht, alles zu begeifern, zu beschmutzen! O, der Elende! . . .

Wütend durchmaß ich mein Zimmer; immer noch glaubte ich den verächtlichen Hohn zu hören, mit dem er von seiner Tochter gesprochen hatte.

Plötzlich fühlte ich in der Nähe des Stuhles, auf welchem der Blinde gesessen hatte, sich etwas unter meinen Füßen fortbewegen. Als ich mich danach bückte, erkannte ich seine Brieftasche, eine dicke Brieftasche mit zerbrochenen Ecken, die ihn niemals verläßt und die er lachend seine Gifttasche nennt. Diese Tasche war in unseren Kreisen ebenso berühmt, wie die famosen Kartons des Herrn von Girardin. Man sagte, daß darin schreckliche Dinge enthalten seien . . . . Hier bot sich nur eine günstige Gelegenheit mich davon zu überzeugen. Die alte, übervolle Brieftasche war im Fallen aufgegangen und alle Papiere lagen zerstreut auf dem Teppich; ich mußte sie eins nach dem andern auflesen.

Ein Paket Briefe, auf Papier mit Blumen geschrieben, führte auf allen die Überschrift: »Mein lieber Vater,« und die Unterschrift: »Céline Bixiou von den Kindern Marias.«

Dann Rezepte gegen Kinderkrankheiten: Krupp, Krämpfe, Scharlach, Blattern (das arme Kind war von keiner verschont geblieben!).

Endlich ein großer versiegelter Umschlag, aus dem, wie aus einem Kinderhäubchen zwei oder drei Strähne gelben, gekräuselten Haares herausblickten, und auf dem Umschlage in großer, zitteriger Schrift, in der Schrift eines Blinden:

»Haare von Céline, abgeschnitten am 13. Mai, dem Tage ihres Eintritts in diese Welt.«

Das war der Inhalt von Bixious Brieftasche.

O, Pariser, ihr seid einer, wie der andre. Ekel, Spott, teuflisches Gelächter, wilde Aufschneidereien, und dann zum Schlusse . . .

Haare von Céline, abgeschnitten am 13. Mai.


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