Alphonse Daudet
Künstler-Ehen
Alphonse Daudet

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Zigeunerleben in einer Künstlerfamilie.

Ich glaube, daß es in ganz Paris keine Wirthschaft giebt, in welcher es so toll und so lustig hergeht, wie in der des Bildhauers Simaise. Das Vergnügen ist in diesem Hause offenbar in Permanenz erklärt. Zu welcher Tageszeit man auch dorthin kommt, immer hört man singen, lachen und die Töne eines Pianino, einer Guitarre, womöglich auch eines Tamtam. Beim Betreten des Ateliers muß man sich in Acht nehmen, daß man nicht gegen ein im Walzertacte dahinschwebendes Paar anläuft, daß man nicht in eine Quadrillen-Figur hineingeräth und diese stört und wenn dies einmal nicht der Fall ist, so sieht man gewiß überall die Vorbereitungen zum Ball – überall liegen Tüllfetzen herum, auf halbfertigen Figuren liegen bunte Seidenbänder, auf Büsten und Bildwerken allerhand künstliche Blumen und auf einer noch feuchten Gruppe aus Thon breitet sich gar ein ganzer Haufen von Damenkleidern aus.

Es sind nämlich vier erwachsene Töchter von sechzehn bis vierundzwanzig Jahren in diesem Hause; sie sind sämmtlich sehr hübsch, aber auch sämmtlich äußerst nachlässig und ungenirt, und wenn diese Mädchen herumwirthschaften, daß ihr mit unzähligen Bändern geschmücktes Haar, das nur lose mit einigen Nadeln aufgesteckt ist, sich lockert und frei auf den Nacken herabwallt, so möchte man behaupten, daß es nicht vier, sondern acht, sechzehn, zweiunddreißig Fräuleins Simaise giebt; sie bleiben in fortwährendem Herumlaufen, sie sprechen laut, sie lachen noch lauter, sie haben ganz eigenartige, etwas burschikose Manieren, wie man sie eben nur bei Künstlertöchtern findet; alle ihre Bewegungen verkünden das Atelier als ihre Heimstätte, und 76 wie der beste Lehrling und Laufbursche verstehen sie sich darauf, einen Gläubiger abzuweisen oder einem Lieferanten gehörig den Kopf zu waschen, der es sich einfallen läßt zu ungelegener Zeit seine Rechnung zu präsentiren.

Diese jungen Geschöpfe regieren so recht eigentlich das ganze Hauswesen. Der Vater arbeitet von Tagesanbruch an; unaufhörlich modellirt und meißelt er, denn er hat leider kein Vermögen. Zu Beginn seiner künstlerischen Thätigkeit war er äußerst ehrgeizig und bemühte sich, ganz Ausgezeichnetes zu leisten; einige Erfolge, die er auf Ausstellungen errungen, schienen ihm auch eine große Zukunft zu prophezeien. Aber nach und nach vergrößerte sich seine Familie und um diese zu ernähren, zu kleiden und alle ihre Bedürfnisse zu befriedigen, mußte er schließlich fast handwerksmäßig arbeiten. Was nun Madame Simaise betrifft, so beschäftigte sich diese einfach mit Nichtsthun. Sie war zur Zeit ihrer Heirath sehr schön, und da sie in den Künstlerkreisen, in welche sie ihr Gatte eingeführt, sehr umschwärmt und gefeiert wurde, so faßte sie den edlen Entschluß, vorerst eine junge, hübsche Frau zu sein und dann eine alte hübsche Frau zu werden und weiter nichts. Wie sie selbst sagte, war sie von creolischer Abstammung – man hat mich übrigens versichert, daß ihre Eltern niemals das Weichbild von Courbevoie überschritten hätten – so lag sie denn während des ganzen Tages, von früh Morgens bis in die sinkende Nacht, in einer der Hängematten, die in allen Zimmern zwischen den Thürpfosten befestigt waren, fächelte sich, hielt ihre Siesta und sah mit tiefer Verachtung auf den ganzen materiellen Kram des irdischen Daseins herab. Sie hatte ihrem Gatten so oft für eine Hebe und Diana Modell gestanden, daß sie sich einbildete, sie könne ihr ganzes Leben so verbringen, den Halbmond an der Stirn, den Bogen in der Hand, und wenn sie diese Attribute der Göttin angelegt hatte, glaubte sie aller anderen Arbeit und Verpflichtung los und ledig 77 zu sein. Auf diese Weise riß natürlich die gräulichste Unordnung in der Wirthschaft ein. Nach Dingen, die man alle Augenblicke gebraucht, mußte eine Stunde lang gesucht werden.

»Hast du nicht meinen Fingerhut gesehen? Martha, Eva, Genevieve, Madeleine, – hat denn keine meinen Fingerhut gesehen?«

Die Schubladen, in denen ein fabelhaftes Tohuwabohu herrschte von Büchern, Puder, Knöpfen, Bändern, Löffeln, Fächern, waren bis obenhin angefüllt, aber es war nichts Nützliches hineingelegt, nichts, was hineingehörte; lauter unnütze, ungebräuchliche, unvollständige, zerbrochene oder zerrissene Gegenstände. Und die Hauseinrichtung an sich! Die war nun schon einzig. Es sah aus wie bei Leuten, die oft ihre Wohnung wechseln und sich deshalb nicht erst die Mühe geben, sich ordentlich einzurichten; die an sich hübschen Räume machten den Eindruck, als sollten sie demnächst einmal bewohnbar gemacht werden. Alles war verstellt, verschoben, in Unordnung – wie wenn in der Nacht ein Ball im Hause gegeben worden wäre. Aber niemand gab sich eben die Mühe, hier etwas in Ordnung zu bringen, und wenn man gerade die nöthigen Toilettengegenstände zusammen hatte, so promenirte man wie ein strahlendes Meteor auf den Straßen, und wenn man sich dann das Ansehen eines in Luxus und Glanz Lebenden gegeben hatte, so – war ja die Ehre gerettet. Das bivouakartige Leben im Hause genirt diese Nomadensippe nicht. Die ganze Misere ließ sich erkennen, wenn man hier durch die geöffneten Thüren die leeren vier Wände eines vollständig unmöblirten Zimmers sah, dort wieder ein Zimmer erblickte, das mit allem Möglichen und Unmöglichen vollgepfropft war. Das ist das Zigeunerleben in der Familie, ein Leben der Überraschungen und der Zufälligkeiten.

In dem Augenblicke, da man sich zu Tische setzen wollte, bemerkte man, daß eigentlich so gut wie alles fehle und 78 nun mußte man außer dem Hause alles erst zusammensuchen. Auf diese Weise vergingen natürlich die Stunden außerordentlich schnell, wie auf Windesflügeln eilten sie dahin – und das hat ja auch einen Vorzug. Wenn man spät frühstückt, speist man nicht zu Mittag und verschiebt das Souper bis auf den Ball, den man ja fast jeden Abend besucht. Oft arrangiren die Damen auch in der eigenen Wohnung eine Soiree, da wird dann der Thee auf die seltsamste und verschiedenartigste Weise eingenommen, in Humpen, in kleinen Gläsern, in japanesischen Schalen – und fast bei jedem Stück ist etwas vom Rande abgebrochen, fast jedes hat einen Sprung, wie es ja auch bei dem Mangel an Sorgfalt und dem häufigen Wohnungswechsel nicht anders sein kann. Die Ruhe von Mutter und Töchtern inmitten der allgemeinen Angst und Noth ist wirklich geradezu bewunderungswürdig. Allerdings – du lieber Himmel! Sie haben auch an etwas ganz anderes zu denken als an die Wirthschaft. Die eine ist wie eine Schweizerin frisirt, die andere wie ein englisches Baby und Madame Simaise sieht allem von ihrer Hängematte aus zu und ist selig in der Erinnerung an ihre frühere Schönheit. Papa Simaise – nun, der ist immer entzückt und hingerissen. Wenn er nur seine Töchter um sich herum lachen und jauchzen hört, dann erträgt er gern alle Lasten und Plagen, die ihm das Leben auferlegt. An ihn sind die Worte adressirt, die man so nachlässig hinwirft: »Papa, ich gebrauche einen Hut,« »Papa, ich muß durchaus ein neues Kleid haben.«

Ganz besonders wird ihm im Winter zugesetzt. Man ist vielfach verpflichtet, man empfängt so viele Einladungen – da schafft denn der Vater mehr, indem er auf seinen Schlaf verzichtet und zwei Stunden früher an die Arbeit geht. Geheizt wird einzig im Atelier und hier ist dann natürlich auch die ganze Familie vereint. Die jungen Damen schneiden sich ihre Kleider selbst zu und nähen sie 79 auch selbst, während die Stricke der Hängematte bei ihren regelmäßigen Bewegungen quietschende Töne hören lassen und der Vater auf seiner Fußbank steht und rüstig arbeitet.

Seid ihr diesen Damen schon einmal in der Gesellschaft begegnet? Wenn sie eintreten, machen sie Aufsehen. Die beiden ältesten kennt man ja schon ziemlich lange, aber sie sind immer so nett, so zierlich, so hübsch gekleidet, daß man sie gern zu Tänzerinnen wählt. Sie haben ebensoviel Erfolg wie ihre jüngeren Schwestern, ja beinahe ebensoviel, wie vor Zeiten die Mutter. Ihre Kleidung und ihre Schmucksachen wissen sie so hübsch und mit solcher Grazie zu tragen, ihr Sichgehenlassen ist so entzückend, ihr Lachen klingt so laut und hell, gerade wie das schlecht erzogener Kinder, sie wissen auf so echt spanische Manier den Fächer zu handhaben – und trotz alledem können sie keinen Mann bekommen. Kein einziger Verehrer hat lange ausgehalten, wenn er erst die eigenthümliche Wirthschaft kennen gelernt, die Menge überflüssiger Ausgaben, das Fehlen der Teller, die Löcher in den Tapeten, die schlecht aufgehängten und zum Theil ihrer Vergoldung baren antiken Kronleuchter, die Zugluft an allen Thüren, das Klingeln der Gläubiger, das Negligé der jungen Damen – das alles jagte selbst diejenigen in die Flucht, die in der besten Absicht gekommen waren. Was läßt sich auch dagegen sagen? Alle Welt kann sich nun einmal nicht dazu verstehen, für alle Zeiten bei sich die Hängematten einer Frau anzubringen, die wie ein Vogel gern in freier Luft schwebt.

Ich fürchte, die Fräuleins Simaise werden sich überhaupt nicht verheirathen. Einmal hatte sich eine ganz brillante Gelegenheit gefunden, das war zur Zeit des Communeaufstandes. Die Familie war nach einer kleinen Stadt in der Normandie geflohen, deren Bevölkerung offenbar sehr prozeßlustig war, denn es gab dort eine Unmenge von Rechtsanwälten, Notaren und Sachwaltern. Man 80 war kaum angelangt, als der Vater sich auch schon nach Arbeit umsah. Sein Ruf als tüchtiger Bildhauer verhalf ihm bald zu einer solchen, indem ihm die Behörden ein Standbild, das auf einem der öffentlichen Platze errichtet werden sollte, in Auftrag gaben. Sofort brachte die Mutter in einer Ecke des Ateliers auch ihre Hängematte an und die jungen Damen veranstalteten kleine Feste. Sie hatten damit ganz außerordentlichen Erfolg. Hier, wo die Armseligkeit der Existenz eine natürliche Folge des Exils sein konnte, ließ sich ja gegen die eigenthümliche Lebens- und Einrichtungsweise nichts einwenden. Die hübschen und eleganten Mädchen lachten ja selbst am meisten und am lautesten über ihre Misere; bei der Flucht hatte man eben nichts mitnehmen können, und aus dem rings eingeschlossenen Paris konnte man sich nichts kommen lassen – das verlieh ihnen nur noch einen Reiz mehr. Man mußte unwillkürlich an fahrende Zigeuner denken, die ihr schönes Haar auch in einer Scheune kämmen und ihren Durst am Bache löschen müssen. Die wenigen poetisch veranlagten Gemüther verglichen sie im Geiste mit jenen Verbannten von Coblenz, den Damen vom Hofe der Marie Antoinette, die so schnell geflohen waren, daß sie Puder, Reifrock und Kammerfrauen, die gerade zu andern Verrichtungen fortgesandt waren, nicht mitnehmen konnten und nun lernen mußten sich selbst zu bedienen, dabei jedoch noch immer das feine, pikante und frivole Wesen des französischen Hofes beibehaltend.

An jedem Abend füllte eine Menge Verblendeter und Thörichter das Atelier Simaise. Nach den Tönen eines gemietheten Pianino tanzte alles Polka, Walzer, Schottischen – damals tanzte man nämlich in der Normandie noch den Schottischen.

»Ich glaube, hier wird sich eine verheirathen,« sagte Papa Simaise zu sich selbst; und das war sicher, war er erst die erste los geworden, so folgten die anderen schnell 81 nach. Unglücklicherweise wurde er aber die erste nicht los, obgleich nur sehr wenig dazu fehlte. Der enragirteste Tänzer aus dem Corps der Notare, Sachwalter und Substitute war nämlich ein verwitweter Notar, welcher der ältesten Tochter ganz besonders den Hof machte. Im Hause nannte man ihn immer den »ersten tanzenden Notar«, mit Bezug auf ein Molière'sches Ballet. Wenn man sah, wie der stets gut aufgelegte und lustige Herr sich drehte und wandte, so mußte man zugeben, daß Simaise mit Recht große Hoffnungen auf ihn setzte. Aber Notare und Geschäftsleute tanzen nun einmal nicht wie alle Welt. Wenn der besagte Herr walzte, so überlegte er dabei folgendermaßen: »Diese Familie Simaise ist wirklich entzückend . . . tralala . . . lalala . . . aber sie möchten mich gleich festhalten . . . lalala . . . ich werde jedenfalls nicht eher einen Entschluß fassen, als bis die Belagerung von Paris beendigt ist . . . tralala . . . und ich meine Erkundigungen eingezogen habe . . . lalala . . .« So dachte der erste tanzende Notar; als Paris wieder frei war, erkundigte er sich wirklich nach der Familie und – aus der Heirath ist nichts geworden.

Auch aus vielen anderen und späteren Anknüpfungen wurde nichts. Aber nichts vermochte bisher den Frohsinn und die Freude in der ganz eigenartigen Häuslichkeit zu stören. Im Gegentheil, je mehr Aussichten in Nichts verrinnen, desto vergnügter geht es dort zu. Im letzten Winter sind sie sogar dreimal umgezogen und einmal hat man sie ausgepfändet – aber sie haben trotzdem zwei große Maskenbälle gegeben. 82

 


 


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