Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Dreiundzwanzigster Gesang

    Indes ich fest noch ließ die Augen hangen
Am grünen Laub, wie jener gern mag weilen,
Der seine Zeit verliert mit Vogelfangen,

    Sprach, der mir mehr als Vater: »Laß uns eilen,
O Sohn. Die Zeit, die man uns heut bescherte,
Verlangt, nutzbringender sie einzuteilen.«

    Gesicht und Gang nicht minderschnell ich kehrte
Den Weisen nach, die sich von solchen Dingen
Erzählten, daß mich nicht das Gehen beschwerte.

     Und horch, da hörte Weinen man und Singen,
»Domine, labia mea« scholl die Weise,
Mit Lust und Leid zutiefst mich zu durchdringen.

    »Was hör ich, teurer Vater?« sprach ich leise.
Und er: »Schatten wohl sinds, die von den Lasten
Der Bußpflicht sich losringen hier im Kreise.« –

    Wie Pilger ihres Wegs nachdenklich hasten
Und, wenn sich im Begegnen Fremde zeigen,
Nach ihnen wohl sich umdrehn, doch nicht rasten,

    So überholte uns ein ganzer Reigen
Andächtig-frommer, eilender Genossen,
Die uns bestaunten in tiefernstem Schweigen.

    Aus dunkler Höhlung kam ihr Blick geschossen.
Blaß war das Antlitz, das von Fleisch kaum wußte.
Und ihr Gebein war prall von Haut umschlossen.

    Nicht glaub ich, daß so gänzlich bis zur Kruste
Den Erysichthon Hunger aufgerieben,
Als ihm davor am meisten schaudern mußte.

    »Sieh da, vom Fall Jerusalems wohl blieben
Die übrig,« mußt ich da im stillen meinen,
»Als in den Sohn Marias Zähne hieben.«

    Die Augen glichen Ringen, leer an Steinen.
Wer »omo« sieht im Menschenantlitz stehen,
Der sähe hier auch leicht das m erscheinen.

    Wer glaubte je, kann er das Wie nicht sehen,
Daß Apfelduft und Wasser wohl entfachte
Solch Lustempfinden, wie es hier geschehen?

    Ich staunte noch, was sie so mager machte,
Weil mir nicht kund, welch Unheil sie belade,
Das Magerkeit und Schuppenhäute brachte,

    Und sieh! aus eines Hauptes Tiefe grade
Stierte mich an mit düsterm Augenlichte
Ein Schatten, der dann ausrief: »Welche Gnade!«

     Erkannt hätt ich ihn niemals am Gesichte.
Doch seine Stimme ließ mich deutlich lesen,
was ganz in seinen Zügen ward zunichte.

    Denn dieser Funke, wie entstellt gewesen
Sein Bildnis auch, entfachte mir geschwinde
Erinnrung an das Antlitz von Foresen.

    »Ach, nimm nicht Anstoß an der Schuppenrinde,«
Bat er, »drob meiner Haut Verfärbung eigen,
Noch daß ich völlig fleischberaubt mich finde.

    Nein, zaudre nicht, mir Wahrheit anzuzeigen:
Wer ist das Paar dort, das sich dir vereinte?
Und wie kommst du hierher? O brich dein Schweigen.« –

    »Dein Antlitz, das ich einst als tot beweinte,«
Versetzt ich, »macht aufs neu mich weinend klagen,
Weil es entstellt ist, wie ich nie vermeinte.

    Doch sag um Gott, was hat euch so geschlagen?
Nicht mich laß sprechen, der erstaunt ich stehe:
Schlecht giebt, wer andres sinnt, Antwort auf Fragen.«

    Er sprach: »Vom ewigen Ratschluß kommt solch Wehe.
Dies Wasser läßt er eine Kraft durchdringen
Und diesen Baum, durch die ich so vergehe.

    All diesen Scharen, die da weinend singen,
Soll jene Kraft nach wüstem Schlemmerleben
Durch Durst und Hunger Heiligung hier bringen.

    Der Früchte Duft, die dort verlockend schweben,
Der muntre Sprudel läßt in uns entbrennen
Nach Speis und Trank solch unbezähmbar Streben,

    Daß es, sooft wir diesen Kreis durchrennen,
Uns jedesmal aufs neue Qual einflößte ...
Ich sage Qual und sollt es Wonne nennen.

    Denn hin zum Baum treibt Sehnsucht uns, die größte,
Die Christum freudig trieb zum Ruf ›Eli‹,
Als er mit seinem Herzblut uns erlöste.«

     Ich sprach: »Forese, seit dem Tage, sieh,
Wo Gott die bessere Welt zum Heim dir wählte,
Bis heute noch nicht ein Jahrfünft gedieh.

    Wenn nun der Sündentrieb dich nichtmehr quälte
Und starb, eh heilsam dir der Schmerz gekommen,
Der reuig uns mit Gott stets neu vermählte,

    Wie bist du hier soweit schon aufgeklommen?
Daß du noch tiefer weiltest, sollt ich meinen,
Wo Zeit für Zeit wird zum Ersatz genommen.«

    Drob er zu mir: »Was mich sobald erscheinen
Hier ließ zur süßen Wermutsmarterspeise,
War meine Nella. – Mit maßlosem Weinen,

    Mit Bitten und mit Seufzern frommerweise
Hat sie dem Strand des Harrens mich entzogen
Und freigemacht all dieser andern Kreise.

    Der kleinen Witwe umsomehr gewogen
Ist Gott, ihr, die ich liebend durft umfassen,
Als sie der Tugend fast allein gepflogen.

    Denn zur Barbagia von Sardinien passen
Selbst Frauen nicht, so schamlos im Betragen,
Wie zur Barbagia, wo ich sie verlassen.

    O lieber Bruder, was soll ich dir sagen?
Schon sieht mein Auge eine Zukunft grauen,
Die unser Heut nicht zählt zu alten Tagen,

    Wo man von Kanzeln her Florenzias Frauen
Verbietet, also frech am Tuch zu sparen,
Daß man die Brust kann bis zur Warze schauen.

    Mußten bei Sarazenen und Barbaren
Wohl jemals Frauen, um verhüllt zu gehen,
Erst kirchliche und andre Zucht erfahren?

    Ach, dürften doch die Schamlosfrechen sehen,
Was ihnen schickt der Himmel unverzüglich,
Schon würd ihr Mund zum Heulen offenstehen.

     Denn wenn mein Seherblick hier nicht betrüglich,
Beginnt ihr Leid, eh bärtig dessen Wange,
Dem jetzt noch Eipopeia klingt vergnüglich.

    Doch, Bruder, sprich und birg dich nicht solange;
Du siehst, wie alle herzuschauen beginnen
Gleich mir, weil du die Sonne deckst am Hange.«

    Drob ich zu ihm: »Willst du dich recht besinnen,
Was du mit mir, was ich mit dir gepflogen,
So wirst du schwerlich Freude dran gewinnen.

    Doch hat mich solchem Lebenstand entzogen,
Der vor mir geht; kürzlich, als vollrund wieder
Der Bruder jener stand am Himmelsbogen

    (Zur Sonne wies ich). Er hat mich hernieder
Geführt durch tiefe Nacht der wahrhaft-Toten
Und mit mir diese wahren Fleischesglieder.

    Von dort half er, der Zuspruch stets geboten,
Zum Berge mir mit Steigen und Umkreisen,
Der grade macht, den krumm die Welt geschroten.

    Solang, sagt er, will er den Weg mir weisen,
Bis ich vor Beatricens Antlitz stünde;
Von dortan muß ich ohne ihn dann reisen.

    Vergil ists, der so sprach, wie ich dir künde
(Und auf ihn wies ich.) Und dies ist der Schatten,
Um den vorhin erbebten alle Gründe,

    Als eure Reiche ihn entlassen hatten.«


 << zurück weiter >>