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Zweiter Gesang

    Schon stand der Sonnenball am Horizonte,
Der mit dem höchsten Punkt im Mittelkreise
Sich durch Jerusalem erstrecken konnte,

    Und jenseitskreisend kam vom Ganges leise
Die Nacht mit ihrer Wage hergegangen,
Die wachsend ihr entfällt nach alter Weise,

    Sodaß der schönen Morgengöttin Wangen –
Sonst weiß und rot – alsob sie Alter dorrte,
Da wo ich stand, zu welken angefangen.

    Wir weilten so noch an der Meeresborte
wie man wohl zweifelt, welchem Weg zu trauen:
Schon eilt der Geist, noch weilt der Leib am Orte.

    Und sieh! Wie überrascht vom Morgengrauen
Durch dichten Nebel Mars in roter Helle
Fern überm Meer im Westen ist zu schauen,

    Dem ähnlich kam jetzt auf der Meereswelle,
O säh ichs wieder einst! ein Licht geflogen,
Wie nie geflogen ward mit solcher Schnelle.

     Denn als ich kaum das Haupt zurückgebogen
Ein wenig, um den Führer zu befragen,
Stands größer schon und heller auf den Wogen.

    Ein rätselhaftes Weiß dann sah ich ragen
Zu beiden Seiten, und die Unterkante
Schien nach und nach ein andres Weiß zu tragen.

    Noch schwieg mein Meister, bis das erstgenannte
Seitliche Weiß sich auswuchs zum Gefieder.
Doch als er dann den Fährmann recht erkannte,

    Rief er: »Geschwind, geschwind, und kniee nieder!
Sieh Gottes Engel! Falte deine Hände.
Bald siehst du mehr dergleichen Diener wieder.

    Sieh, stolz verschmäht er, was der Mensch erfände.
Kein Ruder braucht er. Seine Schwingen tragen
Als Segel ihn zum fernesten Gelände.

    Sieh, wie er himmelaufwärts sie läßt ragen,
Die Luft durchstreichend. Nie wird sein Gefieder
Gleich sterblichem Veränderung beklagen.«

    Und näher kam und heller strahlte wieder
Der Gottesvogel, daß ich von dem Glanze
Beinah geblendet schlug die Augen nieder,

    Als er ganz nahe und zum Uferkranze
Herflog in so geschwindem leichtem Boote,
Daß keine Spur es ließ im Wellentanze.

    Am Hecke stand der himmlische Pilote,
(Beseligt wär schon, wer nur von ihm sänge!)
Und drinnen saßen mehr als hundert Tote.

     »In exitu Israel«, schollen die Klänge
Des Chors, der anhob einstimmig zu singen
Den Davidspsalm in seiner ganzen Länge.

    Nachdem des Kreuzes Zeichen sie empfingen
vom Fährmann, warfen alle sich zur Küste;
Doch er schied wie er kam auf raschen Schwingen.

     Die Menge, die zurückblieb, tat als wüßte
Sie nichts vom Ort und blickte unentschlossen,
Alsob sie neue Dinge proben müßte.

    Rings schleuderte die Sonne unverdrossen
Blitzpfeile aus des Himmels Höhe droben,
Daß schon der Steinbock floh vor den Geschossen,

    Drob die Neuangekommnen zu uns hoben
Die Stirn und zu uns sagten: »Zeigt die Pforte
Zum Berg uns, wenn ihr kennt den Weg nach oben.«

    Da sprach Vergil: »Ihr glaubt, nach euerm Worte,
Daß wir schon heimisch sind auf diesen Wegen;
Doch wir sind Fremde hier gleich euch am Orte.

    Seit kurzem, kurz vor euch, auf andern Stegen
Herkamen wir, nach rauhen und schlimmen Fahrten,
Daß dieses Steigen hier ein Spiel dagegen.«

    Die Seelen, die sogleich bei mir gewahrten
Am Atemzug, daß mir noch Leben eigen,
Im Antlitz blasses Staunen offenbarten.

    Und wie dem Boten mit des Ölbaums Zweigen
Die Menschen neugiervoll entgegendringen
Und keine Scheu vor dem Gedränge zeigen,

    So ganz vertieft an meinem Anblick hingen
All die beglückten Seelen und vergaßen,
Daß sie, um schön zu werden, weitergingen.

    Und eine Seele, zärtlich-übermaßen,
Trat vor, die Brust mir innig zu umstricken,
Daß meine Sinne gleichen Wunsch besaßen.

    O nichtige Schatten, sichtbar nur den Blicken!
Dreimal um ihn sich meine Hände schlangen,
Dreimal zur Brust sie leer zurückzuschicken.

    Erstaunen, glaub ich, bleichte mir die Wangen;
Denn rückwärts sah den Geist ich lächelnd schweben,
Daß mich ihm nachzog törichtes Verlangen.

     Sanft bat er mich, zu zügeln mein Bestreben.
Da kannt ich ihn und flehte, daß er bleibe,
Um freundlich kurze Antwort mir zu geben.

    Er sprach: »Wie ich dich liebte einst im Leibe,
So lieb ich dich, befreit vom irdischen Zwange,
Drum steh ich. Aber sag, was dich hier treibe?« –

    »Casella mein, daß man mich hier empfange
Ein zweites Mal, mußt ich hierher mich wagen,«
Sprach ich. »Doch wo bliebst du indes solange?«

    Und er zu mir: »Kein Unrecht heißts beklagen,
wenn er, der wen und wann er will hier kürte,
Die Überfahrt mir mehrmals abgeschlagen,

    Da er gerechten Willen nur vollführte.
Und wirklich: seit drei Monden nahm in Gnaden
Er jeden auf, wer Lust zur Fahrt verspürte;

    Weshalb ich, angelangt an den Gestaden,
Wo sich der Salzflut mischt des Tibers Welle,
Huldvoll von ihm auch wurde eingeladen

    Am Mündungsort, wohin der Flügelschnelle
Stets eilt, weil dort sich sammelt an den Borden,
Was nicht hinab muß zu des Acheron Quelle.« –

    »Wenn dir nicht untreu durch Gesetz geworden,«
Sprach ich, »Kunst und Gedächtnis all der Lieder,
Die oft mit ihren tröstenden Akkorden

    Mich freuten, o so labe freundlich wieder
Die Seele mein, die her ermüdet reiste
Und unter ihres Leibes Last liegt nieder.« –

    » Die Liebe, welche mit mir spricht im Geiste
Begann er nun die schmelzendsüße Weise,
Die noch für mich an Süße hat das meiste.

    Mein Meister und ichselbst mitsamt dem Kreise,
wir fühlten uns die Wonne so beglücken,
Daß ganz dem Sinn entschwand die Umwelt leise,

     Und wir lustwandelnd lauschten mit Entzücken
Dem Lied. – Da hörten wir den würdigen Alten,
Der mahnend rief: »Was darf euch so berücken,

    Ihr Geister? Welche Trägheit, welch Erkalten!
Eilt hin zum Berg, die Hüllen abzustreifen,
Die Gottes Anblick euch noch vorenthalten.«

    Wie Tauben emsig trippeln, um die reifen
Feldkörner oder Trespen aufzupicken,
Einträchtig, ohne keck sich aufzusteifen,

    Jedoch, sobald ein Schrecknis zu erblicken,
Fortschwirren jäh und sich vom Futter trennen,
weil größere Sorgen sie mit Furcht umstricken:

    So sah ich hier fort vom Gesange rennen
Die neue Schar und hin zum Abhang eilen
wie Wanderer hasten, die das Ziel nicht kennen.

    Und wir auch eilten, ohne zu verweilen.


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