Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

B. Der Stoff

Man muß etwas zu sagen haben, ehe man etwas sagen kann.

Je mehr man weiß, desto mehr ist man in der Lage, auch etwas zu sagen. Allerdings ist es nicht so, daß gutes Wissen an sich Gewähr für gutes Reden ist, sonst müßten unsere größten Gelehrten alle gute Redner sein, und jeder hat doch schon erfahren, daß es gerade den gelehrten Herren oft sehr schwer, wenn nicht unmöglich ist, aus der Fülle ihres Wissens wirkungsvoll mitzuteilen. Das ist einfach zu erklären: Wer Jahre, Jahrzehnte in einem Wissensgebiet steht, setzt bei allen anderen nur zu leicht eine Fülle von Wissen auf diesem Gebiete voraus. Ausführungen, die von solchen Voraussetzungen ausgehen, wecken bei Zuhörern, bei denen diese nicht zutreffen, weder Interesse noch Verständnis. Auf der anderen Seite spielen die Redner eine klägliche Rolle, die Goethe als »Menschen mit kurzem Gedärm« verspottet: Menschen, denen man anmerkt, daß sie das, was sie am Abend von sich geben, erst am Morgen aufgenommen haben.

Bei den Alten finden wir hier ein Wort, das heut in diesem Zusammenhang nur noch wenig gebraucht wird: »Topik«. Man verstand darunter eine Sammlung allgemeiner Begriffe und Wahrheiten, mit denen jeder Redner vertraut sein mußte. Aristoteles stellt sie hoch: Die lehre das, was alle als wahr annehmen, woraus also jede Rede ihre Beweise schöpfen könne. Sie zeige, wie unsere Rede Überzeugung zu wecken vermöge. In den Rednerschulen mußte diese Topik unter den Händen pedantischer Lehrer eine Qual werden: eine Sammlung von Dichterworten, Geschichten, Beispielen, die dann für die einzelnen Arten der Reden als »Schmuck« zu verwenden waren. Wir behalten daraus die Wahrheit: Je mehr ein Redner weiß, namentlich auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, der Geschichte, der Dichtkunst, desto vielseitiger wird er den Stoff beleuchten und die Wege zur Erkenntnis und zum Willen seiner Hörer finden können. Wer als Redner andere belehren will, darf nie aufhören, selbst zu lernen!

Insbesondere auf zwei Gebieten muß jeder, der sich im öffentlichen Leben betätigen will, ein bestimmtes Maß von Stoff beherrschen. Da ist zunächst das Gebiet des eigenen Berufs. Wie oft haben es junge Menschen aller Art, die zu mir kamen mit einem Herzen voll heller Begeisterung und hoher Ideale, wie eine herbe Enttäuschung empfunden, als ich ihnen sagte: »Wollen Sie unserer Wahrheit wirklich wirksam dienen, dann haben Sie zunächst die Pflicht, in Ihrem Beruf etwas Tüchtiges zu leisten. Ihr Wort wird im engeren und im weiteren Kreise, bei Ihren Arbeitsgenossen und Ihren Mitbürgern, ein ganz anderes Gewicht haben, wenn jeder, auch der Gegner, zugeben muß, daß Sie in Ihrem Beruf ein tüchtiger Mensch sind und Ihre Privatwirtschaft in Ordnung halten können. Sonst wird man Ihnen bald mit Recht das bittere wort Geibels entgegenhalten: »Sie wollen die Welt auf den Schultern tragen und können nicht ordnen den eigenen Herd!«

Die peinlichste Erfüllung aller Berufspflicht aber macht nicht den ganzen Menschen unserer Zeit. Wer sich auf sie beschränkt, vertrocknet und verknöchert leicht zum Bureaukraten und Spießbürger, oder er wird ein Streber und Geldmacher, dessen bestes Teil verkümmert und verhungert. Wir dürfen uns nicht begnügen, in Beruf und Haus unsere Pflicht treu zu erfüllen – auch die öffentlichen Angelegenheiten in Gemeinde, Staat und Reich haben ein Recht an uns. Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß ein Unterrichten auf diesem Gebiete nicht eine Liebhaberei, auch nicht eine besondere Tugend ist, sondern eine klare, ernste Pflicht.

Sollte sich die Mehrzahl der Bürger dieser Pflicht dauernd entziehen, so werden die schwer errungenen politischen Freiheiten und Selbstverwaltungsrechte, so wird unsere ganze Verfassung eine innere Unwahrhaftigkeit. Und noch ist auf die Dauer jede Unwahrhaftigkeit eine Quelle der Fäulnis geworden für den Einzelnen wie für eine Gesamtheit. Das allgemeine Wohl muß zu kurz kommen, wo an den Fragen des öffentlichen Lebens nur die Interessenten Interesse beweisen.

Diese bilden stets eine verhältnismäßig kleine Schicht, die zahlenmäßig nie ins Gewicht fallen würde. Ihre Macht beruht wesentlich darauf, daß es so viele »brave« Menschen gibt, die zu bequem oder zu feige sind, sich ein selbständiges Urteil zu erarbeiten, und die deshalb geschickt geprägten Schlagworten und schillernden Scheingründen folgen. Die Masse dieser Menschen, die es persönlich »so gut meinen«, bildet eben wegen dieser Eigenschaft die größte Gefahr in unserm öffentlichen Leben. Der Ruf nach vertiefter staatsbürgerlicher Bildung klingt aus solcher Erkenntnis heraus heut wie ein Notschrei durch unser Volk!

»Wer in den Kämpfen seines Volkes parteilos bleibt, ist unwert bürgerlicher Ehre.« Dieses Wort Solons hat heute mehr denn je ein sittliches Recht. Parteinehmen aber heißt nicht, kritiklos irgendeiner Zeitungsmeinung folgen, sondern sich durch eigene, feste Arbeit ein selbständiges Urteil über die Hauptfragen des öffentlichen Lebens bilden, um dann bewußt die Entwicklung unseres Volkslebens nach der richtigen Seite hin beeinflussen zu helfen.

Die wichtigsten Fragen unserer Zeit aber sind nach der Aufrichtung der Reichsverfassung im tiefsten Grunde nicht mehr formal politischer, sondern wirtschaftlicher Natur.

Das Wort von Bernhard Shaw: »Die Liebe zur Nationalökonomie ist die Mutter aller staatsbürgerlichen Tugenden« ist ein guter Witz und deshalb aber auch mehr als ein Witz. Denn wirklich kennen lernt man nur, was man lieben lernt. Ja, in dem so viel verschlungenen Bereiche der sozialen Frage gilt es, eine grundsätzliche Stellung zu gewinnen.

 

Wie soll aber selbst guter Wille in dem Lärm der Tageskämpfe Wahres und Falsches, Wesentliches und Zufälliges scheiden?

Den sichersten Weg dazu bietet die Geschichte der Nationalökonomie. Nicht grundlos läßt unsere Sprache die Wörter Schicksal und Geschichte gleicher Wurzel entspringen. Das Völkerleben der Vergangenheit zeigt Aufgang und Niedergang klar in ihren Ursachen und Wirkungen. Reine Gewandtheit erkaufter Rhetoren, kein Tageserfolg kann da noch täuschen, wo die Weltgeschichte als Weltgericht ihr Wort gesprochen hat. Diese Geschichte macht auch in ihrem Werden und Wesen die Lehren und Bewegungen am besten verständlich, die in unserer Zeit um Köpfe und Herzen ringen. Nur wer weiß, wie die Verhältnisse bis heut geworden sind, hat ein Urteil darüber, wie sie morgen werden können. Geschichtliche Erkenntnis allein gibt einen festen Maßstab, an dem wir die flüchtigen Erscheinungen des Tages werten können, wir werden wissen, wo wir in der großen Entscheidung, vor der unser Volk jetzt steht: Mammonismus, Kommunismus oder Bodenreform? unsern Platz einzunehmen haben, wo wir in guten und bösen Stunden, allein oder in der Mehrheit, in Not oder Sieg mit unserm Wort, mit unserer ganzen Persönlichkeit, stehen müssen!

Und dieser Weg der Geschichte wird noch vor einem anderen Irrweg bewahren. Es kommt nicht darauf an, irgendwelche »absolute« Wahrheiten gleichsam im luftleeren Raum abstrakter Theorie zu gewinnen. Was logisch richtig ist, braucht deshalb noch lange nicht psychologisch richtig zu sein – d. h. es kommt darauf an zu erkennen, welche Wahrheit in der geschichtlichen Entwicklung unseres Volkes heut lebendig gemacht werden kann.

Den Tagesereignissen gilt es zu folgen, um sie verstehen und beeinflussen zu können. Dabei muß man sich allerdings mit Sorgfalt hüten, durch ihr tägliches Studium seine Kräfte zu zersplittern und zu verzetteln. Schon mancher fleißige und begabte Mann hat durch übertriebenes Lesen von Zeitungen und Zeitschriften (fliehe die Sammelmappen!) sich um jede Fähigkeit zu eigenem Denken und fruchtbarem Handeln gebracht.

Demosthenes soll die ganze Geschichte des Thukydides achtmal vollständig abgeschrieben haben, um sich Inhalt und Form dieses größten historischen Werkes seiner Zeit zu eigen zu machen. Wieviel Zeitungen und Broschüren hat der Glückliche in der Zeit, als er sich an einem Hauptwerk bildete, nicht zu lesen brauchen!

Wer wirklich unsere Entwicklung ein Stück vorwärts bringen will, der scheue auch nicht den Vorwurf einer gewissen Einseitigkeit. Fürchte Dich nicht, der Mann eines Gedankens genannt zu werden; denn wisse, wenn Du einen Gedanken wirklich hast, dann hast Du in der Regel gerade einen Gedanken mehr als die meisten Deiner Spötter! Ob der Mann eines Gedankens ein Querkopf und Sonderling, ein »wunderlicher Heiliger«, oder ein großer Mann wird, hängt allerdings davon ab, ob dieser eine Gedanke für unser Volk etwas Gleichgültiges und Nebensächliches, oder ob er etwas Großes und Notwendiges bedeutet.

Hat man einen grundsätzlichen Standpunkt gewonnen, so gilt es, sich eine gründliche Kenntnis anzueignen, damit man in der Lage ist, ihn zu vertreten, seine Wahrheit zu beweisen, die Einwände gegen ihn zu zerstreuen und dadurch den Willen anderer bestimmend zu beeinflussen.

Diese Stoffkenntnis bringt neben dem wiederholten Durcharbeiten der wichtigsten Werke namentlich auch die Aussprache mit anderen. Besonders fruchtbar kann sein, den Stoff, den man in Vorträgen behandeln will, nicht nur mit Freunden, sondern auch mit Gegnern durchzusprechen.

Ohne gründliche Kenntnis des Stoffes kann niemand eine wirklich gute Rede halten. Ja, der Mann, von dessen ernster Sachkenntnis die Hörer überzeugt sind, wird auch dann Eindruck machen, wenn die Form der Rede unvollkommen ist. In diesem Sinne sagt schon Aristoteles in seiner »Rhetorik«: »Die Beweise allein sind das wesentliche; das übrige ist Zusatz.« Und der alte Cato, der die hellenische Beredsamkeit haßte, die ihm nur ein Spiel mit Worten schien, mahnte: »Sei Herr des Stoffes, dann kommt der Ausdruck von selbst.« Wer wirklich Herr des Stoffes ist, dem ordnen sich auch Gedanken und Worte. Das, was einer wirklich versteht, kann er in der Regel auch verständig ausdrücken.

Die Hörerschaft hat viel häufiger, als man denkt, ein feines Gefühl dafür, ob die Redemühle wirklich Korn mit sich führt, oder ob sie nur deshalb so laut klappert, weil sie leer ist.

 

Allerdings ist auch eine große Gefahr zu vermeiden, die oft gerade den Gewissenhaftesten droht. Die Volkswirtschaft ist ein Gebiet, auf dem ständig alte Verbindungen sich lösen und neue sich schließen – ein Gebiet, auf dem man sein ganzes Leben lang forschen kann, ohne doch in allen Einzelerscheinungen ein völlig erschöpfendes Urteil zu erreichen. Man darf sich deshalb nicht abschrecken lassen, auf einem Gebiete rednerisch tätig zu sein, weil vielleicht noch irgendeine Frage vorhanden sein könnte, deren restlose Erforschung noch nicht möglich war.

Wer etwa warten wollte, mit einem Vortrage für die Bodenreform zu werben, bis z. B. in der Frage des Erbbaurechts alle juristischen Entwicklungsmöglichkeiten entschieden wären, würde schweres Unrecht begehen.

Ein Staatsbürger hat weder die Pflicht noch auch nur die Möglichkeit, auf jedem Gebiete ein vollendeter Sachverständiger zu sein. Hat er sich die großen Grundgedanken klar gemacht und bewußt die Richtung gewählt, nach der er den Gang unserer geschichtlichen Entwicklung beeinflussen will, so ist es auch seine Pflicht gegen unser Volk, für diese Überzeugung einzutreten.

Demgegenüber wird mancher vorsichtige Mann einwenden: »Gewiß, in einem Vortrag ist die Kenntnis jeder Einzelheit nicht nötig; aber was tue ich in der freien Aussprache, wenn nach einer solchen Einzelheit gefragt wird?« Und aus der Furcht vor solcher Möglichkeit unterbleibt mancher ernste Versuch, dem bei seinem Gelingen noch viele gute Arbeit gefolgt wäre. Dieser Einwand ist unberechtigt. Wer wirklich auf dem Gebiet der Geschichte und Lehre der sozialen Strömungen ehrlich gearbeitet hat, weiß in der Regel mehr als die meisten Zuhörer, und die gefürchteten Fragen nach irgendwelchen Einzelheiten werden nicht kommen. In den vielen Versammlungen, in denen ich einer Mehrheit von Gegnern gegenübergestanden habe, sind nur selten schwierige Einzelfragen angeschnitten worden.

Werden aber wirklich einmal Fragen aufgeworfen, die man nicht in allen Einzelheiten beantworten kann, so ergeben sich zwei Möglichkeiten. Einmal, man beantwortet die Frage einfach nicht. Nach langen Aussprachen wird es häufig gar nicht möglich sein, im Schlußwort auf alle Einzelheiten einzugehen. Die Zuhörer wollen das auch gar nicht. Man greift deshalb im Schlußwort nur einzelne Gedanken der Wechselrede heraus, die von allgemeiner Bedeutung sind, und zeigt daran, wie notwendig es ist, daß der Anregung des Vortrags dauernde Weiterbildung folge – eine Wendung, die sich nebenbei vorzüglich dazu eignet, zum Eintritt in eine gute Organisation aufzufordern, in der durch Zeitschriften und Vortragsveranstaltungen Gelegenheit zu dieser Weiterarbeit an den sozialen Aufgaben gegeben wird.

Aber auch die zweite Möglichkeit: eine offene Erklärung, daß man die juristische oder finanztechnische Einzelheit der Frage in diesem Augenblick nicht darlegen könne, schadet sehr wenig, wenn der Vortrag im allgemeinen den Beweis guter Sachkenntnis gegeben hat.

Dazu kommt noch eine merkwürdige Erfahrung, die wohl alle wirklich guten Redner schon gemacht haben. Einzelne Schwierigkeiten, die bei der Vorbereitung quälten und nicht völlig überwindbar schienen, werden oft blitzschnell erleuchtet und geklärt während des Vortrags selbst. Das Wort, das man ausspricht, wirkt nämlich nicht nur nach außen; es wirkt auch nach innen. Indem es den Gedanken gleichsam körperliches Leben verleiht, trennt und verbindet es diese Gedanken und klärt so ganze Zusammenhänge in oft ganz unerwarteter Weise.

Darum, so sorgsam die Frage der Beherrschung des Stoffs auch zu behandeln ist: gerade der Gewissenhafte muß sich davor hüten, seine Arbeits- und Kampfesfreudigkeit von dem Stoffe erdrücken zu lassen, damit nicht schon auf der ersten Stufe seine Hände mutlos sinken.


 << zurück weiter >>