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Sechstes Kapitel.

In Mrs. Evans' Anordnungen war ausdrücklich bemerkt, daß Mary-Ann, die schon jahrelang in ihren Diensten stehende Ajah, mich nach Punah begleiten solle, da diese Stadt auf dem Wege nach Madras, ihrer Heimat, lag. Die gute Mary-Ann, die tiefbetrübten Herzens zu ihren Angehörigen zurückkehren sollte, war eine hübsche Indierin mittleren Alters, die die ihrem Stamme eigene malerische Tracht, das sogenannte Saree, trug, einen viele Meter langen schmalen Stoffstreifen, in den sich die Eingeborenen von Madras mit großer Geschicklichkeit zu hüllen verstehen.

Als endlich alle Vorbereitungen getroffen waren, schrieb ich an Mrs. Berners nach Punah und teilte ihr den Tag meiner Abreise mit. Dann gab ich Mr. Evans noch das Geleite, auf die Bahn. Er fuhr in nördlicher Richtung, während mein Reiseziel im Süden lag. Unter herzlichem Mitgefühl und mit dem Versprechen, uns gegenseitig zu schreiben, verabschiedeten wir uns, dann bestiegen Mary-Ann und ich unsern Ochsenwagen, und fort ging es in gemächlicher Gangart.

Nachdem wir einen steilen Abhang glücklich hinter uns hatten, gelangten wir auf die nach Jubbulpore führende Straße, auf der wir einen Weg von neunzig Meilen bis zur Eisenbahnstation zurückzulegen hatten. Für diese Entfernung rechnete man zwei Tage, doch hatte es allen Anschein, daß wir länger unterwegs sein würden, denn es kam öfters vor, daß keine frischen Ochsen aufgetrieben werden konnten, was oft stundenlange Verzögerungen zur Folge hatte. Die Nacht verbrachten wir in Gasthäusern, die Eigentum der Regierung und von dieser den Reisenden für die Unterkunft zur Verfügung gestellt waren und in der Nähe der Hauptverkehrsstraßen lagen. Das erste dieser Gebäude stand in einem Orangenhain, hatte ein rotes Dach und sah hübsch und freundlich aus. Ein andres, in dem wir die nächste Nacht zubrachten, war von Bäumen überschattet, dicht an einem Flußufer gelegen und – von Ratten bewohnt, großen, kecken Ratten, die an den Punkahschnüren Punkah ist ein großer indischer Fächer mit einer Vorrichtung, durch die er von einem außerhalb des Zimmers befindlichen Diener bewegt werden kann. Anm. d. Übers. auf und ab liefen und mir das fürchterlichste Entsetzen einflößten.

Am Abend des dritten Tages waren wir noch vierzig Meilen von der Station entfernt, da die Schwierigkeit, frische Ochsen zu bekommen, immer mehr wuchs, und so langten wir an unserm nächsten Bestimmungsort mit einem Gespann an, das durch die doppelte Wegstrecke, die man ihm zugemutet hatte, vollständig erschöpft war. Schon den ganzen Tag hatte die Ajah über Kopfweh und Fieber geklagt, und wir beide waren von Herzen dankbar, als unsre Ochsen endlich zu einem hübschen weißen Bungalow hinaufkeuchten, der etwas abseits von der Landstraße mitten in einem Bambusgebüsch stand.

Sonderbarerweise aber war kein Mensch in der Nähe dieses Gasthauses zu sehen, und auch der Verwalter kam nicht wie sonst zu unserm Empfang herbei. Vergebens riefen wir in den flehentlichsten Tönen: »Khansamah Jee! O Khansamah Jee!« Keine Antwort erfolgte.

»Er wird wohl im Bazar sein,« sagte unser Ochsenlenker, worauf wir ausstiegen und unser Gepäck auf die Veranda bringen ließen. Nachdem dies geschehen war, nahm unser Führer – er war einer von Mr. Evans' Dienern – den Ochsen das Joch ab, lockerte ihre Zügel und schickte sich an, ein Feuer anzuzünden, um sich sein einfaches Mahl zuzubereiten. Da die Ajah fortwährend über Kopfweh und Fieber klagte, machte ich ihr mit einigen Decken ein Lager zurecht und begab mich dann auf die Suche nach der Dienerschaft.

Das Gasthaus erwies sich als vollständig verödet, und so schlug ich einen schmalen Fußpfad ein, der mich, wie ich hoffte, zum Bazar führen sollte, denn ein solcher Kaufladen ist ein notwendiges Anhängsel nicht nur jeder Stadt und jedes Dorfes, sondern auch jedes Gasthauses. Bald entdeckte ich ein ziemlich großes Dorf, das indes ebenfalls ausgestorben zu sein schien. Die doppelte Reihe von Läden und Wohnhäusern stand leer und an den meisten fehlte das Dach. Manche hatten sogar große, in die Mauer gehauene Löcher, und aus allen drang der scharfe Geruch eines starken Desinfektionsmittels. Keine Menschenseele, ja nicht einmal ein Tier war zu sehen.

Schon bei unsrer Ankunft vor dem einfachen Gasthause hatte die Sonne sich angeschickt, hinter einem Meer von rötlichem Golde zu versinken. Nun schimmerte von all dem Glanze der indischen Abendbeleuchtung nur noch ein dunkelroter Streifen im Westen. Während ich wie versteinert am Rande eines Brunnens stand und staunend auf die seltsame Umgebung starrte, senkte sich, wie stets in Indien, die Dämmerung so rasch wie ein niedergehender Vorhang herab, und nun wurde es mir plötzlich bewußt, daß ich mich allein in dem gespensterhaften Dorfe und im Dunkeln befand. Rasch suchte ich denselben Weg zu gewinnen, den ich gekommen war, allein es dauerte doch ziemlich lange, bis ich wieder aus den Fußpfad gelangte. Als ich dann die Bambusallee nahezu erreicht hatte, hörte ich plötzlich eilige Hufschläge, die mir folgten.

Sofort blieb ich stehen und wartete. Nach wenigen Augenblicken tauchte die Gestalt eines Reiters aus dem Dunkel auf, und kühn stellte ich mich ihm in den Weg.

»Wo sind die Bewohner dieses Bungalows und jenes Dorfes dort, o Mann?« rief ich ihm auf Hindostanisch zu. »Was ist mit ihnen geschehen?«

Und aus der Finsternis heraus antwortete eine Stimme auf Englisch: »Hier wütet die Pest.«

»Die Pest!« stammelte ich als Antwort auf diese schreckliche Kunde.

Jetzt war es mir plötzlich klar, warum es in dieser ganzen Gegend so wenig Ochsen gab, warum wir während der letzten zehn Meilen kaum einer menschlichen Seele begegnet waren und warum die Strohhütten alle verlassen standen.

»Ich sah Ihre Tonga heranfahren,« fuhr der Fremde fort, indem er vom Pferde stieg, »und ritt so rasch, als ich konnte, hierher, um Sie vor der Gefahr zu warnen.«

»Es war sehr freundlich von Ihnen, sich zu bemühen, und ich wäre Ihnen für Rat und Hilfe dankbar,« erwiderte ich, während wir dem aus der Dunkelheit uns nur matt entgegenschimmernden weißen Bungalow zugingen. »Meine Ajah und ich sind auf dem Wege nach der Station Dassi und hatten die Absicht, die Nacht hier zuzubringen, allein das Haus ist wie ausgestorben. Ich habe gerufen und alles durchsucht: es ist niemand da.«

»Da wären wir nun,« sagte mein Begleiter, als wir die ersten Stufen der Veranda erreicht hatten.

Außer dem jammervollen Stöhnen der Ajah war kein Laut ringsumher zu hören.

»Den ganzen Tag über hat sie schon über Kopfweh geklagt,« erklärte ich, während wir die Stufen hinaufstiegen. »Ich glaube, sie hat Fieber.«

Ein Schauder lief mir dabei über den Rücken, denn eine angstvolle Stimme in mir flüsterte: Sollte es die Pest sein?

»Gut, ich werde sogleich Licht machen,« erklärte der Fremde, dessen ganze Sprechweise den gebildeten Mann verriet.

Bald darauf hörte ich ihn im Nebenzimmer hantieren und ein Streichholz anzünden. Im nächsten Augenblick erschien er mit einer Laterne, die er aus einen zwischen uns stehenden Tisch niederstellte. Dann sahen wir uns beide an – und das Herz drohte mir vor Schreck stillzustehen: der Herr mir gegenüber war Mr. Thorold!

Mehrere Sekunden lang starrte auch er mich unbeweglich an, als könne er seinen Augen nicht trauen.

»Miß Ferrars? Ist es möglich!« stieß er endlich leise hervor. Und dann fügte er lauter hinzu: »Was um des Himmels willen führt Sie hierher?«

»Ich befinde mich auf der Reise von Lohara nach der Station Dassi,« begann ich zitternd. Es wurde mir schwer, die Worte hervorzubringen, da der Atem mir tatsächlich einen Augenblick stockte. »Ich gehe in eine Stellung nach Punah.«

»Sie hätten diesen Weg zu keiner schlimmeren Zeit machen können, denn die Pest wütet in der ganzen Gegend. Ihnen kann ich wohl unbesorgt diese ernste, fürchterliche Wahrheit sagen, da Sie, wie ich weiß, gute Nerven haben.«

Was wollte er damit sagen? Lag irgend eine höhnische Anspielung in seinen Worten verborgen? Doch jetzt war keine Zeit, darüber zu grübeln.

»Wir wollen ja gewiß gleich morgen in aller Frühe wieder abfahren, falls wir frische Ochsen bekommen können, denn die unsrigen sind halb tot,« antwortete ich demütig. »Und dann wäre ich Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie mir ein wenig Milch für die Ajah verschaffen könnten. Sie fühlt sich so sehr krank.«

»Krank?« Er griff sofort nach der Lampe. »Erlauben Sie, daß ich nach ihr sehe.«

Rasch trat er ans Lager, hielt die Lampe in die Höhe und schaute der Ajah scharf prüfend ins Gesicht. Vom Lichte geblendet, blinzelte sie ihn an und murmelte stöhnend: »O Sahib, ich sehr krank ... bald sterben.«

Ihre Augen hatten einen angstvollen Ausdruck, die Stimme war verschleiert, die Zunge schwer. Mit einer Miene, als sei er ein Arzt von Beruf, befühlte Mr. Thorold ihre glühende Hand und dann den Puls.

»Nur Mut, Ajah Jee!« sagte er auf Hindostanisch. Hierauf trat er zum Tisch zurück, stellte die Lampe wieder zwischen uns und nickte bedeutungsvoll mit dem Kopfe: »Es ist ein Pestfall,« flüsterte er mir zu.

»Wissen Sie das gewiß? Sie sind doch kein Arzt?«

»Nein, aber ich habe viel Erfahrung. Ich bin der Kommandant des Pestlagers.«

Sprachlos starrte ich ihn an.

»Warum sehen Sie so erstaunt aus?«

»Ich glaubte, Sie seien Jurist.«

»Das bin ich auch. Allein wir Beamten in Indien müssen alle an dem Orte zu helfen suchen, wo man uns gerade am notwendigsten braucht. Die Bevölkerung dieses Bezirkes ist durch die Seuche auf entsetzliche Weise dezimiert, und da hat mich meine Vorgesetzte Behörde sozusagen ›ausgeliehen‹.«

»Haben Sie noch immer viele Kranke?« stammelte ich.

»Ach, fragen Sie mich danach lieber nicht! Immerhin ist es doch schon etwas besser geworden. Allein es fehlt entsetzlich an Personal. Einer unsrer Hilfsärzte liegt nun auch danieder, und unsre Oberschwester ist am Montag gestorben.« Er warf einen Blick nach der Ajah hinüber und fuhr fort: »Ich werde Ihre Ajah sogleich auf einer Tragbahre ins Krankenhaus bringen lassen. Wenn Sie Ihren Ochsenführer entbehren können, so will ich ihn mit einem Zettel fortschicken.« Damit zog er Notizbuch und Bleistift hervor und begann zu schreiben.

»Ich möchte so gern, daß Sie noch heute abend von hier fortkämen,« sagte er dann, »und wäre es auch nur zwei oder drei Meilen weit. Sicherlich können Ihre Ochsen sich noch so weit schleppen.«

Ich antwortete nicht, sondern nahm den Zettel aus seiner Hand, trat vor die Tür und rief in die Nacht hinaus: »Golab Sing! Golab Sing! ... O Golab Sing!« Allein die einzige Antwort war der Schrei eines Nachtraben.

»Warten Sie, ich will selbst gehen und ihn suchen ... doch nein, es ist besser, ich überbringe die Botschaft selbst. Zugleich will ich Befehl geben, daß Ihre Tonga hierhergebracht wird, und sobald wir die Ajah fortgeschafft und Sie etwas gegessen haben, müssen Sie weiterfahren. So grausam und gewalttätig es auch erscheinen mag, Sie allein in die Nacht hinauszuschicken, so liegen doch zwingende Gründe dazu vor, und ich weiß, daß Sie eine tapfere junge Dame sind.«

Bei diesen Worten suchte er ein Kerzenstümpfchen hervor, zündete es an und steckte es in eine Flasche, dann eilte er mit seiner Windlaterne fort. Müde setzte ich mich an den Tisch und wartete, wie mir schien, eine endlos lange Zeit. Doch waren wohl nicht mehr als zwanzig Minuten verflossen, als Mr. Thorold außer Atem wieder erschien.

»Der Bursche muß Lunte gerochen haben. Er ist durchgebrannt, und zwar, was das Schlimmste ist, mitsamt dem Wagen und den Ochsen, und ich bin nicht in der Lage, ihn einholen zu lassen. Das ist eine sehr schlimme Geschichte,« fuhr er fort, indem er die Laterne niedersetzte und mich nachdenklich ansah. »Die Ajah kann ja leicht fortgebracht werden, was ich aber mit Ihnen anfangen soll, weiß ich wirklich nicht.«

»Jedenfalls werde ich nicht allein hierbleiben,« erklärte ich bestimmt.

»Nein, das sollen Sie auch nicht; dieser Bungalow ist verseucht.«

»Ich dachte nicht an die Ansteckung; davor fürchte ich mich nicht, vielmehr aber vor Ratten. Wissen Sie ganz bestimmt, daß der Ochsenführer durchgegangen ist? Er ist einer von Mr. Evans' Dienern und sehr zuverlässig und ehrlich.«

»Ehrlich! Jawohl und geht mit einem Ochsenfuhrwerk durch! Übrigens haben die Eingeborenen eine solch wahnsinnige Angst vor Pest und Cholera, daß auch der treueste Diener davor entflieht, ohne sich lang zu besinnen ... Sehen Sie, dort drüben glimmt noch sein Feuer. Wahrscheinlich ist er ins Dorf gegangen, um Öl und Mehl zu holen, und als er den Stand der Dinge merkte, ist er hierher zurückgekehrt und mit dem Fuhrwerk entflohen, ohne Ihnen ein Wort zu sagen. Daß er das Fuhrwerk mitgenommen hat, ist das Allerschlimmste. Wie wollen Sie nun nach Dassi kommen? Hier können Sie unmöglich bleiben.«

»Allerdings, und doch kann ich auch nicht fort. Das ist wirklich entsetzlich!«

»Ich muß gestehen, es wundert mich, daß Ihre Bekannten nicht Erkundigungen einzogen, ehe sie Sie diesen Weg einschlagen ließen.«

»Ach, es waren die besten, gütigsten Menschen von der Welt,« antwortete ich warm. »Mrs. Evans ist vor acht Tagen gestorben und ihr Mann mußte nach England reisen, und trotz seines schweren Kummers dachte er an mich und gab mir seine Ajah, seine Tonga und seinen Kutscher zur Begleitung mit.«

»Und nun hat die Ajah, dieses arme Ding, die Pest! Wohnten Sie lange bei dieser Familie?«

»Zehn Monate. Die ganze Zeit, seit ...« Errötend hielt ich inne.

»Seitdem ich Sie zuletzt sah,« fuhr er unerschütterlich fort.

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,« erklärte ich plötzlich. »Nehmen Sie mich mit in Ihr Lager und übertragen Sie mir den freigewordenen Posten der Krankenpflegerin.«

»Ein mutiges Anerbieten, das muß ich sagen, aber natürlich vollständig unannehmbar.«

»Warum denn unannehmbar? Jedenfalls verlange ich, daß man mich die Ajah pflegen läßt, denn sie ist meiner Obhut anvertraut. Übrigens habe ich schon oft gehört und gelesen, daß Europäer nicht so leicht angesteckt werden und ...«

»Miß Smith war eine Europäerin,« unterbrach er mich; »eine Engländerin wie Sie.«

»Der Blitz schlägt nicht zweimal auf dieselbe Stelle,« antwortete ich zuversichtlich. »Ich möchte sehr gern Miß Smiths Stelle einnehmen. Ich bin jung, gesund, willig und verstehe wenigstens etwas von der Krankenpflege.«

»Und wenn Sie nun die Pest bekommen?« gab er finster zurück. »Nein, ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen. Sie müssen unbedingt von hier fort.« Seine Stimme nahm einen fast befehlenden Ton an.

»Andre bekommen die Pest doch auch nicht: Sie zum Beispiel,« widersprach ich mit erzwungener Ruhe.

Nun wandte er sich mir plötzlich ganz zu und sah mich scharf an. »Miß Ferrars, Sie wissen nicht, was Sie verlangen. Sie haben nicht den leisesten Begriff von all dem Entsetzlichen, das Sie hier zu sehen bekämen, von der schweren Arbeit und der fortgesetzten Nervenanspannung und Aufregung, der Sie ausgesetzt wären. Sie sind an solche schreckliche Bilder nicht gewöhnt ... Nein, nein, davon kann keine Rede sein,« schloß er entschieden ablehnend.

»Vor dem, was andre Leute aushalten müssen, scheue auch ich nicht zurück. Hier bietet sich mir Gelegenheit, Gutes zu tun und mich nützlich zu machen; meine Gegenwart ist wünschenswert ...«

»Sie werden aber nicht gewünscht,« entgegnete er ungeduldig.

»Nicht von Mr. Thorold, aber von leidenden, unglücklichen Menschen. Sie sagten ja vorhin selbst, daß es Ihnen so sehr an Personal mangle. Hier ist der richtige Platz für mich, und ich werde ihn mir nicht rauben lassen.«

»Wenn ich nun aber meine Einwilligung nicht gebe?« antwortete er kalt.

»Auf Ihr Gewissen hin frage ich Sie: haben Sie das Recht, meine Dienste zurückzuweisen? Nicht Ihre persönlichen Vorurteile dürfen hier in Betracht kommen, sondern die Bedürfnisse jener armen Geschöpfe.«

»Nicht nur das Wohl der Kranken, sondern auch das Ihrige habe ich zu bedenken, Miß Ferrars. Sie, ein Mädchen, das wohlbehütet von seinen Verwandten in England aufgewachsen ist, verlangen von mir, daß ich Ihnen erlaube, Ihr junges Leben den Greueln und Gefahren eines Pestlagers auszusetzen, aus denen Sie gealtert und traurigen, bedrückten Herzens wieder hervorgehen würden?«

»Gar so sehr altern werde ich in den paar Monaten doch wohl nicht,« widersprach ich fast spöttisch.

»Und wie ist es mit Ihrer Stellung in Punah? Glauben Sie, daß eine Dame besondre Lust haben wird, eine Gesellschafterin bei sich aufzunehmen, die aus einem Pestkrankenhause kommt?«

»Es ist ja gewiß sehr freundlich von Ihnen, sich um meine Angelegenheiten zu bekümmern. Warum machen Sie aber mit mir, der Ihnen gänzlich Fremden, so viele Umstände?«

»Weil es meine Pflicht ist und ... weil ich nicht anders kann,« lautete die freimütige Antwort.

»Nein, Sie können allerdings nicht anders!« entgegnete ich triumphierend. »Sie müssen mich im Lager aufnehmen und mir für eine Beschäftigung sorgen.« Ich schwieg einen Augenblick, dann fuhr ich immer eindringlicher fort: »Sie haben wirklich kein Recht, mein Anerbieten abzulehnen. Fortschicken können Sie mich nicht, und ebensowenig mich hier allein und ohne Nahrung bei den Ratten zurücklassen. Sie müssen doch selbst einsehen, mir bleibt nichts andres übrig als das Lager.«

»Ja, ich sehe ein, daß mit Ihnen nicht zu rechten ist und daß Sie entschlossen sind, Ihren Willen durchzusetzen! Folgen Sie also Ihrem Kopfe. Sie müssen sich dann aber impfen lassen ...«

»Natürlich! Sechsmal, wenn Sie wollen,« lautete meine kühne Antwort.

»Sie werden im Frauenspital angestellt werden. Die Kost ist derb und einfach, die Arbeitsstunden sind lang und schwer. Zudem werden Sie die Tyrannei unsres Apothekers zu fühlen bekommen.«

»Es ist gut, daß Sie mir dies alles sagen. Im übrigen erwarte ich natürlich keinen Luxus; ich bin auf alles gefaßt.«

»Auch die Pest können Sie bekommen und sterben.«

»Wenn das der Fall sein sollte, so sterbe ich wenigstens für eine gute Sache!« entgegnete ich stolz. »Ich stehe allein auf der Welt. Mein Leben hat für niemand Wert, denn ich habe weder Eltern noch nahe Verwandte. Niemand würde mich betrauern, und überdies bin ich alt genug, einen selbständigen Entschluß zu fassen. Ich habe mich nur vor meinem eigenen Gewissen zu verantworten.«

»Sie sind in der Tat ein selbständiges, entschlossenes Mädchen. Wenn aber auch sonst niemand etwas daran liegen sollte, mir wenigstens ist es nicht gleichgültig, ob Sie sterben oder nicht.«

Hochmütig sah ich ihn an. Sollte er es wagen, unter diesen ernsten Umständen mit mir zu scherzen? Endlich sagte ich: »Bitte, suchen Sie nicht mit Gewalt Schwierigkeiten hervor, da es nun doch einmal mein Wunsch ist, mich nützlich zu machen. Ich bin kräftig und habe den besten Willen. Während der letzten Monate habe ich häufig meine Freundin, Mrs. Evans, gepflegt; die Ajah könnte für mich sprechen.«

»Das kann sie jetzt nicht einmal für sich selbst. Es ist ein ernster Fall. Wenn Sie eine Geschwulst hinter den Ohren entdecken, so ist das stets ein schlimmes Zeichen.«

»Und was für Mittel wenden Sie an?«

»Frische Luft, gute Nahrung, warme Umschläge und sorgfältigste Pflege. Mehr können wir nicht tun. Die Eingeborenen freilich glauben die Krankheit mit nächtlichen Prozessionen oder einem wütenden Ritt auf einem Büffel zu besiegen ... Doch hier kommt endlich die Tragbahre,« fügte er hinzu, als wir ein Licht sahen und gedämpfte Stimmen in der Nähe vernahmen.

Noch hatte er kaum zu Ende gesprochen, als die Tragbahre ins Zimmer gebracht und auf den Boden niedergestellt wurde, worauf die Träger und Mr. Thorold die Ajah in die Höhe hoben, während ich die Kissen und Decken in Ordnung brachte und ihr versicherte, daß ich sie nicht verlassen werde. Sie lag jedoch in tiefer Betäubung und verstand meine Worte wohl kaum.

Nachdem die Männer dann mit ihrer Last in der Dunkelheit verschwunden waren, wandte sich Mr. Thorold wieder zu mir. »Das Lager ist zwei Meilen von hier entfernt. Können Sie so weit zu Fuß gehen, oder wollen Sie sich auf mein Pferd setzen? Es ist ganz sicher.«

»Nein, ich danke; ich kann gut gehen,« antwortete ich kurz.

»Was Ihr Gepäck anbelangt,« fuhr Mr. Thorold sich umschauend, fort, »so werde ich die kleineren Stücke nachher holen lassen. Die großen Koffer können zurückbleiben; sie stehen hier vollständig sicher, da niemand dieses Haus betritt, seitdem der letzte Hausverwalter gestorben ist. Kommen Sie jetzt, bitte.«

Und indem er mit der einen Hand sein Pferd führte und mit der andern die Laterne trug, machten wir uns, den Krankenträgern folgend, auf den Weg.

Es sah aus, als gingen wir in einem Leichenzuge. Der Mond schien nicht, dagegen war der violette Himmel mit Sternen übersät. »Mein Stern ist jedenfalls jetzt nicht im Steigen,« sagte ich zu mir selbst, als ich vom funkelnden Firmament auf den rauhen Pfad niederschaute. Da befand ich mich nun in der Gesellschaft gerade des Mannes, dem ich vor allen andern aus dem Wege zu gehen wünschte, und folgte ihm in Ermanglung eines andern Obdaches nach einem Pestlager!

Hin und wieder nur unterbrach mein Begleiter unser Schweigen durch eine kurze Bemerkung oder Frage.

»Es ist ein unangenehmes Gehen hier im Dunkeln, und wie unwirtlich wird Ihnen erst dort alles erscheinen,« sagte er, auf die jetzt auftauchenden dunkeln Umrisse niedriger Hütten deutend. »Mrs. Manuel, die Frauenärztin, wird sich Ihrer annehmen, auch können Sie die Mahlzeiten zusammen einnehmen. Sie ist eine Eurasierin, denn ihre Mutter war eine Indierin. Das wird Ihnen hoffentlich nicht unangenehm sein?«

»Nicht im geringsten.«

»Sie ist eine kluge, gewandte Frau. Da sie jedoch von kleiner und unscheinbarer Gestalt ist, so hat sie wenig Autorität über ihre Untergebenen, während diese an einer Engländerin stets emporsehen. Sie werden also die Autorität, jene die Erfahrung für sich haben. Sie müssen eben sehen, wie Sie sich am besten miteinander zurechtfinden.«

»Ich werde mein Möglichstes tun. Ist sie der einzige Arzt in diesem großen Lager?« Beim Näherkommen sah ich nämlich, daß es die Ausdehnung einer Stadt hatte. Lichter schimmerten, Stimmen wurden laut, und die Luft war vom Geruch scharfer Desinfektionsmittel erfüllt.

»O nein, wir haben einen vorzüglichen indischen Arzt, der jedoch die Frauenabteilung nicht zu betreten wagt; überdies hat er ohnehin schon alle Hände voll zu tun. Dagegen ist bei den Frauen ein Apotheker namens Erasmus, der dort die Ordnung aufrecht erhält. Sehen Sie, dort, wo die Tragbahre niedergestellt wird, ist sein Reich. Wenn es nach meinem Willen gegangen wäre und ich wenigstens ein Paar dürre Ochsen und einen elenden Karren hätte auftreiben können, so würde Ihr Fuß Yellagode niemals betreten haben.«

Mittlerweile waren wir vor eine offene Tür gekommen, aus der ein Lichtstrahl fiel und auf deren Schwelle ein wohlbeleibter, grauhaariger Eurasier in Mütze und Hemdärmeln stand. Er war augenscheinlich bei seiner Mahlzeit gestört worden, denn mit noch vollem Munde schrie er in erregtem Tone heraus: »Ist die Krankenschwester aus Bombay gekommen?«

»Nein, Erasmus, es ist eine freiwillige Pflegerin,« antwortete mein Führer. »Ihre Ajah ist oben im Postbungalow erkrankt – dort wird sie eben gebracht,« fügte er, auf die Tragbahre zeigend, hinzu. »Miß Ferrars aber hat sich erboten, bei der Pflege der Frauen und Kinder zu helfen.«

»Hm, hm.« Noch ganz von seiner Enttäuschung erfüllt, musterte er mich so mißtrauisch, daß ich meines ganzen Mutes bedurfte, um seinen scharfen Blicken standzuhalten. »Haben Sie Erfahrung?« fragte er barsch.

»Nein, aber den besten Willen.«

»Verschiedene Leute wünschen Sie zu sprechen, Mr. Thorold,« fuhr Erasmus fort. »Lauter dringende Angelegenheiten.«

»Gut, gut, dann überlasse ich diese Dame also jetzt Ihrer Obhut. Sie muß sofort geimpft werden und etwas zu essen bekommen. Bitten Sie Mrs. Manuel, daß sie sich ihrer annimmt. Gute Nacht, Miß Ferrars. Ihre Sachen werde ich sogleich hierherbringen lassen.«

Damit zog Mr. Thorold die Mütze und eilte hinweg.

*

Erasmus beschäftigte sich nicht nur damit, Arzneien in seiner kleinen Apotheke zu bereiten, sondern er herrschte auch mit unumschränkter Gewalt und eisernem Zepter über die Frauenabteilung des Pestlagers. Er erließ Verordnungen und Befehle, schnauzte seine Gehilfen an und strafte jeden Ungehorsam, jede Nachlässigkeit und Versäumnis mit unnachsichtlicher Strenge. Dabei war er ein großer, kerngesunder Mann von ungeheuerer Körperkraft. Täglich machte er mehrmals seine Rundgänge durch die Krankenstuben, fühlte den Patienten den Puls und besichtigte die Zungen, wobei er Drohungen oder Ermutigungen, Ratschläge oder Ermahnungen austeilte, und ich bin fest überzeugt, daß manche Patientinnen allein nur aus zitternder Furcht vor Erasmus am Leben geblieben sind. Erlaubte er doch keiner von ihnen, sich der Todesangst zu überlassen, und schon der Ton seiner Stimme rüttelte sie aus ihrer gefahrbringenden Schlafsucht auf.

Sein Personal an Pflegerinnen, das zum Teil der niederen Kaste angehörte und müde und überarbeitet war, erwies sich vollends ganz als weiches Wachs in seiner Hand. Da war vor allem Mrs. Manuel, die doch seine Vorgesetzte war, die er aber aufs schmählichste unterdrückte und mit der größten Mißachtung behandelte. Ferner waren noch vier indische Berufspflegerinnen mit ihren Gehilfinnen da, doch genügten diese bei weitem nicht für die große Zahl der noch täglich neu eingehenden Kranken. Kein Wunder also, daß der Apotheker sich sofort nach Mr. Thorolds Abgang mit einer wahren Wut meiner bemächtigte.

Zuerst führte er mich in sein Allerheiligstes und ließ mich an seinem Abendessen teilnehmen, das aus scharfgewürztem, in Fleischbrühe gekochtem Reis und vorzüglich duftendem Kaffee bestand, für den ich ihm von Herzen dankbar war. Nachdem wir unter feierlichem Schweigen unser Mahl eingenommen hatten, mußte ich ihm dann eilig ins Operationszimmer folgen, wo er mich mit einem scharfen, einer Stopfnadel ähnlichen Instrument impfte, das er mit sichtlichem Vergnügen in das zuckende Fleisch meines Armes stieß. Hierauf erteilte er mit lauter Stimme in einer mir fremden Sprache einen Befehl, und nach kurzer Zeit erschien in atemloser Hast eine kleine Frau in grauem Kleide und unterwürfiger Haltung unter der Türe.

»Mrs. Manuel, hier ist eine Probeschwester für Sie,« verkündigte Erasmus mit der Haltung eines Herrschers, der einem Sklaven eine Gunst erweist.

Mrs. Manuel war von tiefdunkler Farbe. Ihr schwarzes Haar trug sie glatt aus der hohen Stirn zurückgekämmt, und aus dem klugen, aber häßlichen Gesicht funkelten die kleinen, runden Augen wie zwei schwarze Schuhknöpfe. Einen Augenblick sah sie mich staunend an und blickte auf meinen modernen Hut, meinen seidenen Staubmantel und meine hübschen braunen Schuhe – Bestandteile meiner Hochzeitsaussteuer.

»Ja, ja, nicht wahr,« fuhr Erasmus fort, »sie sieht nicht aus wie eine vielversprechende Krankenpflegerin. Ihre Ajah ist an der Pest erkrankt, und Mr. Thorold brachte sie selbst vom Postbungalow herüber. Morgen können Sie Miß Ferrars in Baracke vier unterbringen. Führen Sie sie jetzt in ihr Zimmer.«

»Jawohl, Mr. Erasmus! ... Gewiß, Mr. Erasmus! Aber in was für ein Zimmer?« fragte die Doktorin schüchtern.

»Nun, in Miß Smiths Stube, natürlich; eine andre gibt es ja nicht. Und sollte ihr die nicht behagen –« (er warf mir einen scharfen Blick zu) »– so bleibt ihr ja immer wieder der Postbungalow ... Morgen früh, Punkt acht Uhr, haben Sie sich bei mir zu melden, dann werde ich Sie mit Ihren Pflichten bekannt machen ... Ihr Abendessen hat sie bereits gehabt, Mrs. Manuel.«

Noch eine hoheitsvolle Handbewegung, und wir waren beide entlassen und standen im nächsten Augenblick draußen in der milden, dunkeln Nacht.

»Haben Sie in Ihrem Leben schon ein solches Ungeheuer gesehen?« rief meine Begleiterin jetzt, während sie mich zwischen zwei Reihen niedriger Baracken hinführte.

»Er hat allerdings eine ansehnliche Größe.«

»Ja, und fett ist er wie ein Mastschwein; allein ich meine seine Manieren!«

»Ach so; mir scheint, er hat überhaupt keine.«

»Ja, da haben Sie recht, und nach seinen Reden könnte man annehmen, er sei der Arzt und ich der Apotheker.«

»Das hätte ich allerdings gedacht.«

»Und doch bin ich diejenige, die studiert und in Kalkutta das Doktorexamen gemacht hat, während er der Sohn eines Koches in Chitagong ist,« sagte sie, vor Zorn bebend. »Er tyrannisiert auf unerhörte Weise dieses Lager, wenigstens die Frauenabteilung, und jedermann fürchtet ihn. Er brüllt und tobt aber auch wie ein rasender Büffel.«

»Sicherlich tut er aber nicht bloß das.«

»Ja gewiß, er ist ein kluger Mensch und hat viel Erfahrung, das gebe ich zu. Aber auch ich fürchte mich vor ihm und finde niemals den Mut, meine Stellung ihm gegenüber zu wahren ... Sie sind also eine freiwillige Krankenpflegerin?«

»Ja, und zwar eine sehr unerfahrene. Jede Belehrung und Anweisung, die Sie mir zu teil werden lassen, nehme ich aufs dankbarste an.«

»Gut, gut, das wird sich schon alles machen; wir bedürfen dringend der Unterstützung ... Hier ist Ihre Wohnung.« Damit öffnete sie eine Türe, und wir traten ein. »Werden Sie sich auch nicht allzusehr ängstigen?«

Es war ein kleines, niedriges, mit Grasmatten belegtes Zimmer, worin ein nettes, sauberes Feldbett, ein Lehnstuhl und ein Tisch mit einer Lampe standen. Augenscheinlich hatte man das Bett soeben erst mit frischen Tüchern und Decken hergerichtet, und auch mein Gepäck war hereingebracht und aufgeschnallt worden.

»Es ist ja ganz behaglich hier,« bemerkte ich, als ich beim Umschauen all diese Einzelheiten entdeckte.

»Wie ich sehe, hat Mr. Thorold bereits seine Befehle gegeben. – Werden Sie sich auch ganz gewiß nicht ängstigen?« wiederholte meine Begleiterin nachdrücklich. »Ich meine, hier so allein zu schlafen?«

»Nein, wirklich nicht. Wovor ums Himmels willen sollte ich mich denn auch fürchten?« Und mutig schaute ich ihr ins Gesicht.

»Nun, ich meine nur, weil ... weil Miß Smith hier in diesem Bett gestorben ist. Allein Sie haben wohl gute Nerven?« Sie machte dabei eine ziemlich zweifelhafte Miene.

»O ja, gewiß.« Und da ich sehr müde war und mich unbeschreiblich danach sehnte, mein Haupt irgendwo niederzulegen, sagte ich nur noch: »Ich mache mir durchaus nichts daraus. Daß das Bett desinfiziert worden ist, darf ich ja wohl annehmen?«

»Aber natürlich. Nun, also morgen früh um sieben Uhr werde ich Sie wecken. Ich habe diese Nacht Dienst. Schlafen Sie wohl.«

Rasch entkleidete ich mich nun und warf mich auf das reinliche, weiße Lager. Wohl war ich halb tot vor Müdigkeit, und doch flüsterte mir eine abscheuliche innere Stimme fortwährend zu, daß das Wesen, das zuletzt hier geruht, eine Engländerin war wie ich selbst, und daß sie in eben diesem Bette an der Pest gestorben, an dieser fürchterlichen, ekelhaften Krankheit. Auf dieser selben Matratze hatte ihr steifer Körper ausgestreckt gelegen, in diesen selben Kissen hatte sie ihren letzten Seufzer ausgehaucht, hier hatte sie starr und kalt geruht, bis man sie fortgebracht und verbrannt hatte.

Allem trotz dieser inneren Stimme schlief ich fest und tief, so tief, als wenn auch ich tot wäre. Morgens beim Erwachen mußte ich mich einen Augenblick besinnen, wo ich mich eigentlich befand, dann durchzuckte mich wie ein Blitz sofort das Bewußtsein: in Yellagode bist du, im Pestlager!

Rasch erhob ich mich und kleidete mich an, und als Mrs. Manuel mich zu wecken kam, war ich bereits fertig.

»Sie scheinen mir eine Frühaufsteherin zu sein!« rief sie erstaunt. »Ein halbes Stündchen hätten Sie noch gut liegen bleiben können. Ach, ich trenne mich immer so schwer von meinem Bette!«

»Ich nicht im geringsten. Ich möchte mich gern noch ein bißchen hier umsehen, ehe ich mich an die Arbeit mache. Dieses Barackenlager sieht ja aus, wie eine Stadt. Aus was sind denn die Baracken hergestellt?«

»Aus Stroh und Holz. Auf diese Weise können sie rasch aufgebaut und, wenn entbehrlich geworden, auch leicht verbrannt werden.«

»Wie Kartenhäuser also. Und wer bewohnt jene Zelte dort drüben?«

»Doktor Fraser, Mr. Thorold und einige Angestellte. Die andern Baracken dort am Flußufer gehören zum Sonderlager, wo die Kranken so lange beobachtet werden, bis erwiesen ist, ob sie wirklich von der Pest befallen sind. Kommen Sie jetzt zum Kaffee, damit Sie sich pünktlich bei Erasmus einstellen können.«

Beim hellen Tageslichte entdeckte ich, daß dieser gefürchtete Tyrann fast so schwarz wie ein Neger und so herrschsüchtig wie irgend ein europäischer Selbstherrscher war.

»Ah, Miß Ferrars, da sind Sie ja und sogar pünktlich! Seien Sie das nur immer,« mahnte er, mich eingehend betrachtend. »Mrs. Manuel wird Ihnen Schürzen geben, und nun passen Sie auf, was ich Ihnen sage. Meine Zeit ist kostbar, und Sie sind ja doch wohl zum Arbeiten und nicht zum Vergnügen hergekommen, was?«

»Allerdings nicht zum Vergnügen,« antwortete ich kalt.

»Gut denn. Wir haben dreihundertvierundzwanzig Kranke auf unsrer Station, und nur acht Pflegerinnen, von denen die Hälfte nichts taugt. Da Sie eine englische Miß Sahib sind, so werden Sie sich wohl Respekt verschaffen, um so mehr, als die Kranken nicht wissen, daß Sie so unwissend sind wie ein junger Hund.«

Das war nun wirklich grob, aber Erasmus beschönigte seine Gedanken niemals.

Mit wichtiger Miene beschrieb er mir nun die Symptome der Pest, weihte mich flüchtig in deren Behandlung ein, verwies mich bezüglich der Einzelheiten an Mrs. Manuel und empfahl mir, feste Schuhe zu tragen, da selbst der Boden giftig sei, und mich vor Hautverletzungen in acht zu nehmen.

»Sie bewohnen Miß Smiths Zimmer. Wäre diese vorsichtiger gewesen, so stände sie heute noch auf ihrem Posten. Zweimal des Tages haben Sie mir über den Krankheitszustand auf Abteilung vier Bericht zu erstatten und bei jedem besondern Vorfall wenden Sie sich sofort an mich. Ihre Mahlzeiten nehmen Sie mit Mrs. Manuel ein ... Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Damit verbeugte er sich, machte eine gnädig verabschiedende Bewegung mit der Hand, an der ein großer Diamant funkelte, und meine Audienz war zu Ende.

*

Mrs. Manuel und ich mußten unsre Mahlzeiten meist in größter Eile einnehmen, so viel gab es zu tun. Mary-Ann, meiner Ajah, widmete ich meine ganz besondre Sorgfalt, und ich scheute keine Mühe, ihr so viel als möglich Erleichterung zu verschaffen. Sie gehörte zu den schweren Fällen, doch erkannte sie mich wenigstens noch, was immerhin ein günstiges Zeichen war. Leider gab es aber eine ganze Menge noch ernsterer Fälle, und wenn ich durch die langen Reihen der in allen Stadien der Pest in ihren Betten schmachtenden Frauen und Kinder ging, dort einer Sterbenden die letzte Hilfe erweisend, einer andern den Durst löschend oder sie bequemer bettend, so wollte mein Herz bei der schweren Aufgabe, die ich übernommen hatte, manchmal fast verzagen.

Hin und wieder kam Mrs. Manuel zu mir herein, um mich mit ihrem Rat und Beistand zu unterstützen, was immer eine große Wohltat für mich war. Die Kranken jedoch, das ließ sich nicht bestreiten, wandten sich in ihren Bedrängnissen unwillkürlich stets lieber an mich, ohne zu wissen, wie wenig ich im Grunde von der Krankenpflege verstand. In ihren Augen mußte ich unbedingt das Oberhaupt des Krankenhauses sein, nur weil mein Gesicht weiß und mein Haar blond war. Mich sahen sie als die Herrin, die »Miß Sahib« an, während die tatsächliche und leistungsfähige Vorsteherin des Spitals nur eine »Crannie« war, wie die Eingeborenen die Eurasierinnen nennen.

»Sie werden die Sache schon lernen,« pflegte Mrs. Manuel zu sagen, »denn Sie haben eine rasche Auffassungsgabe und für eine Engländerin auch recht gute Nerven, dabei eine kräftige, ausdauernde Konstitution. Die ganze Woche hindurch haben Sie täglich nur sechs Stunden geschlafen und sind die ganze übrige Zeit auf den Beinen gewesen.«

Sie hatte recht, und ich selbst wunderte mich über meine nun erst zu Tage tretenden Körperkräfte. Die Pest war in stetem Zunehmen und wütete mehr denn je. Wir lebten und atmeten in einem Dunstkreis von Karbol, und doch fühlte ich mich gleichsam gestärkt und gehoben wie durch eine Art inneren Fiebers, durch den verzweifelten Vorsatz, mit dieser Seuche, mit diesem im Dunkeln einherschreitenden Gespenst zu kämpfen und zu ringen auf Tod und Leben. Genas eine Kranke in meiner Abteilung, so begrüßte ich dies als einen Sieg, während jeder Todesfall mir als eine beklagenswerte Niederlage erschien.

Trotz meines Sträubens aber wurde ich doch jeden Abend zu einem kurzen Spaziergang außerhalb des Lagers gezwungen. Fast endlos dehnten sich die kahlen braunen Felder vor mir aus, und dort, wo es in gesunden Zeiten von fleißigen Arbeitern wimmelte, waren jetzt weit und breit weder Menschen noch Tiere zu sehen. Langsam wandte ich dann wohl den traurigen Blick nach dem Flusse und dem brennenden Scheiterhaufen, aus dem unaufhörlich der Rauch zum kalten, erbarmungslosen Himmel emporstieg, und in meinem Herzen schrie es auf: Wie lange noch, Herr, wie lange?

Mein Eifer als Pflegerin schien ansteckend zu wirken, denn auch die andern Frauen meiner Abteilung arbeiteten mit rastloser Ausdauer, und nach kurzer Zeit schon hieß es zu unsrer stolzen Befriedigung: »Nummer vier hat Glück!«

Um das, was draußen in der Welt vor sich ging, kümmerte ich mich nur wenig; die Kranken meiner Abteilung nahmen mein ganzes Sinnen und Denken in Anspruch. Erasmus sah ich täglich wohl ein dutzendmal und wurde dabei gescholten, verhöhnt, angeschrieen und – sogar gelobt. Dagegen traf ich höchst selten mit Mr. Thorold zusammen, und dann nur auf kurze Augenblicke. Er sah mager und abgearbeitet aus, als kämpfe auch er mit aller Kraft gegen die Seuche und sei entschlossen, nicht zu unterliegen. Obwohl er indessen nur selten in unsrem Teil des Lagers zu sehen war, so machte sich seine Persönlichkeit doch fühlbar. Sogar Erasmus hatte er unter seiner Gewalt. Er setzte Verbesserungen aller Art ins Werk und hatte über die Krankenbeförderung, die Verwaltung und Disziplin, kurz über alles ein wachsames Auge. Keine Mühe war ihm zu groß, keine Angelegenheit zu klein und unbedeutend, wenn es galt, für das allgemeine Beste zu wirken. Ihm zur Seite stand der leitende Arzt des Lagers, ein freundlicher, grauhaariger Schottländer, der manches ermutigende und ermahnende Wort an mich richtete.

»Ich höre viel Rühmenswertes über Ihre Abteilung, Miß Ferrars,« sagte er einmal zu mir. »Tun Sie aber nur des Guten nicht zu viel und bedenken Sie wohl, daß Sie keine Maschine aus Stahl und Eisen sind. Ich möchte Sie nicht gern unter meine Patienten bekommen. Lassen Sie sich nicht zu sehr von Erasmus tyrannisieren und erlauben Sie nicht, daß sämtliche schwere Fälle auf Nummer vier gebracht werden.«

Als mit der Zeit die Witterung wärmer wurde, nahm auch die Seuche allmählich ab. Die schlimmste Zeit waren die auf meine Ankunft folgenden zehn Tage gewesen. Nun ließ das Einbringen neu Erkrankter bedeutend nach; viele der alten Patienten wurden geheilt und kehrten nach Hause zurück, und wir kamen nach und nach wieder zu Atem.

Mrs. Manuel und ich sahen jetzt mehr voneinander und brauchten auch unsre Mahlzeiten nicht mehr in der Hast zu verschlingen. Die kleine Frau sah immer frisch und sauber aus und war wirklich sehr tüchtig und zuverlässig, nur liebte sie den Kaffee und einen harmlosen Klatsch über alles und war von unersättlicher Neugier. Sie brannte förmlich darauf, alles zu erfahren, was im großen Spital vor sich ging, und nahm jede Kunde von dort gierig auf. Auch mich versuchte sie auszufragen, woher ich kam und wohin ich ging, doch gab ich ihr stets nur ausweichende Antworten. Um so mitteilsamer war sie über ihre eigenen Angelegenheiten. Sie erzählte mir, daß die gute Bezahlung sie hergelockt habe, daß sie mit einem zehn Jahre jüngeren Manne verlobt sei, der sie sehr liebe und ein ernster, braver Bursche sei, daß ihre Studien sie viel gekostet hätten und sie für ihren neuen Haushalt noch möglichst viel Geld zusammensparen müsse.

»Ich kann eben nicht wie Sie nur um der Liebe willen arbeiten,« schloß sie ihre Rede.

Um der Liebe willen? Träumerisch irrte mein Blick über die weite, sprossende Ebene und den vom Sonnenuntergang noch tief geröteten Abendhimmel hin.

»Ja, ich habe ein wenig beigetragen, der leidenden Menschheit zu helfen, und es wird wohl aus Liebe geschehen sein,« murmelte ich.

»Aus Liebe zu ... Mr. Thorold,« fügte sie verständnisvoll lächelnd hinzu.

»Was sagen Sie?« Entrüstet fuhr ich aus meinen Träumen auf.

»Nun, nun, ich meinte es ja nicht böse. Gestehen Sie es doch nur,« fuhr sie in neckischem Tone fort. »Er hat Sie ja doch hierhergebracht und die genauesten Anordnungen für Ihr Zimmer getroffen. Sogar seine eigene Lampe und Uhr sandte er herüber. Ja, ja, das kennt man schon! Und wenn es wahr ist, was die Leute sagen, so sind viele junge Damen bis über die Ohren in ihn verliebt. Sein Diener hat es mir anvertraut. Mr. Thorold ist klug und hübsch und wird noch einmal ein großer Mann. Daß Sie ihm hierher folgten, war ja wohl ein kühnes Unternehmen, aber ich weiß auch, daß er ...«

»Hören Sie auf!« schrie ich bebend vor Zorn. »Wollen Sie damit sagen, meine Reise hierher sei kluge Berechnung gewesen und ich hätte die ganze Zeit über hier nur gearbeitet, um in Mr. Thorolds Nähe zu sein und mir sein Wohlgefallen zu erwerben?«

»Ja, meine Liebe, so etwas Ähnliches wurde im Lager geflüstert. Bedenken Sie doch, Sie sind hübsch und so jung! Ich aber glaube selbstverständlich nur, was Sie mir sagen.«

»Ja, ich will hoffen, daß Sie mir mehr glauben, als einem albernen Dienstbotengeschwätz. Ich habe Mr. Thorold vor meinem Hierherkommen nur ein einziges Mal gesehen und wünschte ihm niemals wieder im Leben zu begegnen. Ich kam nur hierher, weil mir keine andre Wahl blieb, weil kein Fuhrwerk aufzubringen war, das mich nach Dassi hätte bringen können, und weil ich dankbar war, daß sich mir wenigstens die Gelegenheit bot, diesen armen Leuten meinen Beistand zu teil werden zu lassen, da ich nun einmal nicht weiter konnte. O wie schmählich, daß solch abscheuliche Dinge von mir behauptet und geglaubt werden!«

Ich stand rasch auf, denn ich fühlte, daß ich keinen Bissen mehr würde hinunterschlucken können, und eilte aus unsrem kleinen Eßzimmer fort, während Mrs. Manuel mir in wortlosem Schrecken nachstarrte.

Allein noch am selben Abend kam die kleine Doktorin mit der demütigsten Bitte um Verzeihung, sowie einem Sühnopfer in Gestalt herrlicher Feigen in mein Zimmer, und da ihre Reue mich rührte, mein Ärger auch zum Teil verraucht und mein Appetit wieder rege geworden war, verzieh ich ihr gnädig. Niemals aber wagte Mrs. Manuel es mehr, das Gespräch auf Liebe, Geld oder Mr. Thorold zu bringen.


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