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Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Der Sturm hatte sich gelegt. Der Golf von Biscaya mochte wohl schon zweihundert Meilen weit hinter uns liegen, als ich mit einer meiner Reisegefährtinnen aus unsrer engen Behausung trat, um frische Luft zu schöpfen.

Fröstelnd, in Tücher eingehüllt, setzten wir uns an diesem kalten Neujahrstage in eine Ecke der großen Salonkajüte, von wo wir drei schmale Tische und einige hin und her schwankende Lampen übersehen konnten. Draußen brauste immer noch beutegierig die See, die sich vergeblich bemüht hatte, uns zu verschlingen. Weder ein Segel, noch ein Felsenriff, oder auch nur eine Turmschwalbe waren zu sehen.

Prüfend schaute ich meine Gefährtin an. Obwohl wir schon mehrere Tage zusammen die gleiche Kammer bewohnt hatten, war es doch das erste Mal, daß ich Gelegenheit bekam, sie näher ins Auge zu fassen. Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein – in den Augen einer Einundzwanzigjährigen ein ansehnliches Alter. Auch schien sie ihre Jahre durchaus nicht verbergen zu wollen; wenigstens verrieten ihr zwar neues, aber schlecht gearbeitetes blaues Wollkleid und ein häßlicher rotgelber Schal deutlich, wie wenig Wert sie auf ihre Kleidung legte. Ihr reiches, dunkles Haar war nachlässig aus der breiten, niedrigen Stirne gekämmt, unter welcher tiefliegende, kluge Augen funkelten. Allein gerade diese Augen verliehen dem wenig hübschen, aber entschlossenen Gesichte mit der geradezu häßlichen Nase und dem großen Munde einen eigenen Reiz, und bald kam ich zu dem Schlusse, daß meine Beschützerin eine Frau sei, der ich leicht Zuneigung und Vertrauen würde schenken können. Wir hatten uns am Abend, als die »Smyrna« den Hafen von Tilbury mit dem Endziel Bombay verließ, zum ersten Male gesehen, doch infolge des seither herrschenden stürmischen Wetters war unsre Bekanntschaft nicht weiter gediehen. Eine Kammer mit vier Betten und blinden Lukenfenstern ist wenig dazu geeignet, gesellschaftlichen Verkehr anzuknüpfen.

Meine Verwandten hatten mich der Obhut von Mrs. Evans übergeben. Sie war die Cousine der Freundin einer unsrer Bekannten – in der Tat eine sehr weitläufige Beziehung –, allein meine Tante hatte eben keinerlei Verbindung mit dem fernen Osten, und anderseits sind die Leute, die schon in Indien gelebt haben, daran gewöhnt, selbst völlig Fremden ihren Beistand zu leihen. Natürlich mußten wir nun aber allmählich herauszubringen suchen, ob wir wohl uns gegenseitig verstehen und zusammenpassen würden oder nicht.

Mit starrem, abwesendem Blick schaute meine »Gardedame« auf das hinter uns her brausende und schäumende Meer: ihre Gedanken schienen in der Ferne zu weilen. Plötzlich stieß sie einen Seufzer aus, schüttelte leise den Kopf und sah mich fragend an.

»Ja, ja,« gestand sie lächelnd, »ich war in Gedanken versunken. Ich sagte mir, wie rasch doch die Jahre dahineilen, wenn man einmal die Dreißig überschritten hat. Schon wieder haben wir den ersten Januar, und doch ist mir, als sei seit dem letzten Neujahrstag kaum ein Monat verflossen.«

»Da muß die Zeit Ihnen allerdings sehr rasch entflogen sein. Für mich sind die letzten zwölf Monate wie mit Bleigewichten beschwert dahingeschlichen.«

»Nichts vergeht eben rascher als die Gültigkeitsdauer eines Rückfahrscheines Bombay-London. Ich war bei meinen Küchlein in der Heimat, nun kehre ich zu meinem guten Manne zurück. Ach, dieses getrennte Familienleben ist der Fluch Indiens! ... Haben Sie auch zurückgedacht am heutigen Neujahrstage?«

Lächelnd schüttelte ich den Kopf.

»Aha, nun verstehe ich!« rief sie bedeutungsvoll. »Ich war mit der Vergangenheit, Sie waren mit der Zukunft beschäftigt. Bei mir liegen eben die schönsten Tage hinter mir, während die Ihrigen erst kommen werden ... Mein liebes Kind,« fügte sie plötzlich hinzu, indem sie sich vorbeugte und meine Hand ergriff, »ich wünsche Ihnen ein recht glückliches neues Jahr!«

»Danke sehr. Ich erwidere Ihre Wünsche aufs wärmste.«

»Es ist ein wichtiges Jahr, das heute für Sie anbricht. Ich bin natürlich in alles eingeweiht. Übrigens sehen Sie eher ernst und traurig aus, mein Kind, anstatt vor Glückseligkeit zu strahlen, wie es doch sein sollte. Sie sind Einundzwanzig, hübsch, neigen nicht zur Seekrankheit und sind im Begriff, den Mann zu bekommen, den Sie lieben.«

»Das ist's ja eben, daß ich nicht sicher bin, ob ich ihn wirklich liebe!« antwortete ich mit einer mir selbst unerklärlichen Aufrichtigkeit.

Fast wider meinen Willen waren diese Worte meinen Lippen entfahren. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, und während der letzten vier Tage, die ich, dem Rat der mütterlich besorgten Stewardeß folgend, auf dem Bett verbracht, hatte ich reichlich Zeit, meine Gefühle zu erforschen, über meine Lage nachzudenken und meine Handlungen zu prüfen.

»Und doch,« fuhr ich fort, »ist er mein Notanker, der einzige Mensch in der ganzen weiten Welt, auf den ich meine Hoffnung setzen kann ... Allein, warum Sie mit meinen Angelegenheiten belästigen?«

»Und warum nicht?« Sie richtete sich auf und sah mich mit ihren klugen dunklen Augen fest an. »Bin ich nicht Ihre Beschützerin, Ihre Vizemama während der Reise? Sie sind niedergeschlagen und haben Heimweh, was fast noch schlimmer ist als die Seekrankheit. Ihnen fehlt eine teilnehmende, liebevolle Tante oder sonstige Angehörige. Nach meiner Ansicht tut aber einem bekümmerten Gemüte nichts so wohl als eine offene Aussprache. In Ermanglung einer Beschäftigung haben Sie sich allerlei törichten Gedanken und Hirngespinsten hingegeben, denn bei dem Wetter der letzten Tage konnten Sie ja weder lesen noch schreiben, ja kaum die Hand vor den Augen sehen. Sagen Sie mir, was Ihnen widerfahren ist: Sie sahen so heiter und glücklich aus, als Sie an Bord kamen.«

»Sie mögen wohl recht haben, daß meine Verstimmung eine Folge der untätig in einer dunklen Kabine verbrachten Tage ist,« gab ich mit einem Seufzer zu.

»So ziehen Sie also Beschäftigung dem Träumen vor? Ich für mein Teil überlasse mich gern auch einmal ungestört meinen Gedanken, und dazu gibt es keinen besseren Ort als die hohe See. Ein solcher Ozeandampfer ist gleichsam ein Ruhepunkt im Leben, wo es weder Briefe, noch Telegramme, weder soziale Verpflichtungen, noch tägliche Berufsarbeiten gibt. Sie können so träge sein, als Sie nur wollen, Sie brauchen nicht zu sprechen, nicht zu unterhalten. Sie können sogar Ihren Alltagscharakter ablegen und als ein ganz andrer Mensch erscheinen. Hier sind Sie zum Beispiel nichts weiter als die Nummer 80! ... Wie ich vorhin schon sagte, mein liebes Kind, Sie sehen vorwärts, ich rückwärts. Kommen Sie, wir wollen gegenseitig unsre Gedanken austauschen. Soll ich den Anfang machen?«

»Ach ja, ich bitte,« antwortete ich ziemlich kleinlaut.

»Nun also. Wie Sie wohl wissen, ist mein Mann Forstbeamter, und zwar in nicht allzu glänzenden Verhältnissen. Seit neunzehn Jahren sind wir verheiratet, glücklich verheiratet. Wir haben drei Kinder: Dick, Milly und Aubrey. Meine Milly, die sehr hübsch, lebhaft und tatkräftig ist, habe ich unter Fremden zurücklassen müssen. Dick ist ein prächtiger, wenn auch etwas übermütiger und unbesonnener Junge, und der siebenjährige Aubrey, mein Kleinster, der nie von meiner Seite gekommen war ...« Sie hielt einen Augenblick inne, um ihrer Stimme wieder mehr Festigkeit zu geben, und ich sah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Wenn ich bei den Kindern bin, sorge ich mich um meinen Gatten, und bin ich bei ihm, so verzehrt mich die Angst um die Kinder. So verfließen meine Tage. Auch ist meine Gesundheit schwach. Ein nicht ungefährliches Herzleiden kann mich jeden Augenblick den Meinigen entreißen. Ach, und wie werden sie die Mutter vermissen! Allein ich kämpfe weiter und bete und hoffe, daß Gott uns noch einmal alle zusammenführen möge.«

»Das hoffe und wünsche auch ich von ganzem Herzen.« Ich war tief gerührt durch ihr Vertrauen und ihren Kummer.

»Ja, ja, zwei Jahre sind eben eine lange Zeit; dann aber will Robbie seinen Abschied nehmen, und wir kehren für immer nach Europa zurück ... Und nun, mein liebes Kind, erzählen auch Sie mir von Ihren Kümmernissen ... Ihren eingebildeten Kümmernissen, sollte ich eigentlich sagen. Schütten Sie mir Ihr Herz aus, wie wenn Sie meine süße Milly wären; dann wollen wir sehen, ob ich Ihnen nicht irgendwie helfen kann. Ich weiß, Sie haben keine Mutter mehr.«

»Nein, sie starb, als ich noch ganz klein war. Nicht einmal eine Erinnerung an sie ist mir geblieben. Mein Onkel Beverly nahm mich an Kindesstatt an und behandelte mich wie seine eigenen drei Kinder. Auch meine Tante war stets gut und freundlich gegen mich, und ich muß zugeben, daß ich eine sehr glückliche Kindheit verbracht habe. Linda und Julia sind älter, aber Tom und ich waren Altersgenossen und unzertrennliche Gefährten. Wir spielten Cricket und Hockey, wir fischten und sprangen mit den Hunden um die Wette. Bis zu meinem fünfzehnten Jahre genoß ich diese ungebundene Freiheit; da kam es meinem Onkel plötzlich in den Sinn, mich in eine Pension zu schicken.«

»Und das war auch hohe Zeit,« warf meine Zuhörerin entschieden ein.

»Ich kam nach München, wo ich fünf Jahre blieb, und zwar nicht, weil Tante Lucy mich hätte los sein wollen, sondern weil mein Onkel starb. Dies war mein erster Kummer. Seine Vermögensverhältnisse befanden sich in zerrüttetem Zustande. Er hatte für jemand Bürgschaft geleistet und mußte, als der Betreffende ins Unglück kam, eine große Summe bares Geld schaffen. Da er nie auch nur einen Pfennig zurückgelegt hatte, war das sein Untergang.«

»Ja, ja, ich erinnere mich, davon gehört zu haben. All die kostbaren Erbstücke der Beverly mußten verkauft werden, um die Schuld zu tilgen.«

»Des Geldmangels wegen konnte ich auch nicht nach Hause zurückkehren, und so gab ich als Gegenleistung für meine Erziehung und meinen Aufenthalt in der Pension englischen Unterricht. Endlich vor einem Jahre ließ Tante Lucy mich nach Beverly zurückholen.«

»Wie glücklich müssen Sie da gewesen sein!«

»Allerdings, allein meine Freude wurde bald gedämpft, da ich alles traurig verändert fand in dem lieben alten Hause, das man seiner Bilder, Bücher und Kostbarkeiten, ja sogar der meisten Möbel beraubt hatte. Ach, es sah so öde, leer und ärmlich aus!«

Teilnehmend nickte Mrs. Evans.

»Tante Lucy war eine verblühte, gramgebeugte alte Frau geworden, und Linda ein unermüdlich und geräuschvoll arbeitendes Mädchen. Julia hatte für nichts andres mehr Sinn als für ihre Malerei, und alle drei kämpften vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, um mit ihren geringen Mitteln auszukommen und dabei den äußeren Schein zu wahren.«

»Eine ebenso schmerzliche als schwierige Aufgabe.«

»Sie versagten sich Feuer, Licht, ja selbst das Essen, und da mögen Sie sich wohl denken, wie überflüssig ich mich als erwachsenes, gesundes und dabei untätiges Mädchen in einem solchen Haushalt fühlte ...«

»Jedenfalls waren Sie nicht untätig, davon bin ich überzeugt.«

»Nun, ich konnte natürlich abstauben, Strümpfe stopfen, im Garten arbeiten und Gänge machen, aber eben kein Geld verdienen. Meine Musik- und Sprachkenntnisse lagen brach, da Tante Lucy nicht erlaubte, daß ich in der Nachbarschaft Stunden erteilte.«

»Ein falscher Stolz!« rief meine Gefährtin.

»Ja, ihr Stolz war unbeugsam. Wir gaben wie früher unsre Beisteuer für Wohltätigkeitsanstalten, hatten unsern Empfangstag, erwiderten pünktlich die Besuche, trugen die Köpfe hoch und ... hungerten. Linda, die den Haushalt führte, wünschte sehnlichst, ihre Mutter möchte das Schloß verkaufen und in London eine Wohnung nehmen, wo sie hätte ihre Kunststickereien und Julia ihre Malereien leichter verwerten können. Das Schloß war ein schönes Gebäude, das aus der Zeit der Königin Anna stammte, und der Stil war gerade sehr in der Mode. Ach, wie gern wären sie es los gewesen ... und mich dazu; ich wußte es sehr gut, obgleich es nie in dürren Worten ausgesprochen wurde, daß ich ihnen eine schwere Last war. Da kam plötzlich ganz unerwartet meine Verlobung dazwischen.«

»Ei, ei, nun wird die Sache interessant.« Mrs. Evans rückte etwas näher zu mir heran. »Erzählen Sie mir, bitte, genau, wie alles kam. Mir darf man getrost ein Geheimnis anvertrauen.«

»Wenn Sie nur nicht enttäuscht sein werden, denn meine Geschichte ist durchaus nicht spannend oder romantisch.«

»Wollen Sie mir nicht ein eigenes Urteil darüber erlauben?« sagte sie mit freundlicher Zudringlichkeit.

»So sei es denn,« stimmte ich mit einem Seufzer bei. »Sie müssen wissen, daß wir früher in sehr freundschaftlichen Beziehungen zu einer Familie namens Thorold gestanden haben, die jenseits des Dorfes Beverly, etwa eine Meile von uns entfernt, wohnte. Es war eine Witwe mit mehreren Töchtern und Söhnen. Mit denen kleinen Jungen pflegte ich mich tüchtig herumzubalgen, während der einige Jahre ältere Walter mein und Toms unzertrennlicher Freund und Spielgenosse war. Noch hatte ich das fünfzehnte Jahr nicht erreicht, als Watty nach Indien ging. Seither habe ich ihn nicht wiedergesehen, und doch bin ich im Begriff, ihn zu heiraten.«

Ich hielt inne und fügte dann halblaut hinzu: »Ist das nicht tollkühn?«

»Das kann ich erst beurteilen, wenn ich die Einzelheiten kenne. Vorläufig klingt es allerdings etwas unternehmend ... Ach, da kommt der Steward mit dem Fünfuhrtee, und hier sind auch die beiden Missionsschwestern, die ich zum Tee eingeladen habe! Sie fühlen sich so einsam und verlassen: es ist ihre erste Seereise. Es ist Ihnen doch nicht unangenehm?«

»Mir? Nicht im geringsten.«

»Nach dem Tee dürfen Sie aber nicht davonlaufen: wir setzen uns dann behaglich zusammen und Sie erzählen mir Ihre Erlebnisse von Anfang bis zu Ende. Wollen Sie mir das versprechen?«

Dabei sah sie mich mit solch herzlicher, aufrichtiger Teilnahme an, daß ich eine leise Zustimmung stammelte.

*

Es vergingen mehrere Tage, ehe ich das Mrs. Evans gegebene Versprechen einlöste und wir unsre Unterhaltung wieder aufnahmen. Sie kannte viele der Passagiere und schien eine begehrte Persönlichkeit zu sein. Einmal war es die Gattin eines hohen Beamten, die vor vielen Jahren mit ihr in einer Stadt gewohnt hatte, dann wieder ein bärtiger Forstbeamter oder ein junger Offizier, dessen sie sich als Kind erinnerte, oder sogar eine demütig bittende Ajah, die ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Schon begann ich zu hoffen, unsre Unterredung sei aufs Unbestimmte hinausgeschoben, denn seit wir unter sonnigem Himmel durchs blaue Mittelmeer dampften, hatte mein Geist auch die trüben Gedanken und Stimmungen abgeschüttelt. Ich fühlte mich nicht mehr als die heimatlose, verlassene Waise, die dankbar war, ihren Kummer einem teilnehmenden Ohre anvertrauen zu können, sondern bereute jetzt meinen törichten Gefühlsausbruch und glaubte zuversichtlich, daß meine Zuhörerin die ganze Sache vergessen habe. Bald aber wurde ich eines andern belehrt. Eines Nachmittags, kurz vor Einbruch der Dämmerung, lauerte Mrs. Evans mir im Salon auf und sagte, mich beim Arm nehmend: »Ich habe ein reizendes Plaudereckchen entdeckt. Es ist zu kalt, um auf Deck zu gehen, und zu dunkel zum Lesen. Kommen Sie, bitte, mit mir und erzählen Sie mir den Schluß Ihrer Verlobungsgeschichte. Sie wissen: ›Fortsetzung folgt‹ war neulich zwischen uns abgemacht.«

»Ach, Mrs. Evans,« stammelte ich, »nach nochmaligem überlegen finde ich wirklich, daß es nicht recht von mir ist, Sie mit meinen Angelegenheiten und törichten Sorgen zu belästigen. Sie haben so viele Freunde, die Ihnen näher stehen, während ich ja doch nur eine Fremde bin, und ... und ...«

»Ach was!« unterbrach sie mich. »Erstens sind Sie gar keine Fremde für mich, denn ich kannte Ihren Vater, Lancelot Ferrars, und stand immer in gewissen gesellschaftlichen Beziehungen zu Ihrer ganzen Familie. Ich erinnere mich aus meiner Mädchenzeit noch sehr gut, wieviel Staub die Heirat Ihres Vaters damals aufwarf.«

»Soviel ich weiß, waren seine Angehörigen sowohl als die meiner Mutter durchaus nicht erfreut über die Wahl. Allein ich konnte nie recht verstehen warum, denn die Beverlys sind doch auch eine gute, alte Familie.«

»Darum handelte es sich auch nicht, allein Ihr Vater war mit einer Cousine, Lady Elisabeth Tregar, verlobt, obwohl, wenigstens von seiner Seite, keine Neigung bestand. Sie war plump von Gestalt, mit hohen Schultern und einem unschönen Gesicht, und ihre Zunge war so scharf wie ein Rasiermesser, zudem war sie auch noch älter als er. Aber sie hatte ihr Herz an den schönen Lancelot Ferrars gehängt, und so kam schließlich eine Verlobung der beiden zu stande.«

»Wirklich?«

»Ja. Ihr Vater hatte keinen Beruf erlernt, er war der zweite Sohn seiner Eltern und von ziemlich zarter Gesundheit; Lady Elisabeth aber besaß ein großes Vermögen.«

»Und was geschah dann?«

»Er reiste im Winter zur Kur nach Madeira und machte dort die Bekanntschaft Miß Beverlys, eines hübschen Mädchens, das bei Bekannten zum Besuch weilte. Sie war sehr musikalisch und sang entzückend, dabei war sie jung, liebenswürdig und ... arm. Lancelot Ferrars verliebte sich sterblich in sie, löste seine Verlobung mit Lady Elisabeth auf und ließ sich mit Miß Beverly trauen ... Da erzähle ich Ihnen nun eine Geschichte, anstatt die Ihrige anzuhören,« fügte Mrs. Evans scherzhaft hinzu.

»Ach, und wie interessant ist sie für mich! O bitte, weiter, weiter,« drang ich lebhaft in sie.

»Diese Heirat brachte seine Verwandten natürlich sehr gegen ihn auf. Wenn er ein Dieb oder sogar ein Mörder gewesen wäre, hätten sie nicht wütender sein können. Er hatte sein Wort gebrochen, den Namen entehrt und anstatt der reichen Erbin ein armes, hübsches Mädchen geheiratet. Das genügte ihnen, ihre Hand gänzlich von ihm abzuziehen. Wenige Jahre später, als Sie noch ein kleines Kind waren, starb er.«

»Ich habe nur selten von meinem Vater sprechen hören. Bitte, sagen Sie mir, wie er aussah, was für eine Art Mann er war,« fragte ich ungestüm.

»Er war groß und blond, hatte träumerische blaue Augen und konnte mit dem ernsthaftesten Gesicht die drolligsten Dinge erzählen. Er galt für sehr gescheit und hatte mit ausgezeichnetem Erfolg studiert ... Jetzt werden Sie mir wohl zugeben müssen, daß ich keine Fremde für Sie bin, nicht wahr? Lange bevor Sie meiner Obhut übergeben wurden, wußte ich von Ihrem Dasein und war ich mit Ihren Familienverhältnissen vertraut.«

»Allerdings, mehr als ich selbst.«

»Und was nun Ihre Verlobungsgeschichte anbelangt, so dürfen Sie mir glauben, daß man sich an Bord eines Schiffes die persönlichen Angelegenheiten gegenseitig mit einer Offenherzigkeit anzuvertrauen pflegt, die uns im gewöhnlichen Leben unmöglich erscheinen würde. Rückhaltlos plaudert man von seinen Verwandtschaften, von seinen Freunden und Bekannten, von seinen Wünschen und Sorgen und erleichtert sich damit das Herz und verkürzt andern die Zeit. Man weiß eben, daß man sich wohl selten wiedersieht und daß Reisebekanntschaften gar rasch und leicht vergessen werden ... Mit uns beiden, mein liebes Kind, ist es aber etwas andres,« fügte sie, ihre Hand auf die meinige legend, hinzu. »Sie sind die Tochter eines alten Nachbars von mir; wollte ich sagen, eines Verehrers, so würden Sie mir altem Wrack, das ich jetzt bin, ja doch nicht glauben. Erzählen Sie mir also jetzt weiter. Mir ist schon manche Geschichte anvertraut worden, und hin und wieder bin ich auch schon von Nutzen gewesen. Welche Freude wäre es für mich, wenn ich Ihnen helfen könnte!«

»Es ist sehr gut von Ihnen, so viel Anteil an mir zu nehmen,« stammelte ich.

»Ach, mein Kind, Sie wissen doch, daß wir Frauen uns alle für Liebesgeschichten interessieren?«

»Die meinige wird man schwerlich eine Liebesgeschichte nennen können. Jedenfalls sollen Sie aber selbst urteilen. Ich kenne also Watty seit meiner frühesten Kindheit. Er, Tom und ich waren ein unzertrennliches Kleeblatt. Da ich eben viel jünger war als meine Cousinen und auch als Wattys Schwestern, so gesellte ich mich stets zu den Jungen.«

»Ja, ja, ich verstehe, und als Watty mit einundzwanzig Jahren nach Indien ging, war Ihr junges Herzchen tief unglücklich.«

»O nein, durchaus nicht. Wenn mir's auch recht leid tat, so ging mir der Tod meines Foxterriers damals doch weit näher. Watty aber schenkte mir zum Abschied sein weißes Kaninchen und ich gab ihm einen kleinen blauen Perlenring.«

»Und einen Kuß, natürlich?« warf Mrs. Evans lächelnd ein.

»O nein, so standen wir nicht miteinander. Er war nur mein Spielgefährte, nichts weiter, gerade so wie auch Tom.«

»Wirklich?« fragte Mrs. Evans mit zweifelhafter Miene. Ich ging aber nicht darauf ein.

»Kaum war ich dann als erwachsenes Mädchen von Deutschland zurückgekommen, so widmete mir Mrs. Thorold, Wattys Mutter, ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich, wie sie mich am ersten Sonntag in der Kirche so scharf musterte, daß mir angst und bang wurde. Später sagte sie mir, daß sie mich gleich auf den ersten Blick in ihr Herz geschlossen habe.«

»Und war das gegenseitig?«

»Ich weiß nicht ... das heißt eigentlich nein,« gestand ich. »Meine Verwandten hatten früher immer über sie gescholten und sie eine abscheuliche, heimtückische und selbstsüchtige Frau genannt, die ihre Töchter an die ersten besten Männer verheiratet und ihre Söhne in die weite Welt hinausgetrieben habe. Allein ich glaube, daß sie durch ihr Unglück verbittert worden waren und ihr Urteil doch etwas zu scharf war.«

»Wohl möglich.«

»Und dann war jetzt der Glücksstern der Familie Thorold im Steigen, der der Beverly im Sinken, da änderten sich die Ansichten meiner Verwandten, und sie konnten jetzt nicht genug Gutes über Mrs. Thorold erzählen. Diese bat mich häufig, einen Tag bei ihr zuzubringen, da ihre Töchter alle verheiratet waren. Ich tat das denn auch und verrichtete dann allerlei kleine Dienstleistungen für sie im Hause oder Garten. Sie sprach dabei fortwährend von ihren Kindern, besonders von Walter, ihrem Lieblingssohn. Manchmal las sie mir auch aus seinen Briefen vor und bestellte Grüße von ihm. An meinem Geburtstag schrieb er mir dann einige Zeilen, wodurch der Anfang eines Briefwechsels gemacht war, der bald lawinenartig anschwoll.«

»Ja, ja, so pflegt es mit den Liebesbriefen zu gehen!« rief meine Gefährtin laut.

»Ich schrieb ihm aber nicht anders, als ich auch an Tom geschrieben hätte, der in Südafrika stand, und niemals werde ich es vergessen, wie überrascht ich war, als mir Mrs. Thorold eines Abends im Garten eröffnete, daß Watty mein Gesicht auf einem Gruppenbild gesehen und sich sterblich in mich verliebt habe. Ich war zuerst wie erstarrt vor Verwunderung, dann aber brach ich unwillkürlich in ein schallendes Gelächter aus. Ich versicherte seiner Mutter, daß dies doch nur ein Scherz von Watty sein könne. Sie dagegen nahm die Sache sehr ernst und wurde ganz ärgerlich über meine Vermutung. Schon ganz früh am nächsten Morgen kam sie dann zu Tante Lucy, mit der sie wohl eine Stunde lang allein blieb, und bei Tisch fiel es mir auf, daß Tante mich häufig eigentümlich ansah.«

»Die beiden alten Damen hatten die Angelegenheit also wohl miteinander besprochen und waren einig geworden? Was geschah dann weiter?«

»Vorläufig nichts. Es wurde nur zuerst leise, dann immer häufiger und bestimmter um mich her geflüstert, daß zwischen Watty Thorold und mir von jeher ein Einvernehmen, eine Art Kinderfreundschaft, bestanden habe, und so sehr ich auch einer solchen Annahme entgegentrat, es half alles nichts. Im Gegenteil, die Freundschaft zwischen Mrs. Thorold und meinen Verwandten wuchs von Tag zu Tag. Dann erhielt ich einen Brief von Walter ... ach, einen so schönen Brief, worin er mich fragte, ob ich seine Frau werden wolle.«

»Und was sagten Sie dazu, mein liebes Kind?«

»Eigentlich gar nichts. Um so mehr aber sagten andre Leute. Sie schienen mich für ein vom Glück ganz besonders begünstigtes Wesen zu halten. All die vielen Mädchen und alten Jungfern in der Nachbarschaft wurden aufgezählt, und wenn auch Tante Lucy selbst mich nicht zu überreden versuchte, so tat es Linda um so eifriger. Eines Tages kam dann Mrs. Thorold herüber und sprach, meine Hand in der ihrigen haltend, wohl eine Stunde lang auf mich ein. Ihre Augen wichen dabei nicht von meinem Gesichte, und ich glaube, sie hat mich mit ihrem durchdringenden Blick und ihrem leisen, aber bestimmten Ton förmlich hypnotisiert.«

»Mein armes Kind! Wie hart sind Sie von allen Seiten bedrängt worden!«

»Nebenbei erfuhr ich, daß Tante Lucy ein vortrefflicher Kaufpreis für das Schloß angeboten worden sei und sie im Begriff stehe, eine kleine Wohnung mit drei Schlaf- und einem Wohnzimmer zu mieten, die also nur Raum für die Familie selbst bot. Meine Tante fand demnach, daß ich Watty heiraten müsse, und ließ mich nur zu deutlich fühlen, daß ich ihr eine Last war ...«

»Die Abscheuliche!« rief Mrs. Evans ganz empört.

»Mir war es, als wollten sie mich alle in einen Abgrund hinabstoßen, an dessen Rand ich mich mit beiden Händen wie rasend anklammerte.«

»Ja, ja, das ist der richtige Vergleich.«

»Trotz all dem aber, ich muß es gestehen, fühlte ich mich anderseits eben doch auch geschmeichelt. Der Gedanke, einen eigenen Herd, eine Heimat zu haben, tat meinem Herzen wohl, zudem war es schon lange mein Wunsch, Indien kennen zu lernen. Wohl wußte ich, daß Watty nur ein bescheidener Angestellter auf einer Teepflanzung war, und daß unsre Verhältnisse alles, nur nicht glänzend sein würden; allein ich war ja nicht an Bälle, Gesellschaften und Luxus gewöhnt, und Arbeit habe ich nie gescheut. Jung und gesund bin ich auch. Und Watty war ein guter Sohn; ein guter Sohn aber, sagt man, wird auch ein guter Gatte, und zudem kannte ich ihn ja von Kindheit an.«

»Und anderseits?« fragte Mrs. Evans sanft.

»Nun, anderseits war niemals von Liebe zwischen uns beiden die Rede gewesen, nicht einmal andeutungsweise, nicht im entferntesten. Und sechs Jahre hatten wir uns nicht gesehen! Es war gewiß ein tollkühnes, gewagtes Unternehmen, ans andre Ende der Welt zu reisen, um die Frau eines Mannes zu werden, für den ich nahezu eine Fremde bin, und die er bei einem zufälligen Zusammentreffen auf der Straße wahrscheinlich gar nicht erkennen würde. Deshalb schauderte mir noch am Rande des Abgrundes. An einem Tage war ich halb geneigt, ja zu sagen, denn seine Briefe waren bezaubernd, am andern wieder fest entschlossen, ihm mit nein zu antworten. Da erhielt ich schließlich Wattys Photographie, und was werden Sie von mir denken, wenn ich Ihnen sage, daß sie den Ausschlag gab? Sein Gesicht hatte es mir angetan, und ich sagte ja.«

»Ach, liebes Kind, welcher Sprung ins Dunkle! Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, so möchte ich diese bedeutungsvolle Photographie gern sehen, denn ich gehöre zu den Leuten, die glauben, daß man aus den Zügen eines Menschen auf seinen Charakter schließen kann.«

»Sie ist in meiner Kabine. Mit Vergnügen werde ich sie Ihnen morgen zeigen; jetzt ist es ja schon zu dunkel hier.«

»Bis Sie sie gefunden, geküßt und hierhergebracht haben, wird hier schon Licht sein. Gehen Sie, tun Sie es mir zuliebe, denn mir ist, als könnte ich heute nacht nicht schlafen, wenn ich nicht vorher dieses Mannes Bild gesehen habe.«

Ich stand sofort auf – das elektrische Licht war inzwischen angezündet worden – und ging in meine Kammer, wo ich die in einem blauen Lederrahmen prangende Photographie aus ihrem Versteck hervorholte. Dann kehrte ich zu Mrs. Evans zurück, die sich dicht vor eine Lampe an einen Tisch gesetzt hatte. Ihre Augen funkelten förmlich vor gespannter Erwartung, als sie mir die Hand entgegenstreckte, um das Bild in Empfang zu nehmen.

Feierlich, ohne ein Wort zu sagen, legte ich den feinen Lederrahmen in ihre Hand. Dann setzte ich mich, ihr Urteil erwartend, mit einem Gefühl stolzen Triumphes. Es war ja ein schönes, tatkräftiges, vornehmes Gesicht, das mein Herz im Sturm erobert und all meine Zweifel besiegt hatte.

Lange betrachtete meine Beschützerin das Bild, dann schaute sie mit einem tiefernsten Ausdruck in den dunkeln Augen zu mir herüber.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich darüber denke?«

Ungeduldig nickte ich mit dem Kopfe, wartete ich doch schon über fünf Minuten voll Spannung auf eine Äußerung von ihr.

»Meiner Ansicht nach haben Sie in der Lotterie des Lebens das große Los gezogen. Sie sind ein Liebling der Vorsehung.«

Eifrig beugte ich mich vor, um diesen herrlichen Worten zu lauschen.

»Ja,« – sie zeigte mit dem Finger auf das Bild – »dieser Mann ist, nach seinen Zügen zu schließen, gewissenhaft, arbeitsam und rechtschaffen. Er ist zuverlässig und beständig, und wenn auch nicht weich und schmiegsam, so ist er doch ein Mann, auf dessen Liebe eine Frau sich fest verlassen kann.«

Ich stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie aber sprach, abwechselnd mich und Wattys Bild betrachtend, lebhaft weiter: »Er ist eine kritisch angelegte und verschlossene Natur, aber offen und freimütig gegen solche, die er liebt. Dabei ehrgeizig, tatkräftig und klug: alles in allem ein höchst interessantes Gesicht.« Sie lehnte das Bild an ihren Arbeitskorb und fügte dann lachend hinzu: »Überdies, was ja nicht zu vergessen ist, ein bildhübscher Mensch!«

Ich fühlte, wie ich bei all diesen Lobsprüchen vor Freude errötete: die stolze Befriedigung der Braut ließ mein Herz höher schlagen.

»Seine Mutter muß ihm begeisterte Beschreibungen von Ihnen gesandt haben,« fuhr Mrs. Evans fort, »denn dieser hier ist nicht der Mann, einen Sprung ins Dunkle zu tun.«

»Nein, Watty war von Natur immer vorsichtig, aber kritisch angelegt war er früher durchaus nicht gewesen.«

»Wohl möglich, dann hat er sich eben in den sechs Jahren verändert. Er ist inzwischen zum Manne herangereift; eigentlich sieht er älter aus als er ist.«

»Ja, das finde ich auch,« stimmte ich bei. »Er ist bedeutend älter geworden. Ich aber ebenfalls; hoffentlich wird er nicht enttäuscht von mir sein.«

»Nein, das glaube ich nicht, mein Kind,« sagte sie, mich nachdenklich betrachtend. »Sie scheinen mir sogar recht gut zusammenzupassen. Soll ich Ihnen jetzt auch etwas über Ihren Charakter sagen?«

»O ja, bitte, das Gute sowohl als das Schlechte.«

»Trotz Ihres anscheinend kühlen Wesens sind Sie doch eine weiche, zärtliche, ja romantisch angelegte Natur. Sie können sehr unvorsichtig, aber auch sehr zurückhaltend sein. Sie sind leicht verletzt und hassen Zwang und Abhängigkeit, aber Sie haben ein gutes Herz, und alte Leute und Tiere hängen mit besonderer Liebe an Ihnen.«

»Ist das alles? Ich glaube wirklich, Sie haben in meinen Zügen zu lesen verstanden ...«

»Nein, ich war noch nicht ganz zu Ende. Für ein Mädchen Ihres Alters haben Sie viel Selbstbeherrschung. Ich bemerkte es neulich in unsrer Kabine, als sich die junge Amerikanerin auf Ihren Hut setzte und Sie Ihre Finger in die Türangel klemmten.«

»In der Fremde und als arme, geduldete Verwandte lernt sich das.«

»Nun, jedenfalls ist es eine wertvolle Errungenschaft, und auch der den Ferrars eigene Stolz fehlt Ihnen nicht. Nein, nein, ich glaube nicht, daß Mr. Thorold enttäuscht sein wird.«

»Ihre Worte sind sehr freundlich, allein wenn ich seine Briefe lese, so fühle ich mich seiner so wenig wert. Meine Fähigkeiten stehen den seinigen bei weitem nach. Ich habe nur eine gewisse Fingerfertigkeit.«

»Mit seinem Verstand und Ihren Fingern werden Sie schon miteinander durchs Leben kommen. Was für Künste treiben Sie denn mit Ihren Fingern?«

»Ich nähe, sticke und spiele Klavier und Gitarre; auch kochen kann ich zur Not.«

»Mein Kind, dann sind Sie ja ein wahrer häuslicher Schatz. Kein Mann ist unempfindlich für eine gute Mahlzeit, wenn auch Ihr Bräutigam gerade kein Feinschmecker zu sein scheint.«

Wattys einstige Vorliebe für Pflaumenmus und Rosinenkuchen fiel mir ein, und wie er meinen Anteil an gerösteten Kastanien mehr als einmal mitverzehrt hatte.

Während unsres Gespräches waren allmählich ziemlich viele Passagiere in den Salon gekommen, und verschiedene gingen an unsrer behaglichen Plauderecke vorüber.

»Aber wer ist denn das?« rief plötzlich eine Stimme hinter mir, und eine kleine, blasse Amerikanerin deutete auf Wattys Bild. »Erlauben Sie, daß ich es mir näher ansehe?« Dabei entriß sie es mir, ohne eine Antwort abzuwarten.

Miß Hatty P. Schulyer von New York, die das oberste Bett in unsrer Kabine innehatte, war eine lebhafte, eigenartige, bei jedermann beliebte Persönlichkeit; sie reiste nach Japan.

»Ei, das ist ja ein Staatskerl!« bemerkte sie endlich. »Wie kam der nur dazu, sich gerade in Sie zu verlieben?«

»Warum wundert Sie das? Warum sollte er mich nicht lieben?«

»Weil Sie so einfach, so sittsam und bescheiden sind, dabei allerdings – ich gebe es zu – recht hübsch; aber ein sanftes Täubchen ohne Feuer und Temperament, während dieser hier« – sie klopfte mit ihrem Kneifer auf den Rahmen – »eher ein kluger, kecker Streber genannt zu werden verdiente, der kaltblütig und rücksichtslos seine Ziele verfolgt. Zudem sieht er aus, als ob er sich vorläufig noch nicht übermäßig nach einem Liebchen oder einer Gattin sehnte. Kurz, daß ich es Ihnen nur offen sage: er paßte viel eher für mich als für Sie.«

»Das ist abgeschmackt!« rief ich höhnisch.

»O nein; es liegt vielmehr auf der Hand. Ich bin ungeheuer reich, und er ist ungeheuer ehrgeizig ...«

»Sie täuschen sich. Im Gegenteil, nicht ein Fünkchen von Ehrgeiz hat er, denn als er damals im Offiziersexamen durchfiel, war er fast vergnügt darüber.«

»Was, dieser Mann?« schrie sie auf und setzte sich plötzlich neben mich. »Was für einen Beruf hat er denn jetzt?«

»Er ist auf einer Teepflanzung angestellt.«

»Auf einer Teepflanzung angestellt? Du meine Güte! – Und ich hatte geglaubt, er müsse zum mindesten erster Sekretär des Vizekönigs sein ... Na, schäme dich, Hatty Schulyer, diesmal hast du nichts gewußt. Daß Sie Braut sind, hatte ich aber doch erraten, Miß Ferrars.«

In diesem Augenblick trat Mrs. Blasson, die Inhaberin des Bettes Numero 4, in Seide rauschend und etwas allzu stark mit Magnolienblütenduft parfümiert, näher und stellte sich ebenfalls hinter uns. Sie trug ein glitzerndes schwarzes Gesellschaftskleid und eine Perlkette um den Hals.

»Wovon sprechen Sie?« fragte sie gedehnt. »Und wer ist dieser Herr hier?« Dabei beugte sie sich vor und nahm die Photographie an sich.

Eine lange, vielsagende Pause folgte. Endlich sagte sie: »Ei, ei, das ist ja Mr. Thorold! Wie merkwürdig! Wohl Ihr Eigentum?« Sie nickte Mrs. Evans zu.

»Nein,« erwiderte diese, »er gehört Miß Ferrars im vollen Sinne des Wortes.«

»Ihnen, Miß Ferrars?« wiederholte sie in ungläubigem, für mich durchaus nicht schmeichelhaftem Tone.

Dann musterte sie mich, mit dem Rahmen in der Hand, vom Kopf bis zu den Füßen. Sie schien entschieden wenig Anziehendes an mir zu finden und sagte dann: »Mein Erstaunen ist allerdings sehr groß, denn ich hatte keine Ahnung, daß Mr. Thorold verlobt ist und demnächst heiraten wird. Kennt er Sie schon lange?«

»Seit meinem fünften Jahre.«

»Wirklich? Ein beneidenswerter Mann!« spöttelte sie. »Also eine Kinderstubenliebe, die bei einer Arche Noah begründet und mit Pflaumenmus und Butterbrot besiegelt wurde.«

Ich antwortete nichts darauf, sondern streckte nur die Hand aus, mein Eigentum zurückzufordern.

»Nun« – sie händigte es mir ein –, »da wäre denn also das Geheimnis aufgeklärt! Ich dachte mir schon immer, daß sein zurückhaltendes, ungeselliges Wesen einen besonderen Grund haben müsse. Und nun soll also seine lobenswerte Treue endlich belohnt werden! Ich freue mich, daß ich Gelegenheit gehabt habe, Miß Ferrars' Bekanntschaft zu machen.« Dabei sah sie mich hochmütig an, nickte uns allen flüchtig zu und rauschte davon.

»Nein, was für einen Aufruhr das Konterfei Ihres Bräutigams verursacht hat!« rief Hatty schalkhaft. »Verstecken Sie es rasch, es könnten sonst am Ende hier herum noch mehr Freundinnen von ihm auftauchen, oder besser noch, geben Sie es mir« – sie streckte lachend die Hand aus –, »ich will es bis zum Schluß der Reise in gutem Gewahrsam halten.«

*

Zum ersten Male in meinem Leben bot sich mir hier auf dem Schiffe Gelegenheit, das gesellschaftliche Leben und Treiben im großen Stile zu beobachten. Alles, was ich da sah und hörte, war neu und seltsam für mich. Die meisten meiner Reisegefährten kannten sich von früher oder hatten wenigstens gegenseitige Bekannte. Ich hörte die Leute geläufig von Orten sprechen, die ich nicht einmal von der Landkarte her kannte, und es fiel mir auf, daß so manche, berückt vom Zauber des Ostens, sich freuten, zu ihrem Berufe, ihren Vergnügungen und ihrer sozialen Stellung zurückzukehren, und dabei nicht genug von den Greueln eines englischen Winters erzählen konnten. Natürlich hatte sich unter den nahezu dreihundert Passagieren eine Menge Gruppen gebildet. Da war vor allem ein großer Kreis lebenslustiger junger Leute, die mit Leidenschaft tanzten und Konzerte und Theateraufführungen ins Leben riefen. Auch eine Gruppe schöngeistiger Damen und Herren gab es, die über Maeterlinck und Nietzsche stritten; die Wagnerianer und Ibsenianer nicht zu vergessen.

Von Mrs. Blasson sahen wir drei Mitbewohner ihrer Kabine nur wenig. Sie war eine vortreffliche Schauspielerin, kleidete sich aufs modernste und kokettierte mit Ausdauer. Stets war sie die letzte, die erschien, und die letzte, die sich zurückzog. Mrs. Evans und Miß Hatty schenkte sie meist keine Beachtung, dagegen geruhte sie hin und wieder, das Wort an mich zu richten. Nachher aber fühlte ich mich, immer so klein und gedemütigt, als sei ich von jemand geohrfeigt worden. Warum nur konnte sie mich nicht leiden? Denn daß ich ihr unausstehlich war, stand deutlich in ihren Augen geschrieben.

Allmählich hatte es sich unter den Passagieren herumgesprochen, daß ich musikalisch und zugleich auch gefällig sei, und so mußte ich häufig zum Begleiten schöner und auch nicht schöner Stimmen herhalten. Ich studierte Konzerte ein, half den Missionsschwestern bei ihren Näharbeiten und las Mrs. Evans, die schwache Augen hatte, vor – kurz ich hatte stets Beschäftigung in Hülle und Fülle. Dabei aber hielt ich Augen und Ohren offen. Diese Seefahrt wurde zu einer Lernzeit für mich. Es war mir, als schaue ich über eine hohe Mauer hinunter auf die große, runde Erde. Ich nahm bleibende Eindrücke mit mir von Malta mit seinen duftenden Rosen, seinen engen, steilen Straßen, seinen Tempelherren und weißen Pudeln; von Port Said mit seinen Cafés chantants und Kohlenlagern und von dem gespensterhaften, durch elektrisches Licht erleuchteten Wüstenrande. Wie viel größer und imposanter, als ich es mir nach der Karte vorgestellt hatte, war doch das Rote Meer! Und hier und da zwischen seinen heimtückischen Felseninseln entdeckte ich einen einsamen Mast oder Schornstein, der irgend eine traurige Geschichte erzählen zu wollen schien.

Während der ganzen Reise wurden mir überdies in ausgiebigster Weise die praktischen Ratschläge Miß Hatty Schulyers zu teil, die ich dankbar annahm, da ich fühlte, daß sie gut gemeint waren. Das halb verächtliche Mitleid, womit sie mich während der ersten Zeit betrachtete, war verschwunden, seitdem sie mich einmal in einem Konzert hatte spielen und mit einer Stewardeß fließend hatte Deutsch sprechen hören. Nun sagte sie eines Tages in ihrer aufrichtigen, trockenen Weise zu mir: »Ich glaube jetzt wirklich, Sie sind ein recht kluges, vernünftiges Mädchen, Pamela Ferrars, und durchaus nicht das Gänschen mit einem hübschen Lärvchen, für das ich Sie anfangs gehalten habe. Allein von Weltkenntnis haben Sie so wenig eine Ahnung als ein neugeborenes Kind.«

Mit drolligem Eifer weihte sie mich in die kleinen Ränke und Liebeshändel ein, die sich um uns her abspielten und von denen ihren scharfen Augen und Ohren nichts entging. Sie machte mir über meine unvorteilhaft aufgesteckten Haare Vorwürfe und warnte mich vor Mrs. Blassons Ränkespiel.

»Hoffentlich läßt sich diese boshafte Person in Indien nicht in Ihrer Nähe nieder, Pam,« sagte sie eines Nachmittags, während sie sich bemühte, mir die Handgriffe einer modernen Haartracht beizubringen. »Ich habe das Gefühl, als gelüste es die kokette Witwe nach Ihrem Bräutigam; jedenfalls gibt sie sich schon jetzt alle Mühe, Sie zu quälen.«

»Allerdings, und es gelingt ihr manchmal auch recht gut.«

»Aber warum lassen Sie es sich denn gefallen?« fragte Hatty ungeduldig. »Selbst ein Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird.«

»Nicht wenn man zu vieren eine Kammer teilt, wobei ich übrigens für den schmeichelhaften Vergleich danke,« sagte ich lächelnd. »Wie angenehm wäre es für Sie, wenn ich mich mit ihr herumzankte! Zudem werden wir ja in wenigen Tagen für immer voneinander scheiden.«

»So hoffe ich wenigstens. Sie, mein Kind, und ich aber, wir sagen auf Wiedersehen, nicht wahr? Ihre Adresse habe ich mir aufgeschrieben, und wenn ich von Japan zurückkomme, werde ich in Kalkutta aussteigen, Sie auf Ihrer Teeplantage besuchen, Ihren Tee kosten und Ihren Teepflanzer in Augenschein nehmen.«

»Sie sollen mir herzlich willkommen sein.«

»Wenn ich denke, daß Sie in wenigen Wochen schon Mrs. Thorold sein werden! Natürlich kommt er Ihnen entgegen? Wahrscheinlich sitzt er schon jetzt mit einem Fernglas bewaffnet auf einem Brückenpfeiler in Bombay und schaut sehnsüchtig nach seiner Herzallerliebsten aus.«

»Das glaube ich denn doch nicht. Aber ich hoffe, daß er mich am Hafen abholen wird.«

»Wie lange ist es eigentlich her, seitdem Sie sich unter Tränen Lebewohl gesagt haben?«

»Sechs Jahre, aber ich versichere Ihnen, unsre Augen waren trocken.«

»Lassen Sie mich 'mal ein bißchen rechnen. Sie zählten damals also fünfzehn Jahre und trugen einen langen Zopf, als er Sie zuletzt sah? Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich es für ein großes Wagnis halte, einen Mann zu heiraten, den Sie so lange nicht gesehen haben. Die Männer ändern sich.«

»Gewiß, die Frauen aber auch.«

»Das weiß ich wohl, allein ein Mann lernt die Welt kennen, er kann sich vielleicht draußen erst entwickeln. Mr. Thorold sieht männlich und entschlossen aus, und ich fürchte, sein hübsches Gesicht hat Sie vor allem angezogen. Lassen Sie sich also zum Abschied noch einen letzten guten Rat von mir geben: heiraten Sie ihn nicht eher, als bis Sie davon überzeugt sind, daß er dem Bilde entspricht, das Sie sich von ihm gemacht haben, und Sie ihn wirklich lieben. Was ist ein Brief oder eine Photographie? Nur Papier und Pappe. Warten Sie noch einige Zeit; beobachten Sie ihn genau.«

»Dazu bleibt mir leider keine Zeit. Sofort nach der Landung reise ich zu Verwandten meines Bräutigams, bei denen nach etwa einer Woche die Hochzeit gefeiert werden soll.«

»Eine Woche ist zu kurz, um sechs Jahre Trennung hereinzuholen, und selbst ein Mann kann sich sieben Tage lang von seiner besten Seite zeigen. Überstürzen Sie also die Sache ja nicht. Sie sind so gutherzig und nachgiebig und wollen immer jedermanns Wünsche erfüllen. Denken Sie jetzt vor allem an sich selbst ... Und nun sehen Sie 'mal Ihr Haar an: eine wahre Pracht! Ist es nicht kleidsam? Es gibt Ihnen wahrhaftig ein ganz anderes Aussehen. Sie müssen es immer so tragen; es soll Sie an Hatty Schulyer erinnern, bis wir uns wiedersehen. Ach, da läutet es schon zum Essen; ich werde natürlich viel zu spät kommen!«

*

Kurze Zeit nach dieser Unterhaltung erwachte ich eines Morgens sehr früh und sah, daß wir uns dem Hafen von Bombay näherten. Da meine Gefährtinnen noch im tiefen Schlafe lagen, kleidete ich mich leise an und eilte auf Deck. Vor mir lag eine weite Bucht, und in der Ferne erblickte ich palmenreiche Inseln, breite Straßen mit weißen Gebäuden und den Hafen, von dessen buntem Leben und Treiben Mrs. Evans mir schon erzählt hatte. Ein weicher Duft hüllte das farbenprächtige Bild wie in einen goldenen Schleier, und schon fühlte ich, wie der Zauber des Ostens mich mächtig mit seinen Fäden zu umspinnen begann.

Das war Indien! Der Name allein schon wirkte wie eine magische Macht auf meine Vorstellung. Vom Meere aus gesehen, erschien es wirklich wie ein Märchenland, ein Land der Verheißung, der Poesie und Romantik. Die Ellbogen auf die Reling gestützt, starrte ich auf die näherkommende Küste, während die bange Frage mein Herz erfüllte: welches Los wird mich dort erwarten? Wird es das Glück sein?

Zuerst war ich fast allein auf Deck. Als aber die große Turmuhr am Ufer acht Uhr schlug, wurde es bald lebendig auf dem Schiff, und ein unruhiges, hastiges Treiben entstand. Der Gesundheitsbeamte war gekommen und wieder gegangen: die Briefe wurden gebracht und auf einen Tisch in den Salon gelegt. Zwei davon trugen meine Adresse, und der eine war von Walter.

Kaum hatte ich mich aus der Menschenmenge herausgewunden, so riß ich ihn auf. Die Schrift war zitterig, ja beunruhigend zitterig. Er schrieb, daß er unmöglich habe reisen können, da er von einem schweren Fieberanfall gepackt worden sei; er hoffe aber, mich wenigstens auf der Eisenbahnstation Bareda empfangen zu können. Seine Cousine Tizzie Hassall freue sich sehr, mich bei sich aufnehmen zu dürfen.

Der andere Brief enthielt nur einige Zeilen von Linda mit der Einlage einer kleinen Rechnung, deren Bezahlung vor der Abreise von mir übersehen worden war. Er hatte die Reise über Brindisi gemacht und war deshalb vor mir nach Bombay gekommen. So wurde ich an der Schwelle meiner neuen Heimat anstatt von meinem Bräutigam von einer unbezahlten Rechnung begrüßt!

»Wo ist er? Haben Sie ihn gefunden?« – Mrs. Evans hatte ihre Hand auf meine Schulter gelegt, während ich mich absichtlich im Hintergrunde hielt und meine Sachen einpackte. »Nun machen Sie uns, bitte, rasch bekannt.«

»Gern würde ich es tun,« – ich versuchte mit aller Kraft, gleichgültig zu erscheinen –, »allein ich erhielt vorhin einen Brief, worin Watty schreibt, daß er an Fieber gelitten habe und noch nicht reisefähig sei, mich aber in Bareda abholen wolle.«

»Auf solchen Teepflanzungen ist Fieber nichts Seltenes, deshalb brauchen Sie sich durchaus nicht zu beunruhigen ... So werden wir nun also bis zum Kreuzungspunkt Basaule zusammenreisen. Es tut mir nur leid, daß wir nicht den ganzen Weg miteinander machen können, doch werden Sie bloß zehn Stunden allein zu fahren haben.«

Ach, wie mir der Mut sank bei dieser Aussicht!

»Unser Zug geht um vier Uhr ab. Es bleibt uns also gerade noch Zeit, in der Stadt ein Gabelfrühstück einzunehmen. Kommen Sie! Und Kopf hoch!«

Die Passagiere waren alle eifrig damit beschäftigt, ihr Gepäck zusammenzusuchen und sich zum Fortgehen bereit zu machen. Als Mittelpunkt einer lebhaften Gruppe bemerkte ich Mrs. Blasson in elegantem Reiseanzug und einem kleidsamen Hut. Sie schaute verschiedentlich zu mir herüber, und ich sah, wie ihre Augen umherwanderten, als suche sie jemand. Es fiel ihr nicht ein, sich von mir zu verabschieden, dagegen folgte mir Hatty Schulyer, die von einer Schar fröhlicher Bekannter begrüßt worden war, in unsre Kabine hinunter, küßte mich, schenkte mir eine kleine »Glücksbrosche«, wie sie sich ausdrückte, ein in Brillanten gefaßtes Katzenauge, und nahm mir das Versprechen ab, ihr zu schreiben. Auch die Schwestern sagten mir freundlich Lebewohl, indem sie die Hoffnung aussprachen, mich einmal wiederzusehen, und bald waren wir nach allen vier Richtungen hin auseinandergegangen.

Mrs. Evans und ich setzten uns in einen kleinen, von einem arabischen Pferde gezogenen Viktoriawagen, um uns Bombay anzusehen. Was für eine heitere, geschäftige Stadt war das, voll glühender Farbenpracht und goldenem Sonnenschein! Wie viel fröhlicher und leichter erschien hier das Leben als in dem nebeligen England!

Gegen vier Uhr dampften wir dann aus dem Bahnhof hinaus m der Richtung nach Parel, vorüber an malerisch gelegenen Dörfern, Palmengruppen und kleinen Meerbuchten. Der Mond schien in voller Größe, als wir die steile Gebirgsbahn zum Bhor Ghaut hinauffuhren. Wir saßen uns gegenüber am Fenster, starrten auf die geheimnisvollen Abgründe hinunter und plauderten im Mondlicht bis spät in die Nacht hinein.

»Mir ist, als stehe ich wieder unter dem Zauber, den die Persönlichkeit Ihres Vaters auszuüben pflegte, obwohl ich selbst mein Herz nicht an ihn verloren hatte,« sagte Mrs. Evans. »Jedenfalls fühle ich mich in eigentümlicher Weise zu seiner Tochter hingezogen. Sie sind ihm in manchem sehr ähnlich, und der Gedanke, Sie allein, ohne Freunde und, abgesehen von dem jungen Thorold, ohne Angehörige in dem ungeheuren fremden Lande zu wissen, ist mir unerträglich. Ach, mein liebes Kind, wie viel hängt von ihm ab ... Ihr ganzes junges Leben! Möge er Ihres Vertrauens wert sein! Wenn ich freilich sein Gesicht richtig beurteile, so ist er ein guter Mensch.«

»Ja, das hoffe ... das glaube ich auch,« stammelte ich, indem ich mir zum Trost seine Briefe ins Gedächtnis zurückrief.

»Für ein alleinstehendes Mädchen kann ich mir keinen schrecklicheren Ort denken, als dieses riesengroße Land. In England findet sich immer irgend ein Unterkommen, sei es in einem Geschäft oder als Erzieherin, sei es, daß es sich mit Malen oder Schriftstellern sein Brot verdienen kann. Hier aber fällt dies alles weg. Unbarmherzig wird es vom Schicksal hin und her getrieben, bis es schließlich der bitteren Not, wenn nicht noch Schlimmerem anheimfällt. Und ist das Mädchen vollends hübsch, welchen Versuchungen ist es dann erst ausgesetzt!«

»O Mrs. Evans, Sie sind ja eine wahre Kassandra!«

»Nein, nein, mein Kind. Aber ich weiß, wie unstet das Leben der Menschen im Osten ist: heute hier, morgen da. Niemand hat ein festes Heim.«

»Ich aber werde eines haben,« wandte ich lebhaft ein. »Watty hat mir die Ansicht unsres Bungalow geschickt. Er ist reizend, dicht mit Rosen bewachsen, und liegt etwas höher als die Teefelder. Ich werde jedenfalls mein Heim haben.«

»Ja, meine Liebe, und Gott gebe, daß es ein schönes, ideales Heim für Sie werde! Sie gehören nicht zu der Art Mädchen, die Kopf und Verstand verlieren, wenn junge, törichte Männer Ihrem Gesicht Weihrauch streuen. Wenden Sie den gewonnenen Einfluß stets nur dazu an, Gutes zu stiften, und handeln Sie niemals gegen Ihr Gewissen, denn das Gewissen ist die Stimme Gottes.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung,« flüsterte ich.

»Und wenn es Ihnen gut geht, dann verhärten Sie Ihr Herz nicht gegen Not und Kummer andrer ... Sie werden mir schreiben, nicht wahr?«

»Gewiß, ich bin nur zu glücklich, wenn Sie es mir erlauben. Sie sind ja dann der einzige Mensch in Indien, mit dem ich Briefe wechseln kann.«

»Und wenn – Sie dürfen mir das nun aber nicht übelnehmen – wenn Sie nun fänden, was ich zwar nicht glaube, daß Ihr Walter nicht ganz der Mann sein sollte, den Sie sich vorgestellt haben, wenn Sie fühlten, daß Sie ihn nicht lieben, so übereilen Sie die Hochzeit nicht. Warten Sie und kommen Sie zu mir. Wollen Sie mir das versprechen?« Und sie ergriff meine Hand.

»Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, liebe Mrs. Evans! Ja, ich verspreche es,« erwiderte ich, wenn ich mich auch im Innern lebhaft gegen die Möglichkeit einer Enttäuschung sträubte.

»Wir sind zwar ruhige, langweilige Leute, trotzdem glaube ich aber, daß Robbie Ihnen gefallen und Sie sich bei uns wohlfühlen würden. Sie könnten dann so lange unser Vizetöchterchen sein, bis Sie einen Entschluß gefaßt und über Ihre Zukunft entschieden haben.«

»Wie freundlich ist das von Ihnen! Wie gütig sind Sie gegen mich gewesen!« rief ich, ergriff ihre Hand und küßte sie innig ...

Am nächsten Morgen war ich allein.


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