Anna Croissant-Rust
Kaleidoskop
Anna Croissant-Rust

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Amönenhof.

Seit Jahrhunderten schon saßen die Amönenhofer auf dem »Schlößche«. So hieß im Volk das langgestreckte nüchterne Gebäude, das seine weiße Fassade gegen den Laubwald hob. Hartköpfe waren sie alle, zum Herrschen geboren. Zornig, aufbrausend, dabei von großer Nüchternheit, stets gut kalkulierend, gute Hausväter, sparsame Hausfrauen wählend: so war ihr Besitz in Generationen gewachsen. Stundenweit im Umkreis gehörte ihnen ehemals Feld, Wiese und selbst der Hochwald bis gegen Johanniskreuz zu. Wie Könige saßen sie in ihrer grünen Oase zwischen den öden Sandstrecken des Westrich, auf denen sich die andern rackerten.

Generationen erst vermochten den Besitz zu zerstückeln. Als die Amönenhofer zu zahlreich wurden, als sich Söhne und Töchter in Vermögen und 167 Liegenschaften teilten. Es war nicht immer glatt dabei abgegangen, doch nüchtern und verständig wie sie waren, hatten sie lange Prozesse vermieden.

Der Vater des jetzigen Besitzers hatte sich, ganz gegen alle Tradition, eine Frau aus den Rheinlanden gewählt und alle schlechten Streiche des Sohnes wurden dem »nichtsnutzigen« rheinischen Blut in die Schuhe geschoben, das mit ihr in die Familie gekommen war. Zwar hatte der Junge sich nie geträumt, als Herr auf dem Amönenhof zu sitzen, aber schon als kleines Kind zeigte er alle Eigenschaften seiner Rasse. Er war hochfahrend, zornig, jäh, nur fehlte ihm die Nüchternheit, das bessere Einsehen. Er bestand auf seinem Willen, und wenn sie ihn halb tot schlugen. Leidenschaftlich und dabei genußsüchtig wie die Mutter, wußte er sich alles zu erzwingen, was er begehrte. Siebzehn Jahre alt, nahm er dem Vater Geld aus der Lade, weil der ihm verweigert hatte, ins Wirtshaus und auf die Tanzböden zu gehen. Mit achtzehn stach er im Wortwechsel seinen älteren Bruder, eines Mädchens halber, das dann freilich von keinem was wissen wollte.

Stets in Hader mit den Seinen, unlustig zur Arbeit, sowie sie der Alte ihm aufzwingen wollte, dabei, 168 wenn er's freiwillig tat, ein vorzüglicher Arbeiter, riß er eines Nachts aus, nach Amerika, knapp vor seiner Militärzeit. Sie hätten's ihm zwar redlich gegönnt, wenn er nach allen Kanten kujoniert worden wäre und endlich Mores hätte lernen müssen, aber so war's auch gut. Da war der Taugenichts aus dem Wege. Die Mutter, die ihm nachweinte und behauptete, daß sie ihn nur falsch angepackt hätten, lachten sie aufrichtig aus. Er hatte ja nicht einmal Adieu gesagt! Und was das Schönste war, er nahm sich reichlich Reisegeld aus des Vaters Schatulle, ganz wie wenn das in der Ordnung wäre.

Wie's ihm drüben ging, davon erfuhr nie einer, sie fragten auch gar nicht darnach, mochte er sterben und verderben.

Erst beim Tode der Eltern, dann beim Tode des zweiten Bruders wurde sein Name wieder genannt, und zuletzt, als der Älteste starb, der seit dem Stich immer ein wenig gekränkelt und sich in der Heuernte eine Lungenentzündung geholt hatte, der er erlag.

Ja, nun war freilich nach Testamentsbestimmung der Amerikaner Besitzer. Die Schwestern hatten längst weggeheiratet, aber jede wäre doch gern auf dem Hof gesessen, und niemand glaubte, daß man ihn »drüben« 169 ausfindig machen könne. Untereinander stritten sie schon, wer eigentlich ins Vaterhaus einziehen dürfe, da war er auf einmal da. Ihnen hatte er's nicht gemeldet, sie erfuhren's durch Fremde.

Als sie sich im Gerichtssaal trafen, sah er über sie weg, es gab keinen »guten Tag« und keinen Händedruck für sie. Wenigstens wußten sie nun, wie der Bruder aussah. Erkannt hätten sie ihn kaum wieder, obwohl er ein echter Amönenhofer war.

Breitschulterig und stämmig war er geworden. Er trug keinen Bart, ganz gegen die Art der Vorfahren, die einen kurzen Bart von einem Ohr unter dem Kinn weg zum andern Ohr getragen. Dadurch sah man die wuchtige Form des Kinns, dadurch fiel einem der volle rote Mund auf. Seine Rede war kurz abgehackt, und alles saß, was er sagte. An der rechten Hand fehlte ihm ein Finger, das war auch der Grund, warum er nicht nachdienen mußte.

Gerade im März war's, daß er kam, und alle, die auf ihn gelauert hatten, auch die Schwestern, rissen Augen und Mund auf über das Wirtschaften, das auf dem Amönenhof losging!

Es wimmelte nur so von Dienstboten und neuen Maschinen, die da kamen! Eine kurioser als die andere. 170 So was hatte man im ganzen Westrich noch nicht gesehen!

Und erst die Arbeit! Jawohl, sie waren an hartes und schweres Arbeiten gewöhnt bei ihrem armen Boden, aber auf dem Amönenhof fing die Schinderei am frühen Morgen an und ging bis in die späte Nacht fort. Kranksein und schwach sein, das gab's nicht. Der Amönenhofer konnte nur gesunde, starke Leute brauchen; wer das nicht war, durfte gleich sein Bündel schnüren. Freilich, der Lohn war hoch und das Essen so gut und reichlich, wie's die armen Westricher nie gehabt. Und mit seiner Handvoll Äcker begnügte er sich auch nicht. Mit dem vollen Geldgurt ging er fort, und Wiese um Wiese und Acker um Acker sackte er ein. Natürlich merkten sie's bald, daß es ihm darum zu tun war, den ganzen Besitz wieder zusammenzubringen, und sie forderten gehörig oder wichen aus. Aber bei ihm gab's kein langes Hin und Her. Gleich mußte es sein, auf der Stelle, ja oder nein.

Dabei ließ er die Leute nicht aus den Augen, und er hatte eine Art, sie anzuschauen, daß auch der mundfertigste Pfälzer klein beigab und ihm den Acker ließ.

Mußte der ein Heidengeld von »drüwwe« mitgebracht haben! Er saß noch keine vier Monate auf 171 dem Hof, da konnte er schon Heu über eine Stunde weit weg holen und Holz schlagen lassen droben im Hochwald, wie's seine Väter getan. So saß er, der Tunichtgut, also wieder mitten im Erbe der Ahnen, und das Volk umher sah mit neidischen Blicken nach ihm.

Aber mitten in seinen Wiesen lagen ein paar Äcker, die er nicht kriegen konnte und die ihn ärgerten am Tag, wenn er sie sah, und des Nachts, wenn er sie nicht sah. Der Besitzer, ein alter Filz, lebte im Elsässischen drüben und hatte seine Freude dran, den Amönenhofer hinzuhalten. Pachten könne er sie schon, aber feil seien sie ihm nicht, oder eigentlich seiner Tochter nicht, denn sie waren Muttergut.

Pachten! Wie wenn's ihm ums Pachten gewesen wäre! Haben, haben wollte er sie. Und wenn er zehnmal die Läden nach der Seite hin nicht mehr aufmachte, da lagen sie, da machten sie sich breit, da höhnten sie ihn. Sollte er noch lange zuschauen, wie seine Knechte im Bogen um das verfluchte Stück Land herumfuhren? Den ganzen Besitz wollte er, und sein Vater sollte nicht umsonst gesagt haben: »Ja, wenn der da herumbefehlen könnte wie der Urgroßvater!«

Da kamen Tage, wo ihm der Ärger darüber die 172 ganze Wirtschaft verleidete. Dann ritt er seine Pferde zu schanden, lungerte an fremden Orten herum, schrie in den Schenken nach den teuersten Weinen und freute sich in der Trunkenheit über die Hunde, die vor seinen Talern krochen. Freilich wußte er ganz genau, daß sie ihn bespien, sowie er draußen war. Waren's seine alten Geschichten nicht, so waren's seine neuen, und wenn er nicht hinhorchte, tuschelten sie schon über ihn, während er noch dabeisaß.

So war ihm eines Abends ein Wort im Ohr hängen geblieben: die Tochter! Wenn sie nur einigermaßen erträglich war! Die Weiber, das hatte er bis jetzt immer so nebenbei abgemacht, wenn sie auch alle auf ihn aus waren. Schief war's noch mit keiner gegangen. Sein alter Wagemut überkam ihn, und als er aus der Schenke nach Hause fuhr, knallte er mit der Peitsche über die Braunen hin, daß sie nur so durch den Wald sausten, an den rotglühenden Birnbäumen vorbei und dem herbstlich goldenen Ahorn. Es war ihm, als seien die Äcker schon sein, und er sang in das Peitschenknallen und in das Getrappel der Pferde hinein mit lauter Stimme.

Noch keine zwei Tage hatte er seinen Brief an den Alten abgeschickt, als in der ganzen Gegend schon das 173 Gerücht ging, er wolle die Tochter des alten Filzes heiraten.

Nun, wenn's ihm paßte, was sie in die Ehe mitzubringen hatte –! Die Felder waren's nicht allein, ein sechsjähriges Mädel kam auch dazu, von dessen Vater niemand wissen durfte. Der alte Filz hatte zwar zu der Zeit einen jungen Knecht mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt.

Aber Tage und Wochen gingen ins Land. Dem Amönenhofer war nichts anzusehen, was er für eine Antwort bekommen hatte. In seinem Haus blieb alles beim alten. An der nüchternen, fast tristen Einrichtung wurde nichts geändert, nichts deutete darauf hin, daß eine junge Frau einziehen sollte.

Auf einmal hieß es, der Alte sei tot. Er konnte noch nicht begraben sein, da war der Amönenhofer schon weg, wie der Wind fuhr er mit den Braunen zur Bahn, just nicht wie zu einem Begräbnis sah's aus, eher wie zu einer Freiersfahrt.

Als er am andern Tag zurückkam, hob er eine Frau aus dem Schlitten und ein Kind dazu. Alles auf dem Hofe stürzte zusammen. Was? Er traute sich, sie unverheirateterweise auf den Hof zu setzen, noch dazu mit dem Wechselbalg? Eine schöne Zucht wurde das, 174 da heraußen in der Einöde! Das ließen sie sich nicht gefallen. Dem Herrn sagte es zwar keiner, aber als sie zu kommandieren anfing, wie wenn sie die Frau wäre, ging einer nach dem andern. Die Dirnen fingen an, dann folgten die Knechte.

Der Amönenhofer lachte. Gab's doch Dienstboten genug im Winter. Aber als es bis in den Sommer zuging wie in einem Taubenschlag und ihm noch der Pastor aus dem nächsten Dorf ins Haus rückte, wurde er die Sache leid.

So heiratete er, und so waren endlich die letzten Äcker ganz in seiner Hand, die an dem ehemaligen Besitztum seines Urgroßvaters noch gefehlt hatten. Aber es war, wie wenn das Unglück darauf gehockt und gelauert hätte, um tückisch auseinander zu streuen, was er mit schnellen Händen zusammengerafft hatte: Immer, wenn etwas nicht nach seinem Kopf gegangen war, hatte er hinaus gemußt ins Wirtshaus. Und jetzt war gleich etwas, das ihn packte: Die Heuernte stand vor der Tür. Sie wollte sich gleich hineinstürzen in das Rackern und Mühen. Aber war es darum, daß er jetzt alles beisammen hatte? Sollte er der Sklave eines Besitzes sein? Reisen wollte er, wie es keiner von den armen Bauern konnte; reisen, wie die reichen Leute 175 der Stadt auch reisten nach ihrem Hochzeitstag. Und so fuhren sie fort durchs hohe Gras, das auf die Sensen wartete.

An einem hellen Junitag, der Hochwald stand in seiner Pracht und alles funkelte vom vorhergegangenen Regen, in den die Sonne schien, kamen sie wieder zurück. Er konnte gar nicht abwarten, bis der Wagen stand, unterwegs sprang er schon heraus und rannte in die Wiesen. Herrgott, da lag das Gras gemäht, ungewendet, grau, verfault, dort drüben stand es überreif, das Vieh brüllte vor Hunger, die neuen Maschinen standen verlottert unter Gottes freiem Himmel, er stieß auf betrunkene Knechte, die im hohen Gras lagen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen. Mit dem Revolver trieb er die Widerspenstigen ins Haus und zum Hof hinaus.

Nun die Luft rein war und er sich hatte austoben können, freute er sich der Arbeit, die er getan. Und jetzt stand die Frau da mit diesem Jammergesicht? War sie so eine, daß ihr gleich die Tränen durch die Finger tropften, wenn ein paar Taler springen mußten? »Hast du nicht gemerkt, daß es mir eine Freude war, die Kerle zu bändigen, und ist das nichts?« fragte er sie und packte sie heim Handgelenk. Wie sie ihm aber 176 die Hand mit jähem Ruck entzog, sah er ihre bösen Augen. Er drehte sich auf dem Absatz um und pfiff durch die Zähne. So! solche Augen konnte sie machen! Und die sah er noch öfter in der nächsten Zeit, denn es fing wieder an zu regnen, Tag für Tag goß es herunter. Das schöne Heu und die schwere Frucht mußten ja draußen verfaulen. Aber was half denn ihr Herumstehen an den Fenstern? Man lebt doch sein Leben nicht dafür, sich entmutigen zu lassen! Ihm dauerte es zwar auch zu lang, das Herumsitzen taugte nicht für ihn.

Endlich kam die Sonne wieder und das ganze Tal dampfte.

Eine fieberhafte Hast fuhr in die Frau.

»Leut' müssen her, viel' Leut',« sagte sie über dem Essen zu ihrem Manne. »Viele Leute? Wozu?« Er schaute gar nicht auf von seinem Teller. »Für die viele Arbeit, so viel, so viel ist gut zu machen,« rief sie, und er hörte alle Vorwürfe, alle Angst und Hast aus ihrer Stimme.

»Was gut zu machen ist, können wir leicht mit unsern paar Leuten gut machen.«

»Nein!« schrie sie und stand auf.

Da erst sah er sie genauer an, und ohne ein weiteres 177 Wort zu verlieren, deutete er mit der Hand nach der Türe. Sie ging auch sofort; über die Stiege hinauf, in die Stube hörte er sie gehen, während er fertig aß.

Es dauerte keine halbe Stunde, so rollte das leichte Wägelchen zum Hoftor hinaus, das sie selbst kutschierte, und es war dunkle Nacht, als sie wiederkam. Der Amönenhofer hatte ihre Heimkunft gar nicht abgewartet, er schlief den festen Schlaf eines müden, gesunden Menschen.

In der Frühe wimmelte es von Arbeitern auf den Feldern. Mit einem Satz war er aus dem Bett, über die Stiegen drunten und kriegte gerade die Frau zu fassen.

»Was sollen die Leute?« schrie er.

»Arbeiten.«

»Sie hören auf!«

»Nein.«

»Ja, sage ich,« stieß er heraus und packte sie fest bei den Armen. Da merkte er ihren gehässigen Widerstand in jeder Fiber ihres Körpers, die sich gegen ihn anspannte, und der Zorn überkam ihn so, daß er auf sie losschlug. Nicht einmal das Gesicht wandte sie zur Seite, Schlag um Schlag hielt sie aus. Draußen zahlte er die Leute aus, die sich murrend entfernten; dafür 178 sah er seine Frau in die Reihen der Dienstleute treten, einen Rechen in der Hand, ein Tuch um den Kopf gebunden. Hinter ihr lief ihr kleines Mädchen, das sie immer am Rock hatte, wenn er nicht in der Nähe war.

Natürlich steckten die Leute die Köpfe zusammen, aber am Nachmittag war's schon wie ein stilles Einvernehmen, ein Pakt zwischen dem Gesinde und der Frau, und man hörte das Kind lachen und schreien, so schäkerten sie mit ihm, wie wenn sie's ihm zum Trotz getan hätten. – So mochte sie die Freude ihres Trotzes haben, er hatte viel Wichtigeres im Kopf, neue Pläne, Verbesserungen; was ging ihn ihr Weiberstarrsinn an? Nur manchmal, wenn er sich später legte, und er sah sie mit ihrem steinernen Gesicht neben sich, erschien sie ihm fast schön in ihrem Trotz. Zwei Wochen hatte sie sich nun mit ihm herumgeschunden, er sah's wohl, daß sie sich oft abends nicht mehr schleppen konnte, aber alle Arbeit war für nichts. Das Heu war und blieb verdorben.

Als ihm der Großknecht das meldete, fügte er noch stockend bei: »und die Fraa is krank.«

»So? Und?«

»M'r haben de Dokder geholt.«

Er ging sofort in ihr Zimmer.

179 Sobald sie ihn sah, drehte sie sich nach der Wand.

»Schöner Profit von der Arbeit!« fuhr's ihm heraus.

Da warf sie sich herum, ihre Hände zuckten auf der Decke, doch ehe sie reden konnte, war er wieder draußen.

»Es steht schlimm mit Ihrer Frau, Amönenhofer,« sagte ihm der Doktor, »sie muß unsinnig gearbeitet haben, jetzt hat sie ein böses Fieber weg, und in ihrem Zustand –«

»In ihrem Zustand?«

»Ja, das wissen Sie gar nicht? Wenn alles gut geht, kommt an Weihnachten ein leibhaftiges Christkind ins Haus.«

»Ein Bub?« stotterte der Amönenhofer. Es war, wie wenn ihm jemand Flammen ins Gesicht geschüttet hätte.

»Ja, was weiß ich!« lachte der Doktor und sah sich den Amönenhofer nochmals an. Aber der reichte ihm mit einer leichten Verbeugung die Zügel, wie sonst auch.

Man hörte schon lange das Geräusch des Wagens nicht mehr, da stand der Amönenhofer noch auf demselben Flecke. Wie heiß und eng und ängstlich einem da drinnen werden konnte! Das war ja gerade wie 180 Furcht und Bangigkeit und wieder wie Freude, vor der man den Atem anhalten mußte! Mit einem Ruck drehte er sich um. Jetzt wollte er zur Frau. Er hatte schon die Klinke in der Hand – nein! wenn sie auch da trotzen wollte. Er schickte eine der Mägde zu ihr, das Kind aber, das vor der Türe im Gang herumlärmte, scheuchte er fort und drohte ihm, daß es heulend weglief.

Am Abend wurde er geholt. Es war schlimmer mit ihr geworden. Er setzte sich neben das Bett, er hörte ihre Schreie, ihre schnell heruntergehaspelten Worte, die man kaum verstand, und es war ihm beklommen zumut, fast mit Scheu sah er nach ihr, nicht ihres kranken Zustandes halber. Sie war ihm wie eine Fremde und zugleich wie jemand, mit dem ihn das innigste Geheimnis verband, und es wachte etwas wie zärtliche Angst in ihm auf, als er nach ihrer Hand griff.

In der Nacht warf er sich unruhig hin und her. Was war denn in ihn gefahren, was war's denn Großes, dieses Kind? Ob's einer Stallmagd gehörte, einem Knecht oder ihm, war das nicht gleich? Ein Kind. Zu Weihnachten sollte es da sein, und jetzt schon hatte er einen heißen Kopf davon! Welche Narrheit! 181 Er kannte sich ja nicht mehr. Doch wie er auch den Kopf auf dem Kissen wendet, immer ist's da. Er springt aus dem Bett, da hört er drüben die Frau stöhnen und schreien, und im Nu ist er dort. Vor dem Bett schläft die Pflegerin mit weit offenem Munde. Er rüttelt sie auf, schickt sie weg und nimmt ihre Stelle ein. Mit einem Gemisch von Neugierde und Angst in die Zukunft sieht er in ihr mageres Gesicht. Bleibt sie leben, wird sie ihm den Sohn schenken? Es ist ihm, als sähe er ihren Leib schwellen von der Frucht, und mitleidig betrachtet er diesen armen, von der Arbeit abgematteten Leib, und die Angst wird stärker in ihm, wird sie leben? Er hört gar nicht auf ihr Gemurmel, ihre jähen, sich fliehenden Worte; endlich horcht er aber doch. – Ja, ja, das war der Alte! Das Haus, das viele Geld, die Felder! verloren, vergeudet, hin! Auf einmal – da! – ein Name! Mit einem Ruf des Ekels schüttelt er sie. »Willst du still sein?«

Mit stieren Augen schaut sie auf, wieder der Name!

Pfui! Sie beschmutzt seinen Sohn! Da liegt sie und schreit nach ihrem früheren Liebhaber!

Ihr Kind hätte er jetzt packen und würgen mögen, wie verhöhnt kommt er sich vor, als er in der 182 Morgendämmerung in sein Zimmer schleicht, in dem das offene Fenster im Morgenwinde ächzt.

Nun kommt wieder die alte Ruhelosigkeit über ihn. Zum Teufel! sollte er zu Haus versauern und verhocken, der paar Groschen halber, oder etwa flennen wegen der kranken Frau, die nach ihrem Liebhaber schrie! Sollte er sparen für ein Kind, das einen andern Menschen aus ihm machen wollte, noch eh' es auf der Welt war? Der ganze Bettel ließ ihn kalt, sobald er ihn hinter sich hatte. Er ließ sich nicht mehr einspinnen, weder von dünnen noch von dicken Fäden, alles mochte durcheinander und zu Grunde gehen daheim, wenn er nur mit seinen Braunen sausend übers Land fahren konnte mit der vollen Geldkatze!

Aber wie er schrie und lachte und trank und tanzte und tobte, immer war ein kleiner Schatten neben ihm, etwas Neues, etwas Erstaunliches, etwas Fremdes, etwas, was ihn furchtsam machte. Er mochte es wegtrinken, da war's wieder, er mochte mit der Peitsche darnach schlagen, es stand wieder auf, und zuletzt überkam ihn eine unbändige Sehnsucht nach Hause, wie wenn der kleine Schatten dort Gestalt annehmen würde; er konnte nicht schnell genug vorwärts kommen.

Er fand die Frau im Sonnenschein vor dem Hause 183 sitzen. Es ging stark gegen den Herbst und ein schwacher Resedenduft lag in der Luft. Er hatte nichts im Hof gesehen, nur sie, nur ihre Hände über dem schweren Leib, aller Groll versank, und er kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

Die Frau aber sprang auf, in ihr blasses Gesicht stürzt alles Blut, ihre Augen wurden starr vor Wut.

»So, kommst du endlich, du?« keuchte sie. »Alles hast du vergeudet und verschleudert und verpraßt, du, nur du bist schuld, verhungern und verfaulen sollst du auf deinem Hof, du –«

Er hatte sie schon zwischen den Fäusten. Sein Blut brauste wie ein Wasserfall, da war's, wie wenn der kleine Schatten neben ihr aufstünde, und er ließ von ihr.

* * *

Es wurde ein trauriger Winter für den Amönenhofer. Wie eingesperrt, verbannt in die Einöde kam er sich vor neben der wortkargen verbissenen Frau. Von den Dienstboten verlassen, blieb ihm nur der alte Knecht, Scheuer und Hof und Stall waren voll wüsten Durcheinanders, die Händler lauerten vor dem Tor – kein bares Geld im Haus. –

184 »Gib was her! Nur ein Stuck! Gib was her,« kam die Frau und bettelte. Die Not hatte es ihr abgepreßt, sie hatte kaum mehr Vorräte zum Kochen. »Läßt du uns verhungern, du Unmensch?«

»Und wenn wir alle krepieren müssen, nichts gebe ich her, nichts!«

Nun sprach sie kein Wort mehr mit ihm, sie aß nur, wenn er's nicht sah, und schlich wie ein lebendiger Vorwurf um ihn herum.

Aber es kam noch schlimmer. Der Schnee lag wie eine Mauer im Hof, vom Hochwald scholl das Krachen berstender Bäume, es fror, daß die Kälte bis in die Ställe drang. Ganz unerwartet kamen dann wieder warme Sonnentage, die allen Schnee aufsaugten, dann wieder starrer Frost wochenlang, daß die Wintersaat, die schon gekeimt, braun und rostig wurde und aussah, als wolle sie sich aufs neue in die nackte Erde verkriechen. So kam Weihnachten für den stummen Hof.

Der alte Knecht war in der Dämmerung erst nach einem Bäumchen gegangen, weil er am Nachmittag die weise Frau hatte holen müssen.

Der Amönenhofer stand in der dunklen Wohnstube und drückte seine heißen Augen gegen die gefrorenen Scheiben, in der Ecke kauerte das kleine Mädchen.

185 Über ihnen war schon eine geraume Zeit ein dumpfes Getrabe, ein Schlürfen und Schleichen, ein Schluchzen und Stöhnen, dann kam ein Schrei und ein feines Stimmchen piepte. Viele, viele Nächte hatte er es im Ohr und jetzt, wo er es wirklich hörte, dicht neben sich, blieb er wie gebannt stehen. Was war das Närrisches! Er hatte ja keinen Platz mehr für sein Herz! Herrgott, wenn's ein Bub war, wie wollte er da arbeiten, daß ihm das Blut zu den Fingern herausspritzte. Der, ja der sollte der rechte Amönenhofer werden, wie ein Fürst sollte er da sitzen. Durch die dunkle Stube ging er wie ein Taumelnder der Tür zu, von wo das leise Wimmern tönte.

Da lag die Frau blaß, förmlich lang ausgestreckt, wie tot. Er sah auf das Kind, das winzige, schreiende rote Ding, und er drückte ihr die Hände. Sie hatte ihm den Erben geschenkt, jetzt war der Amönenhof erst sein Hof und eine Heimat. Eine große und heilige Scheu war in ihm, als er seinen Sohn in die Arme nahm, und er schwur sich, der sollte den Amönenhof reich und stolz machen.

*

Aber so hoch ihn auch die Wogen seiner starken und kraftvollen Freude trugen, er mußte bald erfahren, 186 daß es einen Kampf galt bis aufs Blut. Als der Frühling kam, sah man erst, wieviel der Winter mit seinen nackten Frösten geschadet hatte und wieviel dem Schnee zum Opfer gefallen war. Er schaffte vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und nichts war ihm zu schwer. Auch die Knechte arbeiteten gern, weil er unter ihnen stand. Doch das wilde und unnütze und schlauderische Arbeiten der vergangenen Jahre rächte sich, das war ein Berg, über den er fast nicht wegzukommen meinte. Anschaffungen sollten gemacht werden, Schulden bezahlt. Wovon? Es war kein Geld im Haus.

Da saß er nun und grübelte, todmüde wie ein geprügelter Hund, und die Frau stand unermüdlich neben ihm und raunte ihm zu: »Gib was her, wozu haben wir den vielen Grund? Wozu den Wald?« Nein! und wenn er umfallen mußte vor Hunger.

Ja, aber da war das Kind. Ihm gehörte es doch, für ihn mußte er's doch in die Höhe bringen! Sie wußte wohl, wie sie ihn packen mußte! Der Wald, der brachte freilich viel ein. Und 'raus mußte er, er mußte, wenn er nicht an dem eigenen Elend ersticken sollte.

Eines Tages hatte er den Wald verkauft, er wußte 187 gar nicht wie, so schnell war's gegangen. Wenn er auf die Rückseite des Hauses kam, schlug er die Augen nieder, da hinauf wollte er nicht schauen, wo sein Wald stand, und er mußte die Zähne übereinanderbeißen, wenn sein grollendes Rauschen herunterscholl.

Für ihn hatte er's getan, nicht für sich, nicht für die Frau. Sie galt ihm nichts. Sie war die Mutter seines Sohnes, das heißt, sie war die Mutter gewesen, jetzt schob er sie beiseite, er dachte nur an das Kind.

Im Sonnenbrand und Regen stand er draußen, hager war er geworden von der harten und ungewohnten Arbeit, und die Sorgen hatten ihm ihre Schrift ins Gesicht gezogen. Jetzt war's ihm gleich, ob einer die Kappe zog vor dem Amönenhofer oder nicht, nur herauskommen wollte er aus dem Schlamm, frei atmen können.

An stürmischen Herbst- und Winterabenden aber, wenn er alles überschlug und bedachte und berechnete, nahm's ihm erst recht den Atem. Es ging bergab. Wie sollte er es denn aufhalten? Und wenn er arbeitete, daß ihm das Blut aus den Nägeln spritzte, es ging abwärts. In seine Träume kamen die Gesichter der lauernden Händler, scharenweise standen sie vor dem Gehöfte und verspotteten ihn. Zerschlagen und elend 188 wachte er auf. So schwach war er also geworden! Hatte er drüben je gefragt, wenn's ihn wieder einmal in den Graben schmiß? Allemal war er noch aufgestanden, und reine Kleider hatte er auch wieder gekriegt. Warum hetzte er sich denn, und ängstigte sich und flennte in der Nacht? Wo war denn sein Trotz, seine Kraft? Warum trat er denn nicht einfach alles nieder und schritt darüber weg und freute sich noch dazu wie sonst? Das Kind war's, das Kind.

Er liebte dies kleine Tier, das vielleicht später nichts von ihm wissen wollte, er liebte es mit einer demütigen Liebe, deren er sich schämte. Das war eine fremde Macht, die ihn gepackt hatte und ihn verzehrte!

So schlich er weiter, und so schlichen die Jahre für den Amönenhof weiter. Verkauft und wieder angekauft, und verkauft und wieder gekauft und zuletzt nur mehr verkauft. Der Strich Eigentum um das Gehöft wurde immer kleiner, immer weniger Vieh brüllte im Stall, und immer weniger Leute arbeiteten draußen. Zuletzt molk die Frau eine einzige Kuh, und draußen arbeitete der Amönenhofer allein. Er hatte einen runden Rücken gekriegt, und die Haare fingen an zu bleichen.

»Großvater!« sagte die Frau voll spöttischen Ingrimms zu ihm, er hörte es gar nicht. Mochte sie 189 neben ihm herlaufen, neben ihm hergeifern, wenn das zu ihr gehörte, ihn focht es nicht an.

Nur im Winter, so ganz allein mit ihr in der Einöde, verbannt, von allen verlassen –

Und wieder kam ein Winter so streng, wie der Westrich noch keinen gesehen. Alle Kräfte mußte der Amönenhofer anspannen, um nur einen Gang freizuhalten, daß sie zu Holz und Wasser kamen.

Hatte er das saure Tagewerk getan, das er jeden Tag von neuem beginnen mußte, denn es schneite unaufhörlich zu, so lag er am Boden und schwätzte allerhand närrisches Zeug in den Jungen hinein, der mit großen Augen zuhörte. Doch die Frau riß ihm das Kind roh weg. »Geh weg von dem Narren, willst du auch solch ein Narr werden?« schrie sie es an.

Und so ging's tagelang weiter. Der Schnee reichte bis über die halben Scheiben hinauf, es war dunkel und dumpf in den Stuben, kein Ton drang zu ihnen, wie begraben und vergessen waren sie.

Es brütete wie ein schweres Unglück über dem Hofe. In der Nacht hatte die Kuh kläglich gebrüllt, und der Hofhund heulte, daß ihn der Amönenhofer abkettete und in die Stube ließ, wo er sich winselnd unter dem Bett verkroch. Und es schneite und schneite. Nur zu, 190 nur zu, dem Amönenhofer war's recht so, alles sollte der Schnee begraben, dann nahm er seinen Haselstecken und schritt darüber weg. O, er hatte gut Bilder beschwören! Er sah sich auf der hart gefrorenen Straße weiter, immer weiter wandern, zwischen Berg und hohen Felsen hin, bis es flacher und flacher wurde und endlich das Meer kam. Aber da rief ihn eine Kinderstimme – Wenn er es nahm, auf den Arm nahm und mit ihm fortging, weit übers Meer? Er hätte schreien mögen vor Glück. Das war's! Das gab ihm ein neues Leben. Es war, als hätte er den kleinen Körper schon im Arm und müsse ihn schützen vor der Kälte und fest an sich drücken. So schlief er bis in den hohen Morgen. Es schneite noch immer, und die Fenster waren fast zu. Das machte ihn finster, dies zähe, unaufhörliche Herunterfallen der weißen Flocken, die seiner zu spotten schienen: geh nur, geh, schau wie du fortkommst.

In der Küche brannte ein elendes Talglicht, so düster war's, denn das Stückchen Himmel, das der Schnee noch freiließ, war grau und schwer.

Die Frau wusch in einem großen Zuber Wäsche, neben ihr platschte der Kleine in den Wasserlaken herum, während das Mädchen in der Ecke saß und 191 tückisch nach dem Vater schielte, als er sie Brot und Kaffee bringen hieß. Sie rührte sich nicht. Erst unter seinem drohenden Blick stand sie auf, nicht ohne sich da und dort anzureiben, wie um ihren Abscheu gegen den Auftrag auszudrücken.

»Ich komm dir!« schrie er und wollte auf sie zu, doch die Frau fuhr dazwischen, und als ihr der Kleine dabei im Wege war, gab sie ihm einen Stoß mit aller Wucht, daß er taumelte, stürzte, auf den eisernen Ofen aufschlug und ohne Laut zu Boden fiel.

»Was hast du gemacht?« schrie der Amönenhofer und bückte sich, um das Kind aufzuheben. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, da lag's ohne Leben, nur mit einer kleinen Wunde am Kopf, und als er's in die Arme nahm, baumelte der Kopf zur Seite.

»Leg's ordentlich hin!« schrie die Frau, da sah sie die Wunde. »Wasser! Wasser!« kreischte sie und lief in der Küche umher und wollte ihm zuletzt das Kind entreißen. »Laß die Hände weg!« keuchte er. So schwer wurde der Körper, als er ihn durch den tiefen Schnee zum Brunnen trug, das Ächzen der halbeingefrorenen Pumpe ging dem Manne durch Mark und Bein. Er wusch die Wunde, er rieb den Leib mit Schnee, er legte seinen Mund auf den des Kindes, um ihm Atem 192 einzuhauchen – es mußte, mußte wieder Leben bekommen. Aber der kleine Körper wurde immer starrer, immer kälter – es faßte ihn ein förmliches Entsetzen vor der leblosen Masse in seinen Armen – einen Augenblick war er daran, das Kind in den Schnee zu werfen und fortzustürzen, da glaubte er ein Zucken in den kleinen Gliedern zu spüren, keuchend stürzte er ins Obergeschoß, griff nach der Flasche und goß dem Kind Branntwein zwischen die Zähne – nichts.

Mit lautem Wutschrei schlug er die Türe zu, daß die Frau, die mit unterdrücktem Heulen gelauert hatte, die Stiege hinabfloh.

Der Riegel knarrte, er hatte sich mit der Leiche eingeschlossen. Totenstille im Hause.

Als die Dämmerung kam, wurde ein Schluchzen vor der Tür des Amönenhofers laut, und die Frau winselte: »Mach auf!« – Keine Antwort. »Ich bin doch die Mutter!« – Nichts rührte sich.

Da begann sie zu klopfen, erst leise, dann immer lauter, zuletzt schlug das Weib verzweifelt mit den Fäusten darauf los, und sie schrie und bettelte, daß ihr Geschrei in seine graue Stille drang:

»Ich, ja ich war's, ich bin schuld, ich geh' zum Pfarrer, ich geh' zur Polizei – oder du, geh du, laß 193 mich holen, ich hab's verdient, nur red', sag' was!« Dann fing sie mit Verwünschungen an, sich und ihn verwünschte sie, und ihre heisere Stimme klang schrill durch das Haus. Plötzlich stand er auf der Schwelle. In weitem Mantel, und unterm Mantel trug er was.

Sie hing sich winselnd an ihn. Er stieß sie mit dem Fuße weg.

*

Ein scharfer Wind hatte sich aufgemacht und trieb den Schnee in Stößen gegen den Mann. Wo der Sturm freies Spiel hatte, türmten sich hohe weiße Hügel auf. Die Nacht war ohne Sterne, der Himmel nieder und schwer. Wie ein fremdes Land, das sich weit, weit gedehnt hatte, lag die Heimat vor ihm. Hügel und Hohlweg waren verschwunden, der Schnee hatte alles ausgeglichen, scheinbar zur Ebene gemacht. Schwarze Büsche, die, wie vom Wind hergeweht, aus dem Weiß aufragten, die halbversunkenen Wegweiser, zerzauste Bäume machten alles noch fremder.

Der Mann kam nur mit Anstrengung vorwärts, er war nur aufs Weiterkommen bedacht. Was er unterm Mantel trug, trug er wie eine andere Last, und es drückte ihn wie eine andere Bürde. Einmal fiel es hin. Mit einem Fluch raffte er das Entfallene wieder 194 auf. Jetzt war er im Wald. Über ihm knarrten die Wipfel, und in schwerem Fall sanken Schneemassen von den überlasteten Zweigen. Es war, als sei der Wald lebendig geworden und achte des Mannes Not. Er fand kaum Atem genug, bei den Windstößen und der großen Arbeit vorwärts zu kommen. Er sank ein und arbeitete sich wieder heraus, halb liegend nur konnte er sich manchmal vorwärts schieben und mußte oft mit pfeifendem Atem, auf dem Schnee ausgestreckt, warten, bis er wieder Kraft gefunden. Und über ihm schrie der Sturm sein Freiheitslied und zauste die Bäume, daß sie sich wanden und bogen und krachend aneinanderrieben. Das war sein Wald, der ihn so höhnte und der ihm so fremd schien in der weißen Sturmnacht? Wo war denn die Mulde, die er so lange schon suchte? Die Empörung trieb ihn hoch, und er schob das Bündel vor sich her, den Hang hinauf. Da war's, nun konnte er die Last ablegen; ein paar Minuten blieb er stehen, dann begann ein hastiges Graben im Schnee, dann wurde eine tiefe Grube, schwarz in all dem Weiß und in dem Schwarz die Leiche im weißen Hemdchen. Wie er den kleinen Toten so bloß in der Kälte drunten liegen sah, riß er sich den Mantel herunter, stieg in das Grab und wickelte ihn hinein. Dann 195 warf er mit Hast Scholle um Scholle hinab, um nur schnell alles zuzudecken und fortzukommen von all dem Grauen; auf einmal schlug's ihn hin wie vom Winde gefällt, und er blieb mit ausgestreckten Armen auf den Schollen liegen.

Als er heimkehrte, kauerte die Frau vor seiner Schwelle, wie er sie verlassen, und begann ihr Winseln wieder. Er schaute sie nur an, und sein Blick zwang sie, aufzustehen und rückwärts zu gehen, bis sie förmlich vor ihm flüchtete und in Todesangst den Riegel ihres Zimmers vorschob. Und das saß noch in ihr all die nächsten Tage. Sie getraute sich nicht zu rühren, sie wagte sich nicht an seine verschlossene Tür, um ihm Nahrung anzubieten. Vor seinen wilden Augen, wenn er einmal zur Tür heraus trat, flüchtete sie sich in den hintersten Winkel und saß zitternd dort mit ihrem Kinde. In dem toten Hause, um das sich der Schnee türmte, lebten sie wie im Grab. Die Uhr stand still, sie wußten nicht Tag- noch Nachtzeit mehr, das Feuer war erloschen, kein Dampf stieg aus den Schüsseln auf. Sie knusperten an harten Brotrinden und gingen wie Diebe auf Nahrung aus, eines sich vor dem andern verbergend. Der Mann saß stier, ungewaschen und ungekämmt in seinem Winkel, das Weib hockte in ihrer 196 Ecke oder im Bett, von Frost und Elend geschüttelt. Gingen sie einmal im Haus herum, so traten sie ganz leis auf, damit keine Diele ächze, sie hielten den Atem dabei an, und begann eins zu husten, so erschraken sie bis ins innerste Mark. Sie schlichen herum und warteten auf etwas, das in der Tiefe des Hauses auf sie lauerte. Rührte sich das Kind, so fielen sie darüber her, lautlos, mit dem Ingrimm heißhungriger Raubtiere. Der Schmutz häufte sich in den Stuben, die Luft war zum Ersticken, sie starrten mit aufgerissenen Augen und warteten auf etwas, das kommen mußte.

Und eines Spätnachmittags brach's aus. Das kam wie ein Unwetter, ein wilder, jäher Sturm.

Aufgerichtet stand er plötzlich da, und seine Augen drängten das Weib aus der Küche, über den Flur, zur Haustür hinaus, über den Hof, über die Straße, allmählich bergan im Schnee.

»In den Tod,« murmelte sie.

»In den Tod,« sagte er.

Er blieb hinter ihr, Schritt für Schritt, bis sie die ersten Waldbäume erreichte hatte. Die Dämmerung streckte sich unter den Stämmen, und dahinter erglomm ein breiter, roter Streifen. Vom Haus her keuchte das Kind nach: »Mutter! Mutter! Er tut dir 197 was!« und schreiend lief es der nach, die langsam, stetig den Hügel hinaufklomm. Gebeugt, still, von ihrem Schicksal getrieben.

Oben blieb er ohne Regung stehen, und es sah aus, als sei er erstarrt in dem Frost der kommenden Nacht; doch seine Blicke sendeten Befehle der Fliehenden nach. Eine Weile stand er so, hörte das Rufen des Kindes, sah die beiden schwankenden Gestalten über der weißen Fläche, dann jenseits des Hügels plötzlich verschwinden, wie verschlungen, versunken – noch ein Schrei – er machte kehrt und schritt hochaufgerichtet nach dem Hause. 198

 


 


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