Anna Croissant-Rust
Kaleidoskop
Anna Croissant-Rust

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Der Vagabund

Schon hatte der heftige Wind des stürmischen Oktobertages das gelbe Laub von den Bäumen gerissen. Die Ferne lag tückisch, wie zusammengekrochen, und lauernd unter einer blaugrauen Wolkenwand, die von Zeit zu Zeit einen wilden Sprühregen mit dem stoßweisen Wind über die Hochebene sandte.

Vor einem Hause der Vorstadt, das ländlich und behaglich aussah mit seinem noch heiter blühenden Garten voll Dahlien und Astern, stand ein Wagen, hochbeladen mit Torf. Das Pferd fraß ruhig aus dem langen Heusack, der ihm vors Maul gehängt war, und schüttelte nur hie und da, wenn ihm der Wind die Mähne zauste oder der Regen auf seine Weichen klatschte, den Kopf zur Abwehr, fraß aber gleich wieder hungrig weiter. Neben dem Gefährt saß ein kleiner schwarzer Spitz. Die klugen Augen weit auf, mit steifen 156 Ohren und gerecktem Halse, von Zeit zu Zeit zusammenschauernd, saß er da, und seine unruhigen Blicke gingen gleichmäßig zwischen der Straße und seinem Herrn hin und her, der schweratmend die großen Körbe Torf an das Kellerfenster trug, dort umkippte und, sich die Stirne wischend, wieder zu seinem Wagen zurückkehrte.

Ganz still, ganz ruhig hielt sich der Hund, aber jede seiner Muskeln schien angespannt, und bei jedem fremden Tritte reckte er den Hals. Auf einmal stieß der kleine Köter ein unterdrücktes Knurren aus, denn da tauchte ganz plötzlich am Ende der Straße ein Vagabund auf. Er machte den schwarzen Spitz ängstlich, wie er so breitspurig, ein wenig schwankend, immer näher kam. Aber der Hund machte auch den Vagabunden ängstlich, denn er schien ihm, wie er so steif und einsam auf der Landstraße saß, wie ein großes, schwarzes, böses Tier.

Man konnte deutlich sehen, wie der Vagabund zögerte, wie er die Schritte verlangsamte, je näher er der Fuhre kam. Ja, er bemühte sich, gerade zu gehen, und setzte seinen verwitterten gelben Filz ordentlich in die Stirne hinein, denn er wollte durchaus von dem Spitz für einen anständigen Menschen gehalten werden. 157 In der Tat wurde dieser auf einmal unschlüssig, sah fragend seinen Herrn an und dann etwas verlegen nach dem Vagabunden. Da hatte der schon seinen Vorteil erspäht. Schnell und dabei ein wenig unsicher, beugte er sich zu dem kleinen, unschlüssigen Tier nieder und versuchte ihm das Fell zu krauen, zuerst ganz sachte und zaghaft, dann kraute er ihm tüchtig und mit wachsender Zuversicht die verfilzte schmutzig-schwarze Wolle. Dabei lachte er ein blödes, halb schreckhaftes, halb triumphierendes Lachen: »Er tut mir nix, nana, der Spitzl tut mir nix, er weiß, daß ich ihm auch nix tu,« lallte er mit schwerer Zunge und sah, rot vom Bücken, zu dem Torfbauern auf, wie wenn er ihm etwas Köstliches zu verkünden hätte. Der aber, mit der richtigen Verachtung des Bauern für den Vaganten, schenkte ihm kein weiteres Gehör, wenn er auch gutmütig zu seinen Worten lachte. Könnte man von einem Hunde sagen, daß er sprachlos geworden sei, so hätte man es von dem kleinen Spitz sagen müssen. Er saß völlig erstarrt da und wußte nicht, was mit ihm geschah. Der Vagabund hatte ihn angerührt, hatte sich getraut, ihm zu schmeicheln! Einer, der aussah wie ein Vagabund, der roch wie ein Vagabund, der torkelte wie ein Vagabund! Seine Hosen waren ja fransig und sein Rock 158 schäbig und ohne Knöpfe, aber, wenn der Spitz nach ihm hinroch, und das tat er in aller Scheu und Vorsicht, da war etwas im Untergrund des Geruches, was ihn verwirrte; etwas von der Atmosphäre honetter Leute, wenn auch verwischt und verdeckt und fast nicht zu erraten. Eine feine Nase mußte man haben, es herauszufinden, denn es saß zu tiefest unten und war kaum zu erkennen; aber er hatte die Nase dazu, er roch es deutlich und fühlte sich unsicher diesem anständigen Geruch gegenüber. Auch sein Herr, der Torfbauer, unwirsch und grob, wie er sonst mit jedem Vagabunden gewesen wäre, tat nichts dergleichen; er ließ den Alten sogar unbehelligt am Tor der Villa läuten und schickte ihn nicht weg, ja, sah fast wohlwollend zu, als das Mädchen kam, um nach seinem Begehr zu fragen. Ja, man hätte meinen können, er ermuntere den Vagabunden, seine Gedanken flüsterten ihm zu: »Dieses ist ein gutes Haus, begehr' du nur, begehr', alter Vagabund!«

Dies ging jedoch dem Spitz zu weit und ganz und gar gegen seine Natur; darum schickte er dem Mädchen ein kurzes, warnendes Gebell entgegen. Kein feindseliges Kläffen war's, kein Keifen oder Toben, nein, ganz sachte nur sagte es: Seid auf der Hut! Wahrt euch gut!

159 Die Warnung des schmutzigen Köters wurde von dem Mädchen in den Wind geschlagen. Es hörte den Vagabunden gleichmütig an, schaute dann mit einem gewissen Interesse auf die zerplatzten Schuhe, die er zeigte und die kaum mehr über den Zehen hielten. Gleich darauf erschien sie mit einem Paar derber Schuhe, die dicksohlig und fest waren, wenn auch vertragen, und die der rotbärtige Vagabund mit Ausrufen des offensten Entzückens empfing.

Schon saß er in einem Winkel des Gartens, und ritsch – ratsch – flogen die alten Schuhe in weitem Bogen über die Landstraße ins Feld, und der schwankende Vagabund stand nun mit festen Sohlen auf dem Kies des Gartens, und eine kindliche Freude leuchtete aus seinen Augen.

»Vergelt's Gott! Vergelt's Gott!« rief er laut und betrachtete immer wieder seine Füße.

»So schöne, gelbe Stiefel! So dicke, dicke Sohlen! Was werd' ich jetzt wandern können! Das Haus will ich nicht vergessen! Und gleich will ich tüchtig helfen, helfen will ich dem Bauern!« schrie er begeistert im Überschwang. »Torf will ich tragen, arbeiten will ich, bis ich umfalle!«

Es war wie im Märchen, die Arbeit ging von selbst, 160 wenn man so solide Schuhe anhatte, durch die nichts ging, die so gut beschützten und bewahrten. Man war kein Vagabund mehr, sie machten einen zum ehrlichen Mann, sie gaben Würde und Festigkeit, wie ein Obdach waren sie, fast wie eine Heimat. Der alte Vagabund schmunzelte in seinen wirren rotgrauen Bart, ein Ton aus früherer Zeit war ihm im Ohr, seine Augen begannen zu glänzen, und in wahrem Feuereifer füllte und leerte er Korb um Korb. Auch der Torfbauer schmunzelte nun, und der Spitz bewegte ein klein wenig seinen Schwanz, wenn der Alte, immer ein bißchen schwankend, an ihm vorbeikam und ihm ein paar lustige, fast herablassende Worte zurief, ganz wie wenn sie alte Bekannte wären.

Was fürchtete denn der Vagabund? Daß es Winter werden sollte? Bah! Die Sonne kam ja auf einmal wie eine Verheißung schnell hinter der Wolkenwand hervor, es war Herbst, und ein schöner Herbst dazu, und wenn es so gute Leute gab, wie konnte es fehlen auf der Welt, auch wenn man nicht arbeitete? Und der Mund quoll ihm über, die Worte überstürzten sich; keuchend von der Anstrengung des Schleppens und wirr bedrängt von krausen Dingen der Vergangenheit, warf er dem anderen alles hin, wenn er ihm nahe 161 kam, oder schrie ihm laut entgegen, wenn er weiter weg war.

Der Hund saß steif da, immer mit dem Ausdruck der Wachsamkeit, des Mißtrauens und des Unbehagens. Er sah aus, als könne er sich im nächsten Augenblick, ohne ein warnendes Bellen ausgestoßen zu haben, auf den keuchenden, schreienden Vagabunden stürzen. Seine Ohren sahen aus, als seien sie aus Blech geschnitten, er folgte jedem Wort, und es schien, als verstehe er jedes Wort, das der Alte seinem Herrn zurief.

Arbeiten, schön ja, aber man muß dazu geboren sein. Oder man muß es gewöhnen können. Er war eben nicht dazu geboren und konnte es auch nicht gewöhnen. Ihm war's nicht an der Wiege gesungen worden, daß er in Heustädeln nächtigen, mit zerrissenen Schuhen und erfrorenen Füßen im Winter über verschneite oder brockig gefrorene Wiesen humpeln müßte, gehetzt und gejagt vom Gendarm, verachtet und fortgestoßen von den anderen. Aus Mitleid einmal einen Brocken kriegen, tagelang mit einem Glas Schnaps im Magen herumlaufen, daß der Magen sich windet wie ein getretener Regenwurm, oder, wenn man dann was kriegte, daß es einem nicht einmal blieb. –

162 Jetzt war's ihm ja eine Zeitlang gut gegangen, es gab leichte Arbeit im Freien, ohne daß man an einen Ort oder an einen Herrn gebunden war, Kartoffeln hatte er gelesen, aber der Hungerlohn! Nein, dazu war er nicht geboren! Seine Eltern hatten eine hübsche, behagliche Villa, wie diese – er blieb stehen und sah das Haus an, wieder und wieder –, weiß mit grünen Läden, ganz wie diese und mit den gleichen Blumen ringsum, Astern und Dahlien. Aber die Eltern starben früh, Lernen und Arbeiten war nie seine Passion gewesen. Reiten und Fahren und Reisen und Wandern! – er streckte sich und sah ordentlich hochmütig das arme Torfbäuerlein an, daß sich der Hund jäh umwandte und ein warnendes Knurren ausstieß. Hunde haben einen feinen Spürsinn für die Nuancen der Sprache, und der Ton, mit dem der alte Vagabund nun mit dem Torfbauern sprach, war ganz und gar nicht nach dem Herzen des Spitzes.

Aber auch Vagabunden haben einen feinen Spürsinn für die Nuancen der Sprache des Hundes, sofort sank der Alte, Hochmütige und Geschwätzige wieder in seine demütige und dankbare Haltung zurück, und damit war der kleine Spitz zufrieden. Zudem wurde der Wagen leerer und leerer, und freudig bellend sprang 163 der Hund davor auf und ab und wartete mit Ungeduld darauf, daß sein Herr abziehen und sich fernerhin nicht mehr mit dem Vagabunden einlassen werde, der ihm noch immer gleich unbegreiflich und beängstigend erschien.

Als das braune, struppige Pferdchen zu traben anfing, umtanzte er es in so lustigen und leichtfertigen Sprüngen, bis auch das schwerfällige Rößlein angesteckt wurde und in solch munteren Trab verfiel, daß der Bauer auf seinem harten Sitz tüchtig hin- und hergeworfen wurde, was den Hund zu immer fröhlicheren Sprüngen anfeuerte. Dem Vagabunden aber, der regungslos im Vorgarten stand und dem Gefährt nachschaute, schickte der Spitz ein regelrechtes wüstes und drohendes Gebell zu. Jetzt konnte er ihm eigentlich erst sagen, was er von ihm hielt, da er aus dem Bereich seiner dicksohligen gelben Schuhe war, und er sagte es ihm gründlich. Auch der Vagabund verstand ihn, denn er hob drohend die Faust und schüttelte sie, solange er den rumpelnden Wagen und den kläffenden Spitz sehen und hören konnte.

Dann sank er in sich zusammen, die Mißachtung des Tieres wurmte ihn und trieb ihn von der Höhe seines Gefühls wieder herab.

164 Ihn fröstelte auf einmal in dem feuchten Oktoberwind unter dem grauen Himmel, der immer schwerer wurde. Er sah seinen fadenscheinigen Rock an und sein zerschlissenes Hemd, schaute auf seine zittrigen Hände und läutete demütig an der Glocke, diesmal an der des Vorhauses. Als das Mädchen öffnete, drängte er sich an der sauberen Blondine mit dem weißen Häubchen vorbei: »Einen Blick nur lassen Sie mich tun in dies saubere, schöne Haus!« Er ließ sich nicht zurückweisen, hob behutsam die Füße auf den Läufern, schaute halb scheu und halb frech in ein offenes Zimmer und sog und sog den Duft ein, der aus der Küche strömte. Es stimmte ihn ganz weinerlich: »Wie zu Hause, wie zu Hause,« murmelte er und wich nicht von der Stelle. Das Mädchen wurde ungeduldig, in seinen Blick kam dasselbe Mißtrauen und dieselbe niedergehaltene Furcht wie in den Blick des Hundes. »Sie haben gewiß Hunger?« fragte sie verlegen und deutete nach dem Vorhaus, »setzen Sie sich hinaus.« Dort stellte sie dem Alten einen Teller wundervoll duftende Suppe und ein Stück Fleisch hin. Die Türe zwischen dem teppichbelegten Gang, in dem es so heimatlich duftete, und dem Vorhaus schloß sich; aber hinter dem kleinen Fenster lauerte das Mädchen, er 165 glaubte, das unterdrückte Knurren des Spitzes zu hören.

Schnell machte er sich über die Suppe her, doch er konnte sie nicht zu Ende essen; das Schluchzen stieß ihn, und als das Mädchen ihm, weil er zu lange sitzenblieb, barsch ein paar Pfennige aus der Türspalte reichte und ihn fortwies, stand er schwerfällig auf und murmelte: »Ihr hättet mich das Haus nicht sehen lassen sollen!« Und immer lauter und zorniger und drohender schrie er: »Ihr hättet mir nichts schenken sollen, gar nichts schenken sollen!« Und fluchend und schimpfend trollte er sich endlich durch den Vorgarten und verschwand in dem grauen Abendnebel, in dem seine heisere, scheltende Stimme bald verklang. 166

 


 


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