Anna Croissant-Rust
Kaleidoskop
Anna Croissant-Rust

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Antonius, der Held.

Hoch oben, wo im Mai noch die Frühjahrsheide blüht und der kleine leuchtend blaue Enzian an den sonnigen Hängen gerade anfängt, seine Sterne aufzutun, stand das Haus des Raschötzers. Vom Tal aus konnte man nur das Dach des großen Futterhauses sehen; man mußte dazu den Kopf schon ziemlich tief in den Nacken legen, so hoch und steil war's da hinauf. Das Haus selbst aber hatte sich hinter den grünen Buckel versteckt, den es dem Berg einfiel, gerade da zu machen, wo der böseste Wind herwehte. Es war aber noch rauh genug, und das Heidekorn, das der Raschötzer baute, mußte er zeitig sähen und nicht erst nach dem Roggen, wie sie's weiter unten taten, wollte er seine Plentenknödel noch im gleichen Jahre essen. Eine Kuh konnte man auf Raschötz ernähren, daneben eine Geiß und ein paar Schafe, mehr aber 21 nicht. Das Häusel war klein, mit ganz winzigen Fenstern, des bösen Windes wegen, der von den Bergen herunterfiel; es war altersbraun wie das Futterhaus, das sich hoch über den Rain aufreckte, wie wenn es dem kleinen und geduckten Häuschen den Vorrang streitig machen wolle.

Des Raschötzers Vater war aus dem Krautwelschen drüben eingewandert und hatte das armselige Heimatl um ein Billiges erworben, weil keiner so hoch oben hausen wollte. Er war ein finsterer, schwarzbrauner Mann, der sich um die Leute im Tal nicht scherte, ohne Weib kam und allein mit seinem Sohn hauste. Der Sohn war um ein weniges zutunlicher geraten, obwohl auch in ihm ein Stück von der finsteren Art des Alten steckte. Die Talleute hatten es nie mit dem Krautwelschen da droben gehalten, der ihnen nicht einmal einen Gruß gab: also blieb's auch beim alten, als der junge Bursche erwachsen war und öfter ins nächste Dorf kam, das tief in der Mulde unten lag, und zu dem er eine Stunde brauchte, wenn er hinuntersprang, oder ins Städtchen, das er erst in drei Stunden erreichte. Die Leute redeten mit ihm – ja, so halb über die Achsel, die Worte fielen ihnen nur gerade aus dem Munde, oder sie warfen sie ihm 22 förmlich hin, besonders die Dirnen, die gleich die Lippen schürzten, wollte er freundlich oder gar zutraulich werden.

So mußte er sich nach dem Tod des Alten eine Frau aus dem Krautwelschen holen, und wäre nicht fast jedes Jahr die Amme hinaufgestiegen, um der Raschötzerin einen Buben oder ein Mädel, einmal sogar einen Buben und ein Mädel, in die Welt setzen zu helfen, die Bauern im Dorf und die weit unten im Tal hätten kaum daran gedacht, daß da oben hinter dem Raschötzer Buckel noch Menschen hausten. Leben blieben die vielen Kinder nicht, sie kamen und gingen, und im Dorf sagte man: »Wieder eins vom Raschötzer,« wenn die weise Frau eins in die Kirche trug oder ein kleiner Sarg versenkt wurde. Die Raschötzerin war froh, daß zuletzt nur ihrer zwei mit aus der Schüssel aßen, der Toni und die Warwe. Es war schwer genug, die beiden Mäuler zu stopfen, besonders dem Toni seines, das nie genug kriegen konnte. Zur Arbeit war der Toni gerade nicht schlecht zu gebrauchen, so klein er noch war, wenn's auch recht langsam ging. Aber wenn das Essen auf dem Tisch stand, liefen seine Füße von selbst ins Haus. Essen war ihm das Wichtigste und Höchste im Leben. Was wußte der Toni sonst vom Leben! Das 23 Haus, das Futterhaus, die graue Kuh, die Schafe, die er liebte, und die Geiß, die er schrecklich fürchtete, weil sein Hosenboden schon ein paarmal eindringlich Bekanntschaft mit ihren Hörnern gemacht hatte, die Hühner, der Hund, Vater und Mutter, die kleine Warwe, das bedeutete für ihn das Leben. Aber eines Tages, der Himmel war blau, und auch oben schien die Frühlingssonne schon so warm, daß die Heide blühte und die Himmelsschlüssel, nahm ihn der Vater mit auf die Waldblöße ober Raschötz, von wo aus man tief, tief hinunter ins Tal schauen konnte, wo die Straße zog und der Fluß und auf der anderen Talseite drüben Dörfer aufgereiht waren und Weinberge und Burgen und Schlösser, wo unten zwischen Wiesen und Feldern das Dorf lag, dessen spitzer Kirchturm gerade zu ihm heraufschaute. »Do ischt die Stadt,« sagte der Vater und deutete gerade hinunter. »Stadt,« was war das? Da lagen viele Häuser nah beisammen, so nah wie ihre Schafe im Stall nebeneinanderlagen. Von der Stadt hatte er noch nie etwas gehört, vom Dorf unten wohl, denn dahin ging der Vater manchmal. Er hatte es auch schon gesehen, dies Dorf, aber er verband keine angenehmen Vorstellungen damit, denn dort sollte er zur Schule gehen. Das war ihm schon gesagt und 24 angedroht worden, und etwas Gutes konnte das Schulgehen nie und nimmer sein, denn es hieß stets: »Wart ner, wenn du Schuel kimsch!« Wollte er nicht beten, weil er zu faul oder schläfrig war, schrie ihn die Mutter an: »Kimm du ner Schuel!« Puffte er die Warwe – gewöhnlich puffte zwar sie ihn –, so drohte sie gleich: »Aber wenn du Schuel kimsch!« Auf diese Weise bekam er eine heillose Furcht vor der Schule, die gleich nach dem Fegfeuer kam, in dem man elendig verbrennen mußte, wenn man der Mutter über die Häfen mit Rahm oder über die gezuckerten Beeren gekommen war. Nein, vom Dorf wollte er nichts wissen, lieber schaute er nach der Stadt, die ihm der Vater noch einmal wies. »Das ischt die Stadt, das ischt Kloschder Säben, die Stadt Klausen ischt das.« Jetzt spitzte er die Ohren: Klausen! Klausen giahn! Das war was anderes! Wenn das die Stadt war! Klausen giahn, hieß Zuckerln kriegen und weißes Brot! Wenn nur die Mutter öfter nach Klausen ginge! Im Jahr ein paarmal. Und dann stand er und wartete und lief den Weg ein Stück hinunter und lief ihn wieder zurück vor Angst, er könne nicht mehr heimfinden, und abermals hinunter, der Mutter entgegen. So wartete und wartete er stundenlang, halbe Tage lang und schaute sich 25 die dunkeln Kugelaugen fast heraus, die wie Glasknöpfe aus seinem großen Kopf standen, immer nach dem Weg hin, den sie kommen mußte. Währenddem sprang die Warwe lustig herum, unbekümmert und lachend, wenn sie sich auch einmal sehnsüchtig an seine Seite stellte; die Mutter würde schon kommen, und die Zuckerln waren ihr ja gewiß! Kam sie dann endlich, so flog die Warwe nur so, sie war die Behendere, die Erste bei ihr; sie schwatzte dann und freute sich, man hätte meinen können, sie sei der Mutter den ganzen Nachmittag entgegengelaufen! So machte sie es immer.

Natürlich war sie jetzt auch gleich hinter ihnen her und stellte sich neben den Vater, und ehe er noch fragen konnte, hatte sie schon sechs Fragen getan, und der Vater konnte kaum nachkommen mit Antworten. »Wo ischt die Stadt? Wo ischt Klausen? Han, Vater, wo? Wo ischt die Schuel? I möcht gern Schuel giahn, Vater, i schon. Vater, hörsch? Wo ischt der Eisack? Wo ischt die Bohn? Die Eisenbohn?« schrie sie. »Schaug, Toni, so schaug decht! Wo fahrt sie hin, die Eisenbohn?« Aber Tonis runde Augen hingen immer noch am Kloster Säben, das so hochfahrend oben stand und ihm mit seinen vielen blitzenden 26 Fenstern so überaus wohl gefiel. Was war denn das, die Eisenbahn? Bis seine Augen Warwes kleinem Zeigefinger folgten, der hinunter ins Tal zappelte, war die »Bohn« längst verschwunden, und die Warwe lachte ihn aus. »Derf i aa amal Bohn fahrn, Vater,« quälte sie, »gell, wenn i Schuel geh, gell, Vater!« Und der Vater tröstete: »Ja, ball du Schuel geascht.«

»I geah gern Schuel,« sagte sie und schielte nach dem Toni.

»Hörsch es du, was die Gitsch sagt? Die fürchtet ihr niacht; so schteah do net a so do, red was!« schrie er ihn plötzlich in ausbrechender Wut an. »Wart ner, wenn du Schuel kimsch, die wer'n dir's vertreiben! Net oanmal fragscht du; los, was die Gitsch sagt!«

Ja freilich, die Warwe plauderte fort, jetzt erst recht, daß ihm ganz wirblig im Kopf wurde. Zehn Sachen konnte die anschauen, bis er eine sah, und was sie alles sah, und um was sie frug! Doch auf einmal war's ihr zu langweilig, und mitten drin warf sie den Kopf nach hinten, fing zu singen und zu schreien an und lief davon. Fürchtete sich gar nicht vor dem Vater, wie sie sich nicht vor der Schule, nicht vor der Mutter, nicht einmal vor der Geiß fürchtete. Die hatte ein schönes Leben, die Einsicht war 27 ihm längst gekommen. Toni seufzte schwer. Noch ein paar Monate, dann wurde es richtiger Ernst, dann mußten sie beide zur Schule, da hinunter, wo der spitze Kirchturm heraufschaute. Er jährte sich schlecht, so hatte man ihn über Winter noch zu Hause behalten. Nun durfte er keinen Winter mehr in der warmen Stube auf der Ofenbank liegen neben dem zottigen Hund Lion. War das eine schöne Zeit! Der Toni brauchte nicht neben den Schafen herlaufen, brauchte kein Holz aus dem Wald herbeischleppen und keine Steine von den Wiesen klauben. Konnte nur fort und fort ruhig liegen und zusehen, wie der Schnee runterfiel, und den Vorgenuß des Essens empfinden, das langsam neben ihm im Ofen schmorte, Kraut und Plentenknödel. Und konnte schlafen, so viel und so lange er wollte, wenn ihn nicht gerade die Warwe von der Bank herunterzog, der kleine »sekante Tuifl«.

Vielleicht würde sie doch nicht so sehr jubilieren, wenn sie wirklich in die Schule kam. – Beten konnte sie natürlich schon, während ihn die Mutter immer zankte: »Tuascht gar nicht beten, kann leicht die Warwe mehr.« Und zum Vater sagte sie oft: »Werd decht no wos aus den Buam wern, wo er lei ans Essen denkt und ans Schlafen un net beten mag.« Die kleine, 28 magere Mutter hatte alle Hände voll zu tun; sie konnte nicht immer neben dem Toni stehen, ihm die Hände falten oder seine kleinen Daumen packen und ihm ein Kreuz machen lehren über seinen dicken Kopf herunter bis auf die Brust. Man hatte keine Zeit auf Raschötz, sich mit den Kindern abzugeben. Wenn's Schnee gab, ja, da hatte der Vater Zeit, und es war im letzten Winter gewesen, als er einen Anlauf nahm, den Toni zu erziehen; denn er sollte doch etwas erzogen sein, ehe er zur Schule kam, an welche Notwendigkeit niemand bisher gedacht hatte. Sie lagen alle zwei auf der Ofenbank; der Vater murmelte etwas von Himmel, Hölle und Fegfeuer. Er redete leise und stockte immer dazwischen, denn er schämte sich; er redete von mein und dein, von Sünde und Strafe. Der Toni verstand kein Wort, er sperrte das Maul weit auf, was der Vater für ein Zeichen großer Aufmerksamkeit nahm. Außerdem war die Sache dem Alten ebenso unbehaglich wie dem Toni, und er gab nach einmaligem Versuch die Erziehung wieder auf, erleichtert, weil er meinte, seine Pflicht getan zu haben. Das war die erste Vorbereitung zu Tonis Werdegang; die zweite war einschneidender und auch spannender und verständlicher für Toni. Der Vater stieg 29 nämlich nach Klausen hinunter, um ihm einen Hut zu kaufen. Der Tag verging dem Buben in großer Erregung, so weit das bei ihm möglich war. Der Hut nahm immer mehr zu an Bedeutung – einen ganzen Tag brauchte der Vater, um ihn zu kaufen, was würde er erst für einen Sack voll Zuckerln mitbringen, wenn's so lange dauerte! Als der Vater endlich anstolperte, kam er als ein anderer Mensch heim, pfiff und sang und redete in einem fort, er, der sonst den ganzen Tag mürrisch herumging. Wahrhaftiger Gott, das war was anderes, dieses Leben, und der Toni konnte nicht begreifen, warum die Mutter wütend war, im Haus herumrumorte und mit den Türen schmiß. So gefiel ihm der Vater viel besser als sonst, er tanzte förmlich in der Stube umher, wobei er die Absätze einsetzte und den Hut krumm schob, daß die Warwe gar nicht aus dem Lachen kam! Und »Guatelen« verschenkte er! Freilich die meisten kamen an die Warwe, denn sie hielt sich immer um ihn; aber das tat nichts, denn es war eine Lustbarkeit, wie sie noch nie bei dem Raschötzer gewesen. Vom Hut sah der Toni vorderhand noch nichts, er dachte auch nicht daran, denn er hatte so viel darüber nachzudenken, daß alles heute so merkwürdig anders war. Erst den nächsten Tag kramte 30 der Vater in seinem Bündel, zog den Hut heraus und setzte ihn dem Buben so fest und nachdrücklich auf den Kopf, daß er gleich bis an die Augenbrauen rutschte. Der Toni zog sie hoch aus Ungewohnheit, und eine leise Ahnung der Welt, die seiner wartete, und die mit Unbequemlichkeiten und mit Gewalttätigkeiten begann, zog durch seine Seele, eine erste, schmerzliche Erschütterung, die sich wiederholte, als er am Schultag sehr früh geweckt, nachdrücklich und schmerzhaft gewaschen wurde, ehe er seine Milchsuppe bekam. Wer hatte es denn sonst mit dem Waschen so genau genommen! Jetzt fuhr ihm die Mutter sogar in die Nasenlöcher und rieb an ihm, als hätte er mehrere Häute und die oberste müsse um jeden Preis durchgerieben werden! Dann erst durfte er seine frischen Kleider anziehen mitsamt dem neuen Hute. Wohl zehnmal langte er immer wieder nach dem Kopf, bis ihn ein tüchtiger Schlag an seinen Platz, ganz nahe den Ohren, verwies. Während dem Toni die Tränen herunterliefen, trillerte die Warwe in der Stube herum und schielte nach dem Bruder, der an Händen und Füßen zitterte, als ihn der Raschötzer bei der Hand nahm. Noch auf der Schwelle stemmte er sich wie ein Kalb, das nicht aus dem Stall fort will.

31 »Ich geah gern Schuel,« versicherte die Warwe, doch klang es nicht sehr zuversichtlich, denn, als sie sah, wie der Toni heulte und sich spreizte, wurde sie stiller und stiller, und wenn man genau zusah, konnte man merken, wie ihre Mundwinkel zuckten. Immerhin lief sie ganz tapfer voran, ihr folgte der Vater, der den Toni wirklich wie ein störrisches Kalb hinter sich nachzog. Dem Alten war es selbst nicht geheuer, er redete auf dem ganzen langen Weg kein Wort, und auch die Warwe, die ab und zu gefragt hatte, schwieg zuletzt, weil sie keine Antwort bekam. So langten sie, da der Vater sehr schnell ging, außer Atem und bedrückt im Dorfe an. Hatte der Toni gedacht, daß das An-der-Hand-Nehmen so weiter gehen würde bis in die Schulbank hinein, so sah er sich jetzt grausam getäuscht, denn der Vater nahm gerade vor dem Schulhaus Reißaus, und er tat das so schnell, so fluchtartig, ganz in Übereinstimmung mit dem, was der Toni eigentlich hätte tun wollen, daß ihn auch der klägliche Ruf, den der Toni ausstieß, nicht mehr erreichte. So stand er also mitten unter den fremden Kindern, die ihn anglotzten, während er sich nicht getraute, sie anzuglotzen, und ängstlich nach der Warwe Hand langte, die sich ihm bang entgegenstreckte, 32 gerade in dem Augenblick, als eine Tür aufgetan und die ganze Herde in ein großes Zimmer eingelassen wurde, wo sie sich alle einem jungen, ungeduldigen Manne gegenübersahen, der nicht gerade übermäßig freundlich nach ihnen blickte. Dieser ungeduldige, junge Mann, der neue Lehrer, fuhr sich fortwährend durch seine rotblonden Haare, und es sah aus, als sträube sich sein borstiger, kleiner Schnurrbart vor innerer Unruhe. Mit einer raschen Bewegung trennte er den Toni von der Warwe, die noch einmal hilflos nach ihm griff, denn sie war wie die meisten Kleinen recht blaß und weinerlich geworden. Nur unter den größeren Buben und Gitschen, denen das Schulgehen wie der Lehrer nichts Neues war, summte es unterdrückt wie in einem Bienenschwarm. Dem Toni war zu Mut, wie wenn man ihm eine gehörige auf den Kopf gegeben hätte, so wie's nur die Mutter konnte, und von Zeit zu Zeit schaute er mit kläglichen Blicken zur Warwe hinüber, die mittlerweile schon munter geworden war. Ihre blanken, raschen Äuglein wanderten von dem rotbäckigen, stämmigen Lehrer mit dem borstigen Schnurrbart angefangen über die große Schultafel, die vielen Köpfe und Füße hin, über all die Mädeln und Buben, die vor und neben und hinter 33 ihr saßen, und als sie das Kreuz machen und beten mußten, war sie die erste und lauteste und hatte bald ihre alte Keckheit wieder, während der Toni um keinen Preis der Welt dazu zu bewegen war, seinen Daumen zu rühren und ein Kreuz zu schlagen.

»Wer bist denn du? – Was? – Wer? Der Toni? Ja was für a Toni?« »Vom Raschötzer, Herr Lehrer,« schrie die Warwe so laut, daß sich der Lehrer belustigt nach ihr umschaute.

»Ah so! Anton heißt du, Anton Palua!« Der Toni riß seine Augen weit auf und schüttelte den Kopf. Anton sagte der Lehrer! Er war doch der Toni. Mußte man denn hier ein anderer Mensch werden, wurde man hier umgetauft? Das vollzog sich bei ihm nicht ohne großen, staunenden Schmerz; er hatte zu drucken und zu schlucken vor Weh um seinen guten, alten Namen, während es der Warwe sehr wohlgefiel, daß sie nicht mehr Warwe, sondern die Barbara Palua hieß. Sie hob sogar den Kopf und tänzelte und schwänzelte vor ihm her, als die Schule für heute aus war, während in ihm ein dumpfer Groll wuchs, eine unbewußte Verachtung für »das Weib«, das sein Wesen schnell aufgibt, um ein anderes, ihm besser dünkendes dafür einzutauschen, das sich umformt und umformen läßt, 34 wie wenn es nur dazu da wäre und nur darauf gewartet hätte. So hörte er mit Groll das Gepappel des kleinen Wesens neben sich an, das nicht aufhören konnte, alles aufzuzählen, was es in der Schule gehört und gesehen. Nie und nimmer würde er verstehen, daß man so viel auf einmal sehen und hören konnte; er hatte nichts gesehen als die funkelnden Brillengläser des Lehrers, vor denen er sich fürchtete, und nichts gehört, als daß er von nun an nicht mehr der Toni, sondern der Anton war, Anton Palua. Aber auch darüber ließ ihn die Warwe nicht nachdenken, weil sie immerfort fragen mußte, weil sie immerfort ihre Augen überall hatte, da und dort und dort und da, und nicht begreifen konnte, daß es der Toni nicht ebenso machte. Scheltend sprang sie zuletzt voraus und ließ den Mürrischen und Wortkargen allein trotten. Und so blieb's von nun an immer und nicht nur auf dem Heimwege. Die Warwe sprang voraus, und es dauerte nicht lange, so hatte sie mit Äugleinmachen und verlegenem Lächeln, mit stummem Danebentraben sich an des Hulzen Kinder angemacht, die ein Stück weit denselben Weg hatten. Bald zwitscherte und lachte sie mit ihnen, wie wenn sie sie schon Jahre lang kennte und es ihr nichts Ungewohntes und Fremdes sei, mit 35 andern Kindern beisammen zu sein, während der Toni seinen Weg einsam und betrübt hinter ihnen zog. Er war und blieb auch seltsamerweise für die Kinder, und nicht nur für die Hulzenkinder, der Krautwelsche, der fremde Vogel im Nest, der, auf den gepickt werden mußte; bei der Warwe dachten sie nicht daran und waren mit ihr wie mit den andern Kindern. Ihn verlachten sie seines Hutes wegen, der bis an die Ohren fiel, wegen seiner verwaschenen Hosen, wegen seiner groben Stiefel; die Warwe tänzelte in ihrem starren Lodenröcklein wie noch mal eine Prinzessin, und niemand fiel es ein, sie auszulachen. Sie war sehr stolz, mit den Kindern aus dem reichen Hof gut zu sein, sie tuschelte und lachte mit ihnen über den Toni, der in der Schule eine Stunde brauchte, bis er dem Lehrer antwortete, und der immer heulte, weil der ihn so anfuhr. Der Lehrer und auch der Pfarrer! Ach, was stand der Toni aus! Waren das Leute! So schnell ungeduldig wurden sie! Konnten sie denn nicht warten? Gerade, wenn er es sagen wollte, zogen sie los über ihn, nahmen ihn bei den Ohren (wie wenn die nicht schon lang genug gewesen wären) und schrien ihn an, er solle doch die Warwe ansehen! Ja, die begriff schnell, freilich, aber bis er begriff, hatte sie längst alles wieder 36 vergessen, während bei ihm alles, was er einmal wußte, saß wie in Felsen gehauen. Er sollte immerfort denken, und das war hart, zudem konnten der Lehrer und der Pfarrer nie warten, bis man ausgedacht hatte.

»Antonius! Antonius! Du wirst der Erste gar niemals nicht,« sagte der Lehrer oftmals und drohte mit dem Finger. Er war ein Schäker, der Lehrer, er hatte wohl gemerkt, wie es den Toni betrübte, daß er von einem Toni in einen Anton verwandelt worden war, und während er all den Seppeln, den Guschdeln, den Loisen, den Nannen und auch der Warwe den ursprünglichen Namen wieder schenkte, wenn sie denselben auch nicht schreiben durften, gab er ihn dem Toni nicht wieder zurück; er war und blieb der Anton, und jetzt war er gar der Antonius!

Und weil er stets allein trabte, mit niemanden redete und stets trübselig war, nannte er ihn wohl auch öfter Einsiedelmann oder gar Parsifal. Das letztere erschien dem Toni als eine besondere Beleidigung, weil er es nicht verstand; es war hart, so verspottet zu werden, und weil er es nicht wagte, angesichts der hohen Schulobrigkeit zu weinen, heulte er auf dem Heimweg, wenn seine schweren, viel zu großen genagelten Stiefel den felsigen Pfad abklopften, und das 37 Gelächter der Warwe oder der Hulzenkinder, das er unter oder ober sich hörte, verstärkten nur diese einsame Heulerei.

Trotz Abscheu und Angst vor der Schule bekam sein einsamer Weg allmählich immer mehr Reize für ihn. Da gab es so allerlei, das er gern genau angeschaut und über das er am liebsten Schule gehabt hätte, da wäre er nicht dumm gewesen, das hätte er gelernt! Vor allem war es die lange Reihe der Berge, waren es die Wälder, die Flüsse und Straßen, die Dörfer und die fernen Schneespitzen, die er gern gekannt, die ihm immer vertrauter wurden und denen er zuerst still für sich Namen gegeben, bis er ihre richtigen Namen nach und nach, zäh und beharrlich, auch ein bißchen scheu, dem Vater förmlich abgerungen hatte. Er entdeckte hoch oben, wo's schon fast in den Himmel ging, Häuser; da war das Dorf Latzfons, das Schutzhaus auf der Kassianspitze, das Rittenhaus, dort war der Schlern, die Geislerspitzen und die plumpe, dicke Plose, die sich lang in den Frühling hinein wie ein schneeweißes Federbett auf die dunklen Waldrücken legte. Und die vielen Dörfer da und dort, mit spitzen Kirchtürmen aus den Kastanienwäldern aufragend. Alle kannte er sie, ihre Namen hütete er wie einen 38 Schatz; das war sein Kleinod, etwas, das sonst keiner hatte, das ihn auszeichnete, nicht nur vor der flatterhaften Warwe und den schreienden Hulzenkindern, die ihn verhöhnten, auch vor all den andern, die halb mitleidig und halb spöttisch über ihn lachten, weil ihnen alles so leicht fiel. Je mehr er sich verschloß, desto mehr fürchtete er aber die Leichten und Leichtsinnigen und Fröhlichen, desto größer ward sein Heimweh, wenn er in der Schule saß, nach seiner lieben Welt da oben, wo niemand so viel Unnötiges von ihm wollte, mit Ausnahme der Mutter, die er ja lange schon kannte und von der ihm nichts weh tat. Hätte er sich nur in sein altersbraunes Haus verkriechen und für all die andern verschwinden können, die's nicht gut mit ihm meinten und ihm nur Plage und Schmerz brachten! So wurde er immer verschlossener, zuletzt auch vor den Eltern verschlossener und von ihnen als »bockischer« Bub herumgestoßen und ewig gezankt. Den ganzen Tag wurde ihm die Warwe als Muster vorgestellt, in der Schule und zu Haus; der Lehrer lobte sie, der Pfarrer tätschelte ihren wirren Krauskopf, und er blieb der verstockte »Krautwelsche«, der er von Anfang an gewesen; so rissen sich die Kinder um die Warwe, die voller Leben und Lustbarkeit steckte und 39 voller Schwänke. Oft hörte er sie und die Hulzenkinder bis vom Hulzenhof herauflachen und singen; da würgte es ihn im Hals, und er wäre gern hinuntergesprungen und hätte geschrien: »Laßt mich doch auch mithalten, ich will auch lustig sein wie ihr!« Oft stand er lange Zeit und sah und horchte hinunter, die unten sahen ihn auch stehen, aber keines rief ihn, keines kam, ihn zu holen, so sehnsüchtig er auch wartete. Die Warwe war oft bis zur Dämmerung bei den Hulzenkindern, niemand zankte mit ihr, wenn sie nichts tat, nur er sollte nicht stehen und faulenzen. – Der Vater drückte dem blöden Gaffer den Stock in die Hand; das Schauen in die blauen Fernen und das Hinunterhorchen nach den fröhlichen Stimmen ergrimmte ihn; Antonius, der Einsiedelmann, mußte mit den Schafen und mit den Ziegen in den Wald hinauf und dort oben bleiben bis zum Abend, wenn er keine Schule hatte oder wenn Ferien waren. Die Einsamkeit war ihm recht und den Wald gewann er lieb. Nur wenn er einen Menschen von fern sah, entfloh er und versteckte sich in einem Gestrüpp oder kroch hinter einen Felsen, bis er keine Schritte mehr hörte. Oft grübelte er darüber nach, wie das so sonderbar war, daß die Warwe auf alle Leute begierig zulief, mit ihnen lachte und 40 schwätzte, ja lange Zeit neben ihnen hersprang und oft etwas geschenkt bekam. Mit ihm lief sie nicht, und ihm war's recht so, er war froh, allein zu sein. Allmählich wurde er immer vertrauter mit dem Wald und seinem Getier, mit den Blumen, den Steinen, den Wiesen, den Halden und Felsen und Bergen. Er kannte den bunten Wiedehopf, der im Weidenbaum nistete und seinen Schopf zu dem hohlen Stamm herausstreckte, er kannte die großen Eidechsen, die an besonnten Mauern lagen, grün wie Smaragde oder schillernd blau. Er hatte keine Scheu vor ihnen, wie die andern Kinder, die sie aus Furcht verfolgten und verstümmelten, weil sie sie für Hexen hielten, wenn sie lautlos, blinzelnd in der Sonne lagen; er kannte jeden Vogel an dem Ruf, den klagenden »Schlof«, der Nächte lang schrie, den schwätzhaften Häher, der allem Getier die Nähe der Menschen kreischend verriet, den Schrei der helläugigen Bergamsel, die Sprache der Grasmücken und der emsigen Spechte. Den possierlichen »Oacher« liebte er besonders, der von Baum zu Baum sprang, anzusehen ganz wie der braunrote Pfarrer mit seiner großen Nase und den kleinen, schlauen Augen. Er wußte die schönsten blaßrosa Berganemonen und die wundersamen schwefelgelben mit 41 den tieforangenen Staubfäden, die eines Tages wie vom Himmel gefallen auf der lichtgrünen Wiese in Reih und Glied aufmarschiert standen. Er wußte die glührotesten Alpenrosen zu finden, es war ihm nicht zu weit und zu steinig, um sie von oben zu holen. Alles laufende und kriechende Getier liebte und kannte er, Käfer und Würmer und alle bunten Steine. Oft schleppte er alle Taschen voll zum Bersten nach Hause, doch die Mutter stößt den störenden Kram unwirsch zur Seite, und die Warwe wirft ihm alles weg und freut sich, wenn er sich darum grämt. Aber der Toni weiß sich zu helfen. Er legt sich droben im Wald, im saubern roten Sand ein Versteck an für all seine Kostbarkeiten. Das ist nun sein Reich, sein Heiligtum, das ihm keiner streitig machen kann; dort vergißt er, daß ihn keiner mag, dort vergißt er die Schule, die Bosheiten der Warwe, seine Sehnsucht, auch zu spielen und lustig sein zu können wie die andern Kinder. Im Winter träumt er von seiner Sommerherrlichkeit. Wie ein Murmeltier hält er seinen Winterschlaf an den Tagen, an denen Schneestürme oder Glatteis die Kinder abhalten, zur Schule zu gehen, und solche Tage gibt es viele; manchen freien Tag bettelt auch noch die Warwe dazu, wenn es nicht gar so schlimm ist, ihr 42 aber das Hinuntertrappen und Heraufkrabbeln nicht paßt, denn im Winter geht's immer halb stürzend, halb rutschend zur Schule. »Heut ischt es zu letz, kann man net giahn,« tut sie weinerlich; der erste Reiz der Schule, wo sie durch ihre Altklugheit und ihr schnelles Erfassen hervorstach, ist längst vorbei, der Lehrer lobt sie nicht mehr, und der Pfarrer zankt sie sogar ob ihres Leichtsinns.

Der Vater brummt zwar, wenn sie dableiben will, aber er gibt der Schmeichelkatze nach und läßt, weil's doch nicht anders geht, auch den Toni in der warmen Stube, obgleich er den Burschen, der ihm den schönsten Platz am Ofen wegnimmt und den ganzen Tag vor sich hindöst, am liebsten ganz aus dem Hause haben möchte. So warteten sie alle in ihrer eisigen Höhe mit Sehnsucht auf den Frühling; die Warwe hielt's schwer in der Stube aus, der Toni dachte an sein Reich im Walde, der Vater an seine Felder, und die Mutter blinzelte ins Tal hinunter, wo Klausen lag.

Da geschah es an einem Vorfrühlingstag – die Weiden trugen schon ihre Kätzchen, und der leuchtend blaue Himmel stand voll dicker, unschlüssiger Wolken, die sich zaudernd weiterschoben –, daß der Toni auf einer vereisten Stelle, wie es ihrer auf der Nordseite 43 noch genug gab, stürzte. Und zwar stürzte er so heftig, daß ihm gleich das Blut zu Mund und Nase herauslief. Die Hulzenkinder und die Warwe, die nachkamen, liefen nach echter Kinderart verlegen lachend und in unbehaglicher Furcht vor dem Blutenden davon. Nur die Lene blieb unschlüssig stehen, und als er über und über voll Blut sich endlich aufrappelte und aufstehen wollte, kam sie schüchtern näher, reichte ihm die Hand und zog ihn in die Höhe, ja sie nahm ihr Taschentüchlein und begann ihn abzuputzen, recht wie eine besorgte Mutter. Der Toni blieb stehen und ließ alles mit sich geschehen, starrte nur die Lene wie ein Wunder an.

»Tut's weh?« frug sie zaghaft.

Der Toni nickte mit dem Kopf, während dicke Tränen aus seinen Augen rollten. Und auch die trocknete ihm die Lene eifrig ab.

»Kannscht denn giahn?« frug sie ihn und nahm ihn, als er wieder nickte, bei der Hand, wie sie die jüngeren Hulzenkinder bei der Hand nahm und führte.

Die Lene gehört nicht den Hulzen, sie ist ein angenommenes Kind, das aus Barmherzigkeit auf dem Hof ist. Das weiß der Toni von der Warwe, deshalb hat er auch nicht die Scheu vor ihr wie vor den andern 44 und läßt sich führen und bemitleiden. Ach, wie tut das gut, daß sie ihn alle paar Schritte frägt: »Kannscht no giahn?« Und tät es noch weher, mit ihr ginge er bis auf die Kassianspitze, denkt der Toni, aber er wagt es nicht, so etwas zu sagen. Stumm und noch immer Mund und Nase voll Blut trottet er neben ihr, die ihn von Zeit zu Zeit abwischt. Vor der Schule drängt sie ihm noch ihr Taschentüchlein auf und ermahnt ihn, sich still zu »heben« und nach der Schule auf sie zu warten. Das tut er auch wirklich, und seit diesem Morgen gehen die Lene und der Toni mitsammen von der Schule heim und mitsammen in die Schule. Noch immer rannte er, wenn sie aus war, wie wenn es hinter ihm brenne, und die Lene rannte mit ihm, von den andern Kindern weg. Nach und nach aber gewöhnte sie ihm weniger Eile an, aber trotzdem ist es ihr lieb, bald von den Kameraden wegzukommen, die sie nun auch mitverspotten. Desto zäher hängt sie sich an den Toni, und es dauert nicht lange, so hockt sie oben bei ihm im Wald, wenn er seine Schafe hütet. Hockte still da und redete nicht viel, wie der Toni auch. Zuerst fühlte er sich beengt durch das fremde Wesen, das da neben ihm saß, aber nach und nach, da die Lene so gar geduldig und still war, taute er doch auf, und 45 zwar so gründlich, daß er ihr auf einmal nicht genug sagen und zeigen konnte, wie wenn er alles nachholen müsse, was er bis jetzt im Leben versäumte. Jedes Steinchen und jeden Käfer kriegte sie zu sehen, jedes Blümchen und jeden Vogel mußte sie so genau kennen wie er. Was der Toni nicht alles weiß! Sie staunt ihn an und horcht auf ihn wie auf ein Evangelium, und der Toni ist stolz, daß er wirklich so viel weiß und kann und daß ihm die Lene zuhört. Wenn jemand von dem dummen Toni redete, oder wenn er sich in der Schule recht lang besinnen mußte, bis ihm etwas einfiel, dachte sie für sich: Ja, wenn ihr das wüßtet, was der Toni weiß, wenn ihr nur sehen könntet, was der alles hat! Wenn nur der Lehrer hinter ihn käme! Doch, da der Toni in der Schulbank verstockt und hartköpfig bleibt, kommt der Lehrer nicht hinter ihn, und auch die Lene, die es oft vorhat, alles dem Lehrer zu sagen, wird durch den Toni scheuer und trotziger und spricht das, was sie auf dem Herzen hat, nicht aus.

Im Winter, wenn sie nicht oben im Walde beim Toni sitzen konnte, versuchte es die Lene ein paarmal, nach Raschötz hinaufzuklettern. Doch war sie dort ein so wenig gern gesehener Gast, daß sie bald wieder 46 traurig heimtrottete und zuletzt sich nicht mehr hinzugehen getraute. Der Raschötzer tat, als sei sie nicht da, Tonis Mutter warf ihr bitterböse Blicke zu und stieß sie herum, um ihr deutlich zu zeigen, wie sehr sie ihr im Wege war. Ja, wenn es eines der reichen Hulzenkinder gewesen wäre! War aber nur so ein Notnickel, ein Kind von einer weitschichtigen Verwandtschaft her, das froh sein durfte, in dem weitläufigen Hause unterkriechen zu können. Das ließ ihr auch die Warwe merken; nie machte sie sich breiter im Haus, als wenn die Lene da war, obwohl sie tat, als sei sie ganz allein und kein fremdes »Gitschele« da. Überall hörte man sie: »Gell Mutter? Gell Vater, gell i derf Klausen giahn? I derf amol mit der Bohn fohrn?« Geschäftig rannte sie hin und her, ins Futterhaus, in den Stall; sie füllte das ganze Haus aus, es ist, als habe sie die Gabe, sich zu vervielfältigen. Und dies Geschmeichel und Getue, wenn die Lene da ist! Immer ist sie hinter Vater und Mutter her, als wollte sie zeigen, wie viel sie gilt, und was für ein wüster Kerl dagegen der Toni ist, dem die Eltern kein gutes Wort gönnen! Bleibt ihr die Lene zu lange da, so fängt sie Streit mit ihr an, pfaucht wie eine Wildkatze. Die Lene geht dann lieber heim, das Raufen und 47 Schreien und Balgen ist ihre Sache nicht, da käme sie auch schön an bei den Hulzenkindern, die wohl nach ihr schlagen, aber keinen Schlag von ihr ertragen. Mit der Warwe stritten sie auch oft, denn die war trotz ihrem schmeichlerischen Wesen zu Zeiten streitsüchtig und heftig; dann blieben sie sich wochenlang fern, und wenn die Hulzenkinder die Warwe sahen, riefen sie ihr ein höhnisches: »Krautwelsche!« oder »Welschhenne!« zu, auf das die Warwe mit einer Flut von Schimpfworten antwortete. Sie wußte sich schon andere Kameradinnen, in ihrer weichen und geschmeidigen Art konnte sie sich durch alle Türen winden und Eingang in jedes Haus finden.

Zudem war sie ein auffallend schönes Kind, mit ihren krausen, schwarzen Haaren und den strahlend blauen Augen, lachend und fröhlich, wie sie sich meistens zeigte, nahm man sie nicht ungern auf; stets endete auch ihre Feindschaft mit den Kindern vom Hulzenhof mit einer Versöhnung. Niemand wußte auch so viele und so wilde Spiele wie sie, das war etwas anderes, als die langweilige, häßliche und blasse Lene!

Die saß doch lieber beim Toni; Rennen und Laufen, das Sichabhetzen und Schreien tat ihr nicht gut, sie machte nur mit, um den Hulzenkindern den Gefallen 48 zu tun. Sie wußte gut, daß sie ein angenommenes Kind war, der fremde Vogel im Nest, der da war, um mitzuraufen und mitzutollen, wenn es die andern wollten. Sie kriegte freilich kaum Atem, wenn es recht toll zuging, aber grausam, wie Kinder sind, ließen die derben, rotbackigen Mädeln und Buben vom Hulzenhof der Erschöpften keine Ruhe, zerrten sie herum oder lachten sie gar aus, wenn sie nicht mehr konnte und halb erstickt auf das Gras fiel. Die Hulzin fuhr in ihrer raschen Art wohl scheltend unter das kleine Gesindel, verjagte es und nahm die Lene mit sich ins Haus. Doch hatte sie in dem großen Gut viel zu viel zu tun und stets ein kleines Kind am Arm oder eins in der Wiege liegen, denn die Hulzenkinder waren gar zahlreich und kamen in manchem Jahr gar zu zweit anmarschiert; wie konnte sie sich da extra um die Lene kümmern oder gar nachsehen, was ihre Rangen mit ihr trieben.

Sonst ging's dem Mädel ja gut. Es wurde gekleidet wie die andern, schlief in der großen Schlafstube und hatte vollauf zu essen. Die Eltern machten da keinen Unterschied, wohl aber die Kinder, besonders die »Gitschen«, von denen die Lene es oft genug zu hören bekam, daß sie eine Hergelaufene sei. Kinder 49 haben feine Ohren für das, was die Eltern nur ganz leise reden, und, obwohl den Hulzenkindern nie jemand etwas gesagt hatte, daß die Lene kein rechtes Schwesterchen sei, wußten sie alle und brachten das zur rechten Zeit an. Manchmal hörte es die Mutter, dann setzte es Püffe nach allen Seiten, denn die Hulzin war eine jähzornige Frau, die nicht immer überlegte, wohin sie schlug. Dennoch liebte sie die Lene sehr, denn sie fühlte trotz der Derbheit und der gelegentlichen heftigen Reden das Wohlwollen der grobschlächtigen Frau durch, die den ganzen Tag auf den Beinen sein mußte, immer mit dem trabenden Gang einer schweren Kuh, immer hinter Knechten und Mägden her, immer durch das Haus, den Stall, die Wiesen trabte, im Garten, im Weinberg, in den Feldern schaffte für zwei.

Der Hulz war weniger in Haus und Hof und Feld zu sehen. Er hatte als Zweitgeborener nie daran gedacht, das Gut bewirtschaften zu müssen, und als sein Bruder plötzlich an einer Herzkrankheit starb, stand er dem ganzen Betriebe ziemlich hilflos gegenüber, denn seine Arbeit war bis jetzt der Einkauf und Verkauf gewesen. Wäre ihm, der keine zugreifende Natur war, nicht die tatkräftige Mene Kantioler über den Weg gelaufen und hätte sich deutlich bereit erklärt, 50 ihn heiraten zu wollen, hätte ihm der große Besitz eine große Last gedünkt. Mit der Mene als Frau war er aber das gewiß nicht, und so kam die Mene, die auch als Zweite aus einem großen Gut in Albions stammte, auf den Hulzenhof. Robust, zäh, eine unermüdliche Arbeiterin, dabei von bäuerlicher Klugheit, war sie ganz das richtige Weib für ihn, die richtige Herrin für den Hof, die alle die Eigenschaften besaß, die ihm fehlten. Nun konnte der Hulz wieder ruhig auf die Handelschaften ausgehen oder gemächlich im Erker sitzen, der weit ins Land hinausschaute, denn der Hulzenhof war auf einem Bergvorsprung gelegen, der sich im Taleinschnitt erhob und geschützt gegen rauhe Winde, Rebgärten und Felder trug, fast so schön wie die im gesegneten Eisacktal unten.

Der Hulz ließ seine Frau gewähren, denn alles war gut, was sie tat, jedenfalls besser, als er es hätte tun können; die Kinderschar, die nach und nach um ihn erwuchs, störte ihn mehr als sie ihn erfreute, und die Lene war ihm so lieb oder so gleichgültig, wie seine eigenen Kinder. Nur wenn sie sich mit dem Toni in der Umgegend des Hauses sehen ließ, wurde er ernstlich böse, und dann gab's auch zuweilen Ohrfeigen. Er haßte den Vater des Toni und hatte schon den 51 Vater des Vaters, den alten Raschötzer, gehaßt, eines Kuhhandels wegen, bei dem ihn die beiden Krautwelschen schmählich betrogen und noch dazu zum Gespött der ganzen Gegend gemacht hatten. Das mußte der Toni noch büßen, dem er schon von weitem zornige Worte zurief, wogegen er die Warwe brummend duldete. Denn sie stand wenigstens nicht ängstlich und stumm mitten im Wege wie der Toni, oder traute sich wie er nicht vor und nicht zurück; geschmeidig war sie um eine Ecke, huschte sie hinter einen Busch, verschwand, man wußte nicht wohin, wenn man sie nicht haben wollte. Sie fühlte genau, wann sie erwünscht war und wann nicht. Darum ging sie der Hulzin auch nicht gern unter die Augen, denn der geraden und ehrlichen, schwerfälligen Natur der Bäuerin widerstrebte die geschmeidige, unterwürfige Art der Warwe. »Die richtige Krautwelsche,« sagte sie verächtlich, doch bekam die Warwe, wenn sie gerade da war, auch ihr Honigbrot wie die andern Kinder. Von diesen Herrlichkeiten kam natürlich nichts an den Toni. Einmal brachte die Lene mit pappigen Fingern ein großes Honigbrot, das sie sich abgespart hatte, mit auf den Berg, und der Toni spreizte sich nicht lange, sondern griff zu und haute gleich tapfer ein. Erst als er ganz 52 am Ende war, fiel's ihm ein, daß die Lene wohl auch etwas haben möchte.

»Ah wos! Iß es!« rief die Lene, sah aber doch ein bißchen traurig zu, wie der Rest zu verschwinden drohte. Großmütig bot ihr der Toni das letzte Stückchen an, das sie auch ohne Ziererei nahm, und nun war's am Toni, ihr ein bißchen traurig zuzuschauen.

Einmal aber hatte er einen Festtag beim Hulzen, den er lange Zeit nicht vergessen konnte. Ein Samstagnachmittag war's, und er war vorher sehr traurig gewesen, denn die Mutter hatte die Warwe heimlich mit nach Klausen genommen, in einem neuen Gewand. Ihn ließ man stets mit den alten ausgewaschenen Hosen springen, die das Gespött der ganzen Schule waren. Die Lene hatte den Verzagten und Weinenden getröstet und ihn, als sie ausgekundschaftet, daß der Hulz auswärts und die Kinder im Walde waren, an der Hand ins Haus geführt. Die Hulzin hantierte in der Küche, wo ein mächtiges Feuer aus Holz und Reisern brannte, deren feiner Duft in leichten Schleiern über den dämmrigen Gang zog. Die Türe zur Wohnstube stand weit offen; der Toni sah mit Respekt die große dunkle Uhr, den schweren Eichentisch, den Erker mit den kleinen Vorhängen, vor dem die 53 langen gelbroten Bänder der beginnenden Abendröte standen. Den Erker, der an das sonst glatte Haus wie angepappt war, sah man weit im Tal, und flammten seine Fenster von der untergehenden Sonne, so wie heute, so sah es aus, als stünde er in Brand, oder als glühte das große plumpe Haus von innen heraus.

Dem Toni aber wurde wohl in dem Haus mit den dicken Mauern, er wußte nicht, wie's kam. Als ihm die Hulzin gelassen, aber freundlich zunickte, ihn sogar niedersetzen hieß und ihm und der Lene Bratäpfel zuschob, fiel alle Scheu von ihm ab. Auf einmal war er im Reden, im Antworten, ja er wurde immer eifriger; zwar noch stockend und in seiner schwerfälligen Art schüttete er zuletzt der breitschultrigen und breithüftigen Frau, die ebenso sorgsam ihre Töpfe am Herd wie ihr Jüngstes in der Wiege nebendran überwachte, sein Herz aus. Sie hörte, immer mit ihren Kesseln am Herd und der Abendsuppe beschäftigt, aufmerksam zu, schaute den Toni einigemal genauer an, und als sie eine große kupferne Pfanne vom Herd gehoben hatte, strich sie dem Buben ein paarmal über die Haare. Ganz sanft, man sah's der vierschrötigen Frau gar nicht an, daß sie so sanft streicheln konnte. 54 Das war dem Toni noch nie geschehen! Er kriegte Tränen in die Augen, es würgte ihn im Hals, aber er schluckte alles tapfer hinunter, und als er ging, konnte er die Bäuerin fest anschauen und kam gerade noch glücklich aus dem Haus, ehe der Hulz und die Kinder zurück waren. Während er den steilen Pfad, der eigentlich zum umbuschten Hohlweg wurde und den kleinen Kerl verbarg, in die Höhe stieg, mußte er fort und fort an das große Haus denken mit den dicken Mauern, dem krachenden Holze, dem Duft des Muses, mit der reinen weiten Stube, vor deren Fenstern die Abendröte wie ein angezündeter Weihnachtsbaum stand. Es kam ihm als etwas so Herrliches vor, festlich und voll feiertägigen Friedens, daß er glaubte, in einem Schloß gewesen zu sein. Wenn er daran dachte, daß ihm die Hulzin über die Haare gestrichen hatte, schauderte es ihn, und er bewahrte den Spätnachmittag wie ein reiches Geheimnis und sprach nicht einmal mit der Lene davon.

Es machte ihn gar nicht traurig, daß die Warwe mit rotem Kopf und selig von Klausen zurückkam und die Mutter gar kein Hehl mehr daraus machte, daß sie die Warwe mitgenommen hatte: »Kannscht mit'n Vatern giahn,« warf sie ihm hin. Doch so sehr er 55 auch in den nächsten Tagen darum bettelte, dem Vater fiel's gar nicht ein, ihn mitzunehmen; er ging lieber allein. Vom »Klausengiahn« war in diesem Sommer öfter die Rede auf Raschötz. Der weite steinige Weg hielt weder den Vater noch die Mutter ab, ihre auf einmal so dringend gewordenen Geschäfte drunten zu erledigen. Und stets kamen sie spät, und sehr oft zum Schwätzen und Lachen mit den Kindern aufgelegt heim. Nie gingen sie aber zusammen, und eines grollte dem andern ob des Hinuntergehens, ja es gab Streit, zum wenigsten gehässige Reden, und die Vorwürfe über das allzu häufige»Klausengiahn« hörten nicht auf zwischen den zweien. Zuletzt verbot der Raschötzer der Mutter (Paula hieß sie) überhaupt den Besuch des Städtchens. Sie fügte sich zwar, doch in ihrem Trotz, in ihrem stummen Eigenwillen und ihrem wortlosen Widerstand verriet sie, wie tief ihr das Verbot ging, verriet auch ein Stück der Natur, die sie dem Toni vererbt hatte, und das bis jetzt in ihrer Ehe nie ganz zum Durchbruch gekommen war, weil die Gelegenheit gefehlt hatte.

Von nun an zog sie den Toni öfter auf die Seite, händigte ihm unter Drohungen, daß er sie ja nicht verrate, eine Flasche ein, die er dann gefüllt vom Dorf 56 nach Hause bringen mußte, auch heimlich natürlich. Er trug die Flasche widerstrebend aus dem Hause, denn trotz seiner Arglosigkeit ahnte er, daß es etwas sei, das hinter dem Rücken des Vaters geschehe. Auch ging er nur mit Zagen in das fremde Haus zu der fremden alten Frau, deren harte Augen und harte Reden er fürchtete. Wäre nicht die Lene gewesen, die mit ihm den Wein begehrte, er hätte sich kaum in das Wirtshaus getraut. Dann war wieder das Schwere, die Flasche vor den Augen der listigen Warwe zu verbergen, die alles sah. Doch legte er, von Lene beraten, nach und nach eine ziemliche Schlauheit an den Tag; obgleich er der Warwe eigentlich viel zu wenig war, als daß sie sich um ihn gekümmert hätte. Was konnte denn auch der Toni haben oder tun, das ihre Neugierde erregt hätte? Gewöhnlich wartete die Mutter am Hügel auf sein Kommen. Stets hatte sie eine Fuhre Gras, einen Karren Unkraut, ein Säckchen Kartoffeln oder dergleichen bereit, um die Flasche darin verschwinden zu lassen, und half der Toni nicht schnell oder nicht geschickt genug, dann setzte es Rippenstöße, einen andern Dank bekam er nicht. Bettelte er einmal, wenn sie gerade gut gelaunt schien, um das »Klausengiahn«, höhnte ihn die Mutter Paula. 57 »Klausengiahn? Geh i Klausen?« Von dem tiefroten »Rötel«, der in der Flasche funkelte, bekam er auch nichts zu schmecken, er durfte nur zusehen – das Wasser lief ihm im Munde zusammen –, wie die Mutter die Flasche aus einem Versteck nahm und tiefe Schlucke daraus trank.

Sie war abwechselnd streitsüchtig und zu lärmendem Spaß mit den Kindern aufgelegt, arbeitete wie im Fieber oder saß stundenlang in einer Ecke und stierte vor sich hin. Dann war ihr alle Arbeit, war ihr auch das Schelten des Vaters gleichgültig. Besonders in den Wintermonaten, wo sie ganz abgeschlossen lebten, wo wochenlang kein Mensch vorüberging oder kam, wo es ein Ereignis war, wenn der Briefbote einmal daher stapfte, und nur der Toni zur Schule hinabklettern, rutschen und stolpern mußte, schon um ihr die Flasche beibringen zu können, war sie am sonderbarsten und der Vater jähzorniger und aufbrausender als sonst. Die Warwe duckte sich, wenn Schläge in der Luft lagen, der Toni aber hatte Gewissensbisse und hielt die Schläge aus, die er als gerechte Strafe ansah, denn der Zusammenhang zwischen dem unbegreiflichen Wesen der Mutter, dem Schelten und Schlagen des Vaters und der Flasche mit dem 58 funkelnden Kalterer Seewein, den er herbeischaffte, wurde ihm immer klarer. Sollte ihn das denn nicht ängstigen, wo er nächstens zur Beichte gehen mußte und in seinem konfusen Kopfe so viel von Sünde und Schuld unterzubringen hatte? Der Pfarrer konnte den Kindern die Schrecken der Hölle nicht grausig genug schildern, die Verdammten nicht genug leiden lassen und sie selbst nicht genug sündig finden. Die andern Buben schüttelten sich, wenn der Pfarrer gegangen war, wie der Hund Lion auf Raschötz seine Flöhe abschüttelte, aber dem Toni ging die Sache arg zu Herzen.

War er denn nicht ein Hehler? Log und betrog er nicht? So manche Nacht lag die Sünde schwer wie ein Felsblock auf seiner Seele, und er konnte sich nicht befreien. Er sehnte den Tag der Beichte herbei und fürchtete ihn wieder; er war nahe daran, dem Vater seine Schuld einzugestehen, ja, er weigerte sich eines Tages, die Flasche mitzunehmen, zumal ihm die Mutter schon das letztemal kein Geld hatte mitgeben können und die alte Wirtin mit den harten Raubvogelaugen ihn höhnend an die Bezahlung gemahnt und diese Mahnung mit einem schmerzhaften Ziehen der Ohren verbunden hatte.

Oh, dies Dorf! Noch immer war es ihm fremd, 59 noch immer floh er es, floh die Kinder, ihr Lärmen und Geschrei, und floh die Erwachsenen, die über ihn grinsten. Noch immer war er in der Schule der Verblüffte, Verzagte und Ratlose, wenn er aufgerufen wurde; seine Hefte dagegen waren in schönster Ordnung, denn, hatte er Zeit, sich zu besinnen, so wußte er alles, alles fiel ihm ein und noch mehr als das, was er in der Schule hörte. Die Warwe, die ihm so oft als Muster vorgestellt worden, war längst von ihrem Vorzugsplatz in die hinteren Bänke gewandert; nachplappern, ja, das konnte sie, aber sie war viel zu faul, ihre Hefte einzuschreiben, und all ihre Aufgaben waren halb und schlauderisch gemacht. Der Lehrer hatte sich in den Wintermonaten den Toni genauer angesehen. Er war keiner von denen, die zufrieden sind, wenn einer die Aufgaben herunterschnurrt. Ihn reizte dieser halbe Waldmensch Toni, Antonius Palua, der Schweigsame, zudem ihm die Lene, die die weniger Schweigsame war und der das Lob des Toni nur so von den Lippen troff, verschiedenes gesteckt hatte.

Eines Tages, im Frühling, erschien er hoch oben im Wald, ober Raschötz, auf der großen, verlassenen Waldwiese, wo sich die Kinder gelagert hatten, die Schafe ringsum grasten, und wo man das Land weit, 60 weit mit Dörfern und Kirchen, mit Straßen, Feldern und Weinbergen unter sich sah, wo sich der Eisack wie ein silbernes Schlänglein wand, wie ein Schlänglein, das ein Riese in der Hand festhält, und das sich windet und dreht und nicht aus den Felsen und Abstürzen heraus kann, zwischen die er's gesteckt – unruhig drehte und wand es sich immerzu. Nun ging es dem Toni g'spaßig. Es war fast so wie an dem Samstag bei der Hulzin. Er kam ins Reden mit dem Lehrer und wußte nicht wie. Das heißt zuerst ins Antworten, denn es war doch nicht wie bei der großen Frau, die ihm so gelassen über das Haar strich und so gütig dabei schaute. Er war der Lehrer, und er frug ganz andere Dinge und wollte anderes wissen als die Bäuerin. Seine Käfer will er sehen und von seinen Blumen hören, will wissen, wie sie alle heißen, über die Vögel will er reden, die Bergnamen soll er ihm nennen, die Dörfer und Höfe.

Erst geht's langsam, denn der Toni ist verscheucht und mißtrauisch, glaubt an irgendeinen Hinterhalt. Der Lehrer ist der Lehrer, ihm ist einmal nicht zu trauen, er hat Gewalt über ihn, und der Toni traut allen Leuten nicht, die Gewalt über ihn haben, und die haben alle von der kleinen Warwe angefangen bis zum 61 großmächtigen Herrn Pfarrer, der seine Augen zukneift und mit den Fingerknöcheln auf die Stirne stößt. Nur die Lene macht eine Ausnahme, über die hat er Gewalt, sie bewundert ihn, sie allein weiß um ihn und durch sie der Lehrer. Rot vor Freude, mit leuchtenden Augen steht sie dabei und schaut von dem Lehrer zum Toni, und tritt vor Gehobenheit von einem Fuß auf den andern. Es ist, als befeuere den Toni diese sichtbare Erhebung und dieser Glaube, denn er kann auf einmal dem Lehrer alles sagen, ohne zu stocken. Die lange Reihe seiner Käfer läßt er aufmarschieren, zu nennen weiß er die allerdings nicht wie die Blumen, von denen er jede, auch die kleinste und unscheinbarste, kennt, oder die Berge, die er dem Lehrer erklären muß, denn der ist noch nicht lange in der Gegend und war noch nie so hoch heroben, wo man weitmächtig in die Runde schauen konnte.

»Schau, schau!« sagte der Lehrer und schmunzelte dabei, »schau, schau, der Einsiedelmann!« Dabei schaute er wieder umher in der weiten Welt, die in zauberhaftem Frühlingsduft, zartblaugrau, unwirklich, wie ein Hauch dalag, erstaunlich nah und doch wieder so fern.

»Schön ist's da heroben, Antonius, schön, wenn's 62 nur nicht so weit zu euch wäre und so steinig. Aber ich werde doch bald wieder einmal heraufsteigen und nach euch zwei sehen in euerem Paradiese.«

Im Paradiese! Der Toni horchte auf. Ja, das war's, er war da heroben der Adam und die Lene die Eva. Er gab allen Namen, teilte alles ein und regierte das Reich ringsum, und erschien der Lehrer, so war er der ernste, strenge und dabei doch so liebe und grundgütige Herrgott für den Toni.

In der Schule ging's dann freilich wieder aus einem anderen Ton, und der liebe Herrgott wurde sehr oft recht ungeduldig. Es war ein noch zu junger Herrgott und hatte gar vielerlei Dinge im Kopf. Spazierte zum Beispiel des Sonnenwirts Mena am Schulhaus vorbei und schaute um die Welt nicht herauf, wenn der Lehrer mit brandroten Backen am Fenster stand, so konnte es schon sein, daß er dem Toni im Unmut einen Stüber versetzte, wenn seine Antwort gar so lange stecken blieb. Daß der Stüber mit der Mena zusammenhing, hatte der Toni schon herausgebracht, nur warum er mit der Mena zusammenhing, konnte er sich nicht zurechtlegen. Es betrübte ihn aber sehr, wenn er von seinem lieben Herrgott einen Stüber bekam, er haßte darum die Mena, und es schmerzte ihn mehr, als wenn dem 63 Pfarrer ein paar Haare zwischen den Fingern blieben. Das war auch so eine merkwürdige Sache: Der Pfarrer hatte doch so weiche, weiße Hände, und der Toni erstaunte stets aufs neue, daß er so heftig an den Haaren ziehen, ja sie sogar ausreißen konnte!

Diese weichen, weißen Hände seines Seelsorgers bannten ihn immer wieder aufs neue derart, daß er fast den Schmerz der Prozedur vergaß und, auch wenn der Pfarrherr die anderen »beutelte«, mit derselben starren Hingenommenheit hinsah, was ihm schon eine Tracht Prügel eingetragen hatte, denn die andern Buben sahen sein Tun für eine Verhöhnung an und glaubten natürlich nicht, daß seine Anteilnahme lediglich den schönen Händen des geistlichen Oberhirten gelte. Vielmehr hielten sie es für einen Ausdruck der Schadenfreude, daß es endlich auch einmal ein anderer bekam und nicht immer er allein. Der Toni hatte ja einen festen Kopf, den er bereitwillig gesenkt hinhielt, wenn er darauf bekommen sollte, höchstens, daß er die Arme noch schützend darüber breitete. Sonst besaß er noch verschiedene gediegen ausgestattete Stellen, die sich zur Entgegennahme von Prügeln vortrefflich eigneten; auch schlug er nie wieder, sondern rannte blitzschnell davon, sobald er nur irgendeinen Ausweg sah. 64 Im Rennen hatte er Übung. Wenn man ein paar Jahre von Raschötz hinunterstieg und wieder hinaufkraxelte, wenn man ein paar Jahre den Ziegen und Schafen auf den steilsten und steinigsten Wegen folgen muß, lernt man am Ende selber klettern wie eine Ziege. Drum faßte der Toni meistens weniger als ihm zugedacht war, er kniff aus und rannte bergauf, da kam ihm keiner nach. Nur zu Hause waren ihm die Prügel sicher, die Mutter hielt ihn fest und ließ ihn nicht los, bis er seine gehörige Tracht auf dem Buckel hatte. Und vor dem Vater ausreißen gab's überhaupt nicht. Es setzte viel Prügel auf Raschötz in diesem Jahr, erstaunlich viel sogar, es war immer irgendein Anlaß, daß der Raschötzer zuschlug, schlug er nicht ihn, so schlug er die Mutter. Was nur in den Vater gefahren war? Der Toni zitterte. War er hinter das Geheimnis der Flasche gekommen, oder waren es seine öfteren Gänge ins »Stadtl«, die ihn so aufbrausend und streitsüchtig machten?

»Klausengiahn« war stets die unerfüllte Sehnsucht des Toni gewesen, aber wenn man von Klausen so nach Hause kam – –

Dennoch nahte auch für ihn der Tag, wo er den so lange und so heiß ersehnten Gang antreten durfte. 65 Ein Mittwoch war's, der Kuckuck schrie zum erstenmal, die Lärchen standen in goldgrüner Pracht, am hohen Himmel hingen ein paar flaumige Wölkchen, sonst war er tiefblau und wurde immer heller nach dem Rande zu, dort, wo er sich auf die höchsten Berge setzte.

Denn so kam's dem Toni vor, als ob er auf den höchsten Spitzen ruhe, als ob sie ihn trügen; die Kassianspitze, auf der noch ein Schneefleck leuchtete, die Geißler mit ihren wilden Türmen, die Plose in ihrem Schneepolster und der Ritten, dessen Haus er dem Lehrer hatte zeigen müssen. Drei Tage vor der Beichte war es, und der Toni wurde dieses Ganges in der Frühlingsherrlichkeit nicht froh. Ihn bedrückte seine Sünde, ihn bedrückte die heilige Handlung, vor der er grenzenlose Furcht hatte. Fast fürchtete er sich auch vor dem finsteren Vater, der mit wilden Sprüngen über die Hänge setzte und ihn an der Hand mitriß, den Hut tief über die Augen gezogen, durch das Dorf stürmte und nicht links noch rechts sah. Dann erst begann er langsamer zu gehen und den Toni von der Hand zu lassen.

Für den fing hier die neue Welt an. Die Welt voll Kastanien (»Käschden«) und Nußbäumen und Akazienhecken, mit Rainen voller Blumen und 66 Weingeländen, mit fremden Gehöften und fremden Menschen. Er kam am Bach vorbei, den er droben von Raschötz her als kleines Wässerlein kannte und der hier über die Hügel stürzte und ein Mühlrad trieb. Ein Riesenhund bellte sie an und lief ihnen nach; der Müller stand lachend vor dem Hause, rief aber den Hund nicht zurück, es war ja nur der Raschötzer! Dann kamen sie auf sandigen Wegen vor Schloß Anger, und der Toni gaffte die hohen Mauern, die vielen Fenster und die schöne Türe an mit all den prächtigen Blumen und Sträuchern dahinter, die er nicht kannte, und er wäre lieber da hineingegangen, wo so viel Schönes war, als weiter in die Stadt. Auch dünkte es ihm fein, hier im Kühlen zu rasten, denn die Sonne brannte, wie sie nie auf Raschötz brannte, und der Toni war müde und durstig. Da brauste die Bahn daher und machte ein Getöse, daß dem Toni das Herz klopfte. Und wie sie vorbeijagte! Das war ja ein Wunder! Doch achtlos stapfte der Vater weiter. Jetzt rauschte schon der Eisack, im Staub zogen Pferde langsam schwere Wagen, die Bäume waren verstaubt, verstaubt die Gärten und die Häuser, und die Sonne brannte, daß der Toni fast vor Durst umfiel und immer weiter hinter dem Vater zurückblieb, so daß er 67 ihn barsch an der Hand nahm. Nun schritten sie über die Brücke.

Vor ihnen stieg steil und hochmütig das Kloster Säben auf, viel steiler, als der Toni es sich gedacht, und viel vornehmer mit seinen Reihen blinkender Fenster. Dann bogen sie in eine kühle Gasse ein; in einem Laden, zu dem man ein paar Stufen hinunterstieg, wurde dem Toni ein neuer Hut aufs Haupt gestülpt von einer dicken gemütlichen Frau, die sich mit tiefem Lachen über des Toni umfangreichen Kopf verwunderte. Dem Toni gefiel es nach der heißen Wanderung sehr in dem kühlen Laden bei der freundlichen Frau. Es roch dort gut nach Orangen, die in einer Schale in der tiefen Fensternische standen, denn die dicke Frau verkaufte nicht nur Hüte, sondern auch Salat und Äpfel, sowie die leuchtenden Orangen, nach denen des Toni Blicke besonders gingen. Dem Vater fiel es jedoch nicht ein, ihm eine zu kaufen. Er war merkwürdig unruhig geworden und beachtete den Toni gar nicht, der wie ein verscheuchtes Hündlein neben ihm in der Gasse trottete. Auch als er in ein Haustor trat, sah er sich nicht nach dem Buben um; der folgte ihm verschüchtert in den weiten, gewölbten, kalten Flur. Dort roch es süßsäuerlich herb, es war halbdunkel, 68 und im Hintergrund sah der Toni ein paar Fässer liegen.

In dem kleinen Zimmer, in das der Vater nun trat, war derselbe süßherbe, fast beizende Geruch, der für den Toni etwas Betäubendes hatte. Kühl war es auch dort, die Fenster gingen auf einen engen Hof, der rings von hohen Mauern umschlossen war. Das kam dem Toni wie ein Gefängnis vor, und der Beichttag, den er vergessen, fiel ihm mit all seinen Schrecken ein. Erst als er ein weißes Brot bekam und aus einem großen Glas von dem funkelnden Rotwein trinken durfte, da erst wurde ihm anders zumut. Er hatte doch Durst, und so trank er tüchtig. Wie ihm auf einmal so wohl wurde, so verwirrt wohl! Er besann sich vergebens, was ihn geängstigt hatte, er wollte sich auch nicht weiter besinnen, es zerflatterte alles, ehe er es festhalten konnte. Er lachte sogar, und der Vater lachte auch und schenkte ihm tüchtig ein, und die anderen Gäste lachten auch, der Wirt schmunzelte und brachte eine neue Flasche. Auf einmal fing einer zu singen an, ein magerer, schwarzer Kerl, ein zweiter sang mit, und nun brummte sogar der Vater. Plötzlich schmetterte es darein wie eine großmächtige Musik, daß der Toni blitzschnell und ganz erschrocken 69 herumfuhr – dort stand etwas auf dem Tisch hinter ihm und sah aus wie ein großer Trichter, und aus dem Trichter schrie und jubilierte es; daher kam die viele Musik! Kam sie wirklich daher? War das möglich? Der Toni war starr und schaute wie gebannt in den dröhnenden Schlund. Dann sang's aus dem Trichter, dann jodelte es, es war die reine Hexerei. Jemand schenkte dem Toni eine Orange, in die er herzhaft biß und sie gleich wieder wegschmiß; alles lachte ihn aus, und er lachte mit, er schämte sich ein bißchen, und der Vater lachte laut und pfiff. Und das Singen und Jubilieren dauerte weiter.

Oh, war das schön! Klausengiahn, Klausengiahn, summte es ihm in den Ohren, die wie Feuer brannten. Das war ja herrlich, und wäre der Vater nicht endlich aufgestanden, der Toni wäre sitzen geblieben bis in alle Ewigkeit. Wie konnte man denn von einem Orte weggehen, wo's einem so wohl war wie nirgends sonst? Im Himmel konnte es kaum schöner sein! Alles vergessen und nur so selig immer weiter schaukeln. Zur Türe fiel der Toni heraus, der Vater lachte. Aber als er auf der Gasse stolperte, fing er zu schimpfen an und packte ihn bei der Hand, daß sie schmerzte. Da stieg der Toni etwas von seiner Höhe herunter, 70 aber noch immer schwebte er, und die wüsten Worte des Vaters hörte er nur wie aus weiter Entfernung. Das Laufen wurde ihm sauer, der Kopf war so schwer, es kam ihm vor, als sei die dicke Frau daran schuld, die über seinen großen Kopf gelacht. Der Hut, den sie ihm aufgesetzt, drückte ihn zu arg, es half auch nichts, wenn man ihn abnahm, er schwebte von selbst wieder auf den Kopf, und ihre Orangen hatten einen abscheulichen Geschmack und stachen im Magen. Es fing an, dämmrig zu werden, und der Vater griff mächtig aus, den Toni hinter sich dreinziehend. Der wußte nicht mehr, wo er war. Er hörte noch den Bach rauschen und verspürte einen schrecklichen Durst, dann ging's nicht mehr. Er fiel hin und blieb gleich am Weg liegen, wo er anfing, gerade hinauszuheulen, tief, traurig und langgezogen wie ein Hündlein, das in einem fremden Hause untergebracht und an eine Kette gelegt wird. Was blieb dem Alten übrig? Fluchend lud er den Toni auf den Rücken, der schwere Kopf hing ihm über die Achsel, so torkelte er vorwärts.

Als sie beim Brünnlein am Schloßberg zu Anger waren, schmiß der Raschötzer den Buben ins Gras unter die Akazienstauden und fiel über das Wasser her, das einsam im Halbdämmer der Bäume 71 plätscherte. Es war ringsum ganz still, und auch im Schloß war's still, aus ein paar Fenstern kam ein ruhiges, stetiges Licht. In Klausen unten entzündeten sich die ersten Laternen, von fernher rumpelten ein paar Wagen auf der Straße, ein Schnellzug jagte vorbei, immer mehr nahm die Dämmerung zu. Die Berge schienen sich zu recken. Fremd, finster und abwehrend standen sie am fahlen Himmel. Es wurde kühl, und Toni, dem der Raschötzer Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, rappelte sich von seinem Graslager auf, trank gierig aus dem Brünnlein und wurde allmählich nüchtern. Eine feindselige Stimmung gegen den Vater erfaßte ihn, die er sich nicht zu deuten wußte, die er sich als Sünde vorwarf und doch nicht abschütteln konnte. Hatte er ihm nicht einen schönen Hut gekauft, damit er anständig zur Beichte gehen konnte? Hatte er ihm nicht die Stadt gezeigt und alles, dessen man in der Stadt teilhaftig werden konnte? Hatte er nicht getrunken und gegessen und Musik und Singen gehört?

»Wir sind vom k. u. k. Infanterie-Regiment«, summte es dem Toni im Ohr. Aber er war und blieb verdrossen und müde und mußte sich vorwärts schleppen. Ach, was dauerte das lange, bis sie ins Dorf kamen! Würden sie denn heute noch Raschötz 72 erreichen? Der Bach rauschte und gurgelte, der Nachtwind fuhr durch den Wald, es war ein unheimliches fortwährendes Rauschen, das den Toni erschreckte. Der Himmel sah fahlgelb aus, und über Säben stand hoch die schmale Mondsichel. Wurde es denn schon bald Nacht? Der Bub fürchtete den langen und steilen Weg hinauf nach Raschötz, fürchtete das Toben der Mutter. Wie ein Tröster leuchtete das stille Licht des Hulzen aus der Höhe über der Schlucht. Dort oben würden sie bald in Frieden liegen in ihren schönen großen Betten, nur Bauer und Bäuerin wachten noch und torkelten nicht in der Nacht herum wie er und der Vater; das tat der Hulz gewiß nicht, und die Hulzin schickte keines ihrer Kinder, nicht einmal die Lene, mit einer Literflasche heimlich ins Dorf.

Er war versucht, dem Vater alles zu sagen, fand aber nicht den Mut dazu, denn der Vater schimpfte vor sich hin, fluchte auf den steinigen Weg, der ihn stieß, ihn stolpern, sogar fallen ließ. Doch er wußte sich zu helfen. Als sie am Dorfeingang ankamen, stapfte der Vater auf das kleine Licht zu, das unter den Weinblättern der Veranda verheißend blinzelte, und stieg, immer noch fluchend, die paar Stufen hinan, die zum Eingang des »Stern« führten. Diesmal 73 fluchte er über den Toni, der partout nicht in den »Stern« wollte, wo er den Wein holen mußte, wo ihn die alte böse Frau beschimpft und verhöhnt hatte, weil er wohl eine große Flasche, aber keinen Kreuzer Geld mitgebracht hatte. Was würde die wohl sagen? Würde sie nicht ihn und den Vater aus dem Hause werfen? Würde sie ihn nicht verraten? Der Toni machte sich ganz klein und hielt sich dicht hinter dem Alten, als sie in die niedere, zirbengetäfelte Stube traten. Es sah ganz heimlich drinnen aus, die Kellnerin war eben dabei, die Hängelampe über dem runden Tisch anzuzünden, die sich launisch noch eine Zeitlang schaukelte. Von der Ofenbank erhob sich die alte Wirtin. Sie sah gar nicht so bös aus wie sonst, wenn ihre Augen auch dem Toni vorkamen, als schaue sie ihm durch und durch. Zu Tonis Erstaunen war sie ganz freundlich mit dem Vater, ja sie hieß ihn am Tisch unter der Lampe niedersitzen. Ein wenig scheel, schien's dem Toni, blickte sie dagegen nach ihm. Aber als der Vater einen Liter bestellte und gleich herzhaft trank, wurden ihre Augen fast zärtlich, und sie setzte sich, immer mit behäbigen Bewegungen zum Vater, der in kurzen Pausen hastig trank.

»Wo kimsch du her, Raschötzer?« frug sie. Der 74 gab ihr keine Antwort, schaute zornig auf die noch immer schaukelnde Lampe und meinte: »Etzer ischts guat, etzer zünd's des Licht schon an! Wie kimm denn nachher i heit auf Raschötz?«

»Muascht denn du heit no auf Raschötz?« gluckerte die Wirtin. Der Raschötzer stierte auf Flasche und Glas und trank wieder hastig. Stotternd wiederholte er: »Etzer ischt's guat. Wia kimm i heit no auf Raschötz?« Und weiter schon ganz stier und abwesend: »Werd die Alte sag'n, der is heit bei dene Gitschen im Dorf unt' blieb'n. Wirtin, i sag dir's, daß du des meiner Alten sagscht, i bin bei dir blieb'n, i bin net bei die Gitschen im Dorf unt' blieb'n! Hörsch es, Wirtin, los! I bleib bei dir, bei dir bleib i.« Die Wirtin gluckerte wieder vor sich hin und schaute blinzelnd nach den andern Gästen.

»Hot wer was entgegen?« schrie er und schaute herausfordernd über den Tisch hin. »Do bleib i. Über Nacht bleib i bei dir, Wirtin! Wer sogt wos?« Und wieder schaute er sich herausfordernd um. Die paar Bauern, die am nächsten Tische saßen, taten, als hätten sie nichts gehört, ja als sähen sie den Raschötzer nicht. Die Arbeiter, Maurer und Zimmerleute vom benachbarten Neubau, meist Fremde, ein paar Italiener 75 darunter, lachten und freuten sich des immer trunkener Werdenden. Sie kannten den Raschötzer nicht, belustigten sich nur an seiner Possierlichkeit, die sie gern steigern wollten, und tranken ihm tüchtig zu. Der Toni fürchtete sich vor dem trunkenen Vater. Wie er so dasaß, den Hut auf das linke Ohr gerückt, die Augen unter den finsteren Brauen rollend, das Gesicht gedunsen, die Hände mit flackernden Bewegungen erhoben, war das gar nicht mehr sein Vater, es war ein fremder böser Mann, bei dem er zu bleiben gezwungen war und dem er gern entlaufen wäre. In eine Ecke gedrückt, ließ das Kind hilflose Blicke durch das Zimmer gleiten. Es fühlte die Verachtung der alten Bauern, die beschwichtigende Haltung der Wirtin, die stiere Gleichgültigkeit der Kellnerin, die dem Vater den neuen Wein fast geringschätzig vorsetzte, und das Ergötzen der Arbeiter. Es war dem Toni unmöglich, aus dem Glas zu trinken, das ihm der Vater fortwährend zuschob und aus dem er ihm barsch zu trinken gebot. Er fühlte einen heftigen Widerwillen und, selbst als der Alte in Wut geriet und ihm das Glas mit unsteten Fingern unter die Nase hielt, vermochte er kaum zu nippen.

»Laß den Bub'n steh'n,« mischte sich die alte Wirtin 76 ärgerlich ein, die einen Streit fürchtete, »laß'n stehn und geh du in dein Bett eini.«

»Wirtin, no an Wein!« befahl er lallend.

»Na, du hascht genug, du kriegscht kein' mehr.«

»Wirtin, i sag's no amal, an Wein möcht i.«

»Du kriegscht koan mehr.«

»Warum krieg i koan Wein mehr?« schrie er in voller Wut und versuchte aufzuspringen, sank aber gleich wieder torkelnd auf seinen Stuhl zurück. Die Kellnerin sah ihm mit aufgerissenen Augen, völlig wie ein Automat aussehend, zu.

»Warum du koan kriegscht? Raschötzer, zohl du erscht den andern,« sagte mit dem Kopf wackelnd die Wirtin.

»Zohl'n, Wirtin!« schrie überlaut der Trunkene. »Glei zohl'n, alles zohl'n, das Ühernachten, den Kaffee in der Fruah.«

»Des zohlscht du morgen.«

»Wirtin, weischt es du, ob i morgen no leb? I will zohl'n! Mein Bett und dem Toni sein Bett, mein Kaffee und dem Toni sein' Kaffee!«

Je mehr und je eifriger er schrie und in seinem Beutel suchte, desto lauter lachten die Arbeiter, desto mehr wurde er aber auch angestachelt, weiter zu schreien.

77 »Zohl'n, Wirtin, zohl'n!«

»Jaja den Wein.«

»Das Bett zohl'n und den Kaffee! Mein Bett und dem Toni sein Bett, mein Kaffee und dem Toni sein' Kaffee,« schrie er immer erboster und hartnäckiger und hieb mit der Faust auf den Tisch.

Der Toni machte sich ganz, ganz klein, er schämte sich über alle Maßen vor den fremden Leuten, und seine Furcht vor dem brüllenden Vater stieg zuletzt so, daß er sich langsam von der Bank heruntergleiten ließ und sich darunter in der dunkelsten Ecke verkroch, wo er, lautlos vor sich hinheulend, zusammengekauert sitzen blieb.

Der Raschötzer tobte noch ein Weilchen weiter, doch niemand nahm mehr Notiz von ihm. Ein paar neue Gäste waren gekommen, denen die Wirtin und die starr blickende Kellnerin Aufmerksamkeit zu schenken hatten, der Weinbauer mit seinen Söhnen. Da war der Raschötzer mit seinem Getöse nicht mehr als eine brummende Schmeißfliege, die man zuletzt, weil man sie nicht verjagen kann, gewähren läßt. Er brummte noch eine Zeit fort, wurde dann immer leiser, bis er zuletzt in sich zusammensank, immer noch die Hand am Glase. Von Zeit zu Zeit riß es ihn wieder in die Höhe: 78 »Zohl'n, Wirtin, zohl'n!« schrie er überlaut und zog den Beutel immer wieder aus der Tasche, obwohl er ihn längst geleert, und geriet in die höchste Aufregung, wenn ihn die Wirtin zu beschwichtigen suchte: »Laß, Raschötzer, du hascht ja schon zohlt.« »Zohl'n! Mein Bett und dem Toni sein Bett, mein Kaffee und dem Toni sein' Kaffee, i bin kein Bettler nicht!« Plötzlich schaute er sich verdutzt um: »Etzer ischt's guat, etzer hab' ich den Toni verlor'n! Wo ischt der Toni blieb'n?«

Torkelnd erhob er sich, aber schon im Aufstehen wußte er nicht mehr, warum er nicht sitzen geblieben war, und stand nun mitten in der Stube unter der blakenden Lampe, rollte die Augen und schwankte hin und her und mit ihm sein Schatten, der vom Boden aus die Wand hinauflief und an der Decke hin- und herwackelte, noch viel ärger als der Raschötzer selber.

Diesen Augenblick benützte die Wirtin, der Kellnerin mit den stieren Augen zuzublinzeln. Die magere Hebe verstand auch sofort, packte den Trunkenen beim Ellenbogen und schob ihn zielbewußt der Türe zu. Der Raschötzer bockte zwar, ganz genau wie der Toni vor dem ersten Schulgang gebockt hatte, doch gehorchte er, 79 im Dusel befangen, der schiebenden Hand und trollte ab, nicht ohne noch einmal gemurmelt zu haben: »Zohl'n, Wirtin.«

Gleich hörte man ihn auch die Treppe hinauffallen, droben noch herumstolpern, dann war Ruhe.

Die Bauern lachten und nickten mit geringschätzig verzogenem Mund, sagten aber kein Wörtlein; der Raschötzer war's doch nicht wert, daß man viel Reden über ihn hielt. Die Arbeiter lachten auch und frugen die Wirtin nach dem Saufaus. Mäuschenstill, mit bebendem Herzen, saß währenddem der Toni in seiner Ecke unter der Bank und wartete darauf, entdeckt zu werden, getraute sich aber nicht, sich zu rühren. Wie ein Hündlein, das sich vor den Schlägen fürchtet und sich deshalb nicht aus seinem Schlupfwinkel hervortraut, kauerte er, schwarz, elend und zerzaust, unten. Doch die zielbewußte Kellnerin zog ihn, nachdem sie seinen Vater ins Zimmer gebracht, mit einem Griff aus der Dunkelheit hervor, unter allgemeinem Gelächter. Alle bösen Redensarten, die sie dem Alten gegönnt, aber nicht hatten aussprechen wollen, allen Spott und alle Gehässigkeit, von der sie behaupteten, es lohne sich nicht, sie zu zeigen, ergossen sich nun über den armseligen Buben. Der tat nichts weiter, als was 80 er immer getan, er hielt die Arme vor die Augen und schützend vor den Kopf, wie wenn er erwarte, geprügelt zu werden, und heulte seinen dicken, lodenen Joppenärmel voll.

»Du bischt mir a Sauberer,« höhnte die Wirtin, »werd was Recht's aus dir wer'n! Schamst di net? Bischt du a Bua oder a Gitschele? Führ ihn aufer, Paula, und leg des kloan Poppele ins Bett, es isch decht unmögli, daß er do unten bleibt.«

Und Paula, die Zielbewußte, packte ihn an der Achsel, wie sie seinen Vater am Ellenbogen gepackt, und schob ihn zur Stube hinaus. Der Toni schämte sich halb zu tot. Man hatte ihn geschmäht, bespien, hinausgeworfen, und er lehnte sich auf gegen alle die wüsten und höhnischen Reden, die er sich nicht zu erwidern traute. Immer mußte er unterliegen, immer wurde er ausgelacht, immer war er der, dem kein Mensch was zutraute! Nur einmal, wenn er den Mut gehabt hätte, es den Leuten zu zeigen. Vielleicht hätte es dann geheißen: »Ja, der Toni, des ischt einer! An anderer wie sein Vater!« Wie es jetzt hieß: »Ja, die Warwe, die ischt eine!«

Paula machte nicht lange Federlesens mit dem heulenden Burschen, sie schob ihn in ein kleines 81 Zimmerchen, das sein spärliches Licht von der »Leuchte« über dem Eingang zum Wirtshaus, also von außen empfing. Es war halbdunkel, eng und roch modrig. In der Ecke blinkte matt etwas Weißes, da stand wohl das Bett. Toni tastete sich vorwärts, fand noch einen Stuhl und sah endlich die andere Wand dicht vor sich. Das Gelaß war schmal und eng wie eine Keuche. Es hatte noch eine zweite Türe, die in einen Nebenraum führte. Drüben tappte einer herum und redete laut, daß der Toni bis ins Innerste erschrak. Nachdem er kurze Zeit gelauscht, erkannte er die Stimme seines Vaters und kroch schnell unter die Decke. Was wollte er denn noch, der Vater? Immer trabte er herum und wälschte vor sich hin:

»Ischt alles do? – – Fahlt niacht? – – Ischt a Bett do? – – Ischt a Stuhl do? – – Ischt a Tisch do? – – Ischt a Krug do? – – Ischt a Wasser do? – – Ischt a Schüssel do? – – Ischt a Glos do? – – Ischt a Hafen do? Fahlt niacht. Fahlt ner der Toni.«

Und wieder lief er umher und schien alle die Sachen zu beschauen und zu zählen, denn er begann wieder zu fragen: »Ischt alles do? – – Fahlt niacht: Ischt a Bett do? – – Ischt a Stuhl do?« – – Die 82 ganze Litanei, bis er beruhigt sagte: »Fahlt niacht, fahlt ner der Toni.«

Daß der Toni »fahlte«, schien ihn aber nicht weiter zu belästigen, denn nachdem er zum drittenmal alles aufgezählt hatte, warf er sich ins Bett, daß es nur so krachte, und Toni hörte ihn bald so arg schnarchen, wie er niemals auf Raschötz geschnarcht hatte.

Beim Toni ging das Einschlafen schwer, auch wachte er alle Augenblicke wieder auf. Ihn, der die Ruhe in Raschötz gewohnt war, wo man höchstens eine Kuh brüllen hörte, störte der Lärm, der von der Wirtsstube unten kam. Ihn störte das Licht, das sich schaukelnd bewegte, weil sich ein Wind aufgemacht hatte, und das unruhige Bänder über den Fußboden warf. In ihm rumorten außerdem die Erlebnisse des Tages und rumorte der ungewohnte Alkohol. Auch fürchtete er sich in dem fremden Hause und fürchtete sich vor dem kommenden Tag. Wenn er mit dem Vater nach Raschötz mußte, anstatt in die Schule! Die Mutter! Wie ein Messerstich fuhr's ihm durch die Brust! Was würde die sagen, daß sie herunten im Wirtshaus geblieben waren! Die halbe Nacht warf sich der Toni herum; sein Kopf schmerzte, er fühlte so großen Durst und wagte sich nicht aus den Kissen heraus. Er hörte 83 die Gäste fortstolpern, die Wirtin und Paula über die ächzenden Stiegen heraufkommen, dann war Ruhe im Haus. Nun fingen aber die Hunde im Dorf zu bellen an, die jedenfalls die heimkehrenden Gäste aufgestört hatten. Da und dort kläffte einer, setzte aus – – alles war still, bis ein besonders hartnäckiger mit einer nachdrücklichen Verbissenheit mahnte, daß man nun lange genug geschwiegen und doch die Verpflichtung hätte, die Leute heute nicht schlafen zu lassen. Sofort gaben sie von allen Seiten zustimmende Antwort. Hohe belfernde Zustimmungen und dazwischen wieder unwirsche Zurechtweisungen, wüstes Gezänke, ein männlich unentwegtes Festhalten an seiner Meinung, einmal ein verständiges Mahnen zum Stillsein, das ein heiseres anspornendes Bellen abschnitt, so ging's die Nacht über fort, bis die ersten Hähne krähten, ein Wagen über die Dorfstraße rumpelte und in der Ferne irgendwo ein Pumpschwengel energisch auf- und niedergedrückt wurde.

Jetzt kroch der Toni, naß vor Schweiß, nach dem wüsten Tag und der wüsten Nacht aus den Kissen, denn der Ton des Pumpschwengels hatte seinen Durst mächtig gereizt, und auch sein dumpfer Kopf verlangte nach Kühlung. Er schlich wie ein Dieb im Zimmer 84 umher; Wasser oder ein Gefäß, in dem er sich hätte waschen können, waren nicht im Zimmer. Das war alles drüben beim Vater, der noch schnarchte, als müsse das Haus zusammenfallen. Dort »fahlt niacht«. Der Toni war's zwar gewöhnt, sein umfangreiches Haupt unter die Pumpe zu halten, genau wie der Vater auch; auf Raschötz gab es die Luxusgegenstände nicht, nach denen der Vater in seinem Dusel Umschau gehalten, als gehöre das zum »Klausengiahn« und den gesteigerten Freuden, wie der Wein, die »Orantschen«, das Grammophon und der Rausch. Wie kam er nun zu dem Wasser? Wie kam er über die Stiege und aus dem Haus? Er mit seinen Beinen, die nicht von der Stelle wollten, und seinem Herzen, das so pumperte, als wolle es aus der Haut springen.

»Fürchst dich vor einer Mucken,« sagte der Lehrer, wenn er Spaß mit dem Toni machen wollte. Aber das war gar nicht wahr, er fürchtete sich nicht vor einer Mucken, er fürchtete sich nur vor den Menschen, aber vor keinem Tier. Wäre nur einmal ein Bär gekommen, wenn die Lene droben bei ihm auf der Waldwiese gesessen hätte, und der Bär hätte Anstalten gemacht, die Lene aufzufressen! Da wäre er gewiß nicht der Furchtsame gewesen, dem hätte er's gezeigt! Wie 85 oft hatte er sich das ausgemalt und dabei in seinem Heldentum geschwelgt, das ihn mit einem Schlage aus dem verlachten Toni zu einem bewunderten kleinen Burschen gemacht hätte. Das traute er sich zu, ja es gab Augenblicke, wo er diese gefährliche Lage mit brennendem Herzen herbeisehnte.

Nur jetzt, wo er, sein schweres Haupt zwischen die Schultern gezogen, über die Treppe schlich, um zum Brunnen zu kommen, wich er vor Schrecken so plötzlich zurück, daß er sich rückwärts auf die letzten Stufen niedersetzte. Vor ihm war Tyras aufgetaucht. Breit, mächtig, ein dunkles unheimliches Ungetüm, das ihn dicht am Fuß der Treppe bedrohte.

Tyras saß, aus seinem nächtlichen Schlafe erwacht, halb aufrecht da und schaute den Toni an. Nicht wild und blutdürstig, wie dieser glaubte, sondern scheu und unsicher. Als nämlich der ihm Unbekannte stumm und ohne Regung auf der Treppe sitzen blieb und ihn aus großen, heraushängenden Augen anstarrte, kriegte es Tyras mit der Angst vor dem Unbegreiflichen zu tun. Er richtete sich in seiner ganzen Größe auf, kniff den Schwanz ein, schaute seinerseits den Toni unverwandt an und stieß einen Ton aus, der zwischen Winseln und Knurren war und den Toni aufs tiefste erschreckte.

86 So blieben die zwei Helden, jeder mit krasser Furcht im Herzen, eine lange Zeit einander gegenüber und wagten nicht, sich zu rühren, bis eine Tür ging und mit röckeschwenkenden, abgemessenen Bewegungen die alte Wirtin erschien. Sie flößte unserm Tyras augenblicklich flammenden Mut ein. Knurrend, und seine gelblichen Zähne zeigend, mit gesträubtem Rückenhaar, bot er seiner Herrin das Bild des treuen und unbestechlichen Schützers und Verteidigers des Hauses. Wie eine Mauer, die vier Füße nach außen gestreckt, erhob er sich vor Toni. Dieser Held blieb, gebannt wie das Häschen vor dem Blick der Klapperschlange, zitternd an seinem Platze sitzen, und zwar zitterte er gleichermaßen vor Tyras wie vor der Wirtin, ja er wußte nicht, vor wem er mehr zittern sollte. Der krummnasigen Wirtin mit den Geieraugen fiel es gar nicht ein, den bedrohlichen Tyras zurückzurufen. Gemütsmensch, der sie war, weidete sie sich zuerst an der Angst Tonis und fragte dann: »Wos ischt's? Hock di net do her! Steh auf!«

»Der Tyras – –!« stotterte der Toni, »waschen hätt i mi mögen.«

»Scham di! Der Tyras tuat dir niacht! Pack di durch!«

87 An die Wand gedrückt, die angstvollen Augen auf die Bestie Tyras gerichtet, folgte Toni dem Befehl, langsam, langsam.

Höhnisch sah ihm die Alte zu. »Wo ischt denn dein Huat?«

Diese Frage warf den Toni ganz um. Verzweifelt langte er auf seinen Kopf, wie wenn der »Huat« die Nacht über etwa da oben gesessen hätte.

Der Hut! Der Hut! Wo war der neue Hut geblieben! Gestern abend – die dunkle Ecke, in die er gekrochen war –, dort lag gewiß sein schöner neuer Hut für die Beichte und für die Firmung und war zerdrückt, zerbeult und schmutzig! Die Wirtin wußte das und freute sich darüber. Oder hatte sie ihn gar weggeräumt? Dieser Gedanke gab ihm den Mut der Verzweiflung, er nahm einen Anlauf und wagte sich zwischen dem dräuenden Untier und der dräuenden Alten durchzudrängen, freilich mit Seitenblicken nach rechts und links. Jedoch, er kam nicht weit; die Alte hielt ihn kichernd am Rockärmel zurück, griff in die Höhe und holte von einem Haken den staubigen und verbogenen Filz herunter, den sie dem Toni fest aufs Haupt stülpte. »So, einen Hut hascht du also, hascht du auch einen Firmpaten?«

88 Verschwor sich denn in diesem Hause alles gegen ihn? Einen Firmpaten! Wie wenn er überhaupt schon daran gedacht hätte! Hatte denn der Vater daran gedacht oder die Mutter? Kein Mensch hatte von einem Firmpaten gesprochen. Also jetzt hatte er einen Hut, hatte ein schwarzes Lodengewand, nun stand er da und hatte keinen Paten!

Ohne Antwort zu geben, stürzte er verzweifelt von der Alten weg, an Tyras vorbei, die Stufen hinunter und zum Garten hinaus –, er dachte gar nicht mehr daran, daß er sich hatte waschen wollen, er vergaß den Vater, der da oben seinen Rausch ausschlief, er rannte nur spornstreichs davon, immer zu, bergauf gegen Raschötz. Doch war's gewiß nicht seine Absicht, nach Hause zu laufen; er lief nur blindlings den gewohnten Weg, wie es seine Schafe machten, wenn sie durch irgend etwas erschreckt wurden. Weit rannte der Toni nicht, er war zu müde und zerschlagen an allen Gliedern. So blieb er im Grase sitzen und schaute ratlos um sich. Es fröstelte ihn am graukühlen Morgen in der feuchten Wiese. Der Frühwind blies über die Höhen, der Nebel lag wie ein langer grauweißer Wurm über dem Flusse. Der Wald ober ihm schauerte. Die ersten Vogelstimmen hoben sich.

89 Noch war der Himmel hell und hoch, fern und glasig, dann schoben sich ein paar orangerote Wolken her, ein langes Band glühte dunkelfeurigrot, die Sonne kam hinter dem Berg vor und fuhr mit ihren ersten Strahlen über die Kirche und die Schule. Ein spitzer Hahnenschrei zitterte durch den Morgen; von mehreren Gehöften stieg ein zartblauer Hauch auf, nun glitzerten und brannten die betauten Wiesen in der Sonne, es glänzte alles wie neu erschaffen. Doch der Toni sah nichts von all dem. Er lag auf der Wiese und weinte. Weinte um den verbogenen Hut, weinte, daß er keinen Paten hatte, weinte, weil er ein Pechvogel war, und nicht zuletzt weinte er aus Angst vor der Mutter. Jedenfalls beschloß er, vorderhand nicht heimzugehen, sondern hier liegen zu bleiben, bis die Schule anfing. Wenn's nur nicht gar so lange gedauert hätte, die Zeit wollte gar nicht vom Fleck rücken: jetzt schlug's gar erst sechs im Dorf, also noch zwei Stunden. Hätte er nur noch schlafen können, aber die Furcht, entdeckt zu werden, hielt ihn davon ab. Der Vater schlief gewiß mit Seelenruhe drunten in seinem warmen Federbett und ließ den Toni Toni sein. Ja, so ein Vater tat sich leicht. Der Toni begann sich aufzulehnen. Das war das Ergebnis des »Klausengiahns«. Gestern war 90 alles anders gewesen, da hing ihm der Himmel voller Baßgeigen, alles war neu für ihn, war schön und gut, die Welt eine herrliche Einrichtung. Heute betrachtete er dieselbe Welt mit sehr gemischten Gefühlen. Die Hauptschuld dieser Wandlung trug natürlich der Vater. Frug der nach ihm? Dachte der daran, ob's ihm nicht etwa schlecht ginge nach dem Nachmittag in Klausen und dem Abend im Dorf?

Was lag dem daran, daß ihm sein Bauch und sein Kopf weh taten. Fragte er darnach, ob der Toni einen Firmpaten hatte oder nicht? Ob er Furcht vor Tyras und der alten Wirtin hatte? Dem war's gleich, ob er den Toni verlor oder nicht, ob der Toni an dem Wein, den er in ihn hineinschüttete, zugrunde ging oder nicht, ob ihn der Tyras auffraß, die Mutter halb zu Tod prügelte, die Warwe auslachte – und nicht nur die Warwe allein, die ganze Welt! – In richtigem Katzenjammer wälzte sich der Toni auf dem schönen Bühel, von dem aus man bis nach Brixen sah und weit über Waidbruck weg. Doch seine Seele war taub gegen all die Herrlichkeiten, die sie, seine täppisch unbeholfene, armselige Seele sonst, zaghaft zwar und ihrer selbst kaum bewußt, mit scheuer Liebe umfangen.

Um ihn liefen Käfer, Schmetterlinge flogen hoch 91 über ihn weg, die Vögel jubilierten, und die Grillen geigten, daß der ganze grasige Hügel wie von einem schrillen Akkord erschüttert wurde, der Toni sah und hörte nichts. Er hatte inwendig zu sehen und zu horchen, und die inneren Gesichte waren ungewöhnlicher und ganz neuer Art.

Er sah seinen Vater und seine Mutter, wie sie waren, und nicht mehr als nebelhafte Gestalten. Der Vater war ein Trunkenbold, der sich nicht um Haus und Hof kümmerte, ein grober, tückischer Geselle, für den er nicht etwa Liebe, vor dem er nur Furcht empfand. Und die Mutter war längst keine richtige sorgende Mutter, keine arbeitende Mutter, kein Schutz und keine Zuflucht für die Kinder mehr, auch sie ging dem Weine nach, und was sonst geschah, war ihr ziemlich gleich. Er, der Toni, war ja nur dazu da, ihr die Flasche beizuschleppen und sich schimpfen und prügeln zu lassen, wenn sie entweder zu viel erwischt oder keinen Vorrat im Hause hatte. Die Warwe entschlüpfte ihr immer, nur er war der Dumme, der Feige. – Wenn er Mut gehabt hätte, ja freilich auch ein paar Kreuzer in der Tasche und ein festes Bündel Sachen, er wäre jetzt am liebsten zu der breiten Landstraße hinuntergestiegen, die mit Bedacht ihre Bogen und 92 Windungen durch das Tal machte, neben Fluß und Fels, und wäre geradewegs in die Berge hineingewandert, die so nahe und behütend weiter unten zusammenrückten. Die würden ihn auch behüten, daß keines von Raschötz oben ihn je wieder fand. Wenn er es wagte?

Er sah sich schon unten im Staube wandern, – da tauchte ein Kindergesicht vor ihm auf mit einer kecken Stumpfnase und guten blauen Augen: Lene. Ohne sie wäre er ja nie und nimmer fort! Also mußte er vorderhand auf Raschötz bleiben, zur Schule gehen und, was ihm als Schrecken stets auf dem Grund der Seele sitzen blieb, er mußte beichten, und er wurde gefirmt und hatte keinen Paten! – – Er zerquälte sich noch eine Zeitlang den Kopf, um einen »Goten« zu finden, aber niemand fiel ihm ein, nur zuletzt kamen seine schwerfälligen Gedanken auf den Postboten, der einigemal ein paar gute Worte mit ihm gesprochen hatte, wenn er ihn im Wald bei seinen Schafen und Ziegen getroffen, hoch oben, wo der Rudl zum Wildbad aufsteigen mußte. Wenn er den bat! Er dachte ja an kein Geschenk, er wollte nichts, wenn er ihm nur den Paten machte! Daß er auch so lange gewartet hatte! Jetzt fiel ihm ein, wie oft die anderen Buben schon von der Firmung gesprochen, was sie sich wünschten, 93 wer den reichsten »Goten« hätte. Nur er hatte so in den Tag hinein weitergelebt und nichts dabei gedacht, oder er hatte sich damit getröstet, Vater und Mutter würden schon für einen sorgen. Sogar die ganz kleinen Buberln hatten schon vom Firmen geredet. Es war ja ein großes Ereignis für das Dorf, denn der Bischof von Trient kam nur alle acht oder zehn Jahre in diese Gebirgsgegend und firmte die Kinder dieses Sprengels, der bis an das nahe Bistum Brixen stieß, aber nicht dort einverleibt war. Um ganz sicher zu gehen – wie lange sind zehn Jahre! – stellte man auch die ganz Kleinen, Drei- und Vierjährigen, mit ins Treffen, damit auch sie der Gnade des heiligen Geistes teilhaftig würden.

So war natürlich auch die Warwe ausersehen und hatte schon längst eine Patin, so lange schon, daß er es wieder vergessen hatte. Nachdem es ihr die Hulzin abgeschlagen hatte, sie zur Firmung zu führen – die Warwe war auf eigene Faust hingegangen und wollte es durch Schmeicheln und Betteln erreichen –, war sie auf eine andere reiche Bäuerin verfallen, deren Kind neben ihr in der Schule saß, und richtig, durch demütiges Wesen, durch Lächeln, Bitten und reichliche Tränlein zwang sie förmlich die Bäuerin, sie 94 anzunehmen. Unwirsch war sie zuerst gewesen und grob, aber das machte der Warwe nichts! Daheim spielte sie dann die ganze Szene vor, tat schmeichlerisch und unterwürfig, machte auch die tiefen und rauhen Töne der widerspenstigen Bäuerin nach, flötete und gurrte selbst wieder zart und süß dazwischen, daß Vater und Mutter nicht aus dem Lachen kamen und voller Bewunderung waren für die kleine Warwe, die auf diese Weise sich eine »goldene Gotel« geangelt hatte! Das war dem Toni längst aus dem Sinn gekommen; er würde natürlich keinen »goldenen Goten« bringen. Ach, er hätte bringen dürfen, wen er gewollt hätte – und wenn der Pate vom Himmel fiele, er taugte den Eltern ja doch nicht!

Vielleicht wollte der Rudl auch nicht – er wollte ihn irgendwann einmal fragen, vielleicht sagte er ja –. Auf diese Weise tröstete sich der Toni mit dem Trost aller zaghaften und unentschlossenen Naturen und redete sich ein, nun sei alles gut, obgleich er wußte, daß es nicht gut war.

Das lange Liegen behagte ihm nicht mehr, auch fürchtete er, der Vater könne sich doch früher aufrappeln und heimkehren und ihn da finden; so beschloß er, auf Umwegen die Schule zu erreichen.

95 Als er sich erhob, fühlte er sich noch gehörig schwindlig und hatte große Lust, sich wieder ins kühle Gras zu werfen, zumal die Sonne tüchtig herunterbrannte. Das Steigen, die Hänge hinauf und an den Feldern hin, ein Trepplein in die Höhe und einen Hohlweg herunter, wurde ihm bald sauer, und er legte sich plötzlich hin, wo er ging und stand. Wozu? Es dämmerte ihm, daß es hier oben eigentlich gar keine geraden Wege gäbe und daß es etwas sehr Schönes um die ebene, kerzengerade Landstraße sei. Kaum hatte er sich gelegt, hörte er Stimmen, und bald stürmte des Hulzen kleine Schar hinter seinem Rücken vorüber, ohne ihn zu sehen; er war durch die Weinbergmauer gedeckt. Also war es bald Zeit zur Schule. – Brummend stand der Toni wieder auf und schaute vorsichtig den Kindern nach; die Lene war nicht dabei, doch kam sie in schnellem Lauf quer über die Wiesen auf ihn zu, und: »Lene, Lene!« rief der Toni laut, daß sie überrascht stehen blieb.

»Ja, Toni, wie schaust du denn aus?« rief sie und fing sofort an, wie eine sorgsame Mutter an ihm herumzuputzen und zu streichen. »Wie kimmscht denn du da her?« Stotternd erklärte er ihr, warum er dagelegen. Die Erlebnisse in Klausen und im Stern hörte 96 die Lene ziemlich schweigend an; als ihr aber der Toni seine Patennöte klagte und mit dem Plan anrückte, den »Brieftroger« zum Goten zu nehmen, war sie ganz und gar nicht einverstanden, sehr zum Leidwesen Tonis, der schon alles in gute Bahnen gelenkt zu haben meinte.

»Na na, Toni, dersell ischt nix. I wer schaugn. Du derfscht dem Rudl nix sogn, es fallt mir schon epper ein.«

Damit war er nun auch wieder zufrieden. Wenn er sich nur um nichts zu sorgen brauchte, wenn nur der Lene »epper« einfiel. Sie war ja auch die Ältere, die Gescheitere, sie war schon gefirmt, überhaupt sie wurde nicht ausgelacht wie er, also war's ja das Beste, sie wählte für ihn, und wenn sie auch ein armes Kind war, sie hatte Unterschlupf auf dem reichen Hofe gefunden und war schon deshalb mehr »Respektsperson« als er.

So hatte er also einen großen Kummer auf den hilfreichen Kameraden abgewälzt, und nun war ihm, trotz des schrecklichen Abends und der wüsten Nacht, trotz des zerbeulten Hutes, den die Lene glattzustreichen suchte, wieder wohler, und er begann freieren Herzens von dem gestrigen Tage zu erzählen, ja, 97 merkwürdigerweise kamen nun auf einmal alle schönen Dinge wieder an die Oberfläche, und er malte der Lene alles ganz prächtig aus. Doch plötzlich stockte er: »Lene –«

»Wos ischt nachher? Wos machscht für a G'sicht?«

»Weil i dir nix mitgebrungen hab!«

»A wos!« schnitt ihm die Lene unwirsch das Wort ab, »das nächschte Mal bringscht mir was mit, wenn du selm wos hoscht.«

Der Toni steckte den Kopf hinein. Ja, sie sagte so, aber es war ihr doch nicht recht, daß er nicht an sie gedacht hatte, das merkte er wohl; sie beschwichtigte ihn, wie sie in ihrer Art auch die kleinen Hulzenkinder beschwichtigte, wenn sie hinfielen oder etwas verloren hatten. Sie glaubte nicht, daß er etwas mitbringen, sich etwas absparen würde für sie, niemand glaubte ihm, niemand traute ihm etwas zu.

Der Tag war ein schlimmer für den Toni. In der Schule paßte er nicht auf, weil ihm der Kopf brummte, und der Lehrer wurde ernstlich böse. Dann hatte ihn einer der Schusterrangen gestern in Klausen gesehen, wie er mit dem Vater dahergestolpert war, es den andern Buben erzählt, und nach der Schule umstanden 98 ihn alle, verlachten und beschimpften ihn auf alle mögliche Weise, ohne daß er sich helfen konnte. Dazu war die Lene verschwunden, gerade unter der Mittagszeit, wo er doch keinen Bissen Brot dabei hatte! Betrübt schlich er sich ums Dorf herum und schlug den Weg zur kleinen Kapelle ein; da sah er von weitem die alte Wirtin, die ihre Felder beschauen ging, begleitet von Tyras, der gleich mit mächtigen Sätzen auf ihn losstürmte und ihn zur großen Heiterkeit seiner Herrin in die Flucht trieb.

In der Nachmittagsschule war er ebensowenig bei der Sache wie am Vormittag, bekam wieder Schelte und, als die Schule endlich, endlich zu Ende war, kam etwas ganz Neues und Erschreckendes: der Lehrer befahl ihm kurz, dazubleiben.

Der Toni drückte sich in die hinterste Bank und hörte mit Schrecken, wie's immer stiller um ihn wurde und man zuletzt gar nichts mehr hörte als ein paar gellende Schreie der Schusterrangen. Da stand auch schon der Lehrer vor ihm. Dem Toni fuhr's gleich in die Glieder, recht wie ein armer Sünder stand er vor seinem »Gott Vater« und fühlte sich ganz wie Adam nach dem Sündenfalle. Der Lehrer wußte alles. Wußte von seinem Rausch und von seines Vaters 99 Rausch. Jetzt hatte er gewiß die Liebe seines Gott Vaters verscherzt, ganz wie jener Adam aus der Bibel, der von dem verbotenen Apfel gegessen hatte und sich allsogleich vor seinem Herrgott schämte. Doch sein lieber Herrgott sprach nicht: »Adam, wo bist du?« sondern wartete still. Der Toni sagte auch nichts und wartete, so daß eine lange Stille in dem Schulzimmer war. Auf einmal brach der Lehrer in ein herzliches Lachen aus. Lachte laut und fröhlich, weil ihm der stumme Zwiegesang zu lange dauern mochte. Er packte den Toni, der sich nicht aufzuschauen getraute, bei den Achseln und schüttelte ihn. Es war eine große Portion Ungeduld in seiner Bewegung und man konnte sehen, daß seine Gutmütigkeit im Streit lag mit dieser zornigen Ungeduld.

»Kannst nit reden? Grüß Gott, Herr Lehrer, sagt man. Hast du gar keine Kurasch, Bub? Nur einmal, wenn du was tätest, daß man sehen könnt, du bist doch nicht der Duckmäuser, der Kerl, der sich immer fürchtet und für den man sich schämen muß. Oft hab' ich dir schon gut geredet, aber wenn du ein solcher Stock bist, aus dem man alles mit der Wagenwinde herauswinden muß, das verdrießt einem.« Er schüttelte ihn etwas derber: »Warum kannst denn nit fragen: Herr 100 Lehrer, was ist denn? Was meinst eigentlich, warum hab' ich dich da lassen?«

»Weil – weil – weil ich einen Rausch gehabt und Böses getun hab',« stotterte der Toni und schaute mit einer blitzschnellen Bewegung zum Gott Vater auf, aber wieder ebenso schnell zu Boden.

»Einen Rausch? Du? Ja Toni, das ist mir ja was ganz Neues!« Der Lehrer lachte aus vollem Halse. »Und was hast du denn Böses getun? Hast in die Hosen getun? Nein? Ja, was denn sonst?«

Da gingen dem Toni Herz und Maul auf. Nein, der Lehrer sollte nicht meinen, daß er sich aufführte wie die Schusterrangen, die an jedem Sonntag ihren Rausch vom Neigbier oder Trubwein hatten, die sie bei ihrem lärmenden Kegelspiel im Freien tranken und wobei ihnen meistens das passierte, was der Lehrer von ihm vermutet hatte. Drum erzählte er lieber alles, was er gestern erlebt, auch die Not wegen eines Firmpaten kam in dem Kunterbunt seiner Rede mit heraus. Es war wieder der liebe Gott, dem er alles sagen konnte.

»Hast denn net an mich gedacht?« fragte der Lehrer und schaute ihn fast schalkhaft an.

»An den Rudl wohl, aber ja net an den Herrn 101 Lehrer!« beteuerte der, und seine hellblauen Augen richteten sich jetzt bittend und in offenbarer Angst auf den Lehrer.

»Warum denn nicht? Wenn es dir nicht auf ein großes Geschenk ankommt, Antonius, so will ich deinen Goten machen; ein splendider kann ich nicht sein, wenn du aber sonst mit mir zufrieden bist – –«

Wie? War das möglich? Der Lehrer wollte sein Göt sein? Oder machte er nur Spaß? Der Toni wurde rot bis unter die Haare und wußte nicht, was er sagen sollte oder tun.

»Bleibt's dabei, Antonius, oder möchtest du dir lieber einen suchen, der einen größeren Geldbeutel hat?«

Wenn's also Ernst war – sah denn das der Lehrer nicht, daß er Tränen in die Augen bekam vor Freuden? Herausgebracht hätte er auch nicht das kleinste Wörtchen. Er stand nur und meinte, ein Blinder hätte ihm die Freude ansehen müssen! Sein Gott Vater sah es gewiß!

»Also, marschier jetzt heim, Einsiedelmann,« sagte endlich der Lehrer, und hätte er das nicht gesagt, der Toni hätte wahrhaftig nicht gewußt, wie von der Schulstube loskommen. »Dein Vater und deine Mutter 102 werden sich zwar nicht heftig freuen, daß du mich erwählt hast, die Lene aber schon!«

Der Toni keuchte über die ersten Hügel hinauf. Ja freilich, die würde Augen machen, wenn er ihr die Botschaft brachte! Und der Vater und die Mutter würden auch stolz sein, wer konnte denn noch einen Lehrer aufweisen? Was war da die reiche Bäuerin der Warwe dagegen? Wenn er nicht der Toni in seinem schweren Lodenkotzen mit den schwer genagelten Schuhen gewesen wäre, der Toni mit dem dicken Kopfe, hätte man sagen können: er flog förmlich den Berg hinauf; seine Freude beflügelte ihn. So stolperte er mehr, als er ging vor hastiger Freude, es war ihm Heil widerfahren – – ihm, dem armseligen Toni! – – und er konnte es kaum erwarten, die Botschaft zu verkünden. Wie gerufen stand auf einmal die Lene da. Doch brachte sie ihm eine Enttäuschung. Sie lachte zwar über das ganze Gesicht, als er mit seiner Botschaft herausrückte, aber sie sagte nur: »Ja, ja« d'rauf, g'rad wie wenn sie's schon wüßte. Das war doch eine Ursache, stolz und froh zu sein, wenn der Lehrer gerade ihn hatte haben wollen!

»Hascht's epper gar du dem Schuellehrer g'sagt?« fragte er, mißtrauisch geworden, und machte ein 103 enttäuschtes Gesicht. Die Lene schüttelte nur fortwährend ausgelassen den Kopf und lachte: »Na! Na! Na!«

»Häscht denn du dir so was getraut?«

»Ja, du! Du trauscht dir freilich nicht! Weischt so viel und trauscht dir so wenig,« antwortete sie lachend, gab ihm einen tüchtigen Klaps und lief davon.

Nach Hause ging die Wanderung langsamer weiter. Toni war auf einmal nicht mehr so froh, es kamen ihm auch Bedenken, ob Vater und Mutter wohl ganz auf seine Freude eingestellt sein würden.

Wie würde denn wohl die Mutter den Vater empfangen haben? – – Und wie würde sie gegen ihn sein nach dem gestrigen Tage und der folgenden Nacht? Immer zögernder wurden seine Schritte, aber Raschötz kam trotzdem näher. Nun war schon der große, grüne Buckel da, der im Frühjahr voll schwefelgelber Anemonen und ultramarinblauer Enziane stand, schon tauchte das schwere Dach des großen Futterhauses auf, dann das Wohnhaus mit den kleinen Fenstern. Warum waren denn die Hennen in einem schrecklichen Aufruhr? Von weitem hörte er sie schon laut und aufgeregt durcheinander gackern und schreien, sah sie flattern und fliegen und mit entsetzten, weit ausgespreizten Beinen dahin und dorthin rennen. Da 104 gewahrte er die Mutter Paula, die ohne ersichtlichen Grund mit wütenden Geberden wie besessen die Hühner jagte. Das war kein guter Willkomm, und Toni versuchte unbemerkt um die Gartenecke zu kommen, um die hintere Haustür zu erreichen; doch die Mutter hatte ihn schon erblickt und fuhr wie von der Tarantel gestochen auf ihn los; nun hagelte es Prügel, ohne daß der Toni wußte warum, denn die Mutter erklärte ihm nichts. Sie schrie auch nicht auf ihn ein wie sonst, sie war außer Atem und mußte sich schon ausgegeben haben, doch drosch sie eine ziemliche Weile auf ihn los und hörte erst auf, als sie scheinbar totmüde war.

Toni nahm die Prügel in Anbetracht der gestrigen Ereignisse schweigend hin; die außerordentliche Erregung der Mutter erschien ihm erklärlich, als er in der Stube den Vater auf der Ofenbank vorfand, der seinen Rausch ausschlief. Er lag da wie ein Stück Holz, und es war unmöglich, ihn zu wecken. Die Mutter hatte also ihren seit gestern aufgespeicherten Zorn nicht an ihm auslassen können; nun mußten zuerst die armen Hennen daran glauben, die noch vorwurfsvoll und skeptisch aus der Ferne hergackerten; dann ging's über ihn her. Es war also ganz und gar nicht die rechte Zeit für seinen Freudenerguß, auch besserte sich die 105 mütterliche Laune im Laufe des Spätnachmittags durchaus nicht, denn als sie besser zu Atem gekommen war, fiel sie, wie zuerst mit ihren Schlägen, nun mit ihrem wüsten Geschimpf über ihn her. Alles, was sie dem Vater nicht hatte sagen können, weil er nicht hinhörte, als er wie tot auf die Ofenbank fiel, mußte sie nun bei Toni anbringen, wollte sie nicht an ihrer Wut ersticken. Er war natürlich auch so ein Bruder Liederlich, so ein wüster Kerl wie der Alte, der in fremden Herbergen mit Gott weiß wem herumlag und alles verfraß und versoff, daß sie zu Hause nichts mehr zu essen hatten, dem's gleich war, ob sie krepierten oder nicht!

So schrie und zeterte sie fort, denn eigentlich wollte sie ja den Mann wach kriegen, hätte auch wohl noch eine Stunde lang fortgezetert, wäre nicht ihr Blick auf die Joppe ihres Mannes gefallen, aus der ein Fläschlein guckte. Ihr Redefluß stockte, ihre Augen bekamen etwas Gieriges und, ohne den Satz zu beenden, ließ sie den stoischen Toni stehen und wandte sich dem Fläschchen zu. Sieh! Sieh! Der Alte hatte es nicht ganz geleert! Ohne des Buben weiter zu achten, setzte sie das Fläschchen an den Mund, hob es ordentlich in die Höhe, schleckte den Hals dann noch ab und ging 106 brummelnd aus der Stube, die noch eine Zeitlang nach Branntwein roch.

Der wenig feierliche Empfang drückte den Toni, dem das Herz so voll war: darum schlich er sich in den Stall zu seinen Schafen, machte die Türe weit auf und trieb sie bergan. Dort oben wurde ihm freier und leichter zumut, weil er seinen Schafen verkünden konnte, daß der Lehrer, der Gott Vater, sein Göt werden wolle, und ob sie das nicht freue und wundere. Jemandem mußte er es doch sagen!

Als er hochoben auf der Bergwiese stand, seine Schafe ringsum, als er weit in die Runde schaute, über all die Zacken und Gipfel hin, die sich wie eine gigantische Schar am Himmel aufgestellt hatten, vergaß er Raschötz und den trunkenen Vater mitsamt der keifenden Mutter. An die Lene dachte er, die so oft bei ihm gewesen, an den Lehrer, der bis da heraufgefunden hatte, er dachte in seiner Weise, wie schön friedlich es da in der Höhe sei, wo nur Vögel und Schmetterlinge um ihn und ober ihm waren und der Oacher mit seinem buschigem Schwanz um und ober ihm in den Ästen herumsprang. Er warf sich bäuchlings ins Gras und vergaß ganz, daß er sein besseres Gewand anhatte, denn auf der Wiese und auf dem Waldboden, 107 »im Kot«, wie seine Mutter sagte, gab es immer etwas zu sehen, über dem er alles andere vergaß, seine Schafe ausgenommen, obwohl es auch vorkam, daß er auch auf sie vergaß und sie ihn zur Heimkehr mahnen mußten – wie heute. Sein Herz war voll Fröhlichkeit geworden, er kam sich reicher vor unter seinen paar Schafen, wie wenn er eine ganz große Herde unter sich gehabt hätte. Er knallte lustig mit der Peitsche, daß man's weit hören konnte, was er selten tat, und knallte bis vor seines Vaters Haus, wo der's ihm mürrisch verwies. Am Brunnen stand er, hielt den Kopf unter und ließ sich den kalten Strahl über den Nacken, den Oberkörper und die Arme strömen. Sein Gesicht, das vorhin fahl gewesen, rötete sich unter dem frischen Bergwasser. So erschien er dem Toni wieder wie der frühere Vater, und er konnte leicht vergessen, was alles zwischen gestern und heute gelegen. Jetzt war gewiß die Zeit, daß er mit seiner Botschaft herausrückte: aller Zank und Haber mußte doch schweigen, wenn er das redete, was er zu reden hatte! Noch hielt ihn eine Scheu ab zu sprechen, denn der Vater warf ihm nur einen bösen Blick zu und machte sich rasch vor ihm davon und verschwand im Haus.

108 Als sich der Toni in der Stube an den Tisch setzte, auf dem die Plentenknödel standen, denen die Mutter und die Warwe schon tüchtig zugesprochen, während der Vater nur daran herumzustochern anfing, war's dem Toni, als drohten seines Vaters Augen: »Du, wenn du etwas verrätst von Klausen – – –«

»Schmeckt dir frei net, gell, geschdern hat's dir besser gedunkt,« stichelte die Frau, man merkte ihr die niedergehaltene Erregung an der Stimme an. Der Toni in seiner Angst, es möchte wieder ein Streit ausbrechen, und er käme um die schöne Gelegenheit zu reden, schrie überlaut: »Der Schuellehrer wird mein Firmgot!«

Da hoben sich die Köpfe. Sein Vater brach in ein wüstes, geärgertes Gelächter aus, das er durch Hiebe mit der Faust auf den Tisch verstärkte, während die Mutter vom Zorn dermaßen hingenommen wurde, daß sich ihre Lefzen verzogen. Die Warwe aber kicherte ohne Unterlaß und schlug die Hände wie in Verwunderung über dem Kopfe zusammen.

»Wos gibt er dir, dein Schuellehrer?« schrie der Raschötzer, »wos gibt er dir?« und rückte dem Toni mit der Faust immer näher unter die Nase, als müsse aus dieser das Firmgeschenk auf seine Finger tropfen.

109 »Hascht dir was Feines außerg'sucht, einen feinen Goten. Wirscht du a Viertel Roten zohln müssen bei der Firmung.«

Die Mutter sagte nichts, schaute den Toni nur haßerfüllt an. Das wäre etwas anderes gewesen, hätte er sich einen Weinbauern herauszusuchen getraut! So einen Mittag lang essen und trinken können, was man mag! Ihre Augen funkelten, aber sie sagte noch immer nichts. Sie wußte, wenn sie jetzt redete, kam sie mit dem Manne länger ins Reden, und ihn wollte sie heute strafen. Er vertrug ihr Keifen und ihre Vorwürfe viel eher als ihr verbissenes Schweigen. Das hatte ihn noch immer außer Rand und Band und bis zum Zuschlagen gebracht. Der Frau waren sein wütender Zorn und seine maßlosen Schläge stets eine Befriedigung, das war einmal etwas anderes, solch eine wilde Stunde auf Raschötz, und immer war der Raschötzer darnach niedergeschlagen, willfährig und geduckt, und so wollte sie ihn haben.

Dem Toni war jäh alle Freude zerblasen, und sein Mut sank immer mehr. So trug er sein Leid früh in seine Kammer, die hoch oben lag, luftig, nur mit Brettern verschlagen, daß der Nachtwind durch die Ritzen ein und aus ging. Die Bäume rauschten vor dem 110 Hause, und des Brunnens einförmiges Geplapper brachte ihm endlich die Ruhe, nachdem er sich noch ein paarmal hin- und hergeworfen, mit Zagen an die Beichte gedacht und immer der Warwe spöttisches Gesicht vor Augen gehabt hatte. Einerlei, mochten sie denken, was sie wollten, nach großen Geschenken trachten; er war so auch zufrieden, er hatte seinen lieben Lehrer, und ganz leer ausgehen ließ ihn »der liebe Herrgott« gewiß nicht. Dennoch stieß er vor dem Einschlafen ein paar tiefe Seufzer aus, wie es bekümmerte kleine Kinder tun, dann war er schon mitten in tiefen Träumen, denn der Toni träumte stets viel und schwer, und seine Mutter behauptete, er brauche bis ins Dorf hinunter, ehe er überhaupt aufwache und aus seinen Träumen käme.

Von der Firmung und von seinem Göten wurde jetzt überhaupt nicht mehr gesprochen. Von Zeit zu Zeit gab ihm die Mutter gehässige Worte, sie dachte ähnlich wie die alte Wirtin und sprach es auch aus: »Bischt du a Bua oder a kleines Gitschele?«

Auch der Lehrer sagte ja manchmal Ähnliches: »Nur einmal, wenn du was tun würdest, daß man sieht, du bist nicht der Duckmäuser, der Kerl, der sich immer fürchtet und für den man sich schämen muß!« Was 111 alles hatte er sich ausgedacht, was er sagen und tun würde! Wenn er hoch oben im Grase lag und nichts um ihn her redete als der Wind, der über das Flockgras fuhr und mit den Bäumen Zwiesprache hielt, dann wurde er in seinen Gedanken zum Helden. Dann wälzte sich alles Schwere von seiner Seele, und er war wie die anderen, nein, leichter, feuriger, mutiger, er war selig in seiner einsamen Ekstase. Sobald er aber daraus erwachte und von seiner Höhe herunterstieg und heimkam, war er der alte blöde Tölpel. Droben sah er wie ein Mann der Beichte ins Gesicht, herunten zitterte er davor. Doch je näher die Firmung rückte, desto mehr trat diese in den Vordergrund, und die Schrecken des Beichttages verblaßten. Er spielte ja auch jeden Tag allen Ernstes »Beichte« auf seiner Höhe, und sobald er nur die Sünden wie am Schnürchen hersagen konnte, wurde ihm leichter. Was konnte ihm denn passieren, wenn er alles so schön herunterleiern konnte? – Ja, wäre nur das eine nicht gewesen, der heimliche Wein, vor diesem Bekenntnis graute ihm. Fast wäre er am Beichttage in die wildeste Angst zurückverfallen, als er in der halbdunklen Kirche vor dem Beichtstuhle stand, dessen altersbraunes Holz einen eigentümlichen Geruch ausströmte.

112 Was würde »der Herr« sagen dazu, ach Gott, was würde er sagen? Und in seiner Herzensangst leierte er schnell und immer schneller sein Sündenregister her und wartete bebend auf die Strafe. Er wartete eine geraume Weile, aber es kam nichts; da räusperte er sich, und es schien, als besänne sich sein geistlicher Hirt jetzt erst auf ihn. Er warf sich ein weißes Tuch über den Kopf, neigte diesen dem Gitter zu, und ehe der Toni sich's versah, war er freigesprochen. Verdutzt stand er nun da, bis ihn einer wegpuffte. Das war die Beichte gewesen? Der Toni konnte es nicht glauben, das war ja gegangen wie ein Wirbelwind! Und nichts, gar nichts hatte der Herr über seine schwere Sünde gesagt! Dankerfüllt kniete der Toni nieder und betete seine Buße, die Farbe kehrte wieder in seine Wangen zurück, es war, als hätte ihm jemand ein großes Geschenk gemacht. Zuletzt kam's ihm sogar vor, als hätte er niemals Furcht vor der Beichte gehabt, niemals oben auf seiner Waldwiese »Probe« abgehalten und in vielen Nächten vor dem Einschlafen gezittert.

Er träumte nun von kühnen Taten, von Jagden auf wilde Tiere, die seine Schafe bedrohten, von Raubvögeln und wüsten Menschen, die die Lene mißhandelten und die er angriff. Er hatte einen alten 113 zerbrochenen Säbel in einer Speicherecke entdeckt und ihn mit ins Paradies hinaufgenommen. Dieser alte Säbel war ihm das Symbol des Mutes und auch das seines künftigen Rufes. Da oben war er der Held, der Kühne, der Helläugige, drunten war er der Gedrückte, Feige, Scheue, Geknechtete. Unter diesem Zwiespalt litt er und wurde immer scheuer. Er ging jetzt sogar der Lene aus dem Weg und blieb stumm und unzugänglich, wenn sie – es geschah jetzt selten – einmal ins Paradies hinaufstieg. Und doch lag er oft sehnsüchtig am Rand der Wiese und spähte hinunter, ob sie nicht komme, und kam sie wirklich, war er mürrisch und verschlossen, daß sie ihn bald betrübt wieder verließ. Auch wenn sie sich auf dem Schulweg trafen, war er nimmer der alte. Sie merkte, er wich ihr aus, und dachte, er sei böse darüber, daß sie ihm den Lehrer zum Paten verschafft, denn sie wußte wohl, er wurde überall mit seinem »Goten« gehänselt, und auch im Hulzenhaus lachte man darüber, daß der Schullehrer den Toni zur Firmung führen sollte.

»Häscht ihm besser den Rudl gelassen,« dachte sich die Lene und machte sich Vorwürfe über ihr Tun.

So kam der Tag der Firmung heran. Ein Tag im Juni mit gewitterschwangeren Wolken über den 114 Türmen der fernen Dolomiten, die heute nicht rötlich erschienen, sondern geisterhaft weiß in einer fahlen und zugleich stechenden Sonne über den Sandreißen und dem struppigen Wald standen. Es hatte ein paar Tage vorher geregnet, und das Eisacktal lag in grauem Dunst. Kloster Säben stieg ebenso geisterhaft über dem Fluß auf wie die Dolomiten hinten über dem Talschluß. Am frühen Morgen war wie ein Weckruf schon ein bedrohliches Grollen in der Tiefe des Villnößtales erwacht, den Donner hatten die Wände weitergegeben, bis er im Dorfe verflatterte. Da nahmen den Donner die Böller auf, die sie hinter dem Dorf abbrannten und die alt und jung zu dem Festtag weckten. Bumbum, bumbum, bumbumbumbumbum, lange Ketten von Böllern ließen sie los, daß das ganze Dorf und die fernen Felsen dröhnten, man wußte nicht, was Hall und Widerhall war. Dann fielen die Glocken ein und schlenkerten und bimmelten, bis das ganze Dorf rebellisch gemacht war, munter und geschäftig wie ein Ameisenhaufen, in den man ein Stück Holz gebohrt hat. Gar viel blieb noch zu tun, bis der Bischof kam, so viele Säumige hatten ihre Kränze, Girlanden und Fahnen noch nicht aufgehängt; jetzt ging's aber an ein Schleppen und Rennen, an ein Nageln 115 und Poltern und Schreien, die Glocken bimmelten dazu, und aus nahen und fernen Orten im Tal antworteten andere Glocken. Die Böller schwiegen jetzt, vom Pfarrhofe wehten endlich die Fahnen und knatterten und krachten, denn ein plötzlicher Windstoß fuhr wie eine Warnung durchs Tal, wiederholte sich und legte sich dann lauernd und ganz still hinter den Hügeln nieder. Die Gassen waren wie ein Hain anzuschauen, so dicht hatte man Baum bei Baum gestellt.

»Alle Federn ham s' 'n Wald ausgerissen,« meinte die alte Wirtin mißbilligend. Sie hatte niemanden zur Firmung zu führen, ihr Haus lag nicht in der Nähe von Pfarrhof und Kirche, so hoffte sie nicht auf viele Gäste und hatte nur in weiten Abständen ein paar Kränze aufgehängt, und die nach vielem Schelten erst, und weil die Kellnerin keine Ruhe gab und aus eigener Tasche »spendierte«, wurden sie mit farbigem Papier umwunden. Tyras lag auf der Schwelle des Hauses und sah ebenso mißmutig aus über das Poltern, Hämmern und Klopfen, das Schreien, Läuten und mit Böllern schießen, wie seine Herrin. Besonders das Schießen mit Böllern konnte er gar nicht leiden; nun, Gott sei Dank, schwieg das ja gerade, und er konnte seinen Mißmut etwas behäbiger weiter pflegen.

116 Die frommen Nonnen, die der Krankenpflege oblagen, führten schon im langen Zuge die Knäblein und Mägdlein des Dorfes an die Ehrenpforte. Diese war weit außerhalb errichtet worden, dort, wo man den Empfang des hohen Gastes geplant, der von einem höher gelegenen Gebirgsdorf über steile Wege und Pfade kommen sollte.

Die Warwe war schon unter der kleinen Schar, zappelnd vor Vergnügen und Ungeduld, hatte ihre blanken Augen überall und strich sich über ihr neues Kleid, das vor Schönheit nach allen Seiten stand, und griff in den Rosenkranz, den sie im krausen Haar liegen hatte. Der Toni war natürlich noch nicht da. Es hatte Tränen zu Hause gegeben, weil er der Mutter schönes Gebetbuch begehrte, das seine war doch zu alt und »wüascht« Doch die Mutter höhnte ihn nur: »Laß dir's decht von dein Goten geben, ich brauch das meinige selber.«

So kam er sich in seinem schwarzen, groben Lodenanzug mit dem Hut, den er in der schlimmen Nacht arg zerbeult, ohne schönes Buch, ohne Nelke und Rosmarin – die Mutter hatte Nelkenstöcke und Rosmarin längst verdorren lassen – ganz gottverlassen vor, noch dazu, weil er ganz allein heruntersteigen mußte. Die 117 Mutter hatte kein Feiertagsgewand, und der Vater war noch lange nicht fertig, als es für den Toni höchste Zeit zum Gehen war. Er stolperte den bekannten Weg so vor sich hin, sobald er aber der Ehrenpforte mitsamt den Klosterfrauen, den weißgekleideten Mädchen, den Schützen und der Musik ansichtig wurde, änderte er seinen Kurs und machte einen Bogen ums Dorf hintenherum zur Kirche hin. Nun war's auch allerhöchste Zeit. Schon krachten die Böller, lauter und heftiger als zuvor, die Glocke tat, als wolle sie aus der Turmluke springen, die Schützen schossen eine Salve um die andere in die Luft, die Musik brach ganz unerwartet mit einem ohrenbetäubenden Tusch los, denn oben am Pfad zeigte sich eine kleine Staubwolke. Das ganze Dorf war plötzlich närrisch geworden. Alles rannte kopflos durcheinander, schrie und tat wie besessen. Vor dem Lärm der Böller und Glocken, des Schießens und der schmetternden Musik entflohen die Vögel oder flatterten verwirrt gegen Häuser, Dächer und Bäume, taumelten über dem Trubel und schossen auf eine Hecke, ein Fenster oder irgendein Versteck zu. Katzen flohen aus den Häusern gegen den Wald, die Hunde heulten, bellten, rissen an ihren Ketten oder verkrochen sich mit eingezogenem Schwanz in die 118 dunkelsten Ecken. Die Haustüren taten sich auf, und alles, was bis jetzt noch zu Hause notwendig gewesen, stürzte nun auch nach der Ehrenpforte. »Sie kemmen! Sie kemmen!«

Alte Weiblein rannten von weither quer über die Wiesen, und da sich ihnen Zäune entgegenstellten, an die sie in ihrem Furor nicht gedacht, führten sie turnerische Kunststücke aus, die jeden, der sie sah, in helles Erstaunen versetzen mußten.

Die ganz kleinen Kinder, die man in den Häusern allein gelassen, weil keiner den feierlichen Augenblick versäumen wollte, schrien Zeter und Mordio in das Rollen der Böller, das Knattern der Schüsse, das Läuten der Glocken und das Schmettern der Musik hinein.

Nun zittern die Fahnen der Vereine schon, sie schwenken sie allmählich so heftig, daß die Ehrenpforte wackelt; der Schützenmarsch mit dem stärksten Blech bricht los: »Da sein sie, da sein sie schon!«

Die Ehrenjungfrauen drängen sich vor, ihre weißen Kleider krachen vor Stärke, die Wangen glühen blaurot in Erregung, und die Haare, in denen die Blütenkränze, Attribute ihrer durch nichts dementierten Jungfrauschaft liegen, starren vor Pomade. Jetzt schweigt der 119 Schützenmarsch, die wildgerollten Fahnen beruhigen sich und schmiegen sich sanft an ihre Stange, ein zärtlicher Chorus, der immer mehr anschwillt, wenn er auch nicht immerdar eines Willens ist, erhebt sich – immer näher kommt die Staubwolke – ist da. Der Chorus schweigt, und bumbum, bumbumbum, bumbumbumbumbumbum krachen die Böller, die Glocke scheint schon heiser zu sein, sie vermag den Lärm nicht zu übertönen: »Er ischt's, er ischt do!«

Wie ein schlichter Reisender kommt er über die Bergpfade herunter, ein müder Wanderer.

Ein kleiner angefetteter Italiener ist es, gelb, mit flackernden Augen in dem Gesicht eines Weltmannes. Nachlässig macht sein Daumen segnende Bewegungen, kaum, daß er die Hände über die Höhe seines Bauches hebt. Fast sieht's nicht aus wie ein Segen, mehr wie: »Es gilt schon! Jaja!«

Die Ehrenjungfrauen, die wie die Tonnen stehen, streift er mit einem flüchtigen Blick, seine flinken Augen verlieren sich unter den knixenden Nönnlein, fahren rastlos über die Menge, erspähen ein paar Frauenköpfe am Wirtshausfenster – Fremde, und sehen gelangweilt gerade aus, die staubige Dorfgasse entlang, an der rechts und links Weinbergmauern 120 aufsteigen. Zwischen diesen weißen Mauern brütet die Sonne, der Sand glüht, und der bleierne Himmel liegt wie ein schwerer Deckel darüber. Ein Augenblick der Ermattung, der Enttäuschung überkommt die Menge. Dieser kleine, bewegliche, gelbe Mann mit den schwarzen stechenden Augen hat sie erschreckt. Er hat nichts von einem deutschen Bischof, wie sie sich ihn denken, nicht die Würde, nicht die Milde, nicht das Alter. Auch hat er verloren bei ihnen, weil er nicht in der Sänfte kommt, die man ihm anbot, weil er nicht auf dem Maultier ritt, das für ihn bereit stand, sondern zu Fuß kommt, ganz schlicht, ohne Aufwand, schwarz. Einen Bischof haben sich die meisten ganz anders vorgestellt, so wie die großen Heiligenfiguren in der Kirche etwa. Dieser aber konnte mit ihnen beim Wein sitzen und ein behaglich spitzbübisches Spielchen machen.

Doch als er nach dem Frühstück im Pfarrhofe wieder erscheint, diesmal unter dem Himmel, der von vier Männern getragen wird, angetan mit dem leuchtend violettroten Gewande des Kirchenfürsten, und mit der Prozession um die höher gelegene Kirche und den Gottesacker zieht, ist er der Fürst, der Herrscher; überwältigt werfen sie sich auf die Knie und flehen um seinen Segen, flehen um einen Strahl des Glanzes, 121 den die goldene Monstranz wirft. Sie sehen kaum ihren eigenen Pfarrer und Seelenhirten, sie sehen kaum die vielen amtierenden anderen Geistlichen, seinen Stab, nicht oder nur als Folie für ihn, für den einen, der unter dem Himmel schreitet und ihnen groß und mächtig scheint, den Kindern wie Gott selber, der vom Himmel kam, um rund um die Kirche zu schreiten und in ihr Gotteshaus einzuziehen, um bei brausendem Orgelklang den heiligen Geist auf sie herabzubeschwören. Sie sehen mit Scheu nach ihm hin, wie er unter dem Himmel förmlich schwebend an ihnen vorüberkommt.

Auch der Toni sah ihn mit großer Scheu an. Dicht bei der Kirchenecke stand er hinter einem Rosenstrauch, der ihn fest am schwarzen Lodengewand gepackt hatte, und wischte sich fortwährend den Schweiß von der Stirne.

Die Schwüle dieses grauen Junimorgens wurde immer schwerer, der Himmel immer bleierner und kam immer näher. Von Zeit zu Zeit schoß ein Sonnenstrahl wie ein Dolchstoß durch das Gewölke, das regungslos und tückisch ruhte. Und der Toni wischte und wischte. Von Zeit zu Zeit sah er sich voller Zagen nach seinem Gott Vater um und kriegte es mit der Angst, 122 daß er ihn etwa noch kurz vor der Firmung sitzen lassen würde, hier, angesichts der Kirche, der vielen großen und kleinen Firmlinge und ihrer Paten, angesichts Gnaden des Herrn Bischofs, der im Begriff war, ihm, auch ihm, dem armseligen Anton Palua von Raschötz, das Sakrament der heiligen Firmung zu erteilen, genau wie dem Sohne des reichen Gutsbesitzers am Fuße des Berges. Nein, sein Gott Vater würde ihn nicht im Stiche lassen, er hatte ja sein Patengeschenk schon, und was für eines! Tonis Herz fing wieder an so heftig zu schlagen, wie es heute morgen geschlagen, als ihn der Herr Lehrer erspäht hatte, wie er um die Versammlung herum, herum um die Triumphpforte, um Musik und Schützen, um die Ehrenjungfrauen, die weißgekleideten Mädchen und die Nonnen herumgeflohen war, aufgescheucht fast wie die Hühner, die sich vor Böller, Salven und Musik nicht auskannten. Er gackerte zwar nicht vor Angst, schrie auch nicht Zeter, aber verscheucht war er wie sie und konnte es auch den Katzen nachfühlen, die in großen Sätzen das Weite suchten, und den Hunden, die heulten, als ob man ihnen auf den Schwanz getreten hätte.

Mit einem Griff hatte ihn der Lehrer gepackt und 123 ins »Schuelhaus« gezogen, wo er ein Zimmer bewohnte. Dort hatte er ihn niedersetzen heißen, hatte ihm einen feinen Kuchen und ein Glas Wein gebracht und dann, der Toni traute seinen Augen nicht, zwei große Bücher, in denen alle seine Blumen, seine Käfer, seine Schmetterlinge und Steine in den schönsten und leuchtendsten Farben zu sehen waren, und nicht die allein, nein, noch viele, viele andere, die er nicht kannte! Er wurde rot vor Freude und war völlig verwirrt, als ihm der Lehrer sagte, die beiden Bücher gehörten ihm, und er könne sie nach Herzenslust beschauen und darin lesen, so oft und so viel er wolle. Dann legte er noch einen feinen Lederbeutel dazu und sagte: »Das, was im Beutel ist, gehört dir natürlich, Antonius Palua, Einsiedelmann. Hätt' ich mehr, wär auch mehr darin, aber ich geb dir's gern, wenn ich auch manches Glas Wein verschmerzen muß.«

Der Toni fand, ritterlich und fein, wie er im Grunde seiner einfältigen Seele war, daß die schönen Bücher schon mehr als zu viel für ihn seien und daß der Herr Lehrer den Beutel lieber selber behalten und so viel Wein trinken solle, als er nur möge. Da lachte der Lehrer und schob ihm kurzerhand den Beutel in die Tasche, – wie oft hatte er seitdem schon darnach 124 gefühlt! – und den Toni zur Türe hinaus und meinte unter schallendem Gelächter, für ihn sei es sowieso besser, nicht so viele Gulden für Wein in der Tasche herumzutragen, sie bekämen zu schnell Flügel!

Er wollte den Toni an der Kirchenecke treffen, denn er hatte noch mit dem Kirchenchor zu tun, stak auch schon in seinem schwarzen Bratenrock und fuhr sich vor Erregung und Ungeduld fortwährend durch seinen rotblonden Haarschopf. Das hatte der Toni noch nie an ihm gesehen, und er starrte den Gottvater so lange an, bis dieser ihn fortdrängte und mit langen Schritten ihm voraus der Kirche zueilte. Langsam folgte der Toni, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, so ganz allein, doch war er selig im Innern. Wenn nur die ganze Sache schon vorbeigewesen wäre und er seinen Schatz hätte nach Hause tragen dürfen!

Zögernd schritt er über den Friedhof, sah den Zug von fern, sah den weißen, goldstrotzenden Himmel über dem Haupt des Bischofs schweben, sah seine blitzenden Augen, das Rot seines Gewandes glühen, sank in die Knie, wie die andern, und drückte sich dann vor der Menge und der Pracht an seinen Rosenstrauch. Keiner kümmerte sich um ihn, keiner sah ihn, alles strömte an ihm vorbei durch die Kirchentüre, hinter dem 125 strahlenden Himmel und dem Klerus drein. Nur ein paar Augen hatten ihn entdeckt, flinke, spöttische Augen. War es möglich, war das die Warwe? Wie schön sie aussah, und wie stolz sie an der Hand der reichen Patin ging, die offenbar auch stolz auf das hübsche Kind war.

Sie hatte Warwe sehr schön gekleidet; ein durchsichtiges, weißes Kleidchen trug sie, ihre bräunliche Haut strahlte vor Gesundheit, und so mancher Städter drehte sich nach dem reizenden Kinde um, das so ganz anders geartet war als die plumpen Dorfkinder in ihren steifen Kleidchen.

Die Warwe zog gleich die Nase hinauf und die Mundwinkel herab, tänzelte an Toni vorbei und kannte ihn nicht, das heißt, sie tat, als kenne sie den linkischen, bäuerischen Burschen nicht, der in seinem groben Anzug wie ein armer Sünder am Rosenstrauch lehnte. Noch eine sah ihn, die Lene. Sie wurde über und über rot, schaute hin und wendete gleich die Augen wieder weg, stolperte, dann lachte sie ihn ein bißchen an und ging vorbei. Der Toni hätte vorstürzen mögen und rufen: »Lene, Lene, halt doch! Laß dir was erzählen! Was ich bekommen hab! Aber du wirst schauen!«

126 Die Lene war doch die erste, der er es sagen mußte, wie würde sie sich freuen!

Doch festgebannt blieb er stehen und kam keinen Schritt weiter. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht, die Schwüle war auf einen kaum mehr erträglichen Grad gestiegen, eine seltsame Stille lastete über dem Tal bis zu den fernsten Höhen, auf der Straße drunten trieb ein Wirbelwind kleine Wolken weißen Staubes auf, die bald wieder in sich zusammensanken. Aus der weitgeöffneten Kirchentüre kam ein Strom kühlerer Luft; doch sobald sich die Kirche gefüllt hatte, lastete dieselbe Schwüle wie draußen in dem hallenartigen Bau. Ein Ermatten kam über die festlich geputzten Menschen, die fortwährend ihre erhitzten Gesichter wischten und sich erschöpft auf die Bänke fallen ließen, bis die heilige Handlung begann. Draußen murrte ein fernes Drohen, ein langandauernder Donner, doch da die Orgel einsetzte, hörten nur die, die unter der Kirchenpforte standen, die warnende, grollende Stimme. Während die Orgel immer mächtiger brauste, erhob sich ganz plötzlich ein Johlen und Pfeifen, das, wie von einem wilden Heer ausgestoßen, näher und näher kam.

Schon klirrten die Fenster, Bäume bogen sich im 127 Sturm, schnellten auf und wurden fast bis zum Boden geschleudert, wanden sich unter der Riesenfaust des Sturmes. Die Menschen, die unter der Tür standen, flohen entsetzt vor den rasenden Blitzen, die ganz unvermittelt auf einmal aus dem bleigrauen Himmel zuckten. Die Kirchentüre schlug krachend zu vor der Gewalt des wild daherjagenden Sturmes. Der dunkle Himmel sank so tief, daß es in der Kirche trotz der vielen Lichter war, als werde ein Gottesdienst mitten in der Nacht abgehalten. Trotz des Orgelspiels hörte man das Gellen des Windes, es pfiff und schrie in den Turmluken, die Fenster schütterten, und ein immerwährendes Tosen brach sich an den Kirchenmauern. Gebete murmelnd, drückte sich das Volk immer näher zusammen und sah voll Furcht zu den immer dunkler werdenden Fenstern auf, vor denen die schwefelgelben und fahlblauen Blitze wie Schlangen herabfuhren oder vor denen plötzlich ein greller Schein wie ein riesenhaftes Nordlicht aufzuckte, um sofort wieder in Dunkel zu erlöschen. Noch fiel kein Tropfen Regen, doch unaufhörlich rüttelte der Donner an den Mauern. Die Menge lag nun auf den Knien, und ein Murmeln des Entsetzens ging durch die Kirche. Wie gefangen, dem Unheil ausgeliefert, kamen sie sich vor, drängten 128 sie sich ratlos zusammen. Ruhig schritt der Bischof durch die Menge, die Worte der heiligen Handlung wiederholend, wie unberührt von dem Toben der Elemente, gefeit durch das heilige Sakrament. Ruhig standen die, bei denen er die Firmung vornahm. War er ein paar Schritte weg, bemächtigte sich der Neugefirmten wie der Paten ein Entsetzen und eine Unruhe, die sie mit den anderen Unruhigen und Fürchtenden vereinigte und die wie eine stets bewegte Welle über der Gemeinde lag, sich ausbreitete, zurückflutete und zuletzt, als der Bischof die Reihen abgeschritten und als letztem dem armseligen Toni in seinem groben Lodenanzug die Firmung erteilt hatte, wie ein Gießbach, der immer mehr anschwillt, durch die Kirche rauschte.

Man achtete nicht mehr des Gottesmannes, keiner dachte mehr an das Sakrament, das er gespendet. Die Verängstigten drängten immer näher zusammen, suchten Schutz beieinander und kamen sich vor wie einem unentrinnbaren Schicksal verfallen. Kinder begannen zu heulen, ja vor Furcht gellend aufzuschreien, alle Beschwichtigungsversuche waren vergebens. Ströme von Regen wurden nun gegen die Fenster und besonders gegen die Türe geschleudert. In kleinen 129 Wellen zuerst drang das Wasser herein, lief in kleinen Bächen, die immer größer wurden, vom Orkan durch die Fenster gepeitscht, an den Wänden herunter.

Immer mehr Wasser drang ein, die vordersten drängten zurück, in der Mitte staute sich die Menge, schrie laut, jammerte und stöhnte. Da begann eine hohe, alte und zittrige Stimme zu beten. Zuerst irrte das wacklige Stimmlein wie verloren über dem gedämpften Tumult, dann rankten sich ein paar Stimmen drum, stützten und führten es, bis es auf einmal über einen Teil herrschte und ihn führte, indem es ihn sanft nach sich zog. Es war, als habe dieses alte Stimmlein eine beschwichtigende Gewalt. Wenn auch noch Blitz um Blitz herniederfuhr, der Regen wie eine Sintflut rauschte, das Dunkel vor dem Kirchenfenster stand und der Sturm wild an die Fenster stieß, schien das Rollen und Grollen des Donners, schienen Hall und Widerhall, die sich die Hand gereicht, schwächer zu werden. Noch glaubte man es nicht, verstört von dem wilden Hexensabbat, der getobt, der ihnen wie ein Weltuntergang gedünkt. Und doch zog der Donner, so heftig er auch noch war, ferner, das Ungestüm des Sturmes ließ nach, wenn sich auch die Bäume unter der Gewalt des Orkanes wanden. Noch strömte das Wasser 130 immerzu wie ein kleiner Bach zur Kirchentüre herein, aber es wurde nicht mehr wie in wütenden Stößen hereingepeitscht, daß es weithin spritzte.

Ein paar beherzte Buben wateten sogar durch das Wasser und versuchten die Pforte zu öffnen. Es gelang ihnen auch, und nun war's, wie wenn der helle Spalt, der durch die Türe fiel, neues Leben, neuen Mut brächte. Angst und Entsetzen begannen leise abzufallen, da drängten sich schon ein paar Erwachsene vor, stemmten sich zwischen die Türflügel und riefen laut zurück: »Es verzieht sich.«

Jetzt drängten alle vor, ein jeder wollte hinaussehen, die Kinder wagten es, trotz des Blitzens, die Köpfe in den rauschenden Regen hinauszustrecken, und zogen sie lachend und schreiend zurück. Ein paar patschten in der Nässe herum, alles redete plötzlich laut und durcheinander, fast fröhlich, und schob sich nach dem Ausgang, nur das alte zittrige Stimmlein betete unbeirrt weiter: es lautete aber nunmehr wie ein Dankgebet. Alle Angst und alle Qual der letzten halben Stunde waren vergessen, nur wenn noch ein greller Blitz herunterfuhr, entstand eine plötzliche Stille, und alles bekreuzigte sich, doch sowie der Donner verrollt war, begann wieder das laute Schwätzen, das durch 131 die Unruhe der Kinder, die hinauswollten, vermehrt wurde. Alles blieb plötzlich wie gebannt stehen, denn mit einem rauschenden Akkord setzte droben die Orgel ein, wie eine Dankhymne klang's von oben. Alle Gesichter hoben sich empor, alle Augen schauten nach dem, der so gewaltig aus der Höhe sprach. Und siehe, es war der Lehrer. Er hatte den Toni mit einem ermunternden Schlag auf die Achsel allein gelassen und ihm gesagt: »So, Toni, jetzt hast du den heiligen Geist, jetzt werde ein Richtiger.« Der Toni hatte diesen Schlag durch und durch gefühlt, wie Feuer war's ihm durch den Körper geschossen, und seine Augen folgten dem blondroten Haarschopf des Lehrers, bis er an der Orgel anlangte und von da aus mit so mächtiger Stimme heruntersprach. Es war dem Toni, als rede er nur zu ihm, als komme von da oben Mut und Kraft und Freudigkeit zu ihm, als sei wirklich der heilige Geist ausgegossen über ihn, auf daß er ein anderer, ein stärkerer und besserer werde. Er fühlte sich sanft in die Höhe gehoben, den rauschenden Klängen entgegen. So schön war das, so herrlich, so wie er's nie gefühlt. Tränen traten in seine Augen, Tränen der Freude an dem neuen Leben, das er in sich erwachen fühlte. Alles fiel in diesem Augenblick von ihm ab, was schwer und 132 dumpf und dunkel war, fast war es wie eine Verzückung, die ihn so hoch trug.

Mitten in diese Verzückung fiel der helle Sonnenschein und verklärte alles, blendete ihn, daß er nichts rings um sich sah und nur den Tönen lauschte. Breit waren nun die Tore geöffnet, draußen lag eine glitzernde Welt, wie neu erschaffen, von dem enteilenden Gewoge des Chaos nur mehr wie mit duftigen Schleiern verhüllt. Lachend drängte alles hinaus, lachend sahen sie in die Sonne, in die Helle, die vorhin mit Zittern und Zagen im Dunkel auf den Knien gelegen. Mit den erlöschenden Klängen der Orgel und den zerflatternden der Glocken verband sich ein Ton, der die Menschen aufhorchen ließ, ein Rauschen, ein Gurgeln – – – »Der Bach, Jessas, der Bach!« schrie einer, schon schrien es mehrere, und alle rannten nun dem Bach zu, der vorher als kleines Wässerlein durch das Dorf lief, in kühnem Sprung über den Hang setzte, sich von da über den Felsen stürzte und im Tal dann emsig und still weiterlief, als sei er nie ein übermütiger und toller Geselle gewesen. Heute aber grollte und drohte er. Ging man gegen den Hang zu, so hörte man ein wildes Donnern und Zischen, und durchs Dorf lief er als grauer, gurgelnder Bach, der sich schon herrisch 133 in die Wiesen hineingedrängt hatte und den die Stege nicht mehr richtig überspannten. Noch lachte man, während man um die Wette auf die Brückchen und Stege Sturm lief, um noch so weit als möglich trocken hinüberzukommen, denn viele wohnten im Oberdorfe und mußten den Bach überschreiten. Ein paar waghalsige Burschen sprangen über das schäumende Wasser, das immer schneller und schneller zu laufen schien. Sie kamen auch glücklich unter Geschrei und Gelächter hinüber, ein paar blieben aber mitten im Wasser stecken, was ein großes Halloh hervorrief. Die Stege schwankten unter der Last der vielen Leute, und Toni, der sich in seiner verzückten Verwirrung noch ein paarmal nach dem Lehrer umgesehen hatte, geriet auf einmal unter die Menge und auf den schwankenden Brettersteg, als er plötzlich ein Krachen hörte; etwas Blaues fiel vor ihm in den hastenden Bach, verschwand, hob die Arme hoch, dann den Kopf, schrie laut und verschwand wieder. »Lene!« rief der Toni, und schon war er im Wasser, immer dem blauen Kleidchen nach, das sich blähte, tanzte, untersank und wieder an die Oberfläche kam. Die Rufe Lenes verstummten, immer weiter trug sie der reißende Bach; wenn sie auftauchte, schien ihr Gesicht weiß und ihre Augen geschlossen.

134 Am Ufer rannten die Dörfler hin und her, unter Zurufen und Ermunterungen für Toni, der dem mit den Wellen kämpfenden Kinde immer näher kam. Von seinem schweren Gewande behindert, machte der Toni verzweifelte Anstrengungen, vorwärts zu kommen und einen Zipfel des blauen Kleides zu erhaschen – – jetzt tat es gut, daß er so oft in dem kleinen Weiher hinter Raschötz geschwommen war – – da! hatte er die Lene? Nein, nun war er eher wieder zurückgekommen, Arme streckten sich ihm entgegen, ihm herauszuhelfen, doch der Toni sah nichts, nur den auf- und niedertauchenden Körper; auch war hier der Bach so breit geworden, daß ihm keiner Hilfe leisten konnte, er sprang denn selber ins Wasser oder reichte ihm eine Stange. Das erste tat keiner, und ans zweite dachte keiner.

So kam der Hang immer näher, der Hang und die Felsen. Immer reißender wurde das Wasser, immer schneller trieb's die beiden Kinder, so schnell, daß die am Ufer Mitlaufenden kaum folgen konnten. Ein Schrei: »Der Hang!«, im rasenden Wirbel schossen sie hinab, dann ging's ein Stückchen eben, dann kam der Felsen. Der Felsen! Ums Heilands willen, sie mußten zerschellen! Doch wie durch ein Wunder trieben sie 135 zusammen weiter bis dicht vor den Felsen, wo es Toni gelang, eine Weide zu fassen, nach Lene zu greifen und sie so lange zu halten, bis man sie ihm aus den Armen nahm. Dann hob auch ihn einer auf und bettete ihn aufs Gras, wo er bewußtlos liegen blieb. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er Lene neben sich liegen, die atmete, die lebte. Über ihn gebeugt stand sein Gottvater und wollte mit ihm reden und fand keine Worte. Toni sah ihn wie verklärt, es war die Fortsetzung seines Traumes von vorhin, er fühlte sich so leicht, gehoben und getragen den Tönen zu, die er immer noch hörte. Er wollte den Kopf heben, doch wie ein jäher Riß ging es durch Stirne und Hals, da blieb er ruhig, nur seine Augen hafteten mit demselben entrückten Ausdruck an denen seines Gottvaters.

»Toni, Einsiedelmann,« sagte der Lehrer leise, »du bist ja ein Held! Hörst mich Toni, ein Held bist du!«

Er sah scheu nach Tonis Kopf, aus einer großen Wunde rann das Blut immerzu. Der Toni aber gab keine Antwort mehr. Ein Ausdruck der Verzückung kam über sein Gesicht, dann ein stiller Frieden. Noch einmal schaute er auf, dann brachen seine Augen, und er lag dort, stolz und wie ein Triumphierender. 136

 


 


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