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Drittes Kapitel.

Nach einer herrlichen Seereise landete Werner Rutland in Swakopmund. Als er über die weit ins Meer hineingebaute Landungsbrücke ging, begegnete er einer kleinen Gesellschaft, bestehend aus einigen deutschen Offizieren und zwei Herren in bürgerlicher Kleidung. Der eine davon stutzte bei Werners Anblick und trat lebhaft auf ihn zu. »Doktor Rutland – wieder in Südwest? Ich denke, Sie sitzen behaglich daheim und kommen nicht wieder.« Werner ergriff lächelnd die Hand, die ihm geboten wurde. Er erkannte in dem Begrüßenden einen deutschen Arzt, Doktor Lambert, den er vor nahezu zwei Jahren, als er sich in Swakopmund einschiffte, kennengelernt hatte.

»Sie sehen, daß ich doch wiedergekommen bin, Herr Doktor.«

»Wollen wieder ein bißchen ins Innere, neue Forschungsreise unternehmen, hm?« fragte Doktor Lambert gemütlich, und sein rundes Gesicht glänzte vor Vergnügen.

»Später vielleicht, Herr Doktor. Erst habe ich Geschäfte hier abzuwickeln. Und dann will ich einen Freund besuchen, der noch weit hinter Windhuk eine Farm besitzt.«

»So, so! Nun, heute reisen Sie doch nicht gleich weiter.«

»Nein, erst morgen früh.«

»Dann darf ich doch heute abend einige Stunden Ihre Gesellschaft genießen – man hört doch gern Neuigkeiten von daheim.«

»Ich stehe mit Vergnügen zur Verfügung.«

Sie verabredeten eine Zusammenkunft. Ehe sie sich trennten, fragte Werner den Arzt: »Sie können mir vielleicht die Adresse eines Agenten angeben, der hier Verkäufe von Grundbesitz vermittelt.«

»Alle Wetter – wollen Sie sich etwa hier ankaufen? Nun – zufällig kann ich Ihnen dienen. Ich habe da in meiner Krankenstation einen armen Schelm liegen, – ehemaliger Offizier, – der vor kurzem seine Farm durch einen hiesigen Agenten verkauft hat. Klaus Folkhard war sehr zufrieden.«

Werner verhielt plötzlich den Schritt und legte erregt seine Hand auf den Arm des Arztes.

»Habe ich recht verstanden – Klaus Folkhard? Er ist hier in Swakopmund?«

»Ah, Sie kennen ihn?«

»Ja – ich kenne ihn – erzählen Sie mir – wie kam er hierher – seit wann ist er hier?«

»Nun – seit etwa drei Wochen. Er hat seine Farm verkauft und wollte sich nach Deutschland einschiffen mit seiner Tochter. Schon in Windhuk fühlte er sich todelend. Kein Wunder bei seinem Zustand. Aber er schleppte sich weiter – er wollte heim – um jeden Preis. Armer Kerl – hier brach er zusammen. Ich fürchte, er sieht die Heimat nicht mehr.«

Werner war zumute, als schnüre ihm eine fürchterliche Angst die Kehle zusammen.

»Was fehlt ihm?« stieß er hervor.

Doktor Lambert beobachtete ein paar Lastträger, an denen er Muskelstudien machte. Werners Aufregung entging ihm. Er zuckte die Achseln. »Folkhard hat vor zwei Jahren einen Schuß in den Rücken erhalten. Dabei hat die Lunge einen Knacks bekommen. Er ist nicht zu retten, – tut mir herzlich leid, der arme Kerl, sorgt sich schrecklich um seine Tochter.«

Werner war leichenblaß geworden und taumelte. Nun wurde der Arzt aufmerksam.

»Was machen Sie denn, Doktor? Kleiner Schwindelanfall, was?«

Werner biß die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. »Wo befindet sich seine Tochter?« stieß er statt einer Antwort hervor.

Doktor Lambert stutzte und sah ihn forschend an.

»Sie ist bei ihm, will sich nicht von ihm trennen. Aber Sie scheinen sehr teilzunehmen an den beiden Menschen?«

»Folkhard ist mein Freund – mein bester Freund. Sagen Sie mir, lieber Herr Doktor – ist keine Hoffnung vorhanden, ihn zu retten?«

Lambert zuckte wieder die Achseln.

»Offen heraus – nein. Die verdammte Kugel hat ihn zugrunde gerichtet.«

»Ja,« sagte Werner schwer, »und die Kugel, die war für mich bestimmt.«

Lambert machte ein betroffenes Gesicht.

»Donnerwetter – da hätte ich lieber den Mund halten sollen. Erzählen Sie doch – wie ging das zu?«

»Nicht jetzt – später einmal. Aber eine Bitte habe ich an Sie – führen Sie mich zu ihm, jetzt gleich. Ich bin ja nur seinetwegen hier. Hätte ich das geahnt! Kein Wort hat er mir geschrieben, daß er leidend ist. Natürlich – er hat mich schonen wollen – es ist ein entsetzlicher Gedanke, daß er statt meiner –«

Er brach erschüttert ab. Doktor Lambert schob seinen Arm unter den Werners. »Kommen Sie – ich war auf dem Wege nach dem Krankenhaus.«

Ein Stöhnen brach sich Bahn über Werners Lippen.

»Und wie lange meinen Sie, kann er noch leben?«

Lambert zuckte die Achseln.

»Stunden – Tage – vielleicht auch noch Wochen im günstigsten Falle.«

»Herrgott – wenn ich zu spät gekommen wäre – wenn ich ihn nicht noch einmal gesehen hätte! Weiß er es, daß es zu Ende mit ihm geht?«

»Er ahnt es. Die Angst um das Schicksal seiner Tochter läßt ihm Tag und Nacht keine Ruhe.«

»Und Sanna? weiß sie, daß der Vater sterben muß?«

»Sie hofft auf seine Genesung und weicht nicht von seiner Seite. Er beherrscht sich heldenhaft, aber seine Augen folgen ihr in stummer Angst. Übrigens, da fällt mir ein, gestern sagte das junge Mädchen zu ihrem Vater: ›Soll ich nicht an Onkel Werner schreiben, daß du hier krank liegst? Er wird uns sonst vergeblich in Deutschland erwarten.‹ Vielleicht sind Sie selbst dieser Onkel Werner?«

Der junge Mann nickte. »Ja. Die Meldung ihrer Ankunft hier hat mich nicht erreicht. Gottlob, sonst wäre ich jetzt nicht hier.«

Er strebte hastig weiter. Nach wenigen Minuten hatten sie das kleine Krankenhaus erreicht. Schnell schritten sie die Treppe zur Veranda empor, wo einige Kranke auf Ruhebetten lagen.

Lambert führte Rutland in sein eigenes kleines Zimmer.

»Warten Sie hier einen Augenblick, ich will Folkhard erst auf Ihr Kommen vorbereiten.«

Werner nickte stumm und lehnte sich an das Fenster. Seine Brust hob sich in schweren Atemzügen, ihm war zumute, als müsse er mit der kranken Lunge des Freundes atmen.

»Um meinetwillen – um meinetwillen,« stöhnte er leise auf.

Wenige Minuten später öffnete Doktor Lambert die Tür, und Werner folgte ihm über den schmalen Flur und betrat einen kleinen schlichten Raum, in dem Klaus Folkhard allein untergebracht worden war. Dieser lag mit fieberisch glänzenden Augen auf dem Bett und sah dem Freunde entgegen. Mit einem schattenhaften Lächeln streckte er ihm die Hände entgegen.

Werner hätte beim Anblick der elenden, abgezehrten Gestalt laut aufschreien mögen. Wie vernichtet brach er in dem Stuhl, der am Bett stand, zusammen, ergriff die ausgestreckten Hände und barg sein Gesicht darinnen. »Klaus – mein Klaus!«

»Mein lieber Werner, du bist hier, freiwillig wiedergekommen?«

»Ja, Klaus, zu dir, ich – ich wollte dich heimholen, eher konnte ich mich nicht freimachen daheim, aber nun – nun bin ich da, gottlob, nun bin ich bei dir!«

Klaus lächelte. Ein mühsamer Atemzug hob seine Brust.

»Ja, gottlob, nun bist du da! Ich freue mich deiner Liebe und Treue.«

Werner wandte sich erschüttert ab, und da traf sein Blick zwei große dunkle Mädchenaugen, die ihn seltsam scheu und doch verklärt anblickten. Er richtete sich empor und trat auf das junge Mädchen zu.

»Sanna, liebe, kleine Sanna!« Er faßte ihre Hände und streichelte sie, wie wenn ein großer Bruder seine kleine Schwester tröstet.

Dunkle Röte flog über das feingeschnittene, kindliche Mädchengesicht, und die scheuen Gazellenaugen blickten unsicher zu ihm auf. Die kleinen Hände zitterten in den seinen, und die schlanke Gestalt, deren Formen verrieten, daß sich das Kind zur Jungfrau zu entwickeln begann, bebte wie in tiefer, seelischer Erregung.

»Nun, sagst du mir kein Wort des Willkommens, kleine Sanna?« fragte er, um Zeit zu finden, sich zu fassen.

Da atmete sie tief auf.

»Ich wußte, daß du kommen würdest, Onkel Werner, ich fühlte es. Du hast es ja versprochen.«

»Ja, sie hat auf dich gewartet, jeden Tag, obwohl wir gar nicht wissen konnten, daß du auf dem Wege zu uns warst,« sagte Folkhard leise, und seine Augen hingen mit sonderbar brennendem Ausdruck an den beiden.

Werner setzte sich wieder zu ihm. »Wie gut, daß wir uns wenigstens hier getroffen haben. Wie leicht hätten wir aneinander vorbeireisen können.«

Folkhard nickte.

»Ja, es ist sehr gut so. Ich war freilich sehr unglücklich, daß ich hier zu einem unfreiwilligen Aufenthalt gezwungen war. Aber nun will ich nicht mehr darüber murren. Wer weiß, wann wir uns sonst erst wiedergesehen hätten.«

Fest preßte er des Freundes Hand, dann sagte er fast heiter, mit einem lächelnden Blick in das Gesicht seiner Tochter:

»Siehst du wohl, Sanna, nun wird es wieder so schön wie vor zwei Jahren.«

Sanna trat neben Werner an das Bett und gab dem Vater von der bereitstehenden gekühlten Limonade zu trinken. »Nun sprichst du aber nicht mehr, Vater, es strengt dich zu sehr an,« bat sie leise.

Er lächelte.

»Ach, verbiete mir doch jetzt das Reden nicht, Kind. Ich muß doch Werner erzählen, was wir für Zukunftspläne haben. Ach, Werner, wie die Heimat lockt und winkt. Ich hielt es nicht mehr aus. Mit vierzigtausend Mark habe ich die Farm losgeschlagen, sie war unter Brüdern fünfzigtausend wert. Aber ich konnte nicht warten, bis mir einer so viel dafür bot. Gelt, man kann sich auch mit dieser Summe in Deutschland ein bescheidenes Heim gründen.«

»Ganz gewiß, mein Klaus, und dann vergiß nicht, dein Freund Werner ist jetzt ein reicher Mann, und mein Haus ist deine und Sannas Heimat. Also Zukunftssorgen gibt es nicht mehr für dich.«

Klaus sah lange in das kühngeschnittene, edle Gesicht des Freundes und überflog dann seine schlanke, sehnige Gestalt, der man Jugend- und Spannkraft ansah.

»Sannas Heimat,« sagte er träumerisch vor sich hin, als hänge er noch an diesem Wort. Seine Augen weiteten sich.

»Du siehst schon aus, als könntest du Schwachen und Schutzlosen ein Hort und ein Halt sein,« fuhr er leise fort, wie in Sinnen verloren. Aber dann streifte sein Blick Sannas Gesicht, und er nahm sich zusammen. »Laß mich nur erst gesund in der Heimat sein, dann, ja dann ist alles gut.«

»Ja, ja, dann ist alles gut,« stimmte Werner hastig zu.

Eine Weile schwiegen sie, jeder seinen Gedanken nachhangend. Dann sagte Klaus Folkhard lächelnd zu seiner Tochter:

»Gehe jetzt ein wenig ins Freie, Sanna, leiste Schwester Agathe ein Weilchen Gesellschaft. Werner ist ja bei mir.«

Sanna zögerte.

Werner las in des Kranken Augen den Wunsch nach einem Alleinsein mit ihm und sagte: »Geh nur, Sanna, ich wache indes über den Vater.«

Sanna sah von einem zum anderen, und dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dieses Lächeln gab dem jungen Gesicht einen Ausdruck hinreißender Lieblichkeit und Schelmerei. Werner blickte sie an, als sähe er sie jetzt zum erstenmal.

»Ach, ihr wollt mich nur fort haben, ich weiß. So habt ihr es damals auch gemacht, wenn ihr etwas Wichtiges bereden wolltet,« sagte Sanna.

Werner zwang sich zu einem Scherz.

»Kinder müssen nicht bei allen Dingen dabei sein,« neckte er.

Sie reckte sich hoch empor.

»O, ich bin so groß wie Vaters Pflegeschwester, und die ist schon dreißig Jahre alt.«

»Du aber bist erst, nun, sechzehn, nicht wahr?«

»In drei Monaten werde ich siebzehn.«

»So so, schon siebzehn, dann freilich, dann bist du beinahe eine junge Dame.«

Er sah sie dabei mit einem prüfenden Blick an. Unter diesem Blick wurde sie rot, und die Augen wandten sich scheu zur Seite. Sanna beugte sich über den Vater.

»Ich gehe aber nur vor dem Hause auf und ab, und wenn du mich brauchst, muß Onkel Werner mich rufen.«

»Ja, Kind, gehe nur unbesorgt.«

Da ging sie langsam aus dem Zimmer.

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sahen die beiden Männer noch eine Weile stumm hinter ihr her. Und dann wandten sie langsam und zögernd einander das Gesicht zu, wie in Angst, sich jetzt ansehen zu müssen.

Und als die beiden Augenpaare stumm in brennender Frage ineinander tauchten, erfaßte Klaus Folkhard Werners Hand mit jähem Griff: »Werner!«

Der atmete gepreßt.

»Klaus!«

»Jetzt laß uns wie Männer miteinander reden, mein Werner. Weißt du, daß ich sterben muß, bald?«

»Klaus!«

Eine furchtbare Qual lag in diesem einen Wort.

»Laß nur, Werner, mag es drum sein. Diese letzten Tage – da lag ich im stummen Hader mit dem Schicksal und mit tödlicher Verzweiflung im Herzen hier, Sannas wegen. Sie ist mein Alles, und ich muß sie allein und schutzlos zurücklassen.«

»Klaus, sie wird nie allein und schutzlos sein, solange ich atme.«

Ein warmes Leuchten flog über Folkhards Gesicht. Seine Hand preßte die Werners.

»Als du vorhin hier über die Schwelle tratest, da kam es wie eine friedvolle Erlösung über mich. Ich wußte nun, Sanna hat einen Freund, einen Schützer gefunden. Aber du bist noch so jung, Werner, und in unserem lieben deutschen Vaterlande muß jedes Verhältnis zwischen einem jungen Mann und einem jungen Mädchen klargestellt sein.«

Werner strich sich über die Stirn.

»Freilich, da hast du recht. Aber das wird sich finden. Mein Leben soll Sanna geweiht sein, das schwöre ich dir in dieser bitterernsten Stunde. Ich bin zu jung, um Sanna jetzt an Kindesstatt annehmen zu können, und sie ist zu jung, als daß ich sie fragen dürfte: ›Willst du mein Weib sein?‹«

Folkhard zuckte plötzlich zusammen, und seine Augen hefteten sich in die des jungen Mannes mit einem rätselhaften Ausdruck.

»Dein Weib? Werner, gibt es keine Frau, die deinem Herzen näher steht für diese Frage?«

Werner schüttelte den Kopf.

»Ich liebte ein Mädchen, eine Jugendgespielin. Sie hat einen anderen genommen. Mich trieb es damals aus der Heimat, nach Südwest. Sie ist sehr glücklich geworden, und ich, ich habe verwunden. Nichts würde mich hindern, Sanna meine Hand zu bieten, als ihre Jugend. Sie kann noch nicht über ihre Zukunft entscheiden.«

Folkhard sank schweratmend zurück.

»Das, ja das würde mir Ruhe und Frieden geben. Sanna dein Weib!«

Werner beugte sich erregt über ihn.

»Möchtest du es, würdest du einwilligen, könnte es dich beglücken?«

»Es wäre Erlösung von aller Pein.«

»Klaus, so verfüge über mich. Aber Sanna, sie ist ein Kind.«

»Sie würde tun, was ich von ihr verlange.«

»Und wenn sich dann ihr Herz später einem anderen zuwendet, wenn sie draußen im Leben einem begegnet, den sie liebt, was dann?«

Folkhard lächelte vor sich hin. Er wußte, in seines Kindes Herzen keimte scheu und verstohlen ein tiefes Gefühl für Werner. Aber er wollte seiner Tochter Geheimnis, das ihr noch selbst unbewußt war, nicht verraten.

»Was dann?« Er seufzte. »Ich weiß es nicht, so weit denke ich nicht.«

Werner sann nach. Plötzlich erheiterte sich seine Miene. »Aber ich weiß es, Klaus, höre mich an. Es war mein voller Ernst, wenn ich dir sagte, mein Leben solle Sanna gehören. Ich habe ihr den Vater geraubt, freilich schuldlos, ich will ihn ihr zu ersetzen suchen. Frage Sanna, ob sie meine Frau werden will. Willigt sie ein, ich glaube, sie tut es in der Einfalt ihres Herzens, so bin ich bereit, mich sofort mit ihr trauen zu lassen, um dir Ruhe und Frieden zu geben. Wir bleiben dann bei dir, bis du uns nicht mehr brauchst. Dann bringe ich Sanna in meine Heimat. In meinem Hause kann sie dann als Herrin unter dem Schutz von meines Onkels Haushälterin, einer Verwandten, leben. Liebe Freunde sollen sich ihrer annehmen und sie in heimischen Kreisen vertraut machen. Wüßte ich sie so geborgen in friedlichen Verhältnissen, unter dem Schutz meines Namens und meiner Freunde, dann würde ich die bereits geplante neue Reise ins Innere dieses Landes unternehmen, um meine Forschungen abzuschließen. Zwei Jahre würden dazu genügen. Kehrte ich aber nach zwei Jahren zurück, dann hätte Sanna Zeit gehabt, sich bewußt zu werden, ob sie mir für das ganze Leben angehören will. Sie könnte Vergleiche ziehen zwischen mir und anderen Männern und könnte entscheiden, ob sie in einer Ehe mit mir das Glück ihres Lebens finden kann. Und ich gebe dir mein Wort, Klaus, will sie sich dann von mir lösen, will sie ihr Glück an der Seite eines anderen suchen, dann will ich ihr beistehen wie ein treuer Bruder, der ich ihr überhaupt so lange sein will, bis ich die Entscheidung in ihre Hände gelegt habe. Was sagst du zu diesem Vorschlage?«

Die Augen des Kranken leuchteten in überirdischem Glanze.

»Führe mich nicht in Versuchung, Werner. Du weißt nicht, wie es mich lockt, dein Opfer anzunehmen. Alles was du sagst, ist so gut, so verständig und wohlerwogen. Meine Sanna wüßte ich wohlgeborgen in deinem Hause. Es wäre zu schön, um wahr sein zu können. Aber ich darf dein Opfer nicht annehmen, vielleicht würdest du es eines Tages bereuen.«

»Nie, niemals! Und ein Opfer ist es sicher nicht, Klaus. Wären alle Opfer so leicht! Ich kenne doch Sanna, ihr reines Herz, ihr weiches Gemüt und ihren klugen, tapferen Sinn. Es wäre ja schön für mich, wollte sie mir ihr junges Leben weihen. Und will sie nicht, so wird es nicht minder schön für mich sein, ihr ein anderes Glück begründen zu helfen, an deiner Statt. Wie gern würde ich ein viel größeres und schwereres Opfer auf mich nehmen. Ich nahm mein Leben aus deiner Hand, du gabst dein eigenes dafür. So laß mich dir mit meinem Leben danken. Nur als Sannas Gatte kann ich ganz für sie eintreten, das ist mir klar geworden. Jedes andere Verhältnis zu ihr könnte man daheim anfeinden oder mit falschen Blicken ansehen. Vertraue mir dein Kind an, Klaus, ich will es dir wie eine Wohltat danken.«

Fest hielten sich die beiden Männer bei den Händen und sahen sich ernst und tief in die Augen. Endlich sagte Folkhard fest und ruhig:

»Ich nehme dein Opfer an, Werner Rutland, meines Kindes wegen.«

Werner atmete tief auf. So leicht, wie er sich den Anschein gab, war ihm dies Anerbieten nicht geworden. Er war sich bewußt, etwas auf sich genommen zu haben, das ihm vielleicht eines Tages schwer zu tragen sein würde. Aber was lag jetzt daran, wie er sich in Zukunft mit einer so seltsamen Ehe abfinden würde. Die Hauptsache war, daß er dem sterbenden Freunde alles zuliebe tat, was in seiner Macht stand. Eine Dankesschuld hatte er abzutragen, und er durfte nicht abwägen, ob es ihm leicht oder schwer fallen würde. Hatte er sich auch vorgenommen, unverheiratet zu bleiben, weil er glaubte, nie wieder ein Weib lieben zu können, wie er Käthe geliebt hatte, dieser Fall schloß alle Bedenken aus. Nur an Sanna und den Freund wollte er denken, nicht an sich.

Fest und entschlossen hob er das Haupt.

»Willst du jetzt gleich mit Sanna sprechen, Klaus? Ich glaube, sie erfährt es am besten von dir.«

Klaus nickte.

»Ja, rufe sie mir, ich will ihr alles sagen, auch die Wahrheit über meinen Zustand. Und nicht wahr, Werner, bald soll es dann geschehen, wer weiß, meine Stunden sind gezählt.«

»Es soll geschehen, so schnell es möglich ist. Ich lasse dich mit Sanna allein, du wirst die rechten Worte finden. Drüben bei Doktor Lambert warte ich dann auf deinen Ruf.«

Sie reichten sich noch einmal fest die Hände und sahen sich tief in die Augen. Dann ging Werner schnell hinaus.

Sanna ging draußen mit der Pflegeschwester auf und ab. Als Werner heraustrat, flog sie auf ihn zu. Er sah auf ihre flinken kleinen Füße, die unter dem Saum des weißen Leinenkleides zum Vorschein kamen. Ein eigenartiges, beklemmendes Gefühl legte sich auf seine Brust, als käme sein Schicksal auf ihn zugelaufen.

»Darf ich nun wieder mit hinein zu euch?« fragte Sanna hastig, und sah ihn scheu und zaghaft an.

Er blickte nieder auf die kindliche Gestalt. Das schwere lockige Haar war in zwei dicke Flechten gebändigt und fiel über die Schultern und die zarte Büste herab. Um die weiße Stirn und die rosigen Ohren ringelten sich widerspenstige, kastanienbraune Locken. Ihre schlanken, schöngeformten Hände, die leicht gebräunt waren und noch nie Handschuhe getragen hatten, streiften unruhig und hastig an den Flechten auf und nieder, und ihre dunklen Augen, in denen goldene Lichter wie gefangene Sonnenstrahlen schimmerten, sahen halb scheu, halb zutraulich zu ihm auf. Er mußte in diesem Augenblick daran denken, daß Sanna in einigen Jahren ein sehr schönes junges Weib sein würde. Seit er sie nicht gesehen, war sie größer geworden, und ihre Züge hatten ein wenig die kindliche Rundung verloren. Wie würde sie ihm in abermals zwei Jahren entgegentreten? Ihr Gesicht hatte schon jetzt einen eigenen, fremdartigen Reiz, und wenn sie lächelte, strahlte es einen hinreißenden Zauber aus.

Werner strich ihr sinnend das Haar aus der Stirn, ein weicher Ausdruck lag in seinen Augen.

»Sollst zum Vater kommen, kleine Sanna!«

Sie faßte seine Hand.

»Und du, Onkel Werner?«

»Ich möchte Doktor Lambert einen Besuch abstatten und ihn fragen, wo ich ein Obdach finde.«

Sie blickte zu Boden, und ihr Gesicht wurde blaß und ernst.

»Und du willst Doktor Lambert wohl fragen, ob Vater bald wieder gesund wird?«

»Auch das, Sanna.«

Da legte sie die Hände fest verschränkt aufs Herz.

»Vater ist viel kränker, als du glaubst, er weiß es nur nicht,« sagte sie in gebrochenem Tone.

Er legte wie schützend den Arm um sie.

»Wie kommst du darauf, Kind?«

Sie stieß einen zitternden Seufzer aus.

»Ich fühle es – schon lange, lange. Wenn wir nur erst nach Deutschland reisen könnten – hier wird er nie ganz gesund. Die Sehnsucht nach der Heimat zehrt an ihm.«

»Und du, Sanna, – gehst du gern mit nach Deutschland?«

Sie nickte.

»Ich sehne mich dorthin – wie der Vater. Es ist ja die Heimat meiner Eltern, und die deine. Alle guten Menschen kommen von dort, auch Schwester Agathe und Doktor Lambert. Es sind wohl nur gute Menschen dort?«

Er lächelte.

»Alle sind wohl nicht gut, Kind.«

»Aber doch nicht so böse, wie die scheußlichen Wilden, die dich töten wollten und dann meinen lieben, armen Vater verwundet haben.« Sie schauerte zusammen und schob mit geschlossenen Augen wie abwehrend die Hände von sich.

Er führte sie ins Haus.

»Nicht daran denken, Sanna! Wir gehen nun bald fort nach Deutschland.«

Sie blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

»Du gehst mit uns, nicht wahr?«

»Ja, ich führe dich in meine Heimat, in ein liebes, altes Haus mit einem großen, schönen Garten.«

Sie warf plötzlich die Zöpfe zurück und preßte die Hände an die Schläfen.

»In dein Haus – in deine Heimat – da dürfen wir bleiben?«

»Ja, Sanna – immerdar!«

Sie sah ihn an, dunkle Röte wich jäher Blässe. Ein zitternder Atemzug kam aus ihrer Brust, und dann lief sie plötzlich davon, ohne noch ein Wort zu sagen.

Werner sah ihr nach. Welch ein seltsames Gebaren! Und welch ein sonderbarer Ausdruck hatte in den Gazellenaugen gelegen! So ein heißes Freuen, ein unterdrückter Jubel. Und zuvor der tiefe Schmerz um den Vater. Wahrlich, eine reiche Empfindungsfähigkeit lag in dieser Kinderseele. Aber – war sie denn wirklich noch ein Kind? Daheim die jungen Mädchen hatten in ihrem Alter schon allerlei kleine Liebeleien und Herzensabenteuer; sie hatte sich in der Weltabgeschiedenheit ihren kindlichen Sinn bewahrt. Wie würde sie des Vaters Mitteilung aufnehmen? Nachdenklich suchte er Doktor Lambert auf, der ihm schon voll Neugier entgegenkam. – –

Sanna war neben dem Bett des Vaters in die Knie gestürzt. »Vater, lieber Vater – er geht mit uns nach Deutschland, Onkel Werner! In seinem Hause sollen wir wohnen, immerdar bei ihm bleiben!« stieß sie atemlos vor Glückseligkeit hervor.

Er streichelte ihr Haar und sah forschend in ihr glühendes Gesicht. »Freust du dich so sehr darauf?«

Sie nickte mit strahlenden Augen. »Sehr – ach so sehr. Du dich doch auch, Vater, nicht wahr? Wir haben ihn doch so lieb. Ach, wird das eine herrliche Reise werden. Wenn du nur erst gesund wärest – wenigstens so weit, daß wir reisen können.«

Er zog sie ganz nahe an sich heran. »Und wenn ich nie mehr gesund würde, mein Herzkind – wenn ich hier bleiben müßte – würdest du mit Werner Rutland allein gehen wollen?«

Sie fuhr erschrocken auf.

»Vater – lieber Vater – so darfst du nicht zu mir sprechen! Ich werde dich doch nicht allein lassen – nie!«

Noch näher zog er sie an sich.

»Ich muß so zu dir sprechen, mein Liebling. Sieh, – der Arzt hat mir gesagt – auf meinen dringenden Wunsch – daß ich es gar nicht wagen darf, nach Deutschland zurückzukehren – nie. Aber Werner will dich mit sich nehmen.«

Ein hilflos banger Ausdruck, ein dämmerndes Entsetzen lag in ihren Augen.

»Ohne dich doch nicht, mein geliebter Vater, doch nicht ohne dich?«

»Doch Kind – ohne mich. Höre mich an, Liebling – und sei mein tapferes, starkes Kind, hörst du? Sieh, ich bin so müde vom Leben – so müde – ich möchte schlafen. Meine kranke Brust tut mir so weh. Gelt, du würdest es mir gönnen, daß ich Ruhe fände, daß die Schmerzen aufhörten?«

Sanna wurde leichenblaß, und ihre Augen sahen ihn bang und erschrocken an.

»Vater – mein lieber, lieber Vater, so sehr leidest du?«

Und dann warf sie sich plötzlich über ihn und umklammerte ihn mit beiden Händen.

»Vater – das tust du mir nicht an – laß mich nicht allein!« rief sie in höchster Seelennot.

Er streichelte ihr Köpfchen.

»Mein armes, liebes Kind – es tut weh – ich weiß es. Man möchte sein Liebstes mit tausend Armen halten. So ging es mir mit deiner Mutter. Ich hatte sie so lieb – und siehst du – sie hält mich noch über das Grab hinaus. Laß mich neben ihr ruhen – da liegen wir friedlich und träumen dann von der Heimat – wo unser Kind sein wird. Herzkind, ich könnte meine Augen so friedlich schließen, wenn du tapfer sein wolltest. Werner will dich mit in die Heimat nehmen – du sollst in seinem Hause leben – natürlich erst, wenn ich nicht mehr am Leben bin. Und damit er dich so recht treu und gut schützen und hüten kann, sollst du seine Frau werden.«

Sanna fuhr empor und starrte ihn verwirrt an.

»Seine Frau – ich?«

»Ja, ja, – erschrick nicht darüber. Sieh, in Deutschland gibt es andere Gesetze und Rechte als hier. Da wohnen so viel Menschen zusammen, und wenn zwei immer beieinander bleiben wollen, ein Mann und eine Frau, so müssen sie vor dem Gesetz ein Ehepaar werden. Dann darf sie niemand trennen. Begreifst du das?«

Sie nickte stumm, aber die hilflose Unruhe wich nicht von ihren Zügen.

»Nun, Kind, könntest du dich entschließen, Werners Frau zu werden? Es wäre mir ein so inniger Trost. Ganz leicht würde mir das Sterben, wüßte ich dich in Werners treuer Hut!«

Zitternd lag Sanna am Herzen des Vaters. Sie faßte es nicht, was man von ihr forderte, was auf sie einstürmte. Es ging auch alles unter in dieser Stunde vor dem furchtbaren Gedanken, daß sie den geliebten Vater verlieren sollte. Und sie wußte, sie würde ihn verlieren, heimlich war ja schon zuweilen die Angst an sie herangekrochen, aber sie hatte sie entsetzt von sich gewiesen. Und nun wußte sie es – der Vater war todkrank, und sie würde ihn verlieren! Tapfer sollte sie sein, ihm den Frieden gönnen. Wie schwer das war, wie furchtbar schwer! Und was sollte sie noch? Werner Rutlands Frau werden, seine Frau? Wie seltsam das war, wie sie das berührte. Es war gar nicht, als gelte das ihr, sondern einer anderen, einer Fremden. Sie konnte sich da nicht hineindenken. Es erschien ihr auch gar nicht von großer Wichtigkeit. Daß sie den Vater hergeben sollte, erfüllte sie so ganz mit Trauer und Schmerz, daß alles andere klein und nichtig dagegen erschien.

»Nun, Sanna – wirst du mein tapferes, starkes Kind sein – wirst du mir Ruhe und Frieden geben und Werner Rutlands Frau werden?« fragte Folkhard nach einer Weile, ohne sie aus seinen Armen zu lassen.

Noch eine kurze Zeit lag sie still und reglos, wie eine Tote, an seinem Herzen. Dann richtete sie sich auf und küßte ihn.

»Mein lieber, lieber Vater!« Aber da ward er wieder von seiner qualvollen Atemnot befallen, und seine Augen hingen in verzehrender Angst an ihr.

Sie raffte sich auf und nahm allen Mut zusammen. Liebevoll stützte sie ihn und streichelte ihm das ergraute Haar aus der von Angstschweiß bedeckten Stirn.

»Ich will alles tun, was dir Ruhe und Frieden gibt, mein teurer, lieber Vater, auch stark und mutig will ich sein,« sagte sie leise, mit blassen Lippen. Er sah zu ihr auf, die furchtbare Qual in seinen Augen erlosch. Er sank ermattet zurück und faßte ihre Hände.

* * *

Dann kamen Tage, die wie ein dumpfer Traum an Sanna vorübergingen. Sie kam gar nicht recht zum Bewußtsein dessen, was mit ihr geschah.

Was Werner Rutland zu ihr und dem Vater sagte, als man ihn rief, war ihr kaum haften geblieben. Nur eine Empfindung hatte sie in dieser Zeit: dem Vater jeden Wunsch zu erfüllen, solange er noch am Leben war.

Als sie dann nach Tagen traumhafter Unruhe am Krankenbett des Vaters von einem deutschen Priester mit Werner Rutland vermählt wurde, da kam ihr nur flüchtig der Gedanke, daß damit ihr Leben in andere Bahnen gelenkt wurde. Was eine Ehe war, welche Rechte und Pflichten sie mit dieser Verbindung auf sich nahm, das faßte ihr kindlicher Sinn nicht. Auch in dieser Trauung sah sie nur eine Handlung, die dem sterbenden Vater Ruhe und Frieden brachte und ihm glückliche Stunden bereitete.

Doktor Lambert und der Agent, der Folkhards Farm verkauft hatte, waren die Trauzeugen. Außer ihnen war nur noch Schwester Agathe bei der heiligen Handlung zugegen. Alle waren tief ergriffen beim Anblick der kindlichen Braut und des todkranken Vaters. Der dicke, gutmütige Doktor Lambert stöhnte vor Rührung, als ob es ihm selbst ans Leben ginge, und Schwester Agathe blickte mit ihren stillen, ernsten Augen, in denen ein Schicksal lag, mitleidig in Sannas hilfloses, banges Gesicht.

Als auch nach der Trauung Sanna ›Onkel Werner‹ zu ihrem Gatten sagte, flog ein Lächeln über all die ernsten Mienen. Werner legte liebevoll schützend den Arm um seine junge Frau und sagte lächelnd:

»Jetzt mußt du den ›Onkel‹ streichen, Sanna, jetzt bin ich nur noch dein Werner.«

Da flog eine jähe Röte über ihr blasses Gesicht, und sie trat schnell von ihm fort an das Bett des Vaters. –

Noch sieben Tage vergingen, ehe Klaus Folkhard ausgelitten hatte. Während dieser Zeit wich das junge Ehepaar kaum noch von dem Bett des Kranken. In der Dämmerung des siebenten Tages entschlief Klaus still und friedlich, die Hände des jungen Paares in den seinen haltend. Sein letzter Blick war ein heißer Segenswunsch für die beiden Menschen.

Sanna hatte das Ende kommen sehen. Man hatte ihr nichts mehr verheimlicht. Tapfer hielt sie sich aufrecht, bis sein brechendes Auge von Werner geschlossen worden war. Dann brach sie ohne einen Laut bewußtlos zusammen, als sei nun mit einem Male alle Kraft von ihr gewichen.

Tagelang lag sie in dumpfer Gleichgültigkeit, von Schwester Agathe liebreich gepflegt. Währenddessen ließ Werner Rutland die Leiche seines Freundes nach dessen Farm zurückschaffen. Wie es der Tote gewünscht hatte, so wurde er neben seiner Gattin bestattet, unweit der Stelle, wo ihn das tödliche Blei damals getroffen hatte. Werner hatte ihm das Geleit gegeben, und als er wieder nach Swakopmund zurückkehrte, brachte er Sanna ein Sträußchen Blumen mit von der Eltern Gräber, die der neue Farmer pflegen und immer mit frischen Blumen schmücken wollte.

Sanna hatte sich inzwischen erholt, und Werner belegte Plätze auf einem Dampfer, der zwei Tage später abging. Es traf sich gut, daß Schwester Agathe zu gleicher Zeit einen längeren Urlaub in die Heimat antrat. Sie wollte ihre verheiratete Schwester in Berlin besuchen. Auf Werners Bitte schloß sie sich ihnen an. Sie konnte es dem jungen Paare, dessen Erleben sie ja kannte, sehr gut nachfühlen, daß ihnen an ihrer Gesellschaft viel gelegen war, denn ein Alleinsein mußte ihnen peinlich sein in der seltsamen, ungewohnten Lage. Mit feinem Takt nahm sich die Schwester der jungen Frau auf der Reise an.

Natürlich erregten diese drei Menschen bei allen Mitfahrenden brennende Neugier. Die kindliche junge Frau mit den schwarzen Kleidern und dem traurigen, blassen Gesicht, der sie mit großer Zartheit und Sorgfalt behandelnde Gatte mit den kühnen, ernsten Zügen – dazu Schwester Agathe in ihrer stillen Freundlichkeit – man zerbrach sich allseitig den Kopf über ihre Zusammengehörigkeit.

Der Kapitän wurde um Auskunft bestürmt, er konnte jedoch nicht viel berichten.

Auf einer so langen Seereise, wo man wochenlang auf die Gesellschaft seiner Mitreisenden angewiesen ist, hat man viel Zeit, sich mit denselben zu befassen. Mit warmer Teilnahme von einer Seite, mit lästiger Neugier von der anderen, betrachtete die Schiffsgesellschaft die junge Frau, wenn sie mit großen, traurigen Augen auf das Meer hinausstarrte. Erst hielt man sie für krank, weil die Schwester in ihrer Begleitung war. Dann aber hatte eine der Damen von der Aufwärterin erfahren, daß sie um den kürzlich verstorbenen Vater traure, den die Schwester bis zum Tode gepflegt hatte. Ein wenig wußte man nun Bescheid, und das Kreuzfeuer neugieriger Blicke ließ nach. Sanna und Werner lebten so zurückgezogen, wie es möglich war.

Am liebsten saß die junge Frau in einem bequemen Sessel auf Deck und blickte träumerisch über das Meer. Es war während der ganzen Fahrt günstiges Wetter und ruhige See. Legte das Schiff in einem Hafen an, dann versuchte Werner, Sanna zu bewegen, mit ihm einen Ausflug an das Land zu machen. Er wollte sie zerstreuen und ablenken. Aber sie bat ihn, davon abzustehen. Ihre Scheu vor den Menschen, vor dem unruhigen Hasten und Treiben war zu groß. So mußte er sich begnügen, sie in Ruhe zu lassen.

Er versorgte sie mit Büchern und Näschereien, brachte ihr Blumen und Früchte, legte ihr sorglich warme Hüllen um, wenn es kühl wurde, und las ihr zuweilen vor. Im Verein mit Schwester Agathe suchte er sie immer wieder von neuem in eine Unterhaltung zu verstricken, um sie von ihren traurigen Gedanken abzulenken.

Sanna lächelte ihm scheu und dankbar zu, wenn er sich so treu um sie mühte, und faßte seine Hände.

»Du bist so gut, Werner, so sehr gut, ich bin dir so dankbar!« sagte sie oft.

Dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Brauchst mir nicht zu danken, Sanna, es macht mir Freude, dir etwas zuliebe zu tun,« entgegnete er ihr eines Tages.

Da wurde sie glühendrot und sah von ihm fort in die sinkende Sonne. Werner befand sich in einem seltsamen Zustande. Auch ihm waren die letzten Wochen wie etwas Unwirkliches vergangen. So lange Klaus noch lebte, nahm dieser all seine Zeit und seine Gedanken in Anspruch. Seit er sich aber nun mit Sanna auf dem Dampfer befand und er sich um sie mühte und sorgte, übte das sonderbare Verhältnis eine eigentümliche Wirkung auf ihn aus. Sie erschien ihm in diesen letzten Wochen so viel älter und gereifter geworden zu sein. Mit einem Male sah er nicht mehr das Kind in ihr. Vielleicht trugen die langen, schwarzen Kleider dazu bei.

Zuweilen ertappte er sich dabei, daß er in ihren Zügen forschte, wie sie wohl über die Verbindung mit ihm dachte. War sie sich bewußt, welche Gemeinschaft jetzt zwischen ihnen bestand? Hatte sie wohl eine Ahnung, wenn auch nur eine unklare, welche Rechte und Pflichten sie übernommen hatte in kindlicher Unschuld – nur um den Vater zu beruhigen.

Es reizte ihn doch zuweilen, einen Blick in ihre Seele zu tun, und er beschäftigte sich innerlich viel mehr mit ihr, als er es vor kurzem noch für möglich gehalten hatte.

Wenn er ihr gegenüber saß und sie betrachtete, dann malte er sich aus, wie sie sich wohl in zwei Jahren entwickelt haben möchte. In ihrem Alter konnte ein Jahr Wunderdinge verrichten. Wie würde sie sich dann zu ihm stellen, wenn er von seiner Reise zurückkehrte, wenn er sie fragte: »Willst du bei mir bleiben, oder soll ich dir deine Freiheit wiedergeben?« Ein wenig unruhig wurde ihm doch zu Sinne. Er, der Wissende, stand ihrer Unwissenheit gegenüber, und das Wissen nahm ihm die Unbefangenheit.

Diese Unruhe steigerte sich, als er merkte, daß Sanna ihm gegenüber immer befangener wurde. In ihren Augen lag ein fragender, banger Ausdruck, der ihm verriet, daß auch ihre Seele in einen Zwiespalt geriet, daß sie sich allerlei Gedanken machte.

Eines Tages stand Sanna an der Reling und blickte, den Kopf in die Hand gestützt, über Bord. Schwester Agathe war leicht seekrank geworden und lag in ihrer Kabine. Werner trat zu Sanna. Sie waren allein, kein Mensch in ihrer Nähe.

Wie er so von der Seite in ihr süßes, trauriges Gesicht blickte, überkam ihn stärker als sonst der Wunsch, ihr etwas zuliebe zu tun, ihr zu zeigen, wie teuer sie ihm war als ein liebes Vermächtnis.

»Ist das nicht schön, Sanna?« fragte er, auf die leicht bewegte See deutend.

Sie nickte, ohne sich umzusehen.

»Wunderschön – man möchte den Blick gar nicht abwenden.«

»Aber mich könntest du doch einmal ansehen,« bat er weich.

Da sah er, wie ihr das Blut in das Gesicht schoß, und wie ein unruhiger Ausdruck auf ihren Zügen erschien.

Sie wandte das Gesicht nicht zu ihm.

Da legte er plötzlich seinen Arm fest um ihre schlanke Gestalt.

»Sanna!«

Sie zuckte zusammen in jähem Schreck und trat, sich losreißend, schnell von ihm fort. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den er nie wieder vergessen konnte, und der ihm verriet, daß sie sich des sonderbaren Verhältnisses zwischen ihnen bewußt geworden war. Ein inniges Mitleid nahm ihn gefangen, er schämte sich, mit seinem unruhigen Forschen dem Geheimnis ihrer erwachenden Seele nachzuspüren, und zugleich kam eine Angst über ihn, ihr Vertrauen zu verlieren. Die eigene Ruhe und Unbefangenheit hatte er verloren – er wollte nicht auch die ihre erschüttern durch voreiliges Forschen.

Um jeden Preis mußte er den beunruhigenden Eindruck zu verwischen suchen und sich harmlos stellen, damit sie ihre Unbefangenheit wiederfand. Das konnte nur dadurch geschehen, daß er jetzt zwischen ihnen ein geschwisterliches Verhältnis betonte.

Ohne ihr zu folgen, blickte er scheinbar unbefangen auf die See hinaus.

»Willst du nicht mehr hierbleiben, kleine Sanna? Ist es dir zu kühl, soll ich dir ein Tuch holen?«

Das Herz klopfte ihm, als er merkte, daß sie zögernd wieder näher kam. Sie schien sich ihres Schrecks zu schämen. Er wandte ihr nun sein Gesicht zu.

»O – am Ende habe ich dich erschreckt, als ich so schnell zu dir trat?«

Sie nickte, ohne ihn anzusehen.

Er legte seine Hand auf ihren Arm.

»Aber, kleine Sanna, vor deinem alten Onkel Werner brauchst du doch nicht zu erschrecken. Gelt, wir zwei wissen doch, wie wir zueinander stehen. Und nicht wahr, du hast mir dein Vertrauen nicht entzogen, wenn du mich auch nicht mehr ›Onkel‹ nennen darfst. Im Grunde ist es doch dasselbe. Ich habe dich so herzlich lieb, wie es dein lieber Vater getan hat. Vergiß nie, daß ich alles daransetzen will, dich so recht froh und zufrieden zu machen, dir alles Quälende und Störende fernzuhalten. Denke doch immer daran, was dein Vater wohl fühlen würde, sähe er dich so traurig und gedrückt. Und tu es auch mir zuliebe. Muß ich mir nicht sagen, ich erfülle mein Versprechen schlecht, dich vor allem Leid zu schützen, wenn du gar nicht wieder froh werden willst. Ich traure doch auch ehrlich und tief um den Vater. Sein Tod lastet auf mir schwer genug, starb er doch um mich. Ich finde nun gar keine Ruhe, solange du nicht wieder die alte bist, wie damals auf der Farm, als der Vater sich noch besser fühlte. Sei wieder mein liebes, kleines Schwesterchen, wir tragen unsere Trauer zusammen und helfen einander – ja? Gib mir die Hand darauf!«

Sie war immer näher gekommen und legte nun mit einem tiefen Atemzuge ihre Hand in die seine. Ein befreites Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sei ihr eine unbestimmte Sorge abgenommen worden.

Er hielt ihre Hand fest und nickte ihr zu.

»Nicht wahr, du vertraust mir, kleine Sanna, als ob ich dein Vater selbst wäre?«

»Du bist gut, habe nur ein wenig Geduld mit mir. Alles ist mir so neu und fremd,« sagte sie leise.

»Aber ich bin dir doch der alte geblieben, Sanna!«

Sie strich sich das Haar aus der Stirn und sah ihn an in prüfender Scheu. Aber da er ihren Blick heiter und unbefangen erwiderte, lächelte sie und sagte: »Manchmal bist du es, und manchmal ist mir, als wäre etwas Neues an dir.«

»Das macht die neue Umgebung, Kind, daran wirst du dich gewöhnen.«

»Meinst du?«

»Ganz sicher. Sei nur nicht ängstlich. Immer tapfer und unverzagt. Und vergiß nie, daß ich dein Schutz und Hort bin. Folgst du mir gern in meine Heimat?«

»Ja, sehr gern. Freilich, wäre Vater noch bei uns, dann ginge ich noch viel lieber mit dir.«

»Er ist bei uns, Sanna, wir tragen ihn im Herzen mit uns, und so kommt er doch noch in die alte Heimat zurück.«

Sie schob nun ganz zutraulich ihre Hand in seinen Arm, und ihre Augen leuchteten.

»Das war ein gutes Wort, daran will ich immer denken.«

Er erzählte ihr nun von zu Hause, von seinen Freunden und von Tante Phine.

»Weißt du, Sanna, mit Tante Phine mußt du ein bißchen Nachsicht haben, mußt ihre Eigenheiten mit in den Kauf nehmen. Sie hat seit langen Jahren als Hausfrau geschaltet und hat sich das Regieren angewöhnt. Mußt sie nicht sehr ernst nehmen. Tue, als ob du ihre Meinungen gelten ließest. Sobald du sie nur mit der nötigen Achtung behandelst, wird sie es dir an aller Behaglichkeit und Pflege nicht fehlen lassen. Du bist natürlich die Herrin in meinem Hause, aber Tante Phine muß sich erst langsam an den Gedanken gewöhnen, daß sie nicht mehr die Erste im Hause ist. Nimm sie ein wenig humoristisch, wie ich es tue, dann ist sie unschädlich. Und ich muß doch die Beruhigung mit mir nehmen, daß ihr beide in Frieden lebt, wenn ich wieder abreise.«

Sie sah betroffen auf.

»Wenn du wieder abreisest? Du willst wieder fort, schon bald?« fragte sie hastig.

»Ja, Kind, sobald ich dich gut untergebracht habe und im Schutze meines Hauses und meiner Freunde weiß,« antwortete er, sie scharf beobachtend.

Die Farbe kam und ging schnell in ihrem Gesicht. Er kannte schon dieses Zeichen innerer Erregung ganz genau an ihr. Es schien ihm, als atme sie erleichtert auf.

»Wirst du lange fortbleiben?«

»Zwei Jahre.«

Nun kam wieder ein Schatten auf ihre beweglichen Züge.

»So lange!«

»Möchtest du, daß ich lieber bei dir bleibe?« fragte er gespannt.

Sie schüttelte den Kopf.

»Du sollst dich durch mich nicht in deinen Plänen stören lassen, ich weiß, du willst noch neue Erforschungen unternehmen, nicht wahr?«

»Ja, so ist es. Aber, wenn ich bei dir bleiben soll –«

»Nein, nein,« entgegnete sie schnell, »ich habe nur ein wenig Angst vor den vielen fremden Menschen, vor Tante Phine zuerst.«

Er lachte.

»Du sollst dich vor nichts und vor niemand fürchten, Sanna. Auch wenn ich fort bin, werde ich meine Hand schützend über dich halten. Und Angst vor Tante Phine – ach, die laß nur gar nicht erst aufkommen. Du bist die Herrin, und was du willst, soll geschehen. Nur zu deiner Pflege und deinem Behagen soll sie vorläufig den Haushalt noch führen, bis du das selbst tun kannst. An Zerstreuungen und Vergnügen soll es dir auch nicht fehlen. Theater und Konzerte kannst du unter Tante Phines Schutz besuchen, oder vielleicht schließest du dich lieber Käthe Verhagen an. Sie wird dir gut gefallen und eine angenehmere Gesellschafterin sein als Tante Phine. Und in unserem schönen, großen Garten wird es dir gefallen. Da kannst du dich austummeln, und wirst das freie Umherstreifen auf der Farm nicht zu sehr entbehren. Überhaupt, alles soll geschehen, was dir das Leben lieb und angenehm machen kann. Und du wirst mir fleißig schreiben, ja?«

Ihre Augen blitzten lebhaft.

»Ja, o ja, ich schreibe dir gern, und du, wirst du mir immer antworten, werde ich immer wissen, wo du bist?«

»Das sollst du gewiß, ich gebe dir immer Nachricht.«

Dieser Gedanke schien ihr Freude zu machen, sie sah froher und angeregter aus, als die ganze Zeit.

Jedenfalls hatte Werners besonnenes Verhalten den gewünschten Erfolg. Sanna wurde wieder zutraulicher und unbefangener im Verkehr mit ihm. Sie lebte sichtlich auf und wandte ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit zu.

Von diesem Tage an schloß sie sich auch nicht mehr so ängstlich gegen ihre Mitreisenden ab. Das Leben und Treiben auf dem Dampfer fing an, einen gewissen Zauber auf sie auszuüben. Werner und Schwester Agathe halfen ihr treulich bei diesem ersten, gleichsam tastenden Schritt in das neue Leben.

Werner freute sich herzlich, daß sie aus ihrer stummen Teilnahmslosigkeit erwachte. Sie nahmen nun auch an den gemeinsamen Mahlzeiten teil, während sie bisher allein gespeist hatten. Man kam dem jungen Ehepaar mit großer Freundlichkeit entgegen. Die Damen fanden Sanna reizend und Werner geistreich und unterhaltend, und die Herren wetteiferten in Artigkeiten gegen die ›entzückende junge Frau‹, deren eigenartige Ausdrucksweise und kindliche Drolligkeit so quellfrisch und ungekünstelt wirkte, daß man sich bald nicht genugtun konnte, sie zu verwöhnen. Es klang aber auch zu lieb, wenn sie, alle Sprachen durcheinandermischend, ihre Einfälle laut werden ließ, Fragen stellte, die ihre reine Unberührtheit bekundeten und Antworten gab, die zugleich von großer Gedankentiefe und erstaunlicher Weltfremdheit zeugten.

Werner beobachtete Sanna unbemerkt im Verkehr mit all diesen verschiedenartigen Menschen, und freute sich, wie sie sich leicht und anmutig in die neuen Zustände fand.

So verlief die Reise besser, als er nach den ersten Tagen zu hoffen gewagt hatte.


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