Otto von Corvin
Die Geißler
Otto von Corvin

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Den Geißlern verwandte Gesellschaften.

Die neuere Geschichte zeigt uns noch verschiedene Arten größtentheils religiöser Schwärmerei, die mit derjenigen der Geißler ihrem inneren Wesen nach nahe verwandt sind. Auch hat man die Gesellschaften, durch die sie vertreten wurden, schon mit denen der Geißler verwechselt. Möge die Einbildungskraft des Lesers, nachdem sie sich so lange um der Wissenschaft willen schier selber gegeißelt hat, an einer kurzen Beschreibung einiger andern religiösen Rasereien eine Art von Erholung finden.

Die Valerianer.

Die Valerianer sind die Fanatiker der Entmannung, einer Religionslehre, die schon insofern auf sehr schwachen Füßen steht, als auch der Unwissendste diesen Leuten zu beweisen vermochte, daß die von ihnen eingeschlagene Methode der Heiligung unmöglich im Plane des Schöpfers liegen konnte.

Der eigentliche Stifter dieser Sekte ist Valerius, ein Araber. Unbekümmert um die Thatsache, daß er ohne die von ihm so verwerflich gefundene Natur-Einrichtung als Individuum garnicht bestehen würde, faßte er den kühnen Entschluß, seinem Dasein als Mann ein Ende zu machen und andere heilsbegierige junge Leute zur Nachahmung seines Beispiels aufzufordern. Schon vor ihm hatte bekanntlich Origines in gleicher Weise um die Krone des Paradieses geworben. Valerius ist aber der Erste, der diese That zum allgemeinen Grundsatz erhob und die endliche Kastration des Menschengeschlechts zu ermöglichen dachte. Die Valerianer waren ihrer Zeit eine sehr verbreitete Genossenschaft. Wer in den heiligen Bund eintreten wollte, wußte sich vor allem eine bestimmte Zeit hindurch jeglicher Fleischnahrung enthalten. Hierdurch verging ihm zunächst jedes Uebermaß von Geschlechtslust, welches durch die Fleischnahrung in der That begünstigt wird, und es wurde ihm das völlige Opfer dann weniger schwer. Uebrigens liegen Zeugnisse genug vor, daß der Entmannte selbst noch geschlechtlich erregt werden kann, wenn er auch diesem Drange nicht mehr in naturgewollter Weise zu genügen imstande ist.Vgl. z. N. Philostratus, Leben des Apollonius von Tyana.

Nach Ablauf der Prüfungszeit wurde die Operation unter vieler Feierlichkeit an dem Novizen vorgenommen. Gesang und Gebet würzten die erhebende Handlung, und Schall der Cymbeln verkündete den Engeln des Himmels, daß eine neue Seele gerettet sei. – Jeder, der sich ihrem Bunde nicht anschloß, wandelte nach Ansicht der Valerianer auf den Pfaden des Elends und der Verderbniß. Jeder Genosse des Bundes hatte demgemäß die Pflicht, den Bund auszubreiten und die Seelen seiner weltsündigen Mitmenschen dem Himmel auf dem Wege der Entmannung zuzuführen.

Anfänglich suchten sie dieser Pflicht durch die Kraft der Ueberredung zu genügen. Allmählich sahen sie jedoch ein, daß sich auf diese Weise ihr Bund nur sehr sparsam ausbreiten würde, und so beschlossen sie denn, die Gnade des Herrn mit Gewalt ihren Mitmenschen aufzunöthigen. Gießt man nicht auch – so rechneten sie – einem kranken Kinde die Arznei selbst gegen dessen Willen ein? Oder wäre es barbarisch, einen Irrsinnigen zur Befolgung derjenigen Mittel, die ihn zur Vernunft bringen können, durch körperliche Zwangsmaßregeln anzuhalten? Nun, ebensowenig konnte die gewaltsame Verbreitung eines Heilmittels Sünde sein, das nicht von irdischen Leiden, sondern von dem großen Jammer der ewigen Verdammnis befreit.

Die Folge dieser Theorie war eine entsetzliche Praxis, die gewisse Gegenden Arabiens, in denen die Valerianer besonders verbreitet waren, zum Schrecken aller Reisenden machte. Wer ihnen in die Hände fiel, der wurde, er mochte nun wollen oder nicht, von seiner Erbsünde befreit. Eine italienische Chronik schätzt die Zahl der Fremden auf 690, die während eines Jahres auf diese Weise verstümmelt wurden.

Durch das ganze Mittelalter hindurch haben sich die Valerianer, wenn auch in sehr bescheidenen Resten erhalten. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts vollzog ein venetianischer Schuhmacher auf den Rath eines griechischen Schiffers die Verengelung an seinem Leibe und nagelte sich darauf noch obendrein selber an's Kreuz. Nachdem er eine halbe Stunde in dieser schrecklichen Lage verbracht hatte, fand man ihn bewußtlos in seinem Blute schwimmen. Er wurde sofort nach dem Krankenhause gebracht, wo er nach mehrmonatlicher Behandlung genas und über die Gründe zu seiner That genaue Auskunft ertheilte.

Die Verzückten

Krämpfe und Fallsucht, Wahnsinn und Raserei können, wie große Aerzte auf Grund von Beobachtungen festgestellt haben, ansteckend wirken. Auf Menschen von besonders empfindlichem Nervensystem, von lebhafter Einbildungskraft und auch wohl schwachem Verstande üben außerordentliche Erscheinungen einen so starken Eindruck, daß häufig dieselben Erscheinungen auch in ihnen sich zeigen und sie zu Irrthum, Unfug und selbst Verbrechen hinreißen können. So bildeten sich beispielsweise im 16. Jahrhundert in Friedberg 150 Menschen ein, sie seien vom Teufel besessen, und im Anfange unsers Jahrhunderts in Marburg neun, sie seien zweiköpfig. Eine sitzende, von der frischen Luft abgesperrte Lebensweise begünstigt natürlich eine solche Ansteckungsfähigkeit, weil das Gehirn dadurch geschwächt wird; auch widerfährt es dem weiblichen Geschlechte leichter als dem männlichen, wegen der größeren Reizbarkeit und der besonderen körperlichen Umstände. Hieraus erklärt sich die Ausbreitung des Hexenthums im 15. und 16. Jahrhundert; die Epidemie der milesischen Mädchen, die sich schaarenweise erhängten, der Weiber von Lyon, die sich haufenweise ertränkten, die »Katzenepidemie« der Nonnen eines französischen Klosters, die zu bestimmten Stunden miauten, und die große Epidemie des 15. Jahrhunderts, wo in einem großen Theile von Deutschland und in den Niederlanden, ja zuletzt bis nach Rom hin die Nonnen sich gegenseitig bissen.Siehe Sprengler's Beitr., 1. 2, 47, und Zimmermann Ueber die Einsamkeit II. 6, 68 ff.

Die Religions-Schwärmerei hat auf ähnliche Weise auch zu Konvulsionen oder Zuckungen geführt. Das Erschrecken über ihre Sündhaftigkeit packte die plötzlich fromm gewordenen Leute, und die Zuckungen, in die sie verfielen, steckten Andere an, in deren Seele sich die gleichen Vorgänge abspielten. Das geschah besonders in den Versammlungen von Separatisten. So entstanden die Verzückungen der Wiedertäufer (1525 und 26) in St. Gallen, genannt das Sterben in Christo, so die der Convulsionairs in Frankreich, besonders der Secouristen (1727–62), so entstanden vermuthlich auch die eigentümlichen Erscheinungen bei den Quäkern oder Zitterern, den Jumpers oder Springern, den Shakers oder Schüttlern und den Methodisten, wenn es bei ihnen »zum Durchbruch kommt« und wenn sie »das Werk vollbringen.«

Ein Augenzeuge, der Arzt Cornish, berichtet über die religiöse Zuckungs-Epidemie in Cornwallis i. J. 1814 Folgendes: In einer Kapelle der Wesley'schen Methodisten in der Stadt Redruth rief unter dem Gottesdienste zum Erstaunen der Versammlung ein Mann mit dem Ausdrucke großer Unruhe und Besorgniß: »Was soll ich thun, um selig zu werden?« Alsbald wiederholten Mehrere diese Worte und schienen kurz darauf die heftigsten Körperschmerzen zu leiden. Hunderte von Menschen, die diese Vorfälle mit anzusehn kamen, wurden auf ähnliche Weise befallen. Die Kapelle blieb mehrere Tage und Nächte offen, und von ihr verbreitete sich die Krankheit nach den benachbarten Städten und Dörfern.

Sie beschränkte sich aber durchaus nur auf die Kapellen jener Sekte. Sie entstand jedes Mal unter dem Ausrufen der angeführten Worte, besonders bei Menschen von sehr geringem Verstande. Die Angst drückte sich durch Zuckungen der Glieder aus. Viele schrieen in furchtbaren Tönen, der Allmächtige werde sogleich seinen Zorn über sie ausschütten; sie hörten das Geschrei der gequälten Seelen und sahen die Hülle offen zu ihrem Empfange. Die Geistlichen ermahnten die so Ergriffen, die Erkenntniß ihrer Sünden zu verstärken, da sie von Natur Feinde Christi seien, Gottes Zorn deshalb über sie komme und wenn der Tod sie in ihren Sünden überrasche, die nie erlöschende Qual der Höllenflammen ihr Antheil sein werde. Auch diese Worte wurden wiederholt, und die Wuth der Zuckungsfälle erhöht sich. Glaubten die Geistlichen hinlänglichen Eindruck gemacht zu haben, so veränderten sie ihre Reden, Sie ermunterten nun, auf die Kraft des Heilandes Vertrauen zu setzen, an die Gnade Gottes zu glauben und diese Gnade zu bitten, so daß sie hoffen könnten, ihre Sünden seien ihnen vergeben. Dann schilderten sie mit glänzenden Farben die Freuden des Himmels.

Bei der Mehrzahl der Ergriffenen kam die Bekehrung (die Wiedergeburt oder der Durchbruch) sehr schnell zu Stande. Einige quälten sich aber in der Zerknirschung Tage lang. Sobald bei Einem der Glaube an Vergebung seiner Sünden entstand, fühlte er sich aus dem tiefsten Abgrunde des Elends und der Verzweiflung zur höchsten Glückseligkeit erhoben. Freudig und triumphirend rief er dann aus, die Banden seien gelöst, die Sünden ihm vergeben und er sei in die Freiheit der Kinder Gottes versetzt. Die Zuckungen dauerten jedoch fort. Viele blieben zwei bis drei Tage und Nächte, ohne etwas zu genießen oder nur auszuruhen, in der Kapelle, wo sie den ersten Anfall bekommen hatten, unter beständigen Zuckungen. Nicht weniger als 4000 Menschen sollen auf diese Weise ergriffen worden sein. Selbst Kinder von 5–6 Jahren und 80 jährige Greise, am meisten jedoch junge Weiber wurden befallen. Auf den Shetlands-Inseln zeigten sich ähnliche Erscheinungen. Dr. Hebbert erzählt von einer dortigen Kirche, die er besuchte: Sie war ungemein voll, da eine Predigt über die Einsetzung des Abendmahls gehalten werden sollte. Bei dieser Gelegenheit sah er die gichtischen Zuckungen, wie sie in den dortigen religiösen Versammlungen auch sonst vorkamen. Die erste Erscheinung dieser Krankheit sollte dort vor ungefähr hundert Jahren stattgefunden haben. Ein Weib hatte epileptische Anfälle, und dies einmal während des Gottesdienstes. Unter den erwachsenen Frauenzimmern und den sechsjährigen Knaben (warum gerade nur diesen?) wurden die Nervenzufälle ansteckend (sympathisch). Die Leidende klagte lange Zeit über Herzklopfen; darauf erfolgte eine Ohnmacht, in der sie über eine Stunde regungslos dalag. Mit der Zeit soll dann die Krankheit die spätere Gestalt angenommen haben. Die davon befallene Frau fällt plötzlich nieder, wirft ihre Arme umher, krümmt ihren Körper auf mannigfache Weise, bewegt den Kopf schnell von einer Seite zur andern und stößt, starr und unbeweglich, das schmerzhafteste Geschrei aus. Trifft sie der Anfall bei einer öffentlichen Lustbarkeit, so mischt sie sich, sobald sie sich erholt, wieder unter die Gesellschaft und ist weiter vergnügt, als wenn nichts vorgefallen wäre. Paroxysmen dieser Art herrschten am meisten während der warmen Sommermonate, und etwa fünfzig Jahre vorher gab es keinen Sonntag, wo sich nicht dergleichen ereignet hätte.

Starke Leidenschaften, so meint dieser Arzt, durch religiöse Schwärmerei angeregt, seien die Ursache jener Anfälle gewesen. Doch meint er, sie rührten nicht von göttlicher Eingebung her, und man müsse das Schamgefühl gegen sie zu Hülfe nehmen. Ein Geistlicher in Shetland hatte zu diesem Behufe gleich beim Antritte seines Amtes die Pfarrkinder versichert, daß es gegen jene Krankheit kein besseres Mittel gebe, als wenn man die Leidenden in kaltes Wasser tauche. Da sich nun in der Nähe seiner Kirche gerade ein See befand, so erklärte er, daß immer Leute bereit sein sollten, das nothwendige Heilmittel anzuwenden. Und seltsamer Weise hat sich der heilige Geist, der doch an solche Taufbäder gewöhnt sein sollte, hierdurch plötzlich abhalten lassen, eine Seele aus dieser Pfarrei durch jenerlei Zuckungen zu belehren, nachdem diese dort Jahre lang Mode gewesen waren. Der Geistliche durfte sich rühmen, eine der musterhaftesten Gemeinden in Shetland zu haben. Und ähnliche Klugheitsmittel seitens anderer Geistlichen, denen die Verzückungen unbequem waren, haben auch in ähnlicher Weise geholfen.

Die Johannis-Tänzer

Schon vor dem 14. Jahrhundert kamen in der christlichen Kirche Tänze als religiöse Uebungen vor. So tanzte z. B. der Bischof mit seiner Geistlichkeit auf dem Chor der Kirche und die fromme Gemeinde im Schiff der Kirche oder – auf dem Kirchhofe. Das wurde zwar, da sich's gar zu heidnisch ausnahm, durch die geistliche Obrigkeit verboten; doch hinderte das nicht, daß gelegentlich noch weiter getanzt wurde.

So wurde erzählt, daß im Anfange des 11. Jahrhunderts 19 Tänzer auf dem Kirchhofe zu Kolbik tanzten und weil sie dadurch die Christmesse störten, auf des Priesters (Knecht Ruprecht's) Fluch hin ein ganzes Jahr hindurch unaufhörlich tanzen mußten.

Auf der Moselbrücke in Utrecht wollten 200 Tänzer im Jahre 1278 nicht eher aufhören zu tanzen, bis ein Priester den Leib Christi zu einem Kranken da vorbeitrüge. Aber es wollte kein Mensch ihnen zu Gefallen so sterbenskrank werden. Und weil sie nun immer wüthender auf der Brücke tanzten, da brach diese, und all die frommen Tänzer ertranken. Das war dann die Strafe für ihre Vermessenheit.

Es läßt sich muthmaßen, daß diese Tänze wesentlich mit zum Einreißen jener religiösen Tanzsucht geführt haben, die sich im Jahre 1374 wie eine ansteckende Krankheit am Rhein und in den Niederlanden verbreitete. Wie sie entstanden, das weiß man nicht.

Mitten im Sommer traten am Rhein und an der Mosel viele rasende Tänzer auf. Sie stellten sich einander gegenüber, und so tanzten sie oft einen halben Tag lang auf einer Stelle. Mitten im Tanze warfen sie sich zu Boden und ließen sich auf den Leib treten, wovon sie nach ihrer Aussage gesund wurden – eine etwas kräftige Massage!

Ein Niederländer jener Zeit erzählt uns: Am 16. Juli kam eine sonderbare Art besessener Menschen aus den obern deutschen Ländern nach Aachen, von da nach Utrecht und endlich gegen den September nach Lüttich. Halb nackend, mit Kränzen auf den Köpfen, führten diese Besessenen beider Geschlechter auf den Straßen, selbst in den Kirchen und Häusern, ohn' alle Scham ihre Tänze auf, wobei sie in ihrem Gesange nie gehörte Namen des Teufels ausriefen. (Dies werden wir bald als einen Irrthum erkennen). Nach vollendetem Tanze quälten die Teufel sie mit den heftigsten Brustschmerzen, so daß sie mit schrecklicher Stimme schrien, sie stürben, wenn man sie nicht mit Binden mitten um den Leib stark zusammenschnürte. (Da hätten wir denn den Ursprung des Schnürleibes.)

Bis zum Oktober wuchs ihre Sekte zu vielen Tausenden an. Aus Deutschland strömten täglich neue Tänzer herbei, und zu Lüttich wurden Viele, die noch an Leib und Seele gesund waren, plötzlich von den Teufeln ergriffen und verbanden sich mit den Tänzern. Kluge Leute wußten keinen andern Grund der Entstehung dieser teuflischen Sekte anzugeben, als die herrschende Unwissenheit in Glaubenssachen und in den Geboten Gottes. Viele aus dem Volke warfen aber die Schuld auf die Priester, die im Konkubinat lebten, durch die also jene Leute nicht recht getauft worden seien.

Ein Rauchfaßträger in einer Kirche zu Lüttich fing an sein Faß wunderlich zu schwenken, zu springen und unverständlich zu singen. Als darauf ein Priester verlangte, er solle das Vaterunser beten, wollte er nicht, und als er den Glauben hersagen sollte, sagte er: »Ich glaube an den Teufel.« Da legte der Priester ihm den Chorrock um und las die Teufelaustreibungs-Formel. Alsbald verließ ihn der Teufel, und er sprach das Vaterunser und den Glaubensartikel mit großer Andacht.

In einem Flecken bei Lüttich sammelten sich um Allerheiligen eine Menge Tänzer und Tänzerinnen und beschlossen, nach der Stadt zu gehen und den Prälaten sammt allen übrigen Pfaffen umzubringen. Als sie jedoch nach Lüttich kamen, legte sich ihre Mordlust bald. Sie wurden durch fromme Leute vor die Priester geführt und ließen sich ganz artig von denen die Teufel austreiben.

Das Umlegen des Chorrockes (der Stola) erwies sich als das wirksamste Mittel zur Austreibung des Tanzteufels und wurde besonders im St. Lamberts-Kloster von einem Priester mit Glück angewandt. Als Beschwörungsformel nahm man gewöhnlich den Anfang des Evangeliums Johannis. Auch heilte man durch Auflegen oder Vorzeigen der Hostie, durch Eingießen von Weihwasser, durch Berühren des Mundes mit dem Finger des Priesters, durch Anblasen u. dergl. m. Ein Teufel gestand vor seiner Austreibung, jetzt führen sie freilich nur in gemeine Leute; aber sie würden auch in die Reichen und Mächtigen gefahren sein und durch diese die ganze Priesterschaft aus Lüttich vertrieben haben, wenn sie von dieser nicht jetzt eben zur Flucht genöthigt würden. Das wurde von Priestern erzählt, die sich's zu ihrem Vortheil ausgedacht haben mochten.

Eine junge Aachnerin war von einem Tanzteufel besessen, der sich so hartnäckig erwies, daß er keiner Beschwörungsformel weichen wollte. Da stellte ein Priester die Diagnose, der Teufel wohne seit zwei Jahren in dem Mädchen, und jedesmal wenn sie das heilige Abendmahl nähme, dann schlüpfe er in die Zehenspitzen und halte sich da verkrochen. Wie nun aber ihn da herausstöbern? Teufel sind wasserscheu; das Fräulein muß gebadet werden und natürlich durch den Priester selber, und zwar in lauter Weihwasser – bis an den Mund. Nun kommt der Teufel herauf. Bevor er sich aber zur Flucht bequemt, erbittet er sich noch, ein Amt als Burgwärter zu übernehmen, und um seine Befähigung hierfür an den Tag zu legen, blies er wie auf einer Trompete. Einige Tage später ertranken in einem Bade einige Menschen. Das hatte nun dieser Teufel verübt, und das Bad wurde für immer geschlossen. Dieser siegreiche Feldzug der Priester von Lüttich gegen den Tanzteufel brachte ihnen großen Ruhm ein.

Ein Theil der Tänzer zog vom Rhein und von der Mosel nach Flandern, ein anderer von Antwerpen und Hennegau bis nach Frankreich. Fast alle waren Leute vom niedrigsten Volke. Gleich den verrückten Geißlern verließen sie ihre Wohnörter, zogen umher und verachteten Pfaffen und Sakramente. Nach dem Wortlaut einiger Verse, konnten sie Niemand weinen sehen. Die rothe Farbe, besonders rothes Tuch und Schnabelschuhe, waren ihnen ein Gräuel. Daher wurde den Lütticher Schuhmachern verboten, solche Schuhe zu machen. Sie sagten, sie müßten deswegen hochspringen und tanzen, weil es ihnen vorkäme, als wenn sie in einem Strome von Blut ständen. Andere meinten wieder, sie würden zum Springen genöthigt, wenn der Teufel in ihre Beine hinabstiege; kam er jedoch in den Bauch, so quälte er sie entsetzlich (sehr natürlich nach tagelangem Tanzen).

Bei ihren rasenden Reihentänzen gaben sie sich die Hand und ermunterten einander: frisch! frischkes! Diesen Ausruf und andere ausgestoßene Wörter und Töne hielt man dann für die Namen von allerhand Teufeln. In den Kirchen tanzten sie vor den Altären und den Marienbildern. In Aachen sprangen Manche so hoch wie der Altar. Viele tanzten sich in der Wuth zu Tode, was manchen jungen Ball-Freundinnen von heute als Warnung dienen könnte. Wenn sie nach den konvulsivischen Tänzen sinnlos und in Zuckungen niederfielen, reitelten sie einander mit Stöcken, die sie im Gurt stecken hatten, oder ließen sich zusammenschnüren oder von mehreren Andern auf den Bauch treten und mit Fäusten schlagen. Zuweilen trat ein Tänzer oder eine Tänzerin auf die Schulter eines andern und sah Wunderdinge im offenen Himmel.

Die Raserei machte auf die Zuschauer gewaltigen Eindruck, und viele verfielen folglich in dieselbe Tollheit. Von den Klügeren wurden die Tänzer theils für Kranke, theils für Betrüger ausgegeben, die durch das jämmerliche Schauspiel die Mildthätigkeit rege machen oder mit größerer Ungebundenheit ihre Lüste befriedigen wollten. Sie störten den Gottesdienst, und es wurden ihretwegen viel Predigten gehalten und Prozessionen veranstaltet. Gegen 3000 Tanzteufel wurden durch Beschwörungen ausgetrieben, und weil hierzu das Evangelium Johannes diente, darum nannte man ihren Tanz la danse de St. Jean, den Tanz des heiligen Johannes.

In Köln glaubte man die Entdeckung zu machen, daß die Tänzerei auf Schwindel beruhe, indem es von den Tänzern aufs Geld und auf Unzucht abgesehen sei. Der letztere Verdacht scheint erklärlich, so fern sie, wie es in den Versen bei Peter von Herentals heißt, ihre Tänze bei Nacht vornahmen. So hell erleuchtet wie unsere Ball-Säle werden die ihrigen wohl nicht immer gewesen sein. Auch wurden bei dieser Tänzerei in Köln über hundert tanzende Jungfrauen schwanger. Das war denn Beweis genug, daß die Sache vom Teufel stamme, und so nahm sie nach sechzehnmonatlichem Bestehen ein schimpfliches Ende.

Dessen ungeachtet fanden auch noch im 17. Jahrhundert fromme Tänze statt, in den zwanziger Jahren unsers Jahrhunderts wurden beispielsweise zu Echternach noch Spring-Prozessionen gehalten, und wenn wir recht unterrichtet sind, so springt man in Trier, dem Sitze des sogenannten heiligen Rockes, noch gegenwärtig bei einer gewissen, sich alle Jahre wiederholenden Prozession von der Stadt bis nach einer Kapelle hin, je zwei oder drei Schritte vor und einen zurück.

Die Veitstänzer.

Auch nach dem Jahre 1374 wurde die Tanzwuth noch hier und da epidemisch, doch trat sie nicht mehr so heftig auf und hatte auch nicht einen so ausgesprochen religiösen Charakter wie die Johannestänze. Den Anlaß gaben die Krämpfe, die unter dem Namen Veitstanz bekannt sind, obschon die Johannes-Tanzsucht auch häufig gar nichts andres gewesen zu sein scheint. Dort half der heilige Johannes, hier außerdem noch der heilige Veit, und darum nannte man diesen Tanz nun Veitstanz, gleich als ob dort der heilige Johannes und hier der heilige Veit Vortänzer gewesen wären.

Im Breisgau wallfahrtete man am Abend vordem Johannestage nach der Johanneskirche zu Wasen bei Weiser nach der Veitskirche zu Bießen, um von diesen Heiligen Schutz gegen die Tanzkrankheit zu erflehen. Denn es gab nach Agricola Leute, die sich nicht halten konnten, mehrere Tage und Nächte hindurch zu tanzen. Der heilige Veit, so hieß es, sei einer der vierzehn Apotheker und Nothhelfer. Als er dem lieben Gott den Hals hinhalten sollte, da hat er Gott gebeten, er möge Alle, die an seinem Abend fasten und seinen Tag feiern, vor der Tanzsucht bewahren. Da erscholl eine Stimme vom Himmel: »Veit, du bist erhört!«Agricola, T. Sprichwörter, Nr. 479.

Ein Haupttanz ereignete sich im Jahre 1418 zu Straßburg. Plötzlich kam es die Leute an, sie liefen zusammen und tanzten auf den Straßen nach Sackpfeifen. In einer handschriftlichen Chronik heißt es:

»Viel Hundert fingen zu Straßburg an
Zu tanzen und springen, Frau und Mann,
Am offnen Markt, Gassen und Straßen
Tag und Nacht ihrer viel nicht aßen,
Bis ihn das Wüthen wieder gelag,
St. Vits Tanz wird genannt die Plag.«

Die Stadtverordneten beschlossen, diese unglücklichen Leute sollten in drei Haufen hinter einander nach der Kirche des heiligen Veit zum Rothenstein ziehen und allda drei Messen für sie lesen lassen. Für jede Messe sollte Jeder achtzehn Pfennig und außerdem noch etwas als Opfer zahlen. Die tanzenden Kinder, deren Eltern nicht mittanzten, sollten bei den Eltern bleiben, diese jedoch etwas dafür bezahlen, daß der Stadtrath für sie sorgte. Verschiedene Väter erklärten sich dafür als zu arm und schienen lieber ihre Kinder mitpilgern lassen zu wollen, als daß sie sie unterhielten und außerdem noch für sie bezahlten. Das Krankenhaus und das Frauenhaus mußten drei dreispännige Wagen zur Fahrt stellen. Einige Nicht-Tänzer wurden als Bedeckung mitgegeben. Einer von ihnen sollte nach Zabern voranreiten und beim Dechant drei bis vier Priester bestellen, um jedem der Tänzerhaufen ein gesungenes Amt zu halten. Wenn dieses geschehen, sollten die Kranken um den Altar geführt werden und jeder von ihnen (oder ein Führer für ihn) einen Pfennig »pfryneen« und einen Pfennig opfern. Endlich sollten sie, wenn es dem Dechant gut schiene, »ehrlich ausgerichtet« werden. Dabei sollten die Armen einen Pfennig von ihren erhaltenen Almosen in den Stock stecken, und das sollte auch mit allem Gelde geschehen, was noch übrig bliebe.Jak. von Königshofen, S. 1087 ff. Schilter's Anm. 21. Jedenfalls wird dieses zweckmäßige Mittel geholfen haben; denn der Glaube ist ja allmächtig, und der war ohne Zweifel vorhanden.

Kreuzfahrende Kinder.

Auch die Kreuzfahrer sind mit den Geißlern verwechselt worden. Sie liefen in religiösem Rausch zusammen, um Palästina den Ungläubigen zu entreißen und die erlittene Schmach der dortigen Christen zu rächen. Um nicht über die Grenzen dieses Werkes hinauszugehen, beschränken wir uns auf eine kurze Betrachtung der Kinderschwärme vom Jahre 1212.

In der Ueberzeugung, Gott wolle sich der Unmündigen zur Befreiung des gelobten Landes bedienen, erhoben sich in der Gegend von Paris, danach auch in vielen andern Theilen von Frankreich und auch in einem Theile von Deutschland viele tausend Knaben und wohl auch Mädchen und machten sich auf den Weg nach Jerusalem. Vergebens widersetzten sich anfangs Eltern und Freunde, viele Knaben brachen Riegel und Wände und eilten davon. Auch viele Erwachsene schlossen sich bald den Haufen der Kinder an, meistens von gleicher Begeisterung ergriffen, zum Theil aber auch Gauner, die den jungen Kreuzfahrern ihr eigenes Gut und was sie aus wohlthätigen Händen empfingen, zu entlocken wußten, so daß große Noth sich unter ihnen einstellte. In Köln wurde solch ein Betrüger entlarvt und aufgehängt. Nach Einigen wäre schon der erste Anstoß von solchen Bösewichtern gegeben worden, welche die Kinder gleichsam hätten als Sklaven verkaufen wollen. Und das sollte von zwei Geistlichen ausgegangen sein in der Absicht, sich dadurch aus der Gewalt der Ungläubigen loszukaufen.

Nach Marseille soll ein Haufen von 30 000 solcher Kreuzfahrer gekommen sein. Zwei dortige Kaufleute und Schiffsherren, Hugo der Eiserne und Wilhelm das Schwein (!), versprachen, das Kinderheer unentgeltlich nach dem heiligen Lande zu fahren. Doch von sieben schwer beladenen Schiffen scheiterten zwei, die übrigen fünf segelten nach Egypten, wo die Unglücklichen denn wirklich in die Sklaverei verkauft wurden. Die beiden schändlichen Kaufleute sollen später bei einer neuen Schandthat dem Kaiser Friedrich in die Hände gefallen und mit dem Strange bestraft worden sein.

Deutsche Kinderheere zogen nach den italienischen Häfen. Manche glaubten, das Meer werde austrocknen, so daß sie zu Fuß nach dem heiligen Lande ziehen könnten; aber so stark, um Wasserberge zu versetzen, erwies sich der Glaube denn doch nicht. Viele der jungen Kreuzfahrer kamen schon in den Wäldern und Einöden der Alpen um oder jenseits derselben durch Hitze, Hunger und Durst. Viele wurden bei ihrer Ankunft in Italien von den Lombarden geplündert und schimpflich zurückgewiesen. Glücklicher waren die, die von den Italienern als Knechte und Mägde behalten wurden.

Nach Genua kamen über siebentausend Kinder, Weiber und Männer unter Anführung eines deutschen Knaben namens Nikolaus. Sie trugen als Pilger Kreuze, Taschen und Stäbe, und es waren viele Kinder aus hohen Familien darunter. Man gebot ihnen die Stadt zu verlassen, doch blieben bei dem Abzuge viele zurück. Auch nach Rom und nach Brindisi sollen Schaaren gekommen sein. Nur wenige flüchteten, von Allem entblößt, in die Heimath zurück, wo sie dann noch verspottet wurden. Auch legte ihnen der Papst die Pflicht auf, den einmal gelobten Kreuzzug, wenn sie herangewachsen sein würden, noch durchzuführen.

Noch im späteren Mittelalter kamen Kinder-Wallfahrten vor. Nach Mont St. Michel an der Küste der Normandie wallfahrteten im 15. Jahrhundert zu zwei verschiedenen Malen Tausende von acht- bis zwölfjährigen Knaben.

Die Pastorels.

Im Jahre 1251 verursachte in Frankreich die Kunde von der Gefangennehmung des Königs Ludwig IX. große Bestürzung; die regierende Königin forderte im Verein mit dem Papste auf, den König zu retten, doch ohne Erfolg. Da trat im Norden von Frankreich ein ehemaliger Cistercienser, Meister Jakob aus Ungarn, auf. Sein langer Bart, sein bleiches Gesicht, seine funkelnden Augen, seine donnernde Stimme und sein frömmlerisches Wesen verschafften ihm einen großen Einfluß auf's Volk. Er verkündete, die heilige Jungfrau sei ihm erschienen und habe ihm befohlen, den Einfältigen und Niedrigen das Kreuz zu predigen, denn ihnen habe Gott vorbehalten, das gelobte Land zu befreien.

Er wandte sich an die Bauern, die haufenweis zu ihm strömten, und namentlich an die Hirten. Und weil sich diese Truppe nun größten Theils aus jungen Hirten zusammensetzte, erhielt sie den Namen »Pastorels« (Pastoureaux oder Pastorelli); doch ist es auch nicht unmöglich, daß dieser Name sich auf das Lamm, das sie auf ihren Fahnen fühlten, bezieht. Auch Kinder, sowohl Knaben wie Mädchen, verließen die Häuser ihrer Eltern und liefen dem Propheten nach.

Mit einem Heere von 30 000 Menschen kam Jakob aus Flandern nach Amiens. Sie wurden mit Bewunderung empfangen. Dasselbe geschah in Paris. Den Anführer nahm die Königin selbst ehrenvoll auf und machte ihm große Geschenke.

Solche Begünstigung und das Vertrauen auf ihre Masse machte sie immer kühner. Jakob legte in Paris den bischöflichen Ornat an. Als das Heer durch Zulauf von allerlei schlechtem Gesindel auf 100 000 Menschen angewachsen war, theilte es Jakob, ernannte die Unterfeldherren und gab 500 Fahnen aus, auf denen er selbst, ein Kreuz und ein Lamm abgebildet waren. Das Heer war nun mit Spießen, Degen, Aexten und Messern bewaffnet.

Nachdem sie die Loire überschritten hatten, begingen sie, möglicherweise gegen Jakob's Willen, täglich ärgere Gewaltthätigkeiten. Namentlich verfolgten, plünderten und mordeten sie die Juden. Von der Geistlichkeit sprachen sie höchst verächtlich, erzählten vom Papst und seiner Umgebung die schändlichsten Dinge, was denn dem Volke höchlich gefiel. Wurde ihnen irgendwo der Zugang verwehrt, so brachen sie mit Gewalt ein und begingen die größten Ausschreitungen.

In Orleans wurde, dem Verbote des Bischofs entgegen, Meister Jakob ehrenvoll aufgenommen. Den wenigen Priestern, die gegen ihn predigten, ihn einen Ketzer und Betrüger zu nennen wagten, ging man zu Leibe, dem einen wurde der Kopf gespalten, gegen zwanzig andere wurden vom wüthenden Volke ermordet, ihre Häuser wurden verwüstet, ihre Bücher verbrannt und ihre Güter geraubt.

Jetzt bereute die Königin ihre Gunstbezeigungen. Auf ihr Geheiß belegten die Bischöfe die Pastorels mit dem Bann, und die weltlichen Obrigkeiten verfolgten und zerstreuten die einzelnen Haufen, denn stehende Heere gab es damals noch nicht. Meister Jakob, der Anfangs ein Gesandter Gottes gewesen war und mit den Engeln vertrauten Umgang genossen hatte, war nun ein Zauberer, der mit dem Teufel im Bunde stand; ja man sah in ihm den, der im Jahre 1212 so viele Kinder zum Kreuzzuge verführt hatte, einen verkappten Muhamedaner, einen Sklaven des egyptischen Sultans, dem er versprochen habe, alle christliche Länder zu entvölkern, damit der Sultan sie desto leichter erobern könne. Er wurde endlich, nachdem er in Bourges zum letzten Male gepredigt hatte, von den ihm nachsetzenden Einwohnern eingeholt und von einem Fleischer erschlagen.

Ein Theil seiner Anhänger rettete sich durch die Flucht, nachdem viele erschlagen und andere gefangen genommen waren. Ebenso erging es den andern Haufen Pastorels. Viele wurden durch das Schwert oder den Strick hingerichtet, und nur den einfältigen Bauern wurde das Leben geschenkt. Einige von diesen waren darüber so gerührt, daß sie nach Palästina pilgerten, um für ihre Sünden zu büßen; die andern eilten heim und verkrochen sich in ihren Hütten.Siehe Meusel, Geschichte von Frankreich; Hall, Allg. Welthist. Bd. 36, S. 626 ff.; Fr. v. Raumer, Gesch. der Hohenstaufen und ihre Zeit, Bd. 4, S. 306 f.

Im Frühjahr 1320, als in Frankreich und England von Neuem die Gemüther zu einem Kreuzzuge gestimmt waren und nur der Papst selber die Könige noch zurückhielt, versammelte sich unter ganz gleichen Umständen, wie im Jahre 1251, eine neue Schaar von Pastorels. Ein abgesetzter Priester und ein abgefallener Benediktiner waren die Kreuzprediger und Anführer. Obgleich auch hier sehr bald eine Menge schlechten Gesindels hinzuströmte, so fanden sie doch in Frankreich, so lange sie ruhig einherzogen, überall günstige Aufnahme, was nach den üblen Erfahrungen mit ihren Vorgängern wohl etwas sagen will. Als sie dann aber sich nicht mehr begnügten, ruhig nach den Kirchen zu wallfahrten und bescheiden um Almosen zu bitten, als sie durch ihr Umherschweifen und die vielen unter sie gerathenen Bösewichter verwildert wurden, raubten und mordeten, und zwar wieder besonders die Juden, da trat ihnen die Obrigkeit entgegen.

In Paris erfuhren sie, man wolle sie angreifen. Alsbald stellten sie sich in Schlachtordnung; da ließ man sie ungehindert passiren. Der Grund hiervon mag auch darin gelegen haben, daß der König selbst einen Kreuzzug wünschte.

Die Pastorels zogen nun nach Guyenne; dort wurden von ihnen wiederum alle Juden, die sich nicht wollten taufen lassen, getödtet und ausgeplündert. Als ein Landeshauptmann (Seneschal) befahl, die Juden zu schützen, widersetzte das Volk sich diesem Gebote, weil man nicht, um Ungläubige zu retten, Christen beschädigen dürfe. Darauf sammelte der Seneschal jedoch Truppen, verbot bei Todesstrafe, die Pastorels zu unterstützen, ließ viele von ihnen ergreifen und einmal 38 zusammen aufknüpfen. In Toulouse, wo sie alle Juden ermordet hatten, wurden an Einem Tage 60 gehenkt. Endlich drohten sie auch nach Avignon zu kommen, wo damals der Papst residirte; aber da rief dieser einen Seneschal zu Hülfe, und nun wurde das Hirtenheer mit dem größten Nachdrucke verfolgt und bald gänzlich zersprengt.Siehe Meusel, in der Hall. Allg. Welthist., Bd. 37. S. 219.

Die Kreuzbrüder.

Im Jahre 1309 erhoben sich in Deutschland den Pastorels ähnliche Kreuzfahrer, die auch für Geißler gehalten worden sind. Sie waren mit Kreuzen bezeichnet, wurden Kreuzbrüder genannt und zogen aus verschiedenen Ländern zum Papste hin. Sie hatten vor, über das Meer zu segeln zur Rettung des heiligen Landes. Als sie jedoch nach Avignon kamen, trennten sie sich und kehrten auf verschiedenen Wegen zurück. Es mischten sich auch Weiber darunter, und da ihre Aufführung Mißfallen erregte, so wollte man ihnen nichts mehr geben. Die Geistlichkeit predigte gegen sie, und so wurden auch diese Kreuzbrüder unterdrückt.Siehe Sevoldi & Northof Origines Marcanae Chronicon Comitum de Morca et Altena, 1358.

Weiße Brüder.

Im Jahre 1324 soll eine Sekte von Weißen Brüdern bestanden haben, die weiße, mit grünen Andreaskreuzen gezierte Mäntel trugen. Sie rühmten sich vieler göttlicher Offenbarungen, besonders die Eroberung des heiligen Landes anlangend. In Deutschland fanden sie viel Glauben und Beisteuer. Einige Fürsten forderten den Hochmeister des Deutschen Ordens auf, diese Leute zu unterstützen. Er aber verstand sich dazu nicht, sondern erklärte es für Betrügerei. Dadurch verlor die Sache an Ansehen und löste sich auf. Uebrigens ist es nicht unmöglich, daß dies Geißler waren.Siehe Hartknoch, Altes und Neues Preußen, 1684, S. 464.

Die Bengeler.

Eine der Freischaren, die im vierzehnten Jahrhundert in Deutschland von Fürsten und Grafen gebraucht wurden, um ihre ehr- und habsüchtigen Pläne durchzusetzen, waren die Bengeler im Paderbornischen. Ihr Zeichen waren silberne Prügel (Bengel), die sie vor der Brust trugen. Sie verheerten im Jahre 1390 das Land, plünderten und verbrannten Dörfer und Kirchen und bedrängten den Bischof Ruprecht hart. Den heiligen Liborius, den Schutzheiligen von Paderborn, nannten sie höhnisch einen Verschnittenen, der keine Manneskraft habe, und von den Paderbornen sagten sie, daß achtzehn von ihnen erst einen Mann ausmachten. Der Bischof überfiel sie jedoch und machte ihren Anführer Friedrich von Pathberg nebst 70 bis 100 Kriegern zu Gefangenen. Es erfolgte nun zwar ein Friedensschluß; doch wurde dem Bischof der Eid der Treue verweigert und er endlich von Neuem befehdet. Da sammelten die Fürsten ein Heer, belagerten und eroberten Pathberg. Als aber der Bischof Ruprecht starb, der den Widerstand gegen die Bengeler hauptsächlich leitete, ließ dieser bald nach, und das Land hatte noch manches von diesem Heerhaufen zu leiden.

Die Flegeler.

Eine andere Schar, deren sich im Jahre 1412 der Graf Günther von Schwarzburg bediente, hieß die Flegeler, entweder weil Viele von ihnen einen Dreschflegel als Waffen führten, oder, was wahrscheinlicher ist, weil ein Flegel das Zeichen dieser Gesellschaft war. Mit den Geißlern sind sie verwechselt worden, weil beide flagellatores(von flagella, Geißel und Flegel) genannt wurden. Vom Grafen Günther gingen sie zu Friedrich von Heldrungen, der mit ihnen gegen den Grafen Heinrich von Kelbra zog. Er erstieg mit seinen Flegelern in der Nacht das Haus Honstein, wo Heinrich wohnte und deren Ruinen über Neustadt, eine Meile von Nordhausen liegen. Er hatte einen Strick in der Hand, woran er den Grafen Heinrich aufhängen wollte. Aber er fand nur dessen alten Vater, der sich am Kamin wärmte, und den Sohn, die er beide gefangen nahm. Heinrich selbst war, als er den Lärm vernommen, nackt aus dem Bette gesprungen, und seine Gemahlin, ihrem Namen einer Freiin von Weinsberg Ehre machend, hatte ihn an zusammen geknüpften Betttüchern aus dem Fenster hinuntergelassen. Diese Frau wurde dann, wie man erzählt, mit so viel Kleinodien, als sie zu tragen vermochte, entlassen. – Erst im Jahre 1416 soll der sogenannte Flegelkrieg, in welchem viele Dörfer verwüstet wurden, beendigt worden sein.

Willkürliche Unempfindlichkeit.

Die Geschichte der Geißler und der ähnlichen Sekten, sowie freilich noch mehr die der christlichen Märtyrer, zeigt uns unzählige Vorgänge, wo Menschen nach unserer hergebrachten Auffassung sehr große Schmerzen empfunden haben müßten, wo sie diese Schmerzen jedoch, und zwar andauernde Schmerzen, nicht nur freudig sich anthun ließen und freudig übernahmen, sondern sie oft sich selber anthaten, und sie anscheinend gar nicht als Schmerzen empfanden. Ja, statt Schmerzen zeigten ihre Aeußerungen vielmehr häufig noch das Gepräge seliger Entzückungen.

Wie sollen wir das erklären? – An Chloroformirung und wie die heute von der Medizin sonst noch gebrauchten Schmerzstillungs-Mittel heißen, dürfen wir nicht denken. Sollten vielleicht einem Theil jener Märtyrer und Geißler andere, heute gar nicht oder nur wenig bekannte natürliche Mittel zur Verfügung gestanden haben, wodurch sie sich, wenn sie es wollten, unempfindlich machen konnten?

Haben ein solches Mittel vielleicht auch viele angebliche Zauberer und Hexen gehabt, die mit allen möglichen Qualen heimgesucht wurden oder sie sich selber auferlegten und dabei doch kein Zeichen des Schmerzes von sich gaben?

Aber was für Mittel denn? so höre ich fragen. Nun, ich bekenne, dieses Mittel freilich noch nicht zu besitzen. Allein – eine Art Antwort auf diese Frage könnten wir einer Lehre entnehmen, die seit zehn bis zwanzig Jahren in Amerika aufgetaucht ist und von der ich dasjenige, was ohne Eingehen in Spezialwissenschaften und auf die Schulausdrücke, leicht faßlich erscheint, hier entwickeln will. Ich gebe sie so wieder, wie ich sie aufzufassen vermochte, und werde freilich auch nicht umhin können, meine von anderen Seiten her geschöpften und durch eigenes Nachdenken ergänzten oder vereinheitlichten Anschauungen damit zu verbinden.

Dem schon einmal im vorigen Abschnitte gebrauchten Worte von der Allmacht des Glaubens kommt doch eine mehr als nur ironische Bedeutung zu. Man hat Beispiele, daß Menschen in höchster Erregung Kraftleistungen ausführten, die man ihnen nach Beschaffenheit ihrer Muskeln und ihrer sonst bekundeten Körperstärke nimmermehr zugetraut hätte und der sie unter andern Umständen auch nicht fähig waren. Welche affenartige Fertigkeit im Klettern, die trotz aller mangelnden Uebung Mondsüchtige zeigen! Allein Bewußtlosigkeit, wie hier, ist zur Entfaltung einer solchen staunenerregenden Geschicklichkeit oder Kraft nicht nötig (wenn man anders den Nachtwandler, ja auch nur den Träumenden überhaupt, bewußtlos nennen darf), Wohl aber ist die Vereinigung und Einschränkung der Aufmerksamkeit auf den einen, erwählten Gegenstand nöthig, während jede Zerstreuung schwächt.

Vor Allem aber ist Glauben nöthig. Solche Menschen glaubten in den Augenblicken, daß sie das und das ausrichten könnten: und so konnten sie es. Und ähnlich ist auch manchem ein geistiges Werk gelungen, weil er vom festen Glauben an das Gelingen beseelt war.

Kann denn der Glaube nun Alles? kann er »Berge versetzen?« – Wenn man dies nicht buchstäblich nimmt – und wer weiß, was die bildliche Sprache der Bibel mit den »Bergen« meint? – ja, so kann er es allerdings, er kann Ungeheures. Freilich kann er es nur, wenn es in den Grenzen der vorhandenen Kräfte liegt; aber die natürlichen Kräfte des Menschen sind sehr groß und edel. Er kann Alles, was die Grenzen seiner Kräfte nicht überschreitet, wenn er glaubt, daß er es kann. Und wie er einerseits das nicht kann, wovon er sich einbildet, es zu können, wenn es doch außerhalb seiner Kräfte liegt, so kann er andererseits das nicht, was innerhalb seiner Kräfte liegt, wenn er nicht glaubt, daß er es kann.

Sicher ist, daß die allermeisten Menschen von Natur weit höhere Kräfte besitzen, als sie selber ahnen. Wenn man dies zugiebt, so wird man im Hinblick hierauf, da die genaue Schätzung der eigenen Kraft so schwer ist, die Überschätzung derselben, d. h. die Selbstüberschätzung, in etwas milderem Lichte betrachten, als es gewöhnlich geschieht. Der sich selbst Ueberschätzende, wenn er sich nur demgemäß auch anstrengt, ist doch weit mehr werth, als der sich Unterschätzende und darum hinter dem ihm von Natur gebührenden Maß von Leistungen weit Zurückbleibende.

Die natürlichen Kräfte des Menschen werden im Bereiche der modernen Bildung mehr geschwächt als erhöht. Die Erhöhung sucht man hauptsächlich in künstlichen Hilfsmitteln. Brillen, Mikroskope, Fernrohre, Thermometer, Barometer, Chronometer und tausend andere physikalische und chemische Meß- und Forsch-Werkzeuge werden den Sinnen des Menschen als Krücken untergeschoben, diese dadurch verwöhnend und zugleich abstumpfend. Vergleiche ich solch einen »Herrn der Natur« mit all seinen Hülfswerkzeugen, den »ruhmreichen Errungenschaften« der Kultur und der Wissenschaft, vergleiche ich ihn mit einem Menschen, der im Besitze seiner höchsten natürlichen Kräfte und weiter keiner ist, so glaube ich einen kranken, gebrechlichen Knaben auf hohen Stelzen neben einem kräftig daherschreitenden Riesen zu sehen. Ja – der Mensch ist ein Riese von Natur, mindestens ein geistiger Riese. Hierbei vergleiche ich ihn noch nicht mit dem Thiere – denn wer von uns darf Anspruch erheben, die gesammten Kräfte eines Thieres ermessen zu können? – sondern ich vergleiche ihn bloß mit dem heutigen Durchschnittsmenschen der Zivilisation. Was ist dessen Hauptschwäche? Was fehlt ihm am meisten? Was bedarf er am nöthigsten? – Glauben an sich selbst, an seine hohen natürlichen Kräfte.

Ja, wo sind denn diese zu finden?

In uns selbst, in unserer Tiefe. Wir müssen dazu von der Oberfläche unsers gewöhnlichen Bewußtseins hinabsteigen in die Schachten und Stollen eines uns für gewöhnlich verborgenen, aber doch immer fortlebenden Theiles von unserm Ich. Ja, man würde vielleicht richtiger umgekehrt unser Ich, wie sich's gewöhnlich bewußt ist, nur als einen kleinen Theil des Gesammt-Ich bezeichnen, dessen weit größerer Theil uns für gewöhnlich unbewußt ist.

Der Bereich der Wahrnehmungen sowohl, wie derjenige der Erkenntniß ist für jenes tiefere Ich unendlich viel ausgedehnter, als für das Oberflächen-Ich; denn wie ich durch diese Bezeichnung schon sage, ist dieses nur gleichsam eine Fläche von jenem als Körper. Da indessen die Fläche nur zwei Ausdehnungen oder Dimensionen hat, die Welt, in der wir mit wahrem Bewußtsein leben, aber deren drei, so hat man im Hinblick auf die Welt, in der jenes erweiterte Ich lebt, von einer vierten Dimension gesprochen. Doch das nur nebenbei.

Wie aber gelangen wir nun, d. h. wie gelangt unser Selbstbewußtsein und unsere Selbstbestimmungsfähigkeit aus dieser uns bewußten Vorhalle in den eigentlichen großen Tempel unseres Ich?

Wie anders, als durch den Willen? Und zwar theils positiv, theils negativ, nämlich im letztern Falle durch Aufhebung eines uns daran hindernden Willens oder einer solchen Einbildung. Denn es giebt auch einen Willen – man bezeichnet ihn mit dem Namen Drang –, der uns meistens unbewußt ist. Er kann uns bewußt werden, kann aber dabei mit dem vom Bewußtsein beherrschten Willen im Gegensatze sein und bleiben. Hier soll nun der bewußte Wille nachgeben und jenem ihm unbewußten Willen, der aber nichtsdestominder sein eignes Bewußtsein haben kann, das Feld räumen.

Es gilt, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit den Augen des Geistes sehen zu lernen, mit seinen Ohren zu hören und, die übrigen drei Sinne in einen zusammenfassend, mit einem innern Gefühle zu empfinden, zu spüren.

Dazu wird aber schwer einer gelangen, wenn er nicht seine äußern Sinne mehr oder minder verschließt, deren Empfindung von seinem Bewußtsein absperrt, kurz, sich gefühllos machen lernt. Daß dies möglich ist, dafür liegen hinsichtlich aller fünf Sinne Beobachtungen genug vor. Es haben Menschen etwas mit offenen Augen nicht gesehen, ohne doch blind zu sein. Das Entsprechende gilt vom Gehör und von den übrigen Sinnen; und nicht bloß für den Schlaf, sondern auch für Zustände, die man nicht schlechthin mit Schlaf bezeichnen kann. Das Bild lag auf der Netzhaut, die Gehörwerkzeuge waren in bester Bewegung, aber die Seele nahm die Mittheilungen des betreffenden Nervs nicht an. Sie war im Innern anderweitig beschäftigt, sei es durch Wahrnehmungen oder durch Denken bezw. Empfangen von gedanklichen Eindrücken (»Einfällen«)– denn auch in Gedanken vertieften Menschen kann dabei »Hören und Sehen vergehen.«

Kurz es ereignen sich Vorfälle genug, die beweisen, daß der Mensch zwei verschiedene Sinnesreihen besitzt, eine niedere, beschränktere, äußere, und eine höhere, innere und weiter auslangende, deren Wahrnehmungen unabhängig von jenen niederen Sinnen sind, gleichwie er nicht minder neben seinem gewöhnlichen noch ein höheres, nur bei wachem Bewußtsein ihm verborgenes Erkenntnißvermögen besitzt.

Wenn wir nun das Nervensystem des Menschen betrachten, so finden wir es theils der Bewegung, theils der Empfindung dienend. Daß wir den der Bewegung dienenden Theil nach Belieben lenken, ist uns Allen etwas Gewöhnliches. Wir bewegen ein Glied oder wir lassen es in Ruhe, je nach unserm Entschlusse, und nur der Fallsüchtige bewegt sich, ohne es zu wollen: es ist Krankheit. Sollte es vielleicht auch nur Krankheit sein, wenn man einen Schmerz fühlt, den man sehr gerne nicht fühlen möchte? Sollte sich der der Empfindung dienende Theil unserer Nerven vielleicht auch durch den Willen lenken lassen? Dann würde die Seele, die nur durch ihre Verbindung mit dem empfindenden Leibe leiden kann, sich zeitweise von diesem Leiden entbinden, erlösen können. Jedes Nervenbündel, das die verschiedenen Muskeln anregt, ist aus zwei Theilen zusammengesetzt: der vordere Theil ist der Nerv der Bewegung, der Hintere derjenige der Empfindung. So auch in den Rückenmark-Nerven. Wird ein Theil hier durchschnitten, so hört alle Bewegung auf; wenn der andere Theil, alle Empfindung. Wenn nun der Mensch gegenwärtig – seltene Ausnahmen abgerechnet, die freilich bei Naturvölkern wohl häufiger sein dürften – die Herrschaft nur über die Nerven oder genauer die Wurzelfasern der Bewegung, nicht aber die der Empfindung hat, so könnte es doch eine Zeit gegeben haben und wieder geben, ja sie könnte für Manchen schon da sein, wo es ebensowohl in der Macht des Willens stand oder steht, zu fühlen oder nicht zu fühlen, wie den Körper zu bewegen oder nicht zu bewegen.

Der »Seher« Swedenborg und viele Andere in alten Zeiten sollen diese Gabe besessen haben, wie sie denn auch gleichermaßen befähigt gewesen sein sollen, aus großen Entfernungen wahrzunehmen, was man mit einem nicht genügend umfassenden Ausdrucke als Hellsehen bezeichnet. Finsterniß oder dazwischen liegende Gegenstände sollen ebensowenig, wie die Entfernung, ein Hinderniß für diese innere Wahrnehmung bilden.

Auch soll der Zustand, der zur inneren Fernwahrnehmung befähigt – vielleicht wegen der damit verbundenen tiefern Einsicht in den Zusammenhang der Dinge oder, wie ich es eben nannte: des höhern Erkenntnißvermögens –, eine selbstheilende Kraft in sich schließen. Derselbe starke Wille, welcher die Seele oder das Bewußtsein unabhängig macht von den äußeren Sinnen, er bändigt auch die sonstigen Verhältnisse des Körpers und legt ihm jene Harmonie auf, die einem solchen Zustande eigen ist.

Die Meisten schreiben solche Heilwirkungen dem dabei helfenden Menschen als einem Magnetiseur zu; doch giebt dieser mehr nur die Anleitung. Er leitet den Willen des sich vertiefenden Menschen, auf den zuletzt alles ankommt und der nach erlangter Uebung jenen freiern, mächtigern und weiterblickenden Zustand auch ohne die fremde Hilfe kann herbeiführen lernen. Irgend einen Stoff, der dabei vom Leiter auf den Geleiteten hinüberflösse und diesen auch ohne Glauben und Vertrauen in gewünschter Weise beeinflussen könnte, den giebt es nicht.

Die Feinheit des inneren Sinnes geht, ausweislich der angestellten Versuche, so weit, daß eine solche Person von 10 bis 12 ihr in den Schooß geworfenen Dingen von verschiedenen Andern Jedem unbesehen das seinige zurückgegeben hat. Ein ander Mal hat sie unter 6 Gläsern voll Wasser, in deren eines Jemand den Fingern gesteckt hatte, dieses zu bezeichnen vermocht. Es sind hiernach mehrere der Gläser, auch wieder gar keines, berührt worden, und sie hat sich in der Angabe niemals geirrt. Sie versicherte, die Berührung aus der eigentümlichen Aura des Einzelnen, aus dessen Gefühl, Geruch oder Geschmack herauszuspüren. Diese Aura erklärt man als den von jedem Menschen ausströmenden verbrauchten Stoff, der sich den von ihm berührten Dingen mittheilt. Dieser Stoff ist jedoch von so feiner Beschaffenheit, daß er von den gewöhnlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Wenn daher einem Stückchen Papier oder einem Fläschchen Wasser allerdings etwas von einem Menschen, und warum nicht auch etwas Heilkräftiges, mitgetheilt werden kann, so wird doch die Wirkung von der andern Seite bedingt durch eine äußerst feine Empfänglichkeit, vor Allem durch den Glauben an ihre Möglichkeit.

Das Verhalten, wozu ein Mensch behufs Eintrittes in den verinnerlichten Zustand angeleitet wird, zeigt ausfallende Ähnlichkeiten mit den Erscheinungen an religiös Verzückten, von denen wir im vorigen Abschnitte sprachen. Die Nerven sollen beruhigt, die Muskeln schlaff gemacht werden. (Jenes geschieht am besten durch Vermeidung von Allem, was den Geist aufregt, dieses durch Nachgiebigkeit aller Muskeln und Widerstandslosigkeit gegen auftauchende innere Empfindungen.) Einer Schwindligkeit des Kopfes, einem Gefühle des Fallens soll nicht widerstanden, eine krampfhafte Zuckung nicht verhindert werden. Sollte sich das Gefühl einstellen, als wenn der Kopf sich vergrößert,Diese Empfindung, ja sogar die, als schwelle der ganze Körper an allen Gliedern zum Doppelten seiner wahren Dicke und mehr an, habe ich oft, besonders im Bette liegend, gehabt. Und das zu Zeiten, wo ich mir keiner besondern Unregelmäßigkeiten in der Lebensweise bewußt war, sodaß also von dem »dicken Schädel« des »Katers« am Morgen nach einem Trink-Abend hier nicht die Rede sein kann. I.G. als wenn der Körper schwerer oder leichter würde, niedersinke oder sich aufwärts hebe, so muß diesen und allen sonst etwa noch eintretenden Empfindungen Raum gegeben werden. Ebenso wird Alles, was den Geist vom Körper abzieht, zu dem beabsichtigten Zwecke beitragen.

Auch das Gebet hat die dazu nöthigen Bedingungen erzeugt. So wurde in den siebziger Jahren unsers Jahrhunderts ein Mann bei einem Prärie-Feuer in Amerika schwer versengt; aber er erfuhr an sich die erleichternden Wirkungen des Gebets; sein Schmerz verschwand, obgleich diese Wirkung einer andern Ursache zugeschrieben wurde. Denn das Gebet, indem es den Geist vom Körper abzieht, d.h. den Schwerpunkt des Bewußtseins aus dem gewöhnlichen. niederen Ich hinausrückt, kann so jenen innerlichen Zustand herbeiführen, der äußerlich unempfindlich macht.

Die »religiöse« Erregung junger Mädchen, wie sie bei gewissen amerikanischen Sekten in ihren Erlösungs-Versammlungen auch heute noch nichts Ungewöhnliches ist, kann zu jenem abgeschlossenen Zustande, ja bis zur Starrheit führen. Musik, Harmonie, jede die Nerven besänftigende oder abspannende Gemütsbewegung begünstigt den Eintritt jenes Zustandes. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf entfernte Dinge hat hierbei zunächst nur den Zweck, für die Wahrnehmung des Gegenwärtigen zu betäuben. Ist hierdurch Gefühllosigkeit erzielt, so ist es unmöglich, irgend einem Theile des Körpers Schmerz zuzufügen, wie denn in solchen Sitzungen dem eingeschläferten »Medium« schon Nadeln in's Fleisch gestochen worden sind, ohne daß es etwas davon gefühlt hat.

Aber die Unempfindlichkeit kann auch für diesen oder jenen Körpertheil aufgehoben werden, ohne daß der Zustand im Uebrigen dadurch aufhört, ein verinnerlichter zu sein; dies kann vielmehr völlig dem Willen des betreffenden Menschen unterworfen werden. Bisweilen fallen die Sinne langsam und gradweise in diesen Zustand, oft einer nach dem andern, je nach der erlangten Uebung. Verschiedene Menschen erfordern verschiedene Behandlung bei der Einleitung in den Zustand. Die Nachgiebigkeit gegen die Anweisungen des Leiters ist die erste Bedingung; wer sich ihnen nicht in der Seele widersetzt, mit dem soll der Versuch schon beim ersten oder zweiten Male gelingen.

Nun möchte sich freilich unser Selbstgefühl gegen die blind gefügige Unterwerfung unter den Willen eines andern Menschen sträuben. Aber ist nicht auch das Kind unselbstständig und muß, um selbstständig zu werden, sich der Leitung der Eltern Anfangs beinahe willenlos anvertrauen? Und müssen wir nicht auch zur Erlangung jenes höheren Zustandes eine neue Erziehung bekommen, ja gewissermaßen wiedergeboren werden? Der Leiter oder, wie er gewöhnlich genannt wird: »Magnetiseur« ist nun, wenn auch nicht die Mutter, so doch gewissermaßen die Hebamme, die unsere geistige Wiedergeburt vermittelt. Diese aber besteht darin, daß unser im gewöhnlichen Leben steckendes Ich mit jenem höheren Ich in eine, womöglich vom Bewußtsein überblickte, dem Willen unterworfene und stets wirksame Verbindung trete.

Das erste Mal sich selbst in den verinnerlichten Zustand zu versetzen, davon wird abgerathen, weil Manche bewußtlos werden und, wenn Niemand sie anleitete, sich des in dem Zustande Erlebten zu erinnern, dieses vergessen würden. Auch soll man die Augen öffnen können und auf gewöhnliche Weise sehen, während der übrige Körper gefühllos bleibt. Ja, es sind Männer während dieses Zustandes mit offenen Augen auf's Feld gegangen und haben mehr Arbeit verrichtet als Andere. Abends haben sie sich dann selbst geweckt und gar keine Ermüdung verspürt. Hieraus hat man den Schluß gezogen, daß Arbeit, wie jetzt schon für Einige, so künftig ganz allgemein, als ein Vergnügen und Ermüdung als etwas Abgethanes betrachtet werden wird. Ist dieses richtig, so fände hierdurch denn auch die unermüdliche heftige Bewegung der Johannestänzer, deren etliche »1 Jahr lang tanzten«, und mancher andern religiösen Schwärmer ihre Erklärung. Die Priester erscheinen dabei als die Leiter oder Magnetiseure.

Die Empfindungen während des verinnerlichten Zustandes werden von denen, die sich darein versetzten, zwar verschieden beschrieben, aber von Keinem als unangenehm, sondern von Allen als wonnevoll. Dasselbe sehen wir bei den religiös Verzückten und anderen Sekten, wenn sie sich »erlöst« fühlten, oder wenn es bei ihnen »zum Durchbruch kam.« Diese Erlösung war vielleicht einfach die Erlangung des hier beschriebenen verinnerlichten Zustandes.

Um die Unempfindlichkeit bloß eines Theiles vom Körper zu erlernen, soll man sich anleiten lassen, in dem verinnerlichten Zustande den Kopf allein wach zu halten oder zu erwecken. Gelingt das, so bleibt der übrige Körper gefühllos. Allein durch den Willen kann auch jeder beliebige Theil des Körpers unabhängig von den übrigen empfindend gemacht werden. Der Leiter fordert seinen Schüler zu diesem Zweck auf, eine Hand oder einen Arm aufzuwecken und danach wieder unempfindlich zu machen.

Diese Fähigkeit würde bei Unfällen und im Kriege unzähligen Menschen große Leiden ersparen und sogar dem Verluste von Gliedern vorbeugen; doch wäre ja wohl zu hoffen, daß ihre Verallgemeinerung ohnehin eine Erleuchtung der Geister mit sich führte, die jene Unfälle und Kriege überhaupt abstellt. Der nun seit einigen Jahren verstorbene Dr. F. W. B Fahnestock zu Lancester in Pennsylvanien, dem ich den verinnerlichten Zustand hier nachbeschreibe,Siehe dessen Schrift: Statuvolence oder der gewollte Zustand und sein Nutzen als Heilmittel in Krampfzuständen und bei Krankheiten des Geistes und Körpers. Leipzig, O. Muße. erzählt einen Fall, der eine wunderbare Verwandtschaft mit manchen »Teufelaustreibungen« der früheren Jahrhunderte zeigt. Eine Jungfrau in Cincinnati, die mit solchen Zuständen noch ganz unbekannt war, wurde – und zwar, wohlgemerkt, zuerst in der Kirche – von einem »Geiste« heimgesucht und deswegen von Freundinnen nach Hause gebracht. Der Geist verließ sie wieder, kehrte jedoch dann und wann zu ihr zurück.

Als Dr. F. dorthin kam – es war im Hause seines Freundes –, war der Geist vor einigen Tagen bei der Jungfrau gewesen. Sie schien in Folge dessen an einer Krankheit zu leiden, an welcher der Geist – denn es war der eines Verstorbenen – hatte sterben müssen. Darum war auch nichts Vernünftiges aus ihr herauszubekommen.

Der Freund nahm sich nun hilfreich des Geistes an. Dr. F. sah dem eine Weile ruhig zu, dann aber sagte er: »Der Geist braucht sich durchaus nicht unglücklich zu fühlen. Wir wollen ihn nur bitten, bei seinem Unglück nicht mehr zu verweilen, sondern die Gedanken auf Andres zu lenken. Wenn er diesen Rath befolgt, wird er auf der Stelle von seinen Leiden erlöst sein.« Gesagt, gethan. Der Geist ging sofort auf diesen Vorschlag ein und wurde von seinen Schmerzen völlig befreit. Darüber war er nun so vergnügt, daß er anhub, herzlich zu lachen und sich ganz ungezwungen zu unterhalten. Als er die Jungfrau nun verlassen wollte, ersuchte ihn der Dr. F., sein Medium in dem Zustande zu verlassen, worin er sie gefunden, was er dann auch bereitwillig that.

Die Jungfrau erschien darauf ganz im verinnerlichten Zustande. Sie konnte aus der Ferne wahrnehmen, kurz, ihre Fähigkeiten hatten sich in der oben beschriebenen Weise ausgedehnt. Man forderte sie jetzt auf, nur den Kopf zu erwecken, und nachdem dies geschehen, einen Körpertheil nach dem andern zu erwecken und auch wieder gefühllos zu machen. Das Alles vollzog sie sehr leicht; zum Erstaunen der Anwesenden konnte sie jeden beliebigen Theil des Körpers dem Zustande unterwerfen und auch wieder entziehen und ihm dadurch Empfindung verleihen oder sie nehmen.

Am folgenden Abend wurde sie aufgefordert, sich wieder in den Zustand zu versetzen. Dies that sie mit Leichtigkeit, gab einige Proben von »Hellsehen« in die Ferne, besuchte im Geiste einige Freundinnen, und dann kam jener »Geist« wieder über sie. Doch war es ihm jetzt gleich von vornherein bei ihr wohl.

Solche Fälle, deren Dr. F. noch viele erlebt zu haben versichert, führten ihn zur Ueberzeugung, daß man allein im verinnerlichten oder somnambulischen Zustande von Geistern besucht werden und auf diesem Wege auch zum Fernwahrnehmen gelangen könne. Nur müsse hierzu der Geist, bevor er das Medium verläßt (wie im erzählten Falle geschehen), ersucht werden, es in dem Zustande, worin er es gefunden habe, wieder zurückzulassen.

Andere, wie Dr. Wittig, erklären diese »Geister«, ohne deren Dasein zu leugnen, für bloße Vorstellungen oder Erinnerungsbilder, kurz, für eine Art von Traum-Erscheinungen. Doch könne man solche Einbildungen nicht besser vertreiben, als durch zeitweiliges Eingehen darauf, um die verirrte Einbildungskraft am Faden ihrer eigenen Vorstellungen wieder aus dem krankhaften Zustande hinauszuführen. Damit nun dies möglich werde und nicht Wahnsinn eintrete, dazu soll der selbsteigne Vernunftwille immer geübt und gestählt werden.

Die Medien brauchen, nach Dr. Fahnestock, wenn sie klug genug sind, die Leiden der sie besuchenden Geister keineswegs auf sich zu nehmen, ja die Geister selbst können sich die Leiden ersparen, wenn so verfahren wird, wie in dem oben erzählten Falle.

Geister können nach dieser Lehre auch Heilungen bewirken, indem sie der Seele des Mediums Offenbarungen ertheilen, und zwar besonders in dem verinnerlichten Zustande.

Um den Menschen aus diesem Zustande wieder zu erwecken, fragt man ihn, ob er erwachen wolle. Ist dieses der Fall, so lenkt man seine Gedanken dahin, von wo sie ausgingen, und heißt ihn die Augen öffnen. Gegen seinen Willen kann man ihn dazu nicht veranlassen. Bevor man ihn das erste Mal weckt, schärft man ihm ein, sich zu merken, was er Alles gesehen, gehört und gefühlt hat, weil er sich andernfalls dessen gar nicht erinnert. Später ist das bei den Meisten nicht mehr so nöthig. Manche können sich nach Belieben und Stimmung an Alles, Einiges oder gar nichts erinnern, so groß ist die Kraft des Willens.

Es muß freilich auffallen, daß Dr. Fahnestock mehr Anweisung für den Schüler als für den Leiter giebt. Zwar ist ein erschöpfender Unterricht für die Thätigkeit des Leiters vielleicht überhaupt schriftlich nicht möglich, sondern bloß durch persönliche Anleitung, und kann zumal von einer nur 45 Seiten umfassenden Schrift, die doch hauptsächlich anregen soll, nicht verlangt werden. Allein im Verhältniß zu diesem Umfange müßte man bei der großen Wichtigkeit, die der Sache beigelegt wird, doch ausführlichere Anweisungen erwarten. Sollte vielleicht beabsichtigt sein, den Leser nur um so neugieriger zu machen? Hat es doch der von wunderbaren Dingen handelnden Bücher zu aller Zeiten so viele gegeben, die dem Leser nur eine verdeckte Schüssel zeigen. Sollen wir nach Lancester in Amerika reisen ....?

Wer den Menschen eine nützliche Wahrheit mitzutheilen hat, der soll es doch immer so deutlich thun, daß sie Allen, die sie fassen können, womöglich so klar einleuchte wie ihm selber, damit sie von andern weiter entwickelt, vor allem jedoch voll genutzt werden könne. Ich glaube auch, daß dieser Forderung der Vernunft und des Gemeinwohles weit mehr genügt werden würde, wenn die Menschen nicht, in Folge unserer Wirtschaftsordnung, darauf ausgingen, das, was sie haben und wissen, zur Quelle fortlaufender Einnahmen zu machen. So wird manches kostbare Gut, was der Menschheit frei hingegeben werden sollte, ängstlich gehütet, um es so lange und so ergiebig wie möglich auszubeuten. Wer aber solche höhere Zustände kennt, wie den oben beschriebenen, wer an ein Reich des Geistes in irgend einem Sinne glaubt, der sollte sich auch vom materiellen Besitz in dem Grade unabhängig fühlen, um jenen engherzigen Grundsatz fallen zu lassen. Denn dadurch wird nur zu leicht ein gewisses Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit wachgerufen, weil man sich sagt, daß wer seinen Sondervortheil höher stellt als die Sache, die er vertritt, auch wohl im Stande sein könne, um seines Vortheils willen die Sache zu verfälschen, sich etwas auszudenken und es als wissenschaftliche Wahrheit zu behaupten.

Dies hier nur allgemein. Denn im Hinblick auf den vorliegenden Fall wird uns von anderer, durchaus glaubwürdiger Seite her versichert, daß Dr. F. mit Erfolg Menschen in jenen verinnerlichten Zustand versetzt habe. Ein Dr. F. F. Faber in Atalanta (im nordamerikanischen Staate Georgia) soll in dieser Kunst ein vollkommener Meister geworden sein. Er könne ganz nach Willen seinen ganzen Körper oder auch jeden beliebigen Theil desselben in diesen Zustand und wieder heraus versetzen. Er sei bereit, diese Kunst Jedem zu zeigen, der ihn aufsuchen will. Er hat Schritte gethan zur Gründung einer Anstalt, worin diese Kunst Allen, womöglich unentgeltlich, gelehrt werden soll. Sollte sich's nicht für Die, welche die Ausstellung in Chicago besuchen, empfehlen, einen Abstecher nach Atalanta zu machen, um sich von Dr. Faber unentgeltlich zu Universal-Aerzten ihrer selbst und der ganzen Menschheit machen zu lassen?

Da der Wille die oberste Macht ist, so kann der Mensch, wenn er in dem verinnerlichten Zustande einen festen Entschluß faßt, diesem auch nach dem Erwachen Folge leisten. Oder wenn er sich dem festen Glauben an etwas, was mit ihm vorgehen werde, hingiebt, so tritt dieses auch ein. Das können wir uns aber nicht anders erklären als durch eine mit dem verinnerlichten Zustande verbundene Art von Allwissenheit, oder, um nicht mehr zu sagen, als ich sagen will, eine geistige Durchdringung von gegenwärtigen, vergangnen und zukünftigen Vorgängen, mit der unser waches Erkennen keinen Vergleich aushält. Und hieraus hat man denn auch, um die Annahme von Geistern aus einem Jenseits entbehrlich zu machen, die Erscheinungen des Somnambulismus oder jenes verinnerlichten Zustandes zu erklären gesucht, wogegen denn freilich von Seiten der Spiritisten wieder gewichtige Einwände erhoben werden.Siehe »Animismus und Spiritismus« von Aksákow. 2 Bde. Leipzig, 1890.

Wie dem aber auch sei, so hat sich der verinnerlichte Zustand als ein Mittel zur Heilung von Krankheiten, eingewurzelten Gewohnheiten und unglücklichen Gemüthszuständen bewährt. Denn Fahnestock behauptet auf Grund von 35jährigen Versuchen, daß gleich dem bewegenden auch der empfindende Theil des Nervensystems dem Willen unterworfen werden könne. Das wäre denn freilich von unberechenbarem Segen für die leidende Menschheit – vorausgesetzt, daß sie zugleich überhaupt geistig gehoben würde. Denn andernfalls würde ein solches Mittel, wie ja heute schon die meisten Kräfte der Menschen, mindestens ebenso sehr zum Schlechten wie zum Guten angewandt werden. Die zu erwartenden Schmerzen sind es ja, welche die Menschen von der Uebertretung der natürlichen Gesetze zurückhalten oder wenigstens, wenn sie vernünftig wären, zurückhalten sollten. Fielen aber diese natürlichen Strafen weg, könnte der Natur die Geißel aus der Hand gerungen werden, womit sie die Vergehen gegen ihre heiligen Gesetze straft, so müßten augenscheinlich dem Unrecht noch größere Triumphe zutheil werden als es heute schon feiert. Auch müßte sich mit einem völligen Verschwinden des Schmerzes zugleich das Aufhören der Lust verbinden; oder, anders gesagt, ein Lustzustand schafft sich, da alles Leben auf Gegensätzen beruht, selber seinen Gegensatz, den Schmerz. Wir würden daher unsere Hoffnung und unser Streben nur auf die Abstellung des Uebermaßes zu richten haben.

Was nun aber die Heilungen durch den verinnerlichten Zustand betrifft, so werden wir versichert, daß weder Aufregung, noch Entzündung, noch Krampf oder Schmerz während desselben oder nachdem sie vom Willen abgeworfen sind, länger verharren können. Auch bei dem schwersten Nervenleiden in irgend einem Theile des Körpers soll die Versetzung dieses Theiles in den Zustand der Empfindungslosigkeit dem Kranken augenblickliche Erleichterung geben. Verlangt die Krankheit, daß der Theil längere Zeit in dem Zustande behalten werde, so könnte das nach dieser Lehre ebenso leicht geschehen, wie das Zusammenziehen und Strecken irgend welcher Muskeln.

Dann aber würde der Menschheit eine Zeit winken, wo, durch gründlichste Erforschung und Ausnutzung des verinnerlichten Zustandes, alle drückenden Leiden aufhörten und die Menschen schon auf Erden in einer Art Paradies wandelten, besonders wenn die Wissenschaft ihre Hoffnung wahr macht, Bäume, Gras und Stroh durch Ausziehung des Stärkemehlgehaltes eßbar und damit jeden Nahrungsmangel unmöglich zu machen.

Wer's allerdings nicht zu glauben vermag, daß er jenen seligen Zustand erreichen könne, der kann ihn darum auch nicht erreichen, wie ja so vieles Nöthige im Leben der Gesellschaft, Alles in Allem: die Verwirklichung eines reinen Christenthums, einfach deswegen bisher nicht möglich war, weil die Menschen den Glauben an die Möglichkeit in sich nicht zu entzünden vermochten. Die Meisten leben der Meinung, so etwas müsse vom Ganzen ausgehen, ohne gehörig zu bedenken, daß das Ganze ja nur aus den Einzelnen besteht, daß sie selbst solche Bestandtheile des Ganzen sind, und daß folglich sie selbst, Jeder an seinem Platze, beginnen müßten.

Hier ist nun etwas gegeben, ein Weg gezeigt, den Jeder allein gehen kann und wozu nur eine allerdings nicht Jedem leicht mögliche praktische Anleitung nöthig ist. Das Ziel ist herrlich, der Weg nicht eben beschwerlich, nein, mit farbenprangenden, duftenden Blumen an seinen Rändern geschmückt. Die Ausgeburten frömmlerischen Wahnes brauchen wir nicht mehr damit zu verbinden, sie lassen wir dahinten, und ohne einen anderen Priester, als den uns anleitenden Freund, gehen wir ein in einen höheren Zustand, in ein unendlich weiteres und schöneres Land – aber nicht ohne die Kraft des Willens und des Glaubens.


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