James Fenimore Cooper
Der rote Freibeuter
James Fenimore Cooper

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Zweiunddreißigstes Kapitel.

Dieses »Morgen« kam, und mit ihm eine vollkommene Verwandlung der Szene. Friedlich segelten der Delphin und der Pfeil Seite an Seite; die Fahne Englands wehte wieder vom Flaggentopp des Pfeil, während der Delphin eine nackte Gaffelspitze zeigte. Die Beschädigungen, die Sturm und Gefecht verursacht hatten, waren so weit wieder ausgebessert, daß beide stattliche Schiffe dem gewöhnlichen Auge gleich fähig erscheinen mußten, die Gefahren der See oder des Krieges abermals zu bestehen. Ein langer, blauer Nebelstreif nach Norden zu, deutete die Nähe von Land an; und drei oder vier leichte Küstenfahrer jener Gegenden, die unfern segelten, bewiesen, daß die Freibeuter jetzt nichts weniger als feindliche Absichten im Sinne führten.

Was indessen ihre eigentliche Bestimmung sei, blieb noch immer ein in der Brust des roten Freibeuters allein vergrabenes Geheimnis. Nicht nur auf den Zügen seiner Gefangenen, sondern auch auf denen seiner eigenen Leute malten sich abwechselnd die Spuren von Zweifel, Bewunderung und Mißtrauen; die ganze lange Nacht hindurch, die auf den letzten, ereignisreichen, wichtigen Tag folgte, hatte man ihn in brütendem Schweigen auf dem Hüttendeck auf und ab wandeln sehen. Nur dann und wann vernahm man einige Laute aus seinem Munde; es waren Kommandoworte in Beziehung auf die Richtung, die dem Schiffe gegeben werden sollte, ein Wink, dem niemand Gehorsam zu versagen wagte, reichte hin, um jeden zu entfernen, der so kühn war, sich seiner Person zu nahen, ohne daß es der Dienst erforderte, und sicherte ihm die gewünschte Einsamkeit. Zwar sah man ein- oder zweimal den Knaben Roderich in seiner Nähe, allein es war so, wie man sich einen um den Gegenstand seiner Sorgfalt weilenden Schutzgeist denkt, und fast dürfte man hinzusetzen: unsichtbar. Als aber nun, glanzreich und herrlich, die Sonne dem östlichen Gewässer entstieg, wurde eine Kanone abgefeuert, das Zeichen für eines der nahesegelnden Küstenschiffe, an die Seite des Delphin heranzukommen; und nun schien es, daß der Vorhang vor der Schlußszene des Dramas aufgezogen werden sollte. Die Mannschaft auf dem tieferen Deck vor ihm versammelt und die vorzüglichsten Personen seiner Gefangenen oben bei ihm auf dem Deck, redete der Rover seine Leute also an:

»Jahrelang hat uns ein gemeinsames Los vereint. Lange gehorchten wir einem und demselben Gesetze. Wenn ich schnell war in der Bestrafung, so war ich nicht minder bereit, unseren Gesetzen zu gehorchen. Ihr könnt mich keiner Ungerechtigkeit zeihen. Allein der Bund hat nunmehr sein Ende erreicht. Zurück nehme ich mein gegebenes Pfand, zurück gebe ich euch eure verpfändete Treue. Ihr zürnt? Ihr stutzt? Ihr murrt? Lasset das! Der Vertrag ist zu Ende, und mit ihm unsere Gesetze. Damit ihr keinen Grund zum Vorwurfe habet, sei mein Schatz euch geschenkt. Seht,« sagte er, indem er jene blutige Flagge wegzog, mit der er so oft der Macht der Nationen Trotz geboten, und die Säcke voll des Metalls, das seit Jahrhunderten die Welt regiert, sehen ließ – »seht! Dies war mein, es ist nun euer! Es soll in jenes Küstenschiff gebracht werden; dort mögt ihr es selbst unter denen verteilen, die euch am würdigsten scheinen. Geht; das Land ist nah. Zerstreut euch, zu euerm eigenen Besten, zerstreut euch. Verzieht nicht, zu gehorchen; denn ohne mich, das wißt ihr gar wohl, würde dies Fahrzeug des Königs von England jetzt euer Herr sein. Das Schiff selbst gehört mir bereits, von dem Rest der Beute verlange ich nichts als diese Gefangenen. Lebt wohl!«

Stummes Staunen folgte auf diese unerwartete Anrede. In der Tat zeigte sich einen Augenblick lang einige Neigung zur Meuterei; allein zu gut hatte der Rover seine Maßregeln gegen Auflehnung genommen. Entlang dem Delphin lag der Pfeil, dessen Mannschaft mit brennenden Lunten an den schweren Seitenbatterien kampffertig stand. Unvorbereitet, ohne Anführer und überrascht wäre Widerstand Wahnsinn gewesen. Kaum waren sie von ihrem ersten Staunen zurückgekommen, so stürzte ein jeder Freibeuter fort, seine eigenen Habseligkeiten auf das Verdeck des Küstenschiffes und dort in sichere Verwahrung zu bringen. Als alle, bis auf die Bemannung eines einzigen Bootes, den Delphin verlassen hatten, wurde ihnen das verheißene Gold ausgehändigt, und bald sah man das beladene Fahrzeug dem Schutze einer verborgenen Bucht zueilen. Still wie der Tod schaute der Rover diesem Auftritte zu. Hierauf wandte er sich gegen Wilder und sprach nach einer mächtigen, aber erfolgreichen Anstrengung, um seine Gefühle zu unterdrücken:

»Und nun müssen auch wir scheiden. Ihrer Sorgfalt empfehle ich meine Verwundeten. Ich muß sie notwendig in den Händen Ihrer Wundärzte zurücklassen. Ich weiß, Sie werden für die Ihnen Anvertrauten Sorge tragen.«

»Mein Wort als Unterpfand für ihre Sicherheit«, erwiderte der junge de Lacey.

»Ich glaube Ihnen. – Madame,« fuhr er fort, indem er sich der älteren Dame mit einem Blicke näherte, in dem der Kampf zwischen Zaudern und Entschlossenheit sichtbar erschien, »wenn ein verfolgter und schuldiger Mann Sie noch anreden darf, so gewähren Sie eine Bitte.«

»Nennen Sie sie; nie kann dem, der einer Mutter das Kind erhielt, ihr Ohr verschlossen sein.«

»Wenn für dies Kind Ihre Gebete gen Himmel steigen, so vergessen Sie nicht, daß es auch außer ihm noch ein Wesen gibt, dem sie frommen können! – Genug. – Und jetzt,« fügte er hinzu, indem er, entschlossen das Weh des Augenblicks, es koste, was es wolle, ganz zu durchfühlen, den schmerzvollen Blick über das vor kurzem von regem, tosendem Leben volle, nunmehr einsame Verdeck schweifen ließ; »und jetzt – ja – jetzt scheiden wir! Das Boot wartet Ihrer.«

Wilder bedurfte nur wenig Zeit, um seine Mutter und Gertraud in die Pinasse zu begleiten; allein er selbst kehrte wieder zurück. Es war ihm, als könne er das Verdeck nicht verlassen.

»Und Sie,« sagte er, »was wird aus Ihnen werden?«

»Ich werde bald . . . vergessen sein. – Leben Sie wohl!«

Die Art, wie der Rover diese Worte sprach, verbot jedes längere Zaudern. Der Jüngling stockte, drückte ihm die Hand und ging.

Seinem eigenen Schiffe wiedergeschenkt, dessen Kommando durch Bignalls Tod auf ihn überging, erteilte Wilder sogleich den Befehl, die Segel beizusetzen und auf den nächsten Hafen seines Vaterlandes zuzusteuern. Solange als die Gesichtskraft die Bewegungen des auf dem Delphin zurückgebliebenen Menschen zu erreichen vermochte, war kein Blick von dem regungslosen Schiff abgewendet. Da lag es, das Oberbramsegel am Mast, ein schöner Bau, lieblich anzusehen in seinem Ebenmaße und vollkommen in allen seinen Teilen, wie durch Feenmacht hingepflanzt. Man entdeckte eine menschliche Gestalt, die rasch auf der Hütte hin und her ging, und ihr zur Seite schwebte ein Wesen, das aussah wie der verjüngte Schatten der bewegten Figur. Endlich verschlang die Entfernung auch diese schillernden Bilder! Das Auge mühte sich nunmehr umsonst, von den inneren Bewegungen des ferner und ferner zurückweichenden Schiffes eine Spur aufzufangen. Allein bald endete jeder Zweifel. – Ein Flammenstreif blitzte plötzlich vom Verdeck hervor, wild aufwärts von einem Segel zum andern springend. Nun entquoll dem Rumpfe eine ungeheure Rauchwolke und dann das gedämpfte Gebrüll des losgehenden Geschützes. Diesem folgte das erhabene, nicht minder anziehende als furchtbare Schauspiel eines im Brande stehenden Schiffes. Eine unermeßliche Rauchhülle lagerte sich über der Stelle, und das Ganze endete mit einem Krach, von dem trotz der Entfernung die Segel des Pfeil erzitterten und in ungewisse Schwankung gerieten, als wenn die Passatwinde ihren ewigen Strich verlassen hätten. – Als sich die schwarze Wolke von der Meeresfläche weghob, blieb dem Blick nichts mehr als eine fortgesetzte Wasseröde sichtbar; vergebens strebte das Auge, den Fleck wiederzufinden, wo so kürzlich jenes schöne Erzeugnis menschlicher Geschicklichkeit geschwommen hatte. Einige von denen, die mit Ferngläsern versehen, die obersten Stengen des königlichen Kreuzers erklettert hatten, glaubten zwar einen einsamen schwarzen Punkt auf der See zu erblicken; ob es aber ein Boot oder einige Trümmer des Wracks gewesen, hat man nie erfahren können.

Von jener Zeit an begann sich die Geschichte des gefürchteten roten Freibeuters nach und nach, verdrängt durch die neuen Ereignisse auf jenen belebten Seegegenden, zu verlieren. Doch geraume Zeit noch pflegten Seefahrer sich die langen Wachen der Nacht mit den Erzählungen tollkühner Taten zu verkürzen, die unter dessen Befehlen ausgeführt worden sein sollten. Das Gerücht verfehlte nicht, sie auf alle erdenkliche Weise auszuschmücken und zu entstellen, bis der wahre Charakter, ja der Name des Mannes mit dem anderer großer Frevler zusammenfloß. Auch traten Vorfälle von höherem, erhebenderem Interesse ein, die alle Einzelheiten verwischten und nur noch eine unbestimmte, von vielen für schimärisch und unwahrscheinlich gehaltene, Sage übrig ließen. Die britischen Kolonien empörten sich gegen die Regierung der Krone, und ein lang sich hinziehender Krieg führte endlich den gewünschten Erfolg herbei. Newport war bald von den Truppen des Königs von England, bald von denen jenes Monarchen besetzt, der eine ritterliche Schar seines Volkes geschickt hatte, um in dem Kampfe hilfreiche Hand zu leisten, der dem nebenbuhlerischen Reiche dessen ungeheuere Besitzungen entriß.

Der schöne Hafen hatte feindliche Flotten beherbergt und die friedlichen Landhäuser gedröhnt unter dem Gejauchze junger Krieger. – Über zwanzig Jahre waren seit den erzählten Ereignissen in das Buch der Zeiten eingetragen, als die Inselstadt abermals der Schauplatz eines solchen Freudenfestes war, wie es die erste Szene unserer Erzählung schilderte. Die verbündeten Truppen hatten durch Geschicklichkeit und größere Anzahl den unternehmendsten Anführer der Engländer gezwungen, sich und seine Armee gefangen zu geben. Man glaubte, der Krieg sei zu Ende, und die werten Städter waren, wie gewöhnlich, etwas laut in dem Ausbruch ihrer Freude gewesen. Doch mit dem Tage nahmen auch die Lustbarkeiten ein Ende; und als die Farbe der Abenddämmerung sich in die schwärzere der Nacht zu verschmelzen anfing, verbreitete sich auch über den Ort die gewöhnliche Stille eines Provinzialstädtchens. Eine stattliche Fregatte, die gerade auf demselben Fleck vor Anker lag, wo das Fahrzeug des Rover erst dem Leser erschienen ist, hatte bereits die bunten, heiteren Farben der Alliierten niedergelassen, die, weil es ein Galatag war, vereint geflattert hatten, und nur eine einzige Flagge von gemischten Farben, mit einer Gruppe glänzender, aufgehender Sterne, sah man noch an ihrer Gaffelspitze wehen. In diesem Augenblick erschien auf der offenen See draußen ein Fahrzeug, bei weitem kleiner, das aber ebenfalls die Flagge der jungen Staaten führte. Da die Flut eben zurückkehrte und der Wind die Segel nicht faßte, so ließ es in der Durchfahrt zwischen den Eilanden Connecticut und Rhode einen Anker fallen, und sofort wurde ein Boot sichtbar, das von den Armen sechs stämmiger Männer nach dem innern Hafen zuruderte. Als die Barke einen etwas abgelegenen und verlassenen Teil der Kaje erreichte, konnte ein Mann, der einsam dastand und ihre Bewegungen beobachtet hatte, unterscheiden, daß sie eine mit Vorhängen verhüllte Tragbahre und eine einzige weibliche Gestalt enthielt. Aber ehe noch die erwachte Neugier des einsamen Beobachters Zeit hatte, sich in allerhand Mutmaßungen zu ergehen, waren schon die Ruder aus dem Wasser geschwungen, berührte schon das Boot die Schälung, und die Tragbahre, von den Seeleuten getragen und von dem Weibe begleitet, hielt vor ihm.

»Sagen Sie mir, ich bitte,« erklang es von einer Stimme, in deren Tönen Schmerz und Entsagung wunderbar vereint waren, »ob Kapitän Heinrich de Lacey von der KontinentalmarineDen Seetruppen der Vereinigten Staaten Nordamerikas. ein Haus in dieser Stadt besitzt?«

»Das hat er,« antwortete der von der Frau angeredete Alte, »das hat er; oder wie man eigentlich sagen könnte, zwei, indem die Fregatte dort nicht weniger sein ist, als das Wohngebäude hier auf der Anhöhe.«

»Du bist zu alt, um uns den Weg zu zeigen; doch, wenn ein Enkelchen oder irgend jemand, der nichts zu tun hat, in der Nähe ist, hier ist Silber, ihn zu belohnen.«

»Ei du guter Gott, gnädige Frau!« erwiderte der andere, sie wegen ihrer demütigen Erscheinung mit einem Seitenblick betrachtend, der gleichsam den gegebenen Titel wieder zurücknehmen sollte, und dabei mit ganz besonderer Sorgfalt die angebotene kleine Münze in die Tasche steckend. »Ei du guter Gott, Madame! Bin ich auch alt und einigermaßen geschwächt durch Strapazen und wunderbare Abenteuer zu See und zu Land, so will ich doch gern für jemand in Ihrer Lage einen so kleinen Dienst tun. Folgen Sie mir, und Sie werden sehen, daß Ihr Lotse nicht ganz unbekannt mit dem Pfade ist.«

Noch ehe der Alte mit dieser selbstgefälligen Anpreisung seiner Tüchtigkeit fertig war, hatte er rechtsum geschwenkt und den Weg eingeschlagen, der von der Kaje abführte. Die Seeleute und die Frau folgten, letztere an der Seite der Tragbahre, in stille Schwermut versunken.

»Solltet Ihr etwa Erfrischungen nötig haben,« sagte ihr Wegführer und zeigte dabei über die Schulter weg, »dort ist ein wohlbekanntes Wirtshaus, das seinerzeit von Matrosen stark besucht wurde. Nachbar Joram und der Unklare Anker sind in ihren Tagen berühmt gewesen, so gut wie der größte Krieger im Lande; der ehrliche Joram ist freilich eingetan zu seinen Vätern, aber das Haus steht noch so fest wie an dem Tage, da er es zuerst betrat. Er ist als ein gottseliger Christ gestorben, und jeder bange Sünder sollte zum Heil seiner Seele dessen frommes Beispiel vor Augen haben.«

Hier vernahm man aus dem Innern der Tragbahre einen tiefen, dumpfen Seufzer; der Wegweiser stand stille und lauschte, allein kein ferneres Zeichen bot sich dar, wodurch er hätte auf die Spur kommen können, wer sich wohl drinnen befinden möchte.

»Der kranke Mann leidet,« nahm er wieder auf; »aber körperlicher Schmerz und alle Leiden, die wir im Fleische erfahren, dauern nur eine bestimmte Zeit. Sieben blutige und grausame Kriege hab' ich erlebt, der siebente, der jetzt wütet, wird, Gott woll' es, der letzte sein. Im sechsten hab' ich Ihnen Wunder gesehen, Gefahren ausgestanden – ihresgleichen hat noch kein Auge geschaut, kann keine menschliche Zunge aussprechen!«

»Die Zeit ist rauh mit Euch umgegangen, Freund,« unterbrach ihn sanft die Frau, »hier habt Ihr Gold; vielleicht trägt es dazu bei, Euch die übrigen Lebenstage zu versüßen.«

Der Krüppel, denn der Wegführer war nicht nur alt, sondern auch lahm, empfing das Geschenk mit großer Dankbarkeit und war von nun an zu sehr beschäftigt, den Betrag bei sich zu überschlagen, um in seiner Redseligkeit fortzufahren.

Das kurze Dämmerlicht war verschwunden, während die Träger noch im Hinansteigen des Abhangs begriffen waren, und es war Nacht, als die Gruppe in tiefem Schweigen an der Haustür der Villa anlangte. Nachdem der Alte die Klingel stark angezogen hatte, wurde ihm bedeutet, daß seine Dienste nun nicht weiter vonnöten seien.

»Viele und schwere Fährlichkeiten hab' ich mitgemacht,« wendete er ein, »und gar wohl weiß ich, daß ein kluger Seefahrer den Lotsen nicht eher entläßt, als bis das Schiff sicher vor Anker liegt. Vielleicht ist die alte Madame de Lacey ausgegangen, oder der Kapitän mag vielleicht nicht . . .«

»Genug, Freund, hier ist schon jemand, der uns Auskunft geben wird.«

Die kleine Tür wurde jetzt geöffnet, und ein Mann mit einem Licht in der Hand erschien auf der Schwelle. Die Erscheinung des Türstehers war gerade nicht von der aufmunterndsten Art. – Ein gewisses Aussehen, das keiner der es nicht hat, zum Schein anzunehmen, keiner, der es hat, von sich abzulegen vermag, ließ sogleich den Sohn des Ozeans erkennen, und ein hölzerner Fuß, der seinen noch immer vierschrötigen, athletischen Körper stützen half, bewiesen hinlänglich, daß die Erfahrungen, die er in seinem verwegenen Berufe gemacht haben mochte, nicht ohne einige persönliche Gefahr erkauft waren. Seine Züge, beschienen von dem Lichte, das er hoch über dem Kopf hielt, um die verschiedenen Personen genauer zu untersuchen, die eine Gruppe vor der Tür bildeten, hatten etwas Absprechendes, Düsteres, ja Wildes. Doch unterschied er gar bald den Krüppel, den er ziemlich barsch fragte, was »eine solche Bö zur Nacht« bedeuten solle.

»Hier ist ein verwundeter Seemann,« erwiderte die Frau mit so bebendem Ton, daß das Herz des nautischen Zerberus auf der Stelle dadurch erweicht wurde: »er kommt, um das Recht der Gastfreundschaft von einem Kriegsgenossen anzusprechen, und um eine Herberge für die Nacht zu bitten. Wir wünschten, den Kapitän Heinrich de Lacey zu sprechen.«

»Dann haben Sie an der rechten Küste Anker geworfen, Madame,« erwiderte der Teer, »wie Ihnen der junge Herr, der Paul hier, in seines Vaters Namen, nicht minder versichern wird als in dem der gnädigen Frau, seiner Mutter; und auch, nicht zu vergessen, im Namen der alten gnädigen Frau, seiner Großmama, die, was das anbelangen tut, selber kein Neuling oder Süßwasserfisch ist; ja, das wird Master Paul da Ihnen versichern.«

»Herzlich gern«, sagte ein männlich schöner Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren, der die Uniform eines Seekadetten trug und von hinten dem alten Seemann neugierig über die Schultern gesehen hatte. »Ich will meinem Vater den Besuch melden, und du Richard, du suchst ohne Verzug einen schicklichen Raum für unsere Gäste.«

Die Weise, wie dieser Befehl gegeben wurde, verriet, daß Selbsthandeln und Gebieten dem Jüngling schon nichts Ungewohntes waren. Richard gehorchte auf der Stelle. Das Gemach, das er wählte, war das gewöhnliche Wohnzimmer im Hause, wo die Träger die Bahre nach wenigen Augenblicken niederstellten und darauf entlassen wurden, so daß die Frau allein blieb mit dem in der Bahre Befindlichen und dem barschen Diener, der sie mit so vieler Derbheit empfangen hatte. Der letztere befleißigte sich, die kurze Zwischenzeit bis zur Erscheinung seiner Herrschaft durch Sprechen so wenig langweilig als möglich zu machen, dabei hatte er allerhand zu schaffen, putzte die Lichter, legte frisches Holz auf das hellflackernde Feuer, ohne deswegen die geringste Pause eintreten zu lassen. – Jetzt öffnete sich eine innere Tür, und der Jüngling führte die drei Bewohner des Hauses ins Zimmer.

Zuerst kam ein Mann von mittleren Jahren, in der Negligéeuniform eines Schiffskapitäns der neuen Staaten, eine Heldengestalt. Ruhig war sein Blick und noch immer fest sein Schritt, wenn auch die Zeit und Strapazen seinem Haupthaar schon die Mischung von Grau gaben. Den einen Arm trug er in einer Binde, ein Beweis, daß er erst vor kurzem in Aktion gewesen sein mußte; am andern schmiegte sich eine Matrone, deren noch immer blühende Wangen und glänzendes Auge die Spuren gereifter hoher Schönheit trugen. Diesen beiden folgte eine Dame, mit zwar weniger elastischem Schritte, deren ganze Person aber von dem friedlichen Abend eines stürmischen Lebenstages zeugte. Die drei grüßten höflich die Fremde, ohne ihr Zartgefühl durch irgendeine vorschnelle Frage nach der Ursache ihres Besuches zu verletzen. Auch war diese Rücksicht nichts weniger als überflüssig; denn der ganze Körper der unbekannten Dame, der ohnedies von Schmerz und Schwäche erschöpft schien, fing an zu zittern und zeigte nur zu deutlich, daß ihr eine Pause not tat, um ihre Kraft zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen.

Sie weinte lange und schmerzlich, ganz als wäre sie einsam; erst als längeres Schweigen Verdacht erregt haben würde, versuchte sie zu sprechen. Sie trocknete die Tränen von einer Wange, auf der eine hektische Röte glänzte, und dann vernahmen ihre erstaunten Wirte zum erstenmal den Ton ihrer Stimme:

»Sie sehen diesen Besuch vielleicht als eine Zudringlichkeit an; doch der, dessen Wille mir Gesetz ist, wollte hierher gebracht sein.«

»Mit welchem Wunsche?« fragte der Offizier sanft, als er bemerkte, daß ihr schon die Rede versagte.

»Zu sterben!« flüsterte sie mir erstickter, schluchzender Stimme.

Bei diesen Worten fuhr ein jeder ihrer Zuhörer erschreckt zusammen; hierauf trat der ältere Herr an die Bahre, zog sanft den Vorhang beiseite und enthüllte den bis jetzt unsichtbaren Bewohner den forschenden Augen aller Anwesenden. Helles Bewußtsein lag in dem Blick, der dem seinigen begegnete, obgleich die blassen Züge des Verwundeten nur zu unverkennbar das Gepräge des Todes trugen. Nur sein Auge schien noch der Erde anzugehören; das ganze Antlitz hatte bereits das Starre der letzten Stufe menschlicher Schwäche angenommen, sein Auge allein blieb glänzend, voller Bewußtsein, glühend – fast möchte man sagen strahlend.

Nach einer langen, feierlichen Pause, während der alle Umherstehenden trauernd in dem tragischen Anblick schwindender Sterblichkeit befangen waren, fragte Kapitän de Lacey: »Können wir durch irgend etwas zu Ihrem Troste beitragen, Ihren Wünschen entgegenkommen?«

Das Lächeln des Sterbenden hatte etwas Gespenstiges, und doch war in seinem Ausdruck, ebenso seltsam als schrecklich, Zärtlichkeit mit Schmerz vermischt. Er antwortete nicht, allein sein Auge schweifte von einem Gesicht zum andern, bis es, wie durch eine Art von Zauber, auf dem der ältesten Dame haften blieb. Seinen stieren Augen erwiderte ein nicht minder angestrengter Blick; ja, so sehr trat nach und nach das mächtige gegenseitige Gefühl der beiden hervor, daß es der Bemerkung der übrigen Zuschauer nicht entgehen konnte.

»Mutter!« sagte der Offizier mit liebevoller Besorgtheit; »meine Mutter! Was fehlt Ihnen?«

»Heinrich . . . Gertraud,« antwortete die Ehrwürdige und breitete, dem Hinsinken nahe, die Arme nach ihren Kindern aus; »ihr habt, meine Teuern, euer Haus einem geöffnet, der ein heiliges Recht hat es zu betreten. O, es ist in diesem Augenblicke, wo die Leidenschaften schweigen und sich unsere Hinfälligkeit offenbart, in diesem Augenblicke der Schwäche und der Krankheit ist's, wo die Natur ihr ursprüngliches Gepräge wiedererkennt! Ganz sehe ich es in diesem bleichen Antlitz, in diesen eingesunkenen Zügen, wo alles verschwunden ist, nur nicht der letzte dauernde Ausdruck der Familie, der Verwandtschaft!«

»Verwandtschaft!« rief Kapitän de Lacey; »unser Gast mit uns verwandt!«

»Ein Bruder,« antwortete die Dame, indem sie das Haupt auf die Brust sinken ließ, als ob sie einen Grad der Verwandtschaft ausgesprochen habe, der sie nicht minder schmerze als erfreue.

Der Fremde, zu sehr ergriffen, um sprechen zu können, gab seine Bestätigung durch eine freudige Gebärde zu erkennen, ohne den Blick von ihr abzuwenden, der seine Richtung behalten zu wollen schien, so lange als ihm das Leben Bewußtsein verlieh.

»Ein Bruder!« wiederholte ihr Sohn mit innigem Erstaunen. »Wohl wußte ich, daß Sie einen Bruder besaßen; doch glaubte ich, er sei schon im Knabenalter gestorben.«

»Ich selbst glaubte es lange, obgleich mir eine bange Ahnung vom Gegenteil die Seele oft mit Wehmut erfüllte; die Wahrheit steht aber zu klar auf diesem hingewelkten Antlitz, in diesen eingefallenen Zügen geschrieben, als daß sie noch verkannt werden könnte. Armut und Unglück trennten uns. Ich glaube, wir wähnten uns gegenseitig tot.«

Eine zweite schwache Bewegung verkündete die Beistimmung des Verwundeten.

»Es ist kein Grund zur Verheimlichung mehr vorhanden. Heinrich, der Fremde ist dein Oheim . . . mein Bruder . . . einst mein Pflegling.«

»Ich wünschte, ihn in glücklicheren Umständen zu treffen,« erwiderte der Offizier mit seemännischer Offenherzigkeit; »doch als ein Verwandter ist er von Herzen willkommen. Die Armut wenigstens soll Sie beide nicht wieder voneinander trennen.«

»Sehet doch, Heinrich – Gertraud!« fuhr die Mutter fort, sich die Augen beim Sprechen bedeckend, »dies Antlitz ist euch ja nicht fremd. Seht ihr denn nicht die traurigen Trümmer von einem, den ihr zugleich geliebt und gefürchtet habt?«

Erstaunt verstummten ihre Kinder und schauten, bis sich ihr Auge umdämmerte; solange, so angestrengt war ihr forschender Blick. Ein hohles Stöhnen aus der Brust des Fremden steigerte ihre Aufmerksamkeit bis zum höchsten Grade, und als seine leise, aber deutliche Sprache ihrem Ohre erklang, da schwand aller Zweifel, alle Verwirrung.

»Wilder,« sagte er, seine letzten Kräfte aufbietend, »ich bin gekommen, mir den letzten Dienst von Ihnen zu erbitten.«

»Kapitän Heidegger!« schrie der Offizier.

»Der rote Freibeuter!« sprach zitternd und erschreckt die jüngere Frau de Lacey und trat unwillkürlich einen Schritt rückwärts.

»Der Red Rover!« wiederholte ihr Sohn und drang mit unbezähmbarer Neugier einen Schritt vorwärts.

»Endlich abgetakelt!« war Fids barsche Bemerkung, als er mit seinem hölzernen Fuß näher zur Gruppe heranhinkte, die Feuerzange in der Hand, die er bisher in einem fort gehandhabt hatte, um einen Vorwand dafür zu haben, daß er im Zimmer blieb.

Als sich die augenblickliche Überraschung einigermaßen gelegt hatte, fuhr der Sterbende fort: »Lange hatte ich meine Reue wie meine Schande dem Blicke der Welt entzogen; aber dieser Krieg rief mich aus meiner Verborgenheit hervor. Unser Vaterland brauchte uns beide, und beide hat es gehabt! Sie haben gedient, wie einer dienen durfte, der sich nie ein Vergehen zuschulden kommen ließ; allein eine so heilige Sache mußte ein Name wie meiner nicht beflecken. Wenn die Welt einst von meinen schlechten Taten spricht, möge auch des wenigen Guten gedacht werden, das ich getan habe! Meine Schwester, meine . . . Mutter – verzeih' mir!«

»Der da seine Geschöpfe mit einer so furchtbaren Verschiedenheit der Gemüter bildet, Gott, blicke gnädig auf unsere Schwachheit hernieder!« betete Madame de Lacey kniend, mit himmelwärts gehobenen Augen und Händen. »O, Bruder, Bruder! Dir ward in deiner Kindheit von dem heiligen Geheimnis unserer Erlösung viel gesagt, du darfst nicht erst unterrichtet werden, auf welchen Fels sich deine Hoffnung auf Vergebung gründen muß!«

»Hätte ich nie jene Vorschrift vergessen, mein Name dürfte auch fortan mit Ehren erwähnt werden. Doch, Wilder!« fügte er abspringend und kräftig hinzu, »Wilder! . . .«

Aller Augen waren auf den Sprechenden geheftet. Er hielt eine Rolle, auf der er bis jetzt wie auf einem Kissen geruht hatte, in der Hand. Übernatürliche Kraft schien ihn zu durchströmen, als er sich mit halbem Körper in der Bahre erhob; und beide Hände hoch über sein Haupt emporhebend, ließ er jene glanzreiche, buntgestreifte Flagge mit ihrem blauen Feld aufgehender SterneFlagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika. vor ihnen herniederrollen, und wie in seinen stolzesten Tagen leuchtete noch einmal die Glut hohen Triumphes aus allen seinen Zügen.

»Wilder!« schrie er und gewann dem Tode noch ein krampfhaftes Lachen ab. »Wir haben gesiegt!« – Dann fiel er erstarrt zurück, und die triumphierende Miene umschattete der Tod, wie schwarze Wolken das Lächeln der glänzenden Sonne.

 


 


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