James Fenimore Cooper
Der rote Freibeuter
James Fenimore Cooper

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Wohl hätte man den »Delphin« während jener Augenblicke trügerischer Stille mit einem schlafenden Raubtiere vergleichen können. Aber gleichwie der Ruhezeit der Geschöpfe aus der Tierwelt von der Natur gewisse Grenzen gesetzt sind, so war auch, allem Anscheine nach, die Untätigkeit der Piraten nicht bestimmt, von anhaltender Dauer zu sein. Mit der Morgensonne blies ein frischer, Landgeruch mit sich führender Wind über das Wasser und setzte das träge Schiff abermals in Bewegung. – Mit breiter, längs allen Segelbäumen ausgespannter Leinwandfläche war sein Lauf diesen ganzen Tag hindurch südwärts gerichtet. Wachen folgten Wachen, Nächte Tagen, immer eine und dieselbe Richtung. Dann hoben sich die blauen Inseln, eine nach der andern, über die Meeresflächen empor. Die Gefangenen des Rover, denn für solche mußten die Damen sich nun halten, beobachteten schweigsam jeden grünen Hügel, bei dem das Fahrzeug vorbeiglitt, jede kahle, sandige Kaje, jeden Abhang, bis sie, nach der Berechnung der Gouvernante, schon mitten im westlichen Archipelagus steuerten.

Während dieser ganzen Zeit fiel keine Frage vor, die auch nur auf die entfernteste Weise dem Rover verraten konnte, daß seine Gäste recht wohl wüßten, er führe sie nicht in den versprochenen Hafen des Festlandes. Gertraud weinte bei dem Gedanken an den Schmerz ihres Vaters, der auf die Nachricht von dem verunglückten Bristoler Kauffahrteischiffe notwendig vermuten mußte, ihr sei ein gleiches Schicksal zuteil geworden; doch flossen ihre Tränen nur heimlich, oder an dem mitfühlenden Busen ihrer Erzieherin. Wildern vermied sie, denn sie hatte nun das bis zur Anschauung klare Bewußtsein, daß er nicht das sei, wofür sie ihn gehalten; gegen alle übrigen im Schiffe aber bemühte sie sich, in Blick und Mienen stets gleich heiter zu erscheinen. In diesem Benehmen, das freilich weit ratsamer war, als ohnmächtige Bitten, ward sie von ihrer Gouvernante kräftig unterstützt, deren Menschenkenntnis sie gelehrt hatte, daß die Tugend in Zeiten der Not am meisten Achtung gebiete, wenn sie es versteht, ihren Gleichmut zu behaupten. Auf der anderen Seite suchte weder der Befehlshaber des Schiffes, noch sein Leutnant ferneren Umgang mit den Bewohnerinnen der Hauptkajüte, als die Gesetze der Höflichkeit durchaus nötig machten.

Der Freibeuter, dem es bereits leid tat, daß er die Launen und Kapricen seines Gemüts so bloßgestellt hatte, zog sich allmählich in sich selbst zurück, indem er Vertraulichkeit bei keinem suchte und von keinem zuließ; während Wilder zeigte, daß er die gezwungene Miene der Gouvernante und den veränderten, obgleich mitleidsvollen Blick ihrer Schülerin vollkommen verstehe; auch bedurfte es der Erklärung keineswegs, um ihn mit der Ursache dieses Wechsels bekannt zu machen. Statt aber eine Gelegenheit zu suchen, seinen Charakter zu reinigen, zog er es vor, ihre Zurückhaltung nachzuahmen. – Mehr brauchte es nicht, um seine ehemaligen Freundinnen von der Beschaffenheit seines Gewerbes zu überzeugen; bis jetzt hatte selbst Mistreß Wyllys ihrer Pflegebefohlenen noch zugegeben, daß seine Handlungsweise die eines Menschen wäre, in dem die Verworfenheit noch nicht jenen Grad erstiegen hatte, wo das Gewissen, jenes untrüglichste Merkmal der Schuldlosigkeit, gänzlich schweigt.

Gertraud indessen empfand ein natürliches Bedauern, als sich diese traurige Überzeugung ihrem Verstande aufdrängte, und sie hegte innige Wünsche, daß der Besitzer so vieler männlicher, großartiger Eigenschaften den Irrtum, in dem sein Leben befangen war, bald einsehen und zu einer Laufbahn zurückkehren möchte, für die er, selbst nach dem Eingeständnis ihrer kalt und scharf urteilenden Erzieherin, von der Natur auf eine so ausgezeichnete Weise ausgestattet war. Ja, vielleicht riefen die Ereignisse der letzten zwei Wochen nicht nur Wünsche allgemeinen Wohlwollens in ihrem Busen wach, vielleicht flocht sie in ihre stille Andacht heiße Gebete, die eine persönlichere Beziehung hatten.

Mehrere Tage lang hatte das Schiff gegen die stehenden Winde jener Regionen anzukämpfen. Statt sich aber wie ein beladenes Kauffahrteischiff zu bemühen, irgendeinen bestimmten Hafen zu erreichen, gab der Rover seinem Schiffe plötzlich eine neue Richtung und glitt durch eine der vielen sich darbietenden Meeresengen hindurch, mit der Leichtigkeit des seinem Neste zueilenden Vogels. Hundert Segel verschiedener Größe hatte man zwischen den Inseln steuern sehen, allen wurde ausgewichen; denn Klugheit riet dem Freibeuter die Notwendigkeit der Mäßigung in einer von Kriegsschiffen so überfüllten See. Nachdem das Fahrzeug durch eine der Meeresengen hindurchgesteuert war, die die Ketten der Antillen durchschneiden, kam es in Sicherheit auf die offenere See, die jene Inseln von dem spanischen Ozean trennt. Kaum war die Durchfahrt glücklich bewerkstelligt, kaum streckte sich nach allen Seiten hin ein helles, landfreies Meer, so zeigte sich in der Miene eines jeden Individuums der Mannschaft eine nicht zu verkennende Veränderung. Jetzt glättete sich die gefurchte Stirn des Rover, jetzt verschwand der ängstliche Blick, der über den ganzen Menschen die Hülle der Zurückhaltung geworfen hatte; das eigentümliche Wesen dieses Mannes stand nun wieder in seinem ganzen Eigensinn da, in seiner ganzen Sorglosigkeit. Selbst die Bemannung, die, als sie noch in den engeren Seen, zwischen den daselbst in ganzen Schwärmen segelnden Kreuzern durch die Daggen liefen, keines fremden Antriebs zur Behutsamkeit bedurft hatte, selbst sie schien jetzt freier Atem zu schöpfen – kurz, Töne sorgloser, leichtsinniger Fröhlichkeit durchhallten wieder einmal einen Ort, den die Wolke des Mißtrauens solange umdüstert hatte.

Allein der Betrachtung der Erzieherin entstanden durch die Richtung, die das Fahrzeug nunmehr nahm, neue Gründe zur Besorgnis. – Solange die Inseln noch im Gesichtskreis blieben, gab sie, und zwar nicht ohne Grund, der Hoffnung Raum, ihr Gefangennehmer warte nur eine günstige Gelegenheit ab, um sie dem Schutze der Gesetze irgendeiner der Kolonialregierungen wieder zurückzugeben. Ihre Beobachtungsgabe lehrte sie, daß die Grundsatzlosigkeit der beiden vornehmsten Personen im Schiffe mit so vielem vermischt war, was einst gut, ja edel genannt werden konnte, daß sie in solcher Erwartung nichts Übertriebenes finden konnte. Selbst in den Sagen der Zeitgenossen, die die verwegenen Taten des Freibeuters schilderten, wenn auch eine erhitzte und übertreibende Einbildungskraft die Farben aufgetragen hatte, fehlte es nicht an zahllosen, merkwürdigen Beispielen von entschiedener, ja ritterlicher Großsinnigkeit. Mit einem Worte, sein Charakter war der eines Mannes, der, in erklärter Feindseligkeit mit allen lebend, dennoch einen Unterschied zwischen den Schwachen und den Starken zu machen verstand, und dem es oft ebenso viele Freude gewährte, sich der ersteren anzunehmen, als den Stolz der letzteren zu demütigen.

Als aber nun die letzte Spitze der ganzen Inselgruppe hinter ihnen ins Meer sank, und außer dem Schiffe sich weit und breit kein anderer Gegenstand auf der Wasserfläche zeigte, da sank auch ihr die letzte Hoffnung auf die Großmut des Korsaren. Der Rover, gleichsam unbekümmert, länger die Maske vorzuhalten, befahl, die Segel zu vermindern, und trotz der günstigen Kühlde das Schiff nahe beim Wind anzulegen. Kurz, der »Delphin« wurde mitten im Wasser angehalten, und, als sei nun das Hauptziel erreicht, und die unmittelbare Aufmerksamkeit der Mannschaft nicht weiter in Anspruch genommen, überließen sich die Offiziere sowohl als die Leute ihren Vergnügungen oder dem Müßiggang, je nachdem sie Laune oder Neigung bestimmte.

Wie lange auch der Verdacht der Gouvernante, daß man ihnen nicht erlauben würde, das Schiff zu verlassen, schon rege sein mochte, in Worten hatte sie ihn noch nicht geäußert; als aber jetzt dem Kommando, das Schiff beizulegen, gehorcht wurde, redete sie den Kapitän Heidegger, wie er sich nennen ließ, zum ersten Male wieder an:

»Ich hatte gehofft, Sie würden uns, sobald es sich mit Ihrer Bequemlichkeit vertrüge, an einer der Seiner Majestät gehörenden Inseln zu landen erlauben. Ich fürchte, Sie finden es beschwerlich, Ihre eigene Kajüte solange von Fremden besetzt zu sehen.«

»Sie kann nicht besser besetzt sein«, antwortete er, fein ausweichend, obgleich die ängstliche Dame zu entdecken glaubte, daß sein Blick mehr Kühnheit und sein ganzes Wesen weniger Zurückhaltung verrate, als bei einer früheren Gelegenheit, wo derselbe Gegenstand zur Sprache kam. »Verlangte es das Herkommen nicht, daß ein Schiff die Farbe einer oder der anderen Nation führte, so sollte über dem meinigen stets eine Flagge spielen, die die Farbe der Schönen trüge.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ziehe ich die Zeichen des Dienstes auf, in dem ich mich befinde.«

»Während der fünfzehn Tage, seit ich Ihnen mit meiner Gegenwart lästig fallen muß, bin ich noch nicht so glücklich gewesen, die Farbe aufgezogen zu sehen, die Ihren Dienst bezeichnete.«

»Nicht!« rief der Rover und schoß einen Blick auf sie, als wollte er ihre innersten Gedanken durchdringen: »Nun, dann sollen Sie am sechzehnten Tage von dieser Ungewißheit befreit werden. Heda, wer ist im Schiffe hinten?«

»Kein besserer und kein schlechterer Mann als Richard Fid,« erwiderte der Matrose, den Kopf aus einem großen Wandkorbe hervorhebend, in den er ihn gesteckt hatte, als suchte er irgendein verlegtes Stück Werkzeug, und als er entdeckte, wer der Fragende war, mit Hast hinzufügend: »Stets zu Ew. Gnaden Befehl.«

»Aha! Es ist der Freund unseres Freundes,« erwiderte der Rover mit einem Nachdruck, der den anderen verständlich genug war; »der soll mein Dolmetscher sein. Komm her, Bursch; ich habe ein Wort mit dir zu sprechen.«

»Tausend zu Ihren Diensten, Sir,« erwiderte Richard, indem er bereitwillig näher trat; »denn wenn ich auch kein großer Redner bin, so hab' ich doch stets was in meinen Gedanken zur Hand, was zur Not unterhalten kann, sehen Sie.«

»Ich hoffe; deine Hängematte in meinem Schiff wiegt sanft in Schlaf?«

»Ich kann's nicht leugnen, Ew. Gnaden; denn ein leichter segelndes Fahrzeug, sonderlich wenn es aufs Handhaben seiner Rahesegeltaue ankommt, findet sich nicht leicht.«

»Und die Fahrt selbst? Ich hoffe doch, du findest auch die so, wie sie ein Seemann gerne mag.«

»Schauen Sie, Sir, ich bin früh aus der Schule genommen und in die Fremde geschickt worden; da nehme ich mir denn selten heraus, das Schiffspatent des Kapitäns lesen zu wollen.«

»Aber demungeachtet, guter Mann, seid Ihr nicht ohne Eure Neigungen«, sagte Mistreß Wyllys mit Festigkeit, entschlossen, die Untersuchung weiter zu treiben, als ihr Gesellschafter beabsichtigen mochte.

»Kann nicht sagen, daß es mir an natürlichen Gefühlen gebricht, gnädige Frau,« erwiderte Fid, indem er sich bemühte, eine Probe von seiner Bewunderung des schönen Geschlechts in einem Kratzfuß gegen die Dame als deren Repräsentantin abzulegen, »ob mir zwar Durchkreuzungen und Unfälle quer über den Weg gekommen sind, was schon Vornehmern als mir geschehen ist. Ich hatte geglaubt, ein Notankertau könne nicht stärker angesplißt sein, als ich an Käthe Whiffle und sie an mich; aber ja, da kam's Gesetz mit seinen Ordonnanzen und Schiffsreglements, das hat dicht bei meinem Glück vorbei querüber aufgestochen und ohne weiteres alle Hoffnungen der Dirne in ein Wrack verwandelt, und mit den meinigen eine flämische Rechnung gemacht.«

»So? Es wurde bewiesen, daß sie schon einen Mann hatte, nicht wahr?« sagte der Rover, schlau mit dem Kopfe nickend.

»Vier, Ew. Gnaden. Die Dirne hatte Geschmack an Gesellschaft, und sie kannte keinen größeren Schmerz als ein leeres Haus. Aber was tat das? Mehr als einer von uns konnte doch nicht zu gleicher Zeit im Hafen sein; da hätte man keinen solchen Lärm um die Affäre machen sollen, als man gemacht hat. Aber es war nichts als Neid, Sir; Neid und die Habsucht der Landhaifische. Wenn sich ein jedes Weib in der Gemeinde so vieler Männer zu rühmen gehabt hätte, wie die Käthe, den Teufel auch würden sie den Richtern und Geschworenen die kostbare Zeit damit verdorben haben, daß sie sich drum kümmern mußten, auf welche Weise so eine Dirne ihre ruhige Haushaltung führte.«

»Und seit jener unglücklichen Zurückweisung hast du dich dem Heiraten ganz aus dem Wege gehalten?«

»Ja, ja; seitdem, Ew. Gnaden,« erwiderte Fid und sah seinen Obern wieder mit einem jener drolligen Blicke an, in denen eine ganz eigene Schlauheit mit der schlichteren, geradezu gehenden Ehrlichkeit um die Herrschaft kämpfte; »seitdem, wie Sie ganz richtig bemerken, Sir. Die Leute hatten freilich ihr Gerede von einer Kleinigkeit, die zwischen mir und einer anderen Weibsperson im Handel war, wie sie aber die Sache näher untersuchten, na, da fanden sie, daß es nicht viel anders war, als mit der armen Käthe; die Schiffsartikel wollten nicht stimmen, und sie konnten halt, sehen Sie, nichts aus mir machen. Da hat man mich denn durch und durch reingesprochen und, weißgetüncht wie das Zimmer einer Königin, laufen lassen.«

»Und das hat sich alles nach deiner Bekanntschaft mit Herrn Wilder zugetragen?«

»Vorher, halten zu Gnaden, vorher. War ja zu der Zeit noch weiter nichts als so ein Auflaufer, sintemalen es vierundzwanzig Jahre her ist, wenn der Mai wiederkommt, seit mich der junge Herr Harry an sein Schlepptau genommen hat. Da ich nun aber seit jenen Tagen eine Art von eigener Familie besitze, ei, wozu soll ich da einem anderen in die Hängematte kommen?«

»Wie, wolltet Ihr wirklich sagen, es sei schon vierundzwanzig Jahre, seit Ihr Herrn Wilders Bekanntschaft machtet?« unterbrach Mistreß Wyllys.

»Bekanntschaft! Du lieber Gott, gnädige Frau, der wußte zu jener Zeit wenig von Bekanntschaften; obgleich der liebe, gute Junge seitdem oft genug Gelegenheit gehabt hat, sich dran zu erinnern.«

»Das Zusammentreffen zweier Männer von so seltenem Verdienste muß gar nicht uninteressant gewesen sein«, bemerkte der Rover.

»Was das anbelangen tut, so war's hinlänglich interessant, Ew. Gnaden; aber das Verdienst dabei, sehen Sie, der junge Herr, der Harry, der will das immer mit in die Rechnung setzen, aber bei mir ist's ausgemacht, 's ist ganz und gar kein Verdienst dabei.«

»Ich gestehe, in einem Falle, wo zwei Männer, die beide ein so gutes Urteil haben, verschiedener Meinung sind, da fühle ich mich in Verlegenheit, wem ich recht geben soll. Freilich, wenn ich wüßte, wie alles hergegangen ist, so wär' ich vielleicht imstande, ein richtiges Urteil zu fällen.«

»Ew. Gnaden vergessen den Guinea, der ganz meiner Meinung in der Sache ist; der kann ebenfalls nicht sehen, wo das Verdienst im Dinge eigentlich stecken soll. Aber, wie Sie sagten, der einzige wahre Weg, zu wissen, wie geschwind ein Schiff geht, ist, das Log zu lesen; wenn also diese Dame und Ew. Gnaden gern hinter die Wahrheit der Sache kommen wollen, je nu, dann brauchen Sie's bloß zu sagen, so leg' ich's Ihnen alles vor in glaubwürdiger Sprache.«

»Aha! Dieser Vorschlag läßt sich hören«, versetzte der Rover und winkte seiner Gefährtin, daß sie ihm nach einem Platz auf der Hütte folgen möchte, wo sie den neugierigen Blicken der Leute weniger ausgesetzt wären. »Wohlan, wenn du uns jetzt das Ganze klar vor Augen legst, so sollst du endlich Entscheidung bekommen, wie sich die Sache eigentlich und von Rechts wegen verhält.«

Fid war weit entfernt, die geringste Abneigung gegen die verlangte ausführliche Erzählung zu zeigen, und bis er sich hinlänglich geräuspert, den Mund mit frischen Tabaksblättern versehen und alle anderweitigen Vorkehrungen getroffen hatte, war es der Gouvernante gelungen, ihre Skrupel darüber zu beseitigen, inwiefern es recht sei, sich in die Geheimnisse anderer auf diese Weise einzustehlen, indem sie einer unwiderstehlichen Neugierde nachgab; sie nahm daher den Sitz ein, den ihr der Kapitän mit einer Handbewegung angeboten hatte.

Nachdem nun also alle Punkte in Richtigkeit gebracht waren, fing Fid folgendermaßen an: »Ich bin früh von meinem Vater zur See geschickt worden; er war ein Mann, der gleich mir mehr von seiner Zeit auf dem Wasser zubrachte als auf trockenem Boden, obgleich er, als ein bloßer Fischermann, das Land immer im Gesicht behielt, was freilich nicht viel mehr sagen will, als ganz und gar drauf zu leben. Jedennoch aber, als ich ging, machte ich ohne weiteres eine Reise in die weite, offene See, denn ich dublierte das Horn gleich in meinem allerersten Ausflug, was für einen neuen Anfängling, sehen Sie, keine kleine Reise ist; aber, sehen Sie, da ich nur erst acht Jahre alt war . . .«

»Acht! Sprecht Ihr jetzt von Euch selber?« unterbrach die ungeduldige Gouvernante.

»Versteht sich, Madame; zwar könnte von Leuten gesprochen werden, die vornehmer sind, aber schwer wäre es, die Unterhaltung auf einen zu richten, der besser verstände, wie man ein Schiff auf- und abtakeln muß. Ich hätte beim rechten Ende meiner Geschichte angefangen, weil ich aber glaubte, die gnädige Frau verderbe sich nicht gern die Zeit mit Anhören von Dingen, die meinen Vater und meine Mutter betreffen, so machte ich's kurz und sprang gleich ins achte Jahr, ohne mich erst aufzuhalten bei meiner Geburt, Namen und dergleichen mehr, was gewöhnlich in den Alltagsgeschichten auf eine ganz ungebührliche Weise im Logbuch mir aufgeführt wird.«

»Fahret nur fort«, versetzte sie, als sie sah, daß nichts übrig blieb als geduldige Ergebung.

»Mir geht's ziemlich so wie einem Schiff, das eben vom Stapel laufen soll«; nahm Fid wieder auf. »Wenn's einen hübschen Anlauf tut und sich's nicht einklemmt noch reibt, rutsch! geht es ins Wasser, wie ein Segel, das man in einer Windstille losläßt; bleibt es aber erst einmal hängen, so gehört keine geringe Arbeit dazu, es wieder flott zu kriegen. Um nun meine Gedanken gehörig einzudämmen und die Geschichte geschmeidig zu machen, so daß ich glatt durchfahren kann, muß ich notwendig noch einmal das Tau durchlaufen, das ich soeben fahren ließ; das war also, wie mein Vater ein Fischermann war, und wie ich das Horn dublierte. – Halt! Nu hab' ich's wieder! Gut also, ich dublierte, wie gesagt, das Horn und mochte ungefähr, so drüber und drunter, vier Jahre zwischen den Inseln und Seen jener Gegenden gekreuzt haben, die, beiläufig gesagt, zu der Zeit keine von den besten waren, und was das anbelangen tut, es auch jetzt noch nicht sind. Hierauf machte ich in der königlichen Flotte den ganzen Krieg mit, wurde dreimal blessiert und erfocht soviel Ehre, als ich nur immer bequem unter die Luken packen konnte. Gut, damals traf ich mit dem Guinea zusammen – das ist der Schwarze, gnädige Frau, den sie dort einen neuen Geitaublock eindrehen sehen für das Steuerbord-Schotthorn des Focksegels.«

»Schon gut; da kamst du also mit dem Afrikaner zusammen«, sagte der Rover.

»Da war's, wo wir uns kennen lernten; und obgleich seine Farbe nicht weißer ist als der Rücken eines Walfisches, meinetwegen mag's hören, wer will, nächst dem jungen Herrn Harry, lebt keine ehrlichere Haut auf der See, und keiner, an dessen Gesellschaft ich mehr Vergnügen fände. Allerdings, Ew. Gnaden, der Kerl ist etwas rechthaberisch, hat eine große Meinung von seiner Stärke und glaubt, seinesgleichen sei in keiner Nocke auf 'ner Windseite oder in 'nem Bramsegeltuch zu finden, aber dafür ist's auch ein bloßer Schwarzer, und man muß nicht zu genau sein mit den Fehlern von Menschen, die nu mal nichts dafür können, daß sie unsere eigentlichen Nebengeschöpfe nicht sind.«

»Nein, nein; das würde äußerst lieblos sein.«

»Just die Worte, die der Schiffskaplan an Bord der Fregatte ›Braunschweig‹ loszulassen pflegte. 's ist doch ganz was anderes, wenn man was in der Schule gelernt hat, Ew. Gnaden; denn wenn's auch zu weiter nichts taugt, so macht es einen doch geschickt, ein Bootsmann zu werden, und da ist man im besten Fahrwasser, um ohne alles Lavieren dem kürzesten Weg nach dem Himmel zuzusteuern. Aber wie gesagt, da wurde Guinea mein Schiffsgenosse und Freund, versteht sich, soweit sich's mit der Vernunft vertrug, für die nächsten fünf Jahre, und dann kam die Zeit, wo uns der Unfall des Schiffbruchs in Westindien begegnete.«

»Was für ein Schiffbruch?« fragte hier sein Oberer.

»Verzeihen Ew. Gnaden; ich schwenke niemals meine Vorderrahen, als bis ich gewiß weiß, daß das Schiff nicht wieder in den Wind hineinluvt. Ehe ich mich also auf das Nähere des Schiffbruchs einlasse, muß ich abermals meine Gedanken übersehen, ob auch nichts vergessen ist, was von Rechts wegen vorher erwähnt werden müßte.«

Als der Rover an den ungeduldigen Seitenblicken seiner Gesellschafterin und am ganzen Ausdruck ihres Gesichtes sah, wie sehr sie sich sehnte nach dem Erfolg der Erzählung, die mit so langsamen Schritten vorwärts rückte, und wie unangenehm ihr eine Unterbrechung sein würde, so gab er ihr einen bedeutsamen Wink, daß sie den schlichten Teer seinen eigenen Weg gehen lassen möchte, als das beste Mittel, endlich in den Besitz der Tatsachen zu kommen, die sie beide so sehnlich zu wissen wünschten. Fid, als man ihn nun nicht mehr unterbrach, wiederholte noch einmal alles Erzählte auf die ihm eigene, drollige Weise, und wie er nun zum Glücke fand, daß er nichts ausgelassen hätte, was nach seinem Ermessen mit der gegenwärtigen Geschichte in Verbindung stand, so ging er endlich zu dem wesentlicheren und dem, seinen Zuhörern wenigstens, bei weitem interessantesten Teil seiner Erzählung über.

»Gut,« fuhr er fort, »Guinea war damals, wie ich Ew. Gnaden schon sagte, an Bord der ›Proserpina‹, ein schnellsegelnder Zweiunddreißiger, an der Marsrahe angestellt, und ich gleichfalls; da stießen wir zwischen den Inseln und der spanischen See auf einen winzigen Schmuggler, aus dem der Kapitän ohne weiteres Prise machte und uns befahl, ihn in den Hafen zu schleppen, wozu er, wie ich nicht anders glauben kann, seine Order hatte, denn er war ein gescheiter Mann. Aber dem mag nu gewesen sein, wie ihm wolle, das Fahrzeug hatte seine längste Fahrt gemacht und strandete, als wir ungefähr ein paar Tagefahrten leewärts von unserem Hafen gekommen sein mochten, in einem schweren Orkan, der uns eingeholt hatte. Gut, 's war nur ein kleines Ding; und da es den Einfall bekam, sich erst auf die Seite zu legen, ehe es vollends schlafen ging, so glitten der Gehilfe, der des Schiffspatrons Stelle versah, und noch drei andere vom Verdeck runter in den Meeresboden. Hier war's, wo Guinea mir den ersten guten Dienst leistete; denn, obgleich wir früher schon oft Hunger und Durst mit 'nander gelitten hatten, so war doch dies das erstemal, wo er über Bord sprang, um zu verhüten, daß ich Salzwasser schluckte wie ein Fisch.«

»Das heißt, wenn er nicht gewesen wäre, wärst du mit den übrigen ertrunken.«

»Das will ich nu gerade nicht sagen, Ew. Gnaden; denn man kann nicht wissen, welcher glückliche Zufall mir denselben guten Dienst hätte leisten können. Nichtsdestoweniger, sintemalen ich nicht besser und nicht schlechter als eine Stangenkugel schwimmen kann, so bin ich immer geneigt gewesen, dem Schwarzen meine Rettung zuzuschreiben, obgleich wir niemals viel über die Sache gesprochen haben, und zwar aus keinem anderen Grunde, soviel ich absehen kann, als weil eben der Abrechnungstag bis jetzt noch nicht rangekommen ist. Gut, wir machten, daß wir das Boot vom Schmugglerschiff flott kriegten, und genug hinein, um die Seele im Leibe zu halten, dann steuerten wir, so schnell wir konnten, landwärts, da es doch nu mal mit dem Schmugglerschiffe aus und an keine weitere Fahrt darin zu denken war. Eine ausführliche Beschreibung von dem, was zum Dienst in einem Boote gehört, brauche ich der Dame hier wohl nicht zu geben, da es noch nicht lange her ist, daß sie selbst einige Erfahrung hierin machte; aber soviel kann ich ihr sagen: Ohne jenes Boot, in dem der Schwarze und ich an zehn Tage zubrachten, würde es ihr in ihrer neulichen Fahrt nicht sonderlich ergangen sein.«

»Erkläre dich deutlicher.«

»Mein Sinn ist deutlich genug, Ew. Gnaden; nämlich, daß wenig anderes, als die nette Manier, womit der junge Herr, der Harry, ein Boot regiert, die Barkasse des Bristoler Kauffahrers an dem Tage, wo wir Sie trafen, über Wasser hätte halten können.«

»Aber was hat Euer Schiffbruch für Zusammenhang mit der Erhaltung des Herrn Wilder?« fragte die Gouvernante, unfähig, die breite Erklärung des weitschweifigen Seemanns länger abzuwarten.

»Aber was hat Euer Schiffbruch für Zusammenhang meine gnädige Frau, wie Sie selbst sagen werden, wenn Sie erst den tragischen Teil meiner Erzählung werden gehört haben. Gut also, ich und Guinea, wir ruderten im Meere rum, hatten Mangel an allem, nur nicht an Arbeit, aber immer steuerten wir doch, quer durch, nach den Inseln zu; denn, sehen Sie, wenn wir uns auch nicht sonderlich auf den Kompaß verstanden, so konnten wir doch das Land riechen, und da holten wir denn wacker aus, wenn Sie bedenken, daß die Wette in diesem Rennen nichts Geringeres galt als das Leben, bis wir bei Morgenanbruch, als wär's ungefähr hier Ost zu Süden, ein kahlgeschorenes Schiff gewahr wurden, wenn anders ein Schiff kahl zu nennen ist, das nichts Besseres mehr aufrecht stehen hat, als die Stümpfe seiner drei Masten, und diese noch dazu ohne ein Stück Tau oder einen Fetzen Segel, woran man hätte sehen können, was für Takelage es führte, oder welcher Nation es angehörte. Aber nichtsdestoweniger ließ ich's mir von dem Guinea nicht nehmen, daß es ein wohlbetakeltes Schiff müsse gewesen sein, wegen der drei Stümpfe, und wie wir nahe genug rangekommen waren, um den Rumpf sehen zu können, erklärte ich geradezu, daß es in England gezimmert sei.«

»Ihr entertet es«, bemerkte der Rover.

»Das war keine schwere Arbeit, gnädiger Herr, sintemalen ein halbverhungerter Hund die ganze Bemannung war, die es aufstellen konnte, um uns davon abzuhalten. Es war ein feierlicher Anblick, als wir aufs Verdeck kamen, und so oft ich das Logbuch meines Gedächtnisses aufschlage,« fuhr Fid mit einer immer ernster werdenden Weise fort, »erschüttert es meine Männlichkeit.«

»Ihr fandet die Mannschaft in bitterem Mangel.«

»Wir fanden ein edles Schiff, so hilflos wie eine Heilbutte in einem Zuber. Da lag es, ein Zimmerwerk von vierhundert Tonnen Last oder drüber, von Wasser angefüllt, und unbeweglich wie 'ne Kirche. Es macht mich immer niedergeschlagen, Sir, wenn ich ein stattliches Schiff sehe, mit dem es mal soweit gekommen ist; denn, sehen Sie, man kann es vergleichen mit einem Mann, dem die Floßfedern abgeschoren sind, und der nachgerade für weiter nichts mehr taugt, als auf einen Krahnbalken gesetzt zu werden, um aufzupassen, wo 'ne Bö herkommt.«

»Das Schiff war also verlassen?«

»So war's; die Leute hatten sich entweder davon gemacht oder wurden in dem Sturme, der das Schiff umgelegt hatte, von den Wellen fortgespült; hab's niemals zur Gewißheit hierin bringen können. Der Hund mußte sich wohl auf dem Verdeck unnütz gemacht haben, weswegen man ihn wahrscheinlich auf ein Inholz trieb, und das hat ihn gerettet, da er zum Glücke auf der Windseite war, als der Rumpf sich wieder etwas in die Höhe hob, nachdem die Masten schon abgebrochen waren. Gut, Sir, da war also der Hund; sonstiges bekamen wir nicht viel zu sehen, obgleich wir einen halben Tag im Schiffe umherstöberten, in der Hoffnung, irgendeine Kleinigkeit zu finden, die uns von Nutzen sein könnte. Aber da der Raum und die Kajüte mit Wasser angefüllt waren, i nu, so mußte freilich unser Bergelohn spärlich genug ausfallen.«

»Und dann verließet Ihr das Wrack.«

»Noch nicht, gnädiger Herr. Wie wir so unter den Enden von Stricken und sonstigem Plunder, der das Deck belemmerte, rumsuchten, sagte Guinea, sagte er: ›Herr Dick, ich höre, wie jemand ihr miserables Geschrei drunten erheben.‹ Nu, Sir, sollen Sie wissen, daß ich das Kreischen wohl auch gehört hatte; aber ich nahm es für ausgemacht an, es seien die Geister der Mannschaft, die über ihren Verlust heulten, und schwieg aber still davon, um den Aberglauben des Schwarzen nicht aufzuregen; denn, sehen Sie, gnädige Frau, die Besten von ihnen bleiben am Ende doch nur abergläubische, unwissende Neger. Drum sagte ich nichts von dem, was ich hörte, bis er selbst davon anzufangen für gut dachte. Hierauf legten wir uns beide mit allem Fleiß aufs Lauschen; und wahrhaftig, das Gestöhn wurde immermehr menschengleich. Es dauerte jedoch eine geraume Zeit, ehe ich darüber mit mir einig werden konnte, ob es weiter was wäre als das Klagen des Schiffswracks selber; denn sie wissen, gnädige Frau, daß ein Schiff, ehe es untergeht, sein Wehklagen erhebt, so gut wie jedes andere lebendige Geschöpf.«

»Ich weiß es, ich weiß es«, erwiderte schaudernd die Gouvernante. »Ich habe sie gehört, und die Töne werden nie aus meinem Gedächtnis schwinden.«

»Jawohl, ich konnte mir denken, daß Sie von den Tönen auch eine Geschichte zu erzählen hätten; sie haben was Feierliches an sich, diese Töne. Doch da der Schiffsrumpf noch immer auf der Meeresoberfläche zu schlingern fortfuhr und keine weitere Zeichen gab, daß er sinken wolle, so dachte ich, es könnte nicht schaden, im Hinterteil ein Loch einzuhauen, um uns von da aus zu versichern, daß kein Unglücklicher etwa in seiner Matte hängen geblieben, als das Schiff sich auf die Seite legte. Ei nun, guter Wille und eine Axt halfen uns bald hinter das Geheimnis, von wem das Gejammer herkam.«

»Ihr fandet ein Kind?«

»Mit seiner Mutter, gnädige Frau. Der glückliche Zufall fügte es, daß sie sich in einer Kajüte auf der Windseite befanden, und das Wasser war noch nicht bis zu ihnen gedrungen. Verschlossene Luft und Hunger hatten jedoch fast denselben schlechten Dienst getan wie das Salzwasser. Die Frau war in den letzten Zügen, als wir sie rausbrachten, und was den Knaben anbetreffen tut, stattlich und kräftig, wie Sie ihn dort auf der Kanone sehen, gnädige Frau, so war er Ihnen so miserabel, daß es nicht wenig Mühe kostete, bis er einen Tropfen Wein und Wasser schlucken lernte, was der liebe Gott uns übrig gelassen hatte, damit, wie ich seitdem steif und fest glaube, der Junge einmal der Stolz des Ozeans werden möchte, was er denn in diesem Augenblick auch wirklich ist.«

»Aber die Mutter?«

»Die Mutter! Die hatte den einzigen Bissen Zwieback, den sie noch hatte, dem Kinde gegeben, und starb, damit der Kiekindiewelt am Leben bliebe. Ich hab' niemals ganz klug draus werden können, gnädige Frau, wie ein Weib, das doch, wenn's auf Stärke ankommt, nicht viel besser ist wie ein Laskar, und wenn es Mut gilt, nicht besser wie ein verhätscheltes Muttersöhnchen, bei dergleichen Gelegenheiten imstande sein kann, so ruhig das Leben fahren zu lassen, wo doch mancher rüstige Seemann um jeden Mundvoll Luft, den der liebe Gott aus Gnaden schenkt, bis aufs Blut fechten würde. Aber da saß sie, weiß wie das Segeltuch, das der Sturm zerzauste, und alle Glieder hängen lassend, wie eine Flagge in einer Windstille, den abgemagerten, schwachen Arm um das Kind geschlungen, und in der Hand den einzigen Bissen, der ihr die Seele noch eine Weile im Leibe hätte halten können.«

»Womit war sie beschäftigt, als Ihr sie heraus an das Tageslicht gebracht?«

»Womit sie beschäftigt war?« wiederholte Fid, dessen Stimme hier rauh und heiser wurde, »i nu, es war ein verzweifelt ehrliches Stück Beschäftigung; sie gab dem Knaben die Krume und winkte, so gut wie es eine Frau in den letzten Zügen vermochte, daß wir ein Auge auf ihn haben möchten . . . bis die Fahrt des Lebens vorüber war.«

»Und das war alles?«

»Ich hab' immer geglaubt, daß sie noch betete; denn was muß zwischen ihr und Einem, der nicht zu sehen war, vorgegangen sein, nach der Manier zu urteilen, wie ihre Augen aufwärts gerichtet waren, und wie sich ihre Lippen bewegten. Ich hoffe, sie hat unter andern auch für einen gewissen Richard Fid ein gutes Wort eingelegt; denn das ist gewiß, wenn irgendeiner nicht nötig hat, für sich selbst zu bitten, so war's sie's. Aber was sie sprach, wird wohl niemand erfahren, sintemalen ihr Mund sich von der Zeit an auf immer geschlossen.«

»Sie starb!«

»Es tut mir leid, daß ich's sagen muß, ja. – Aber die arme Frau konnte nichts mehr zu sich nehmen, als sie in unsere Hände kam, und überdies hätten wir ihr auch nur wenig geben können. Ein Quart Wasser, mit ungefähr einer Viertelpinte Wein, ein Zwieback und eine Handvoll Reis, war keine übergroße Portion für zwei gesunde Kerle, die ein Boot etliche und siebenzig Seestunden innerhalb der Wendepunkte fortrudern sollten. Als wir nun sahen, daß nichts weiter auf dem Wrack zu suchen war, und daß es nu rasch zu sinken anfing, da die Luft durch das Loch, das wir eingehauen hatten, rausgelassen war, so hielten wir's für geraten, uns davon zu machen. Und, meiner Treu! Es war nicht im geringsten zu früh, denn es ging unter, just als wir unser Boot soweit gerudert hatten, daß der Strudel es nicht mehr anziehen konnte.«

»Und der Knabe, das arme, verlassene Kind!« rief die Gouvernante, deren tränenvollen Augen jetzt zwei große Tropfen entquollen.

»Da steuern Sie auf ganz unrichtigem Pfade, gnädige Frau. Weit entfernt davon ihn zu verlassen, nahmen wir ihn mit, wie auch das einzige, andere lebendige Geschöpf, das auf dem Wrack zu finden war. Allein, wir hatten noch eine lange Reise vor uns, und, was das Übel ärger machte, das Kielwasser der Kauffahrer verloren. Ich erklärte also, unser Fall mache einen allgemeinen Schiffsrat notwendig; der bestand nu freilich bloß aus mir und dem Schwarzen, sintemalen der Junge zum Sprechen zu schwach war, und auch in unserer Lage nicht viel anderes hätte vorbringen können. So fing ich denn selber an: Guinea, sagte ich, wir müssen entweder den Hund hier oder den Knaben hier essen. Essen wir den Knaben, so sind wir nicht besser, als das Volk bei dir zu Hause, das, wie Sie wissen, gnädige Frau, lauter Kannibalen sind; essen wir den Hund, mager wie er ist, so kriegen wir vielleicht so viel raus, daß wir Seele und Leib zusammenhalten und dem Knaben das übrige geben können. So sagte der Guinea, sagt er: Ich gar nichts essen brauchen, dem Knaben die Speise lieber geben, sagt er, denn er klein ist und fehlt ihm an Kräfte. – Indessen, dem jungen Herrn, dem Harry, wollte der Hund nicht sonderlich behagen, der bald zwischen uns alle wurde, denn warum, er war gar zu dünn. Wie das vorbei war, gab's für uns beide eine hungrige Zeit; denn wenn wir das Leben in dem Jungen nicht festgehalten hätten, so wär's uns durch die Finger geschlüpft, sehen Sie.«

»Und Ihr nährtet also das Kind, indem Ihr selbst fastetet?«

»Nein, ganz müßig waren wir gerade nicht, gnädige Frau; unsere Zähne übten sich wacker an der Haut des Hundes, obgleich ich nicht behaupten will, daß die Kost zu schmackhaft gewesen wäre. Fürs zweite, da uns das Essen nicht viel Zeit wegnahm, so hielten wir uns um so lebhafter ans Rudern. Gut, nach einiger Zeit erreichten wir eine der Inseln, aber freilich konnte weder der Neger noch ich uns auf Stärke oder Gewicht viel zugute tun, als wir die erste Küche, auf die wir stießen, zu Gesicht bekamen.«

»Und das Kind?«

»O, der Junge befand sich ziemlich wohl; denn, wie uns nachher die Doktors sagten, die kleine Portion, die auf sein Teil fiel, hatte ihm nicht geschadet.«

»Suchtet Ihr seine natürlichen Freunde nicht auf?«

»Ei nu, was das anbetrifft, gnädige Frau, soweit ich wenigstens entdecken konnte, so war er eigentlich schon bei seinen besten Freunden. Wir hatten weder Seekarten, noch eine Liste der Landungsplätze bei uns, wonach wir hätten steuern können, um seine Familie ausfindig zu machen. Er nannte sich Master Harry, ein Beweis, daß er von vornehmer Geburt sein mußte, wie man ihn denn auch nur anzusehen braucht, um davon überzeugt zu sein; sonst aber konnte ich über seine Verwandten, Vaterland und dergleichen kein Wort mehr erfahren. Da er indessen Englisch sprach und in einem englischen Schiffe gefunden wurde, so steht aller natürlichen Ursache nach zu vermuten, daß er in England gezimmert ist.«

»Habt Ihr den Namen des Schiffes nicht erfahren können?« fragte der aufmerksame Rover, in dessen Gesicht der Zug der lebendigsten Teilnahme auf das Deutlichste zu unterscheiden war.

»Schauen Ew. Gnaden, was das anbelangen tut, so waren Schulen in meiner Gegend nicht sehr häufig; und in Afrika ist, wie Sie wissen, auch nicht viel Erhebliches von Gelehrsamkeit anzutreffen, so daß, wenn der Name des Schiffes auch noch über Wasser gewesen wäre, was er aber nicht war, wir mit dem Lesen doch nicht hätten zurecht kommen können. Dafür aber war ein Schlageimer, der wahrscheinlich auf dem Verdeck herumfuhr, glücklicherweise in den Pumplöchern festsitzen geblieben und ging also nicht über Bord, als bis wir ihn mitnahmen. Gut, auf dieser Putse war ein Name gemalt; und wie wir Zeit dazu hatten, ließ ich den Guinea, der ein natürliches Talent zum Tätowieren besitzt, mir den Namen mit Schießpulver in den Arm einreiben, als den kürzesten Weg, dergleichen Kleinigkeiten ins Logbuch einzutragen. Ew. Gnaden sollen sehen, wie der Schwarze mit dem Abschreiben fertig geworden ist.«

Hierbei zog Fid ganz ruhig seine Schiffsjacke aus und entblößte bis zum Ellbogen hinauf einen seiner stämmigen Arme, auf dem die bläuliche Inschrift noch sehr deutlich stand. Obgleich die Buchstaben nur sehr roh auf dem Fleische nachgeahmt waren, so war es doch nicht schwer, die Worte zu lesen: »Arche von Lynnhaven

»Hier hattet Ihr also gleich einen Schlüssel zur Auffindung der Verwandten des Knaben«, bemerkte der Rover, nachdem er die Schrift entziffert hatte.

»Es scheint doch nicht, Ew. Gnaden, denn wir nahmen das Kind mit uns an Bord der Proserpina, und unser würdiger Kapitän spannte alle Segel nach den Leuten aus; allein niemand konnte uns irgendeine Nachricht geben von so einem Fahrzeuge, wie die Arche von Lynnhaven, und nach einem Zwölfmond oder drüber mußten wir die Jagd aufgeben.«

»Konnte das Kind selbst nichts über seine Verwandten berichten?« fragte die Erzieherin.

»Nur weniges, gnädige Frau; aus dem einfachen Grunde, weil es nur wenig über sich selbst wußte. Daher gaben wir denn die Sache endlich ganz auf und machten uns selbst, das heißt, ich, der Guinea, der Kapitän samt allen übrigen, daran, dem Knaben Erziehung zu geben. Sein Seemannshandwerk hat er vom Schwarzen und mir gelernt, vielleicht auch etwas von seinen guten Sitten. Seine Schiffahrerkunst und Lateinisch aber, das hat er vom Kapitän, der sein Freund geworden ist, bis zu der Zeit, wo er für sich selber sorgen konnte, und, kann wohl sein, auch noch einige Jahre nachher.«

»Und wie lange blieb Herr Wilder in einem königlichen Schiff?« fragte der Rover nachlässig und scheinbar auf eine gleichgültige Weise.

»Lange genug, um alles zu lernen, was dort gelehrt wird, Ew. Gnaden«, war die ausweichende Erwiderung.

»Er hat es wohl bis zum Offizier gebracht?«

»Wenn das nicht ist, so verliert der König am meisten bei dem Handel. – Doch was seh' ich da von der Seite, zwischen der Pardune und dem Geerdentau; es sieht aus wie ein Segel, oder ist's nur eine Möwe, die die Flügel schwingt, ehe sie aufsteigt?«

»Segel, ho!« rief der Matrose im Mastkorbe.

»Segel, ho!« ging's wie ein Echo vom Topp bis zum Deck herunter, indem der schimmernde, obgleich entfernte Gegenstand von einem Dutzend spähender Augen in einem und demselben Moment erblickt wurde. Einem so oft wiederholten Rufe konnte der Rover seine Aufmerksamkeit nicht vorenthalten, und Fid benutzte den Umstand, um von der Hütte zu springen, was er mit einer Hast tat, die wohl bewies, daß ihm die Unterbrechung gar nicht unangenehm war. Hier erhob sich auch die Gouvernante und suchte, gedankenvoll und traurig, die Einsamkeit ihrer Kajüte.


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