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Fünfzehntes Kapitel.
Eine bestrittene Forderung

Während der letzten drei Monate war das tägliche Leben in Hazlewood House ruhig und friedlich in der gewohnten Weise verflossen. Die Brüder hatten sich ihren alten Beschäftigungen gewidmet und Beatrice schien glücklich mit ihrem goldlockigen Knaben, der nun schon zu sprechen anfing und dessen Benehmen gegen die beiden Brüder immer kecker und zuthunlicher wurde. Alles schien einen ruhigen Winter zu versprechen und die Talberts ahnten nicht entfernt, daß ein Sturm heraufziehe, der ihr Haus bis in seine Grundfesten erschüttern sollte.

Unterdessen war es Weihnachten geworden und die Brüder hatten den Speisezettel für das Festessen sorgfältig zusammengestellt, was aber an Beatrice Clauson ganz verloren ging.

Ihre Gedanken schienen von Essen und Trinken weit entfernt zu sein; sie war schon die letzten drei Monate sehr still und nachdenklich gewesen, heute aber dachte sie an den ihr bevorstehenden Besuch in ihrem Vaterhause, den sie auf dringenden Wunsch ihrer Onkel machen sollte. Horace und Herbert hatten ihr beide aufrichtig und freundlich gesagt, sie möchten sie am liebsten nicht einen einzigen Tag entbehren, aber es sei besser, die Welt halte die Clausons für eine einige Familie. Manche Menschen halten die Gesellschaft für furchtbar dumm und glauben, man könne ihr ungemein leicht Sand in die Augen streuen.

Beatrice folgte dem Rate ihrer Onkel und verließ einen Tag nach dem Christfest Oakbury. Sir Maingay, der auch den Winter in London zubrachte, holte sie auf dem Bahnhof Paddington ab. Der Baronet sah noch ein bißchen dicker und gewöhnlicher aus, als wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er begrüßte seine Tochter zärtlich, fand sie aber krank und kummervoll aussehend. Dann erkundigte er sich nach Horace und Herbert, vor denen er die größte Hochachtung hatte. »Ist es wahr, daß sie das Kind adoptiert haben?« fragte er; irgend ein verworrenes Gerücht war bis zu ihm gedrungen.

»Nein,« sagte Beatrice, »ich habe es gethan.«

»Du, meine Liebe! Ein Kind annehmen! Es ist Zeit, daß du daran denkst, eigene Kinder zu bekommen! Seit Monaten warte ich auf die Nachricht von deiner Verlobung!«

»Ich werde nie heiraten,« antwortete Beatrice gelassen.

»Verlaß dich darauf, es ist das beste, was man thun kann.« Und nun begann er sich über die Fortschritte von Beatrices kleinen Stiefbrüdern weitläufig auszulassen. Kurz ehe sie sein Haus erreichten, berichtete Sir Maingay: »Kürzlich habe ich auch einen Verwandten von dir, Herrn Carruthers, kennen gelernt, der einige Zeit bei euch in Oakbury war. Ich sagte ihm, du würdest kommen, und er versprach, uns zu besuchen.«

Es war unterdessen dunkel geworden und so konnte der Baronet das Erröten seiner Tochter nicht bemerken; sie sagte ruhig: »Ich werde mich freuen, Herrn Carruthers zu sehen.«

Lady Clauson war gütig und herablassend. Sie hatte während der letzten Saison einen gewissen Erfolg in der Stadt gehabt und konnte es sich also leisten, freundlich zu sein; trotzdem wurde Beatrice auf mancherlei Weise zum Bewußtsein gebracht, daß sie in ihres Vaters Hause eine Fremde war. Ihre kleinen Brüder wurden ihr in Gesellschaftsanzügen vorgeführt; es waren gute, gewöhnlich aussehende Kinder, die Beatrice ohne Zweifel im stillen mit ihrem goldlockigen Liebling in Hazlewood House verglich.

Obgleich die Damen höflich gegeneinander waren, stimmten sie doch in nichts miteinander überein. Lady Clauson hatte, wie viele andere, kein Verständnis für Beatrice.

»Wenn du es irgend vermeiden kannst, so heirate nie einen Witwer,« sagte sie zu einer Busenfreundin. »Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, weiß, welche Last und Sorge einem das Kind einer ersten Frau macht.«

»Das muß wahr sein,« sagte die Freundin mit tiefem Gefühl.

»Wenn sie nicht so viel Wert auf ihren Anzug legen würde,« fuhr Lady Clauson sorgenvoll fort, »dächte ich, sie hätte sich entschlossen, eine alte Jungfer zu werden und könnte möglicherweise etwas für die Jungen thun. Sie hat mehr Geld, als ein Mädchen eigentlich haben sollte.«

Carruthers machte seinen Besuch und wurde von Sir Maingay zu Tische gebeten – noch mehr, er hatte die Kühnheit, auf seine entfernte Verwandtschaft pochend, Beatrice zu einem Konzert zu begleiten; er war ernst, ehrerbietig, liebevoll. Mehr als je unterlag er dem Zauber des jungen Mädchens, doch wagte er nicht mehr, von Liebe zu sprechen. Eines Tages erzählte er Beatrice, Horace habe ihn auf einige Tage nach Oakbury eingeladen.

»Werden Sie gehen?« fragte Beatrice.

»Das haben Sie zu entscheiden, nicht ich,« war die Antwort.

Sie schlug die Augen nieder und schwieg.

»Verbieten Sie es?« fragte er dringender.

»Ich habe kein Recht, es zu verbieten.«

»Gewiß haben Sie das Recht! Wir reden nicht von dem Geschehenen, aber wir vergessen es auch nicht. Sehen Sie mich an und antworten Sie mir: soll ich nach Hazlewood House gehen oder nicht?«

Er sprach in einem befehlenden Ton, den sie noch nie von ihm gehört hatte. Vielleicht war er ihr nur um so lieber. Sie schlug langsam die Augen auf und flüsterte: »Es ist sehr unklug.«

»Unklug für mich, wollen Sie natürlich sagen,« erwiderte er rasch; »darüber steht die Entscheidung nur mir zu.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Frank, wir wollen stets gute Freunde bleiben.«

»Immer,« entgegnete er, »und nun können wir auch miteinander hinfahren.«

Sie erhob keinen Einwand dagegen und die Sache war abgemacht.

Frank mag in dieser Nacht recht angenehme Träume gehabt haben: Beatrice aber saß stundenlang in ihrem Zimmer und starrte mit einem schmerzlichen, hoffnungslosen Ausdruck auf ihrem Gesicht in das Feuer. Die kleine Linie, die Frank einst bemerkt hatte, schien tiefer und sichtbarer geworden zu sein.

Wenn sich Frank von der gemeinschaftlichen Reise viel versprochen hatte, so wurde er grimmig enttäuscht. Es traten unvorhergesehene Ereignisse ein, die Beatrice veranlaßten, allein und in aller Eile abzureisen.

Eines Morgens waren Horace und Herbert in die Erörterung eines Haushaltungsgegenstandes so vertieft, daß sie das Anfahren eines Kabrioletts überhörten, das von einem Mann kutschiert wurde, der herabsprang und einer in auffallende Farben gekleideten Frau mit gutmütigem, glänzendem Gesicht aussteigen half. Sie klingelten schüchtern an der Hausthüre, die nach Verlauf eines geeigneten Zeitraumes von Whittaker, der sie längst beobachtet hatte, geöffnet wurde. Die Unbekannten fragten nach den Herren Talbert, worauf ihnen die Auskunft wurde, daß diese zwar zu Hause, aber beschäftigt seien. Als der Mann dann erklärte, warten zu wollen, ließ Whittaker die Fremden ins Haus kommen. Sie putzten ihre Füße beim Eintreten so gründlich und sorgfältig, daß Whittakers letzte Bedenken, ob sie nicht doch Personen von einiger Bedeutung seien, sich völlig legten. Er bot ihnen Stühle im Hausflur an, da die unbekannten Besucher zu anständig aussahen, um sie stehen lassen zu können; aber das Kabriolett und das Füßeputzen bewiesen, daß sie keine Leute für das Empfangszimmer waren.

»Wen soll ich melden?« fragte Whittaker.

»Wir sind Fremde, Herr und Frau Rawlings, und wünschen die Herren in Privatangelegenheiten zu sprechen.«

»Rawlings,« sagte Herbert schaudernd, als Whittaker die Fremden anmeldete; »wir kennen niemand mit einem so schrecklichen Namen. Wer sind sie denn, Whittaker?«

»Ich habe keine Ahnung,« entgegnete dieser, der sich gekränkt fühlte, daß man ihm Bekanntschaft mit solchen Leuten zutraue.

Endlich entschlossen sich die Brüder, in den Hausflur hinunter zu gehen; als sie die unbekannten Besucher sahen, konnten sie sich noch weniger erklären, was diese Leute bei ihnen zu suchen hatten.

»Sie wünschen uns zu sprechen?« fragte Horace freundlich. Die Talberts waren immer höflich und freundlich, obgleich sie sich niemand zu nahe kommen ließen.

»Wir möchten Sie gerne allein sprechen,« sagte die Frau und warf einen Blick über den Flur. Herbert öffnete die Thüre ins Wohnzimmer und alle gingen hinein.

»Nun,« sagte Horace ermutigend, »womit können wir Ihnen dienen, Herr Rawlings – das ist Ihr Name, wenn ich nicht irre?«

»Ja,« sagte Rawlings und überreichte Horace eine Karte, auf der geschrieben stand: »Gebrüder Rawlings, Schweineschlächter 142 Gray Street London«.

Horace schauderte zusammen; er war sehr ärgerlich und sagte steif: »Bedauere sehr, wir essen nie Schweinefleisch.«

Dann gab er Herbert ein Zeichen, zu klingeln, doch Herr Rawlings hielt ihn davon ab.

»Ich bin nicht deshalb gekommen,« entgegnete Herr Rawlings. »Ich habe gehört, daß Ihnen voriges Jahr ein Kind ins Haus gesandt wurde, von dem niemand weiß, woher es kam. Verhält sich dies so, meine Herren?«

»Es ist vollständig richtig,« antwortete Horace; »aber warum fragen Sie danach?«

Der Mann wurde sichtlich aufgeregter.

»Ich und meine Frau hoffen, daß es unser kleiner Knabe ist, der uns vor mehr als zwei Jahren gestohlen worden ist.«

Die Gesichter der Brüder waren zum Malen komisch. Daß zwei Leute diesen Schlages Beatrices Jungen zurückfordern würden, war zuviel für sie. »Unmöglich!« riefen sie in einem Atem.

»Sagen Sie das nicht,« sagte Herr Rawlings, »es ist gar nicht unmöglich, daß wir unseren kleinen Jungen endlich finden; wir haben schon ganz England durchreist, um solche Findelkinder anzusehen – vielleicht ist es der unsere.«

»Warum hätte er gerade zu mir geschickt werden sollen?«

»Das weiß ich nicht, aber können wir das Kind nicht sehen?«

Die Lage, in der sie sich befanden, schien ihnen lächerlich zu sein und die Talberts verabscheuten nichts mehr, als die Lächerlichkeit.

Um der Sache, die lästig zu werden begann, möglichst schnell ein Ende zu machen, klingelte Horace und befahl, das Kind zu bringen. Frau Miller, die vermutete, ein vornehmer Besuch wolle das Kind bewundern, steckte den Kleinen rasch in seine besten Kleider und so trippelte er, ein Kabinettsstück an kindlicher Schönheit und Gesundheit, in das Zimmer.

Rawlings starrte ihn an; jede Linie seines Gesichtes zuckte vor Aufregung; seine lichtblauen Augen schienen aus ihren Höhlen hervortreten zu wollen. »Maria,« raunte er seiner Frau mit heiserer Stimme zu, »Maria, sieh ihn an! Gerade so wäre der unsere geworden! Dasselbe Haar, dieselben Augen. Maria, ist dies nicht unser Knabe? Antworte mir und danke Gott, daß wir ihn endlich gefunden haben.«

Die Frau sah das Kind an, aber antwortete nicht sogleich.

»Er ist es – ich weiß, daß er 's ist,« sagte der Mann. »Sag's ihnen, Maria, sag's!«

»Ich hoffe, daß er es ist,« sagte seine Frau.

Als die Talberts dies hörten, sahen sie einander betroffen an; die Sache nahm einen unerwarteten Gang.

»Mein guter Mann,« sagte Horace, »Sie täuschen sich vollständig.«

»O nein. Wie kann ein Vater sich täuschen? Ach mein hübscher Junge – mein langverlorenes Lamm. Komm und gib mir einen einzigen Kuß! Komm zu deinem Vater!«

Er breitete die Arme nach ihm aus, allein der Knabe lief erschrocken zu Herbert, drückte das Köpfchen an dessen Bein und brach in ein lautes Weinen aus, das sofort Frau Miller herbeirief, die das Kind wegführte. Horace und Herbert starrten mit hoch emporgezogenen Brauen ihren sonderbaren Besuch an.

»Wir können das Kind doch gleich mitnehmen?« fragte Rawlings.

»Ganz gewiß nicht,« sagte Horace. »Sie haben uns noch nicht den geringsten Beweis gegeben, daß es Ihr Kind ist. Sagen Sie uns, wie es hierher gekommen ist, und wir werden Ihnen glauben.«

»Es ist mein Kind! Ich behaupte es und Maria behauptet es. Mir ist es gleichgültig, wie er hierher gekommen ist. Sagen Sie mir doch, wessen Sohn es ist, wenn nicht der meine? Es ist mein armer verlorener Junge und ich will ihn haben!«

Die Sache wurde schlimmer und schlimmer; der Mann wurde immer aufgeregter. Horace wandte sich zu der Frau und fragte, ob auch sie das Kind zurückfordere. Sie blickte auf ihren Mann und Thränen traten in ihre Augen, dann sagte sie: »Ja, Herr, ich glaube, daß es mein Kind ist.«

Hätten die Brüder den Jungen nicht so lieb gehabt, so hätten sie ihn wahrscheinlich gleich mitgegeben, nur um den Schweinemetzger wieder loszuwerden. Wie die Sache jetzt lag, wußten sie nichts Besseres zu thun, als den Rawlings zu sagen, sie wollten sich den Fall einige Tage bedenken und ihnen dann ihren Entschluß mitteilen. Herr Rawlings schrieb den Namen des Gasthauses, in dem sie abgestiegen waren, auf seine Geschäftskarte und verließ unter wiederholten Beteuerungen, daß er sich seinen wiedergefundenen Knaben nicht rauben lassen wolle, endlich das Haus.

Allein gelassen, begannen die Talberts ihr neuestes Erlebnis zu überdenken. Je mehr sie sich die Ankunft des Kindes bei ihnen ins Gedächtnis zurückriefen, je unwahrscheinlicher erschien es, daß es der Sohn dieser Leute sei. So lieb sie den Jungen hatten, so würden sie doch nie daran gedacht haben, ihn seinen rechtmäßigen Eltern vorzuenthalten, aber sie hatten auch nicht die Absicht, ihn dem ersten besten auszuliefern.

Und was würde Beatrice dazu sagen? Sie machten sich Vorwürfe, ihren Bitten nachgegeben zu haben, aber geschehene Dinge lassen sich nicht ändern, und so schrieb Horace an Beatrice und teilte ihr das Geschehene mit.

Beatrice war allein, als sie den Brief las; sie wurde totenblaß und mußte qualvoll nach Atem ringen. Dann klingelte sie und erteilte den Befehl, ihre Sachen einzupacken. Beim Frühstück teilte sie Lady Clauson mit, sie müsse mit dem nächsten Zug nach Oakbury zurückkehren. Sie gab keinen näheren Grund an, und Lady Clauson, die sich darüber ärgerte, sagte, sobald Beatrice abgereist war: »Merke wohl, was ich dir sage: Dieses Mädchen wird eines schönen Tages irgend etwas thun, was Schande auf die Familie bringt.«

»Unsinn, meine Liebe,« entgegnete Sir Maingay, der nun lange genug verheiratet war, um zu wissen, daß seine schöne Gattin nicht ganz das war, wofür er sie gehalten hatte.

Beatrice kam ganz unerwartet in Hazlewood House an; ihre Onkel waren beide aus. Sie lief in die Kinderstube und rief so stürmisch: »Wo ist mein Junge?« daß Frau Miller erschreckt aufsprang. Dann herzte und küßte sie das Kind, bis ihre Onkel nach Hause kamen, denen sie gleich mit der Frage entgegentrat: »Was habt ihr mit den abscheulichen Leuten gemacht? Die Leute, die meinen Jungen verlangen, meine ich.«

»Meine Liebe, wir haben noch nichts gethan.«

»Ihr denkt doch nicht daran, ihn herzugeben?«

»Ich hoffe, daß wir es nicht müssen.«

»Höre, Onkel Horace, ich gebe das Kind nicht her – ich trete es an niemand ab, der mir nicht die vollgültigsten Beweise bringt, daß es ihm gehört. Lieber entfliehe ich mit dem Kinde und verberge mich irgendwo.«

Horace fand diese Rede sehr anstößig. »Meine liebe Beatrice,« sagte er, »wir bedauern beide, dich so leidenschaftlich reden zu hören. Das Kind ist ein hübsches, artiges Kind, aber du sprichst von ihm, als ob es unser Fleisch und Blut wäre.«

Beatrice entgegnete nichts. Immerhin hatte diese Unterredung aber den Erfolg, daß die Talberts an Rawlings schrieben, sie hielten sein Erkennen eines Kindes, das er seit zwei Jahren nicht gesehen habe, für keinen genügenden Beweis, daß es das seine sei, und lehnten es ab, seiner Forderung zu entsprechen.

Zwei Tage nachher öffnete Horace einen Brief, den er las und stillschweigend Herbert überreichte. Herbert las ihn und sein Gesicht spiegelte dieselbe Empfindung wieder, die auf dem Horaces zu Tage getreten war; die Brüder wechselten einen einzigen Blick, der ihnen sagte, daß sie einer Ansicht seien.

»Beatrice,« sagte Horace mit feierlichster Stimme und in entscheidendstem Tone, »das Kind muß hergegeben werden.«

Sie schrak zusammen, doch ehe sie etwas sagen konnte, echote schon Herbert ebenso feierlich und entschieden: »Das Kind muß hergegeben werden.«


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