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Siebentes Kapitel.
Die große Schlußrechnung im Juni

Auch der Klügste kann sich irren; auch die beste Köchin kann einmal eine Speise verderben. Man darf also nicht an den Fähigkeiten der Talberts zweifeln, weil das Kindermädchen nicht einschlug. Sie waren in der Wahl von Köchinnen, Zimmer-, Haus- und Küchenmädchen so oft glücklich gewesen, daß dieser eine Mißerfolg wirklich nicht in Betracht kommen kann.

Wir brauchen ihre Gebrechen und Missethaten nicht im einzelnen aufzuzählen; es genügt zu wissen, daß die Talberts eines Abends von ferne sahen, wie ein junger Mann und ein Mädchen sich im Heckenweg herzhaft küßten. Sie konnten das Mädchen nicht erkennen, waren aber überzeugt, daß es zu ihrem Hause gehöre; sie ließen deshalb den zuverlässigen Whittaker an der Seitenthüre Wache stehen und befahlen ihm, den ersten Ankömmling zu ihnen zu schicken. Natürlich leugnete sie; sie hatte allerdings soeben einen Brief an ihre alte Mutter fortgetragen, sprach aber überhaupt nie mit einem jungen Mann, geschweige denn, daß sie sich umarmen und küssen ließ. Ach, über die weibliche Wahrhaftigkeit! Auf dem Rücken ihres hellen Kattunkleides entdeckte Herbert, während Horace das Verhör anstellte, in guter schwarzer Erde den Abdruck von vier Fingern und einem Daumen – ein Untergärtner war ihren Reizen erlegen! Sie wurde unverschämt und mußte nach vier Wochen ihr Bündel schnüren.

Nun wurde beschlossen, eine ältere Person zu suchen und diesmal auch Beatrices Meinung zu hören. Eines Tages stellte sich eine ältere Frau vor, die einen überaus günstigen Eindruck machte und sich respektvoll, aber nicht kriechend benahm, gerade wie es die Talberts liebten. Doch leider hatte sie keine Zeugnisse aufzuweisen, da sie lange außer Dienst gewesen war. Sie hieß Miller und war Witwe und schien so ganz geeignet, daß die Brüder sich entschlossen, auf weitere Erkundigungen zu verzichten, nachdem die wenigen, die man einziehen konnte, zu Gunsten von Frau Miller ausgefallen waren. So wurde Frau Miller, die auch von Beatrice für passend erachtet wurde, an Stelle des leichtfertigen Mädchens genommen und hatte sich bald die Zufriedenheit des ganzen Hauses erworben. Horace und Herbert paßten ihr die erste Zeit scharf auf, konnten aber keinen Mangel entdecken, und als sie erst festgestellt hatten, daß sie vier Stück Seife weniger verbraucht hatte, als ihre Vorgängerin, begannen sie zu glauben, sie hätten einen Schatz an ihr gefunden.

»Das Kind ist jetzt nicht weniger rein als früher,« sagte Herbert zu Horace; »ich war immer überzeugt, daß das Mädchen die Seife im warmen Wasser liegen ließ.«

So vergingen die letzten Winter- und die Frühlingsmonate ruhig und still in Hazlewood House. Die Talberts und ihre Nichte gingen ab und zu in Gesellschaften zu den besten Familien, oder sahen diese bei sich. Die erste Verwunderung über das Kind war bald vorüber. Jedermann war überzeugt davon, daß es »jemand« sei, aber niemand wußte, wer. Wenn überhaupt darüber geklatscht wurde, so erfuhren es die arglosen Brüder jedenfalls nicht. Nur einmal kam eine alte Dame, Lady Bowker, nach Hazlewood House, um alles in Erfahrung zu bringen. Sie hatte die Talberts schon als Kinder gekannt und fühlte sich deshalb berechtigt, dieselben geradezu um Auskunft über den Knaben, der von allen für vornehmer Leute Kind gehalten wurde, zu ersuchen. Leute, die einen von Jugend auf gekannt haben, sind in der Regel recht lästig. Sie sagte den Brüdern, sie habe in einer Privatangelegenheit mit ihnen zu reden, und Beatrice verließ darauf hin das Zimmer. Dann wandte sie sich von einem der ernst aussehenden Männer an den anderen.

»Nun, Horace, nun Herbert, was bedeutet denn diese Geschichte? Wer ist der Junge, mit dem ihr so viel Wesens macht?«

»Ich glaube nicht, daß wir je viel Wesens mit etwas gemacht haben,« sagte Herbert in sanft abweisendem Ton.

»Sicherlich nicht,« sagte Horace mit Entschiedenheit.

»Nun, dann sagen wir Geheimniskrämerei – wir alle wollen wissen, wer das Kind eigentlich ist – das Kind, das in tiefer Nacht in eine Schutzdecke oder in etwas – Aehnliches eingewickelt in Pickfords Wagen, wie man sagt, hier ankam.«

»Ich wollte, Sie könnten es uns sagen, Lady Bowker. Wir wissen nicht mehr als Sie auch.«

»Das ist alles Unsinn, Horace. Ich höre, Sie hätten eine Kinderfrau gemietet und Sie wollten das Kind bei sich behalten. Ich denke, Sie handeln sehr unüberlegt.«

»Wir handeln nie unüberlegt,« sagte Horace.

»Gewiß nicht,« bestätigte sein Bruder.

»Doch, Sie thun es! Es ist sehr unüberlegt und unklug, daß Sie nicht wenigstens eine verschwiegene Person in das Geheimnis einweihen. Jemand wie mich, jemand, der für Sie Gewähr leisten und bürgen kann.«

»Wir haben nicht nötig, daß jemand in dieser Weise für uns eintritt.«

»Gewiß haben Sie's nötig. Ich wüßte nicht, daß Sie besser wären als andere Leute.«

Lady Bowker ärgerte sich über die milde Beharrlichkeit der Brüder und sagte schließlich ganz gereizt: »Sie sind sehr rücksichtslos gegen Fräulein Clauson. Kaum ist sie eine Woche hier, so kommt das Kind. Begreifen Sie denn nicht, daß die Leute sagen, Sie hätten nur gewartet, bis eine Frau im Hause war, die für es sorgen könnte, um das Kind zu sich zu nehmen?«

»So, sagt man das?« fragte Horace nachdenklich.

»Was soll man sonst sagen? Ich selbst behaupte, daß Sie gute Gründe haben, das Kind zu behalten. Sie sollten wenigstens zu mir, bei der das Geheimnis sicher wäre, Vertrauen haben. – Jedenfalls haben Sie sich beide den Skandal selbst zuzuschreiben.«

»Liebe Lady Bowker,« sagte Horace sanft, »wollen Sie uns auch künftig ab und zu einladen?«

»Gewiß will ich!«

»Und auch Hazlewood House mit Ihrer Gegenwart beehren?«

»Ja – wenn Sie mich einladen.«

»Dann,« sagte Horace, »können wir der ganzen Welt trotzen.«

Lady Bowker fuhr in schlechter Laune wieder ab, war überzeugter als je, daß das Kind jemand von Bedeutung sei, und that bei den Leuten, als ob sie im Geheimnis wäre.

»Lady Bowker ist manchmal etwas unfein,« sagte Horace traurig.

»Das ist sie,« stimmte Herbert bei.

Es war schmerzlich, eine solche Beschuldigung gegen ein bekanntes Glied der Aristokratie vorbringen zu müssen, aber sie waren gewissenhafte Leute und sprachen die Wahrheit aus, auch wenn sie ihnen schmerzlich war.

Dann begannen sie, ihr orientalisches Porzellan, das sie besonders liebten, sorgfältig abzustäuben.

Es ist ein stolzes Gefühl für einen Mann, dem Gerede eines Ortes wie Oakbury trotzen zu können, aber nichtsdestoweniger war Horace verdrießlich. Diese Mißstimmung steigerte sich von Woche zu Woche, weil er der Ansicht war, daß Herbert, nachdem er, Horace, eingewilligt hatte, das Kind in Hazlewood House zu behalten, offen mit ihm hätte reden müssen. Er blieb indessen seinem Grundsatz der Nichteinmischung treu und verriet seine Gefühle nicht bis zu der großen Abrechnung im Juni.

Wir haben gesehen, wie gerecht die Brüder auch in Geldangelegenheiten gegeneinander waren, und man kann sich denken, daß auch die Bücher entsprechend geführt wurden. Horace führte die Kasse und buchte die geringste Kleinigkeit aufs pünktlichste. Es muß noch ein guter Tropfen kaufmännisches Blut in den Brüdern gewesen sein: Wenn einer ein Pferd mehr hielt als der andere, so wurden ihm die Mehrkosten zugeschrieben, war einer krank, so mußte er die Doktorrechnung bezahlen; ebenso wurden die Rechnungen der Kaufleute genau durchgesehen und der Betrag dem Betreffenden angerechnet. Sobald wie möglich nach dem letzten Juni stellte Horace eine ausführliche Abrechnung auf, welche die beiden Männer gemeinsam prüften und unterzeichneten, worauf sie genau feststellten, was einer dem anderen schuldig war. Dies war also die große Juni-Schlußrechnung.

Als Herbert in diesem Jahre die Abrechnung durchsah, riß er in hellem Erstaunen seine Augen weit auf bei einem Posten, der ihm zugeschrieben war. »Ich verstehe das nicht,« sagte er und deutete auf die Stelle. Horace wußte, ohne hinzusehen, was es war. Er hatte sich die Sache wohl überlegt, ehe er den Eintrag machte.

»Ich glaube, ich habe es so nieder angerechnet, als ich gerechterweise konnte.«

»Aber warum hast du es mir überhaupt angerechnet?« fragte Herbert.

Der Eintrag lautete: Lohn der Kinderfrau auf sechs Monate: 9 Pfund Sterling 10 Schilling, Unterhalt für Kind und Kinderfrau für sechs Monate 27 Pfund Sterling 16 Schilling, Summa: 37 Pfund Sterling 6 Schilling.

»Ich glaubte,« sagte Horace langsam – »da dein Benehmen bei verschiedenen Gelegenheiten mich vermuten ließ – es sei recht und gerecht, wenn ich diesen Eintrag mache.«

Herbert wurde dunkelrot – er war so wütend, wie er es in seinem Leben noch nicht gewesen. Trotzdem antwortete er nicht in Worten.

Er ergriff eine Kielfeder und zog einen dicken Strich durch den Eintrag, wodurch er Horace einen ganzen Morgen Arbeit durch nötig gewordenes Abschreiben der Rechnung verursachte.

Weiter wurde nichts gesagt. Herberts That war beredter als Worte, sein Bruder wußte, daß er nie auch nur einen Pfennig bestritten hätte, den er von Rechts wegen bezahlen mußte. Horace entschuldigte sich nicht wegen seines Verdachtes; er hielt es für eine hinreichende Genugthuung, daß er Herbert ohne ein Wort der Widerrede seine schöne Abrechnung hatte verderben lassen. Auch Herbert schien es so aufzufassen, denn der Friede wurde nicht getrübt. Von da an konnte auch Horace keine Erklärung für das Erscheinen des Kindes mehr finden. Er wußte nun, daß er seine Zustimmung zu dessen Verbleiben unter einer falschen Voraussetzung gegeben hatte, allein es war zu spät, die Sache rückgängig zu machen und, die Wahrheit zu gestehen, verhätschelte Horace Talbert in seiner ernsten, feierlichen Weise das Kind fast ebensosehr wie Beatrice.

Um dieselbe Zeit faßte Vikar Mordle einen großen Entschluß. Schon seit Monden wußte er, daß Fräulein Clausons graue Augen und klassisches Gesicht seinem Herzen die Ruhe geraubt hatten. Der lange schwarze Rock – Sylvanus war wenigstens in seiner Kleidung orthodox – der dies Herz bedeckte, hatte es so wenig zu schützen vermocht, als ob er aus nassem Seidenpapier gemacht gewesen wäre. Bis dahin hatte er nie ein Mädchen begegnet, das er hätte zu seiner Gattin machen mögen, obgleich sein Ledigbleiben keineswegs dem Umstand zuzuschreiben war, daß er die Ehelosigkeit für den geistlichen Stand für besonders angezeigt hielt. Er verabscheute solche Grundsätze, wie es sich für jeden gebührt, der weiß, was er dem tapferen, gemeinen, aber rein menschlichen Reformator, welcher so kühn erklärt hat, die Freuden der Ehe seien kein überflüssiger Luxus, schuldig ist. Beatrice aber war noch nicht einen Monat in Hazlewood House gewesen, als Sylvanus Mordle sich schon klar darüber war, daß er an einem Wendepunkt seines Lebens stehe, und daß dies Mädchen die Seine werden müsse.

Soweit war alles recht befriedigend, nur gehören unglücklicher- oder glücklicherweise immer zwei Leute zu einem solchen Handel und Herr Mordle war seiner Sache durchaus nicht sicher. Trotzdem fühlte er, daß es höchste Zeit sei, handelnd vorzugehen, denn es gab Augenblicke, wo er Lust hatte, sich in irgend einen entlegenen Winkel seines Kirchspiels zurückzuziehen und unter den berühmten Eichen desselben zu seufzen und zu klagen; Augenblicke, wo er nach seiner eigenen Aussage geneigt war, den Mond anzubellen oder sonst etwas zu thun, was zweifelnden Liebenden tröstlich erscheint. Es wurde ihm manchmal übermenschlich schwer, heiter zu scheinen. Der würdige Sylvanus war in der That übel daran und sah ein, daß nichts mit ihm anzufangen sei, bis seine Liebe mit Erfolg gekrönt oder verworfen worden sei.

Eines Sonntags hielt er, um sich Mut einzusprechen, eine feurige Predigt, in welcher er seiner Gemeinde bewies, wie gut es sei, daß sich der Mensch eine Gefährtin wähle, was zur Folge hatte, daß sich am folgenden Sonntag drei Paare ausrufen ließen – es muß also eine sehr überzeugende Predigt gewesen sein.

Montags bestieg er sein Tricycle und beförderte sich, nachdem er seinen Rundgang im Kirchspiel gemacht hatte, mit dessen Hilfe nach Hazlewood House.

Sylvanus auf seinem Tricycle war ein köstlicher Anblick, der Oakbury anfangs mit Entsetzen erfüllt hatte. Ein Geistlicher in langem schwarzem Rock und breitränderigem Hut, der sich vermittelst des energischen Arbeitens seiner kräftigen Beine mit einer Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde fortbewegte, widersprach allen hergebrachten Sitten. Nur seine Beliebtheit rettete ihn. Die alte Frau Pierrepont, ein Pfarrkind, das an chronischer Unzufriedenheit litt, schrieb auch wirklich darüber an den Bischof. Sie nannte das Tricycle eine »Bicyclemaschine« und übertrieb also, was die Zahl der Räder anbelangte, durchaus nicht, sondern verminderte dieselbe sogar. Der Bischof war bestürzt; es erschien ihm doch unpassend, ja unerhört, daß ein Vikar auf einem Paar Räder im Kirchspiel herumfahre. So schrieb Seine Lordschaft über diesen Gegenstand an den Pfarrer von Oakbury, der Sylvanus den Brief zum Lesen gab. Was den Pfarrer anlangte, so hätte sein Vikar auch auf einem Besenstiel herumfliegen können, vorausgesetzt, daß es ihm dadurch möglich geworden wäre, alle Belästigung und jeden aus der Gemeinde erwachsenden Verdruß von seinem Vorgesetzten fern zu halten.

Herr Mordle, der sich nicht davon überzeugen konnte, daß ihn der geistliche Stand abhalten sollte, ein so bequemes Fuhrwerk zu benutzen, um von einem Ende des Kirchspiels an das andere zu gelangen, that einen sehr kühnen Schritt.

Da er wußte, daß der Bischof sich zur Zeit auf einem etwa fünfundzwanzig Meilen entfernten Landsitz aufhalte, schwang er sich eines Morgens sehr früh in den Sattel oder vielmehr auf den Sitz seines Tricycles und gebrauchte seine unteren Glieder dermaßen, daß seine Karte noch vor dem zweiten Frühstück dem Bischof überreicht werden konnte. Zehn Minuten später untersuchte der Bischof gründlich und ernsthaft den Gegenstand, den Frau Pierrepont im Gespräch mit ihren Freunden eine Maschine des Teufels nannte.

Mehrere Minuten lang stand der Bischof auf den Stufen der Haustreppe und erwog die Schuld oder Unschuld des leblosen Instrumentes zu seinen Füßen, während Sylvanus mit seinem gewöhnlichen frischen Eifer und seiner stoßweisen Beredsamkeit seine Sache verteidigte. Er verbreitete sich des längeren über die Ausdehnung seiner Pfarre und des unschätzbaren Beistandes, den ihm diese moderne Erfindung zu möglichst rascher Fortbewegung gewährte. Er zeigte Seiner Lordschaft die kleine, an der Rückseite des Sitzes befestigte Tasche, in der er seine Andachtsbücher, oder nötigenfalls auch eine kleine irdische Stärkung für bejahrte Kranke mit sich führen konnte. Er erklärte auch die Zusammensetzung und Thätigkeit der Maschine und erregte die bischöfliche Neugierde bis zu einem solchen Grade, daß sich etwas Unerhörtes begab. Seine bischöflichen Gnaden in Gamaschen und Zubehör, geruhten in höchst eigener geheiligter Person den Sitz zu besteigen und thatsächlich zu der unaussprechlichen Freude verschiedener Herren und Damen, die aus den Fenstern des Wohnzimmers zusahen, in ruhiger, würdiger und doch nachlässiger Weise, wie es sich für einen Bischof ziemt, den Kiesweg auf und ab zu kutschieren, ohne anderen Schaden zu verursachen, als daß er die Ecken von seines Wirtes Rasenplatz abschnitt und einige Steine aus einer künstlichen Felsengruppe herabstieß. Das Tricycle triumphierte! Obgleich der Bischof keine beredte Lobpreisung desselben in seine nächste Ermahnungsrede an seine Geistlichkeit aufnahm, so ist es doch bekannt, daß er den Gebrauch desselben in größeren Pfarrsprengeln wiederholt empfohlen hat.

Es gelang Sylvanus auch in Oakbury, das Vorurteil gegen die Neuerung zu überdauern, und so fuhr er also an jenem Juli-Nachmittag auf seinem Tricycle nach Hazlewood House.

Die Talberts waren nach Blacktown gefahren; er traf nur Fräulein Clauson im Garten hinter dem Hause, wo sie im Schatten eines Baumes saß und las. Sie lächelte freundlich, als der Besucher näher kam. Sylvanus hätte viel darum gegeben, wenn sie errötet wäre, oder ihre Augen niedergeschlagen hätte. Ein paar Schritte von ihr entfernt saß Frau Miller mit dem Kinde auf ihrem Schoß. Nach der ersten Begrüßung nahm Sylvanus einen bequemen Gartenstuhl und setzte sich neben Beatrice. Kurze Zeit unterhielten sie sich über alltägliche Dinge; dann beschloß der Vikar, ein Mann zu sein und auf sein Ziel loszugehen.

»Ich möchte einige Worte unter vier Augen mit Ihnen reden, Fräulein Clauson. Wollen Sie mit mir ins Haus gehen?« Sie sah überrascht, ja vielleicht etwas beunruhigt auf.

»Wir können ja hier miteinander sprechen,« entgegnete sie und hieß die Wärterin mit dem Kinde hineingehen. Sie küßte den kleinen Kerl zärtlich, als er fortgeführt wurde.

»Wie lieb Sie dies Kind haben,« sagte Sylvanus.

»Sehr, sehr lieb!«

Dann sah sie ihn mit ihren großen grauen Augen an, wie jemand der auf eine versprochene Mitteilung wartet. Er wußte jetzt, daß alles verloren war, oder vielmehr, daß er nichts zu verlieren hatte; aber er ging bis zum Ende.

»Fräulein Clauson … Beatrice,« sagte er. »Ich bin heute hergekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mich lieben können, ob Sie mein Weib werden wollen?«

Sie antwortete nicht; er glaubte sie seufzen zu hören, aber dieser Seufzer erweckte keine Hoffnung in ihm.

»Daß ich Sie liebe, brauche ich nicht erst zu sagen. Sie müssen dies gesehen haben; ich werde es in meiner unbeholfenen Weise längst verraten haben.«

»Ich fürchtete es,« sagte Beatrice träumerisch.

»Ja, ich liebe Sie und werde Sie stets lieben. Ich sage Ihnen dies mit wenig Hoffnung, aber Sie hören mich wenigstens und glauben, daß ich Sie liebe.«

Seine Stimme klang so tief und ernst, daß sie dieselbe kaum erkannte. Er blickte sie an; ihre Augenlider waren gesenkt und Thränen quollen darunter hervor.

»Wollen Sie mir eine Antwort geben?« sagte er weich. »Ich will Sie nicht dadurch beleidigen, daß ich Ihnen von Reichtum oder Rang spreche. Wenn Sie einen Mann liebten, würden Sie sie sich wenig darum kümmern. – Sie würden den Mann Ihrer Liebe aller Welt zum Trotz heiraten.«

Sie schauderte zusammen; ihr Mund zuckte krampfhaft. Eine Sekunde lang, aber auch nur eine Sekunde, durchbebte ein wilder, beseligender Gedanke den jungen Mann.

»Habe ich recht?« fragte er.

»Ich glaube wohl – ach Herr Mordle, ich bin so unglücklich darüber.«

Ihr Ton ließ keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit ihres Bedauerns aufkommen. Hätte sie ihm auch das größte Unglück zugefügt, es könnte nicht größer sein.

Er trug die Antwort wie ein Mann und erhob sich; sein Antlitz war bleich, aber so weit kann sich kein Mensch beherrschen; sein Wesen und seine Worte dagegen hatte er in der Gewalt.

»Wir werden aber Freunde bleiben,« stieß er in seinem gewöhnlichen Ton hervor.

»Wenn Sie es wünschen,« sagte Beatrice sanft, fast demütig.

»Natürlich wünsche ich es. Beiläufig gesagt, wünschen Sie mir auch glückliche Reise; ich gehe nächste Woche fort – nach Frankreich, an den Rhein, in die Schweiz …«

Beatrice legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Bitte, sprechen Sie nicht so; Sie machen mich unglücklich!«

»Unglücklich?«

»Ja. Glauben Sie denn, ein Mädchen fühle sich nicht unglücklich, wenn sie die Liebe eines Mannes wie Sie sind, nicht annehmen kann? Glauben Sie, sie halte es für möglich, daß er fortgehe und alles vergesse? Ich glaube nicht, daß ich zu tadeln bin, Herr Mordle, aber immerhin bin ich unglücklich darüber.«

Er faßte ihre Hand.

»Nein Sie sind nicht zu tadeln. Ich war ein Narr; schad't nichts – ich bin auch ein Mann. Ich wollte nächste Woche wirklich abreisen, wenn nicht – einerlei was geschehen wäre. Wenn ich zurückkomme, werde ich von meiner Thorheit kuriert sein, ich kann wenigstens versprechen, daß Sie keine Krankheitserscheinungen mehr bemerken sollen. Leben Sie wohl.«

Damit wandte er sich um und ging. Ganz vernichtet schritt er den Heckenweg entlang, ohne an sein Tricycle zu denken. Sylvanus mußte umkehren, um sich seiner Fortbewegungsmaschine wieder zu bemächtigen, was er für einen Extraunglücksfall erachtete, als er Beatrice nachdenklich an einem Fenster stehen sah. Dessenungeachtet bestieg er mutig sein metallenes Roß und fuhr davon.

In Romanen erwartet man von einem abgewiesenen Liebhaber, daß er seinem Pferd die Sporen gibt und davonsprengt, oder, falls er unberitten ist, daß er außer sich fortstürzt, einerlei wohin, aber die Weise, wie der ehrwürdige Sylvanus sich entfernte, wäre unerhört in einem Roman – glücklicherweise ist dies keiner.


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