Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.

Rerum natura nusquam magis quam in minimis tota est.

Plin. Hist. Nat. L. XI. C. 2.

Am andern Tage, sehr früh, saß ich in der Laube, um auf meinen Lehrmeister zu warten. Er erschien sehr bald und setzte sich auf die andere Seite des kleinen Tisches, welcher in der Mitte der Laube stand. Dann legte er vorsichtig eine todte Fliege vor mich und begann zu sprechen:

»Der gemeine Mensch, mein Sohn, lebt in einer sehr kleinen Welt; für ihn hat die Schöpfung sichtbare Grenzen und es kostet ihn nicht lange Zeit, noch schwere Mühe, das Werk Gottes zu überblicken, soweit er es kennt. Kaum wirft er bisweilen einen gleichgültigen Blick über den Kreis seiner körperlichen Bedürfnisse hinaus. Die thierischen Triebe befriedigen, dem Hochmuth fröhnen, die Geldsucht stillen – das ist das Ziel vieler Menschen, die sich nicht zu erinnern scheinen, daß in ihnen etwas mehr lebt, als in dem vierfüßigen Thiere und daß Gott in ihren Kopf mehr Geist und mehr Verstand ausgegossen, damit ihm der Mensch danke und ihn anbete mit dem vollen Bewußtsein seiner Größe und Allweisheit. Einem solchen Menschen ist Erde und Sonne die ganze Welt; das Thierreich liegt zwischen Wallfisch und Ameise; das Pflanzenreich zwischen Eiche und Grashalm. – Und er ahnt selbst nicht, daß zwischen diesen engen Grenzpunkten noch erstaunlich große Körper oder lebendige Welten liegen, deren Wunder bei jedem Blicke das Dasein und die Allmacht des höchsten Wesens verkündigen. – Er bewundert den Verstand eines Pferdes und zertritt unter seinem Fuße ein niedriges Thier, das mit tausendmal mehr Verstand begabt ist; – er bewundert das Nest der Schwalbe und geht an dem Blatte vorbei, an welchem das wunderbare Nest einer Wespe hängt; – er bewundert die schönen Farben auf dem Federkleid des Vogels und sieht das Fliegchen nicht, das auf seinem Körper den feurigen Glanz der edelsten Steine vereinigt; er betrachtet erschrocken und mit pochendem Herzen das schreckliche Stiergefecht und weiß nicht, daß unter seinem Fuße unaufhörlich weit schrecklichere Kämpfe geliefert werden; – er staunt über die Mannigfaltigkeit der Theile des menschlichen Körpers: ihm scheint es unbegreiflich, wie das Herz, die Lunge, die Eingeweide, das Blut und die Sinne so lange gemeinsam und harmonisch wirken – und wie tausende von Fasern, Drähtchen, Drüsen und Fellchen, jedes zu einem besonderen Zwecke geschaffen, ihre Arbeit ohne zu irren verrichten. Wie würde er nicht erstaunen, wenn er erwöge, daß dieselben tausende von Werkzeugen in dem Körper jedes Thieres enthalten sind und ihren gemeinsamen Zweck erfüllen, wäre dieses auch so klein, daß es sich unter einem Senfsamen verbergen könnte! … Aber nein, er vermuthet nicht, welch' unaufhörliche Arbeit, welch' mütterliche Zärtlichkeit, welche Liebe, welche Feindschaft, welche vernünftigen Werke, welche unendlichen Schönheiten an Form und Farbe die Infusorien und Insecten zeigen. Für ihn ist der wunderbarste Theil der Schöpfung verloren! … Unter dem Namen Insekten versteht man in der täglichen Sprache die Thiere, welche weder zu den Säugethieren noch zu den Vögeln, noch zu den Kriechthieren, noch endlich zu den Fischen gehören. Die genauere wissenschaftliche Sprache würde dies für einen Irrthum halten, da die Insekten selbst nur eine Abtheilung von Geschöpfen bilden, welche wir unter ihrem besonderen Namen auffassen.
Der allgemeine Name ist Ringel- oder Gliederthiere, da der Körper der Thiere, welche zu dieser Classe gehören, aus beweglichen Ringen zusammengesetzt ist.
Die Gliederthiere werden eingetheilt in:
1. Insekten deren Körper aus drei Theilen besteht, nehmlich aus Kopf, Brust und Hinterleib, die lose an einander angesetzt scheinen wie die Fliegen, Wespen, Bienen.
2. Arachniden, deren Körper nur in zwei Theile getheilt ist, nämlich in Kopf und Leib, wie die Spinnen und Scorpionen.
3. Crustazeen, deren Körper in viele, meist ungleiche Theile vertheilt und mit harten Schaalen bedeckt ist, wie Krebse, Krabben, Tausendfüßler.
4. Würmer, deren langer und dünner Körper aus vielen Ringen zusammengesetzt ist, wie die Erdwürmer.
Wir halten die Eintheilung hier anzuführen für nothwendig, da wir in diesen Blättern gleichfalls unter dem Namen der Gliederthiere oder Insekten die vier genannten Formen umfassen.

Hier vor Dir liegt eine todte Fliege. – Nähere Dein Auge dem Thiere – betrachte das Insekt!«

»Wie schön es ist!« rief ich mit Verwunderung aus, »sein ganzer Körper ist besäet mit glänzenden silbernen Pünktchen auf einem schwarzen sammtenen Grunde, seine Augen spiegeln lebendigere Farben wieder, als der Regenbogen; ich sehe an seinem Kopfe zwei unbegreiflich schöne Federchen.«

»Mein Sohn,« fiel der Greis ein, »horche auf, ich werde Dir mehr Schönheiten, als die von Form und Farbe in dem so sehr verachteten Thiere entdecken helfen. Vorne an dem Kopfe steht ein Rüssel, womit es seine Nahrung aufsaugt. Dies kleine Werkzeug ist vollkommener, als der Rüssel eines Elephanten, dessen Kraft und Beweglichkeit uns zur Bewunderung hinreißt. Das Ende des Rüssels der Fliege besteht aus zwei Lippen, wie bei einem Munde, und in der Mitte derselben befindet sich ein scharfes Werkzeug, das wie ein Messer die Körper auseinander schneidet, welche die Fliege zu ihrer Nahrung bedarf. Betrachte die unbeschreibliche Feinheit der Mache dieses Rüssels, sieh' ihre Muskeln, ihre Nerven, ihre Adern und die geometrische Vertheilung ihrer Säume. Wie schwach muß dieses Werkzeug sein und wie leicht kann es durch die Berührungen des Körpers beschädigt werden; aber der Allgütige hat auch für die Fliegen gesorgt. Er hat ihren Rüssel mit silberweißen Haaren bepflanzt, damit sie in Zeiten der Gefahr gewarnt werden und hat ihnen einen Schild gegeben, um ihren Sauger zu verbergen und zu beschützen. – Ueber ihrer Schnauze bemerkst Du zwei schöne seidene Federchen. Vielleicht glaubst Du, daß sie der Fliege nur zur Zierrath dienen? Es sind ihre Hände; mit diesen Federchen fühlt und tastet sie und urtheilt über die Art der Gegenstände, auf die sie stößt. Die Fliege scheint nur zwei Augen zu besitzen; wenn diese Ansicht gegründet wäre, so würde dies Insect nicht leben können, da es unbewegliche Augen hat und deßhalb seine Feinde und seine Nahrung nur in einer einzigen Richtung gewahren könnte. Denn der Schöpfer, dessen Mittel so unendlich sind, wie seine Macht, hat die Insekten nicht weniger, als andere Thiere mit seinen Gaben überhäuft. Die Fliege sieht auf mehr Seiten, als der Mensch; was Du bei ihr für ein einziges Auge hältst, ist eine Sammlung von einigen hundert Augen, die im Viereck nebeneinander liegen und nach allen Richtungen sehen. Außerdem hat die Fliege noch drei andere einfache Augen an dem Kopfe. Beinahe alle Insekten haben eine solche größere Anzahl unbeweglicher Augen; einige, wie die Spinnen, haben einzelne Augen, aber dann sind es ihrer sechs bis dreißig an der Zahl und so gestellt, daß das Thier nach allen Richtungen sieht, ohne sich bewegen zu müssen. Die Zahl der Vierecke in den zusammengestellten Augen der Insecten ist bei einigen erstaunlich groß: bei einigen Schmetterlingen bis 60,000. Die Gelehrten betrachten jedes Viereck als ein Auge, das in sich allein das Bild der Gegenstände auffangen könne. Ueberdies haben viele Insecten noch zwei oder drei einfache bewegungslose Augen an dem Kopfe. Kein anderes Thier, als die Gliederthiere, hat mehr als zwei Augen. Wir werden unsere Aufmerksamkeit aber nicht auf den Körper der Fliege richten, wie wunderbar ihre glänzenden Schuppen und Härchen auch gebildet sind. – Bemerke jedoch im Vorbeigehen, daß die Insecten nicht durch den Mund athmen: sie haben keine Lungen; auf ihrem Körper befindet sich eine Anzahl Oeffnungen, die man Stigmata nennt. Dies sind die Oeffnungen eines Luftadersystems, das sich durch den ganzen Körper des Insectes verbreitet und die Lust in unmittelbare Berührung mit allen seinen Theilen bringt. – Die Insecten haben keine Nase um zu riechen, keine Zunge um zu schmecken, keine Ohren um Töne zu vernehmen; und doch riechen, schmecken und hören die meisten Insecten sehr gut. Die Ringelthiere athmen nicht durch den Mund. Bei den Insecten geschieht das Einathmen der Luft in den Leib durch besondere Luftröhren, deren Oeffnungen zwischen den Ringen liegen. Man kann diese Luftöffnungen sehr deutlich auf dem Körper einiger nackten Raupen sehen. Die Spinnen athmen durch zwei Luftlöcher, welche unter dem Bauche stehen. Die Krebse athmen durch Kiefern. Die Ringelarten ermangeln der Nase, Zunge und Ohren. Die Krebse allein haben Ohrlöcher an ihren zwei äußeren Fühlhörnern. Die Füße der Fliege können uns einen weiteren Beweis der Vorsehung geben. Bemerke an dem vorderen Paar zwei kleine Bürsten; diese dienen ihr dazu, um die Federchen und den Kopf vom Staube zu säubern, welcher sonst das Gefühl ihrer Werkzeuge schwächen würde. Wenn die Fliege mit ihren Füßen über ihren Kopf zu streichen scheint, dann bürstet sie die Unreinlichkeiten von ihren Werkzeugen ab. – Wie kann die Fliege an Fensterscheiben und andern glatten Körpern in die Höhe laufen? Betrachte ihre mittelsten Füße und dies Räthsel wird gelöst sein. Außer zwei Häkchen oder Klauen wirst Du in der Mitte derselben noch zwei Werkzeuge in Form einer Zange sehen: diese legt die Fliege auf den glatten Gegenstand und hebt dann durch besondere Muskeln nur den mittelsten Theil auf: die Luft ist durch eine saugende Kraft, die das Thier festkleben macht, gefangen, bis es seine Muskeln wieder losläßt. Wenn Du nun die Fliege, von Außen gesehen, bereits so wunderbar findest, so öffne ihren Körper und Du wirst erstaunt sein über ihre unzähligen Adern und Nerven. Welche Unendlichkeit! Jede Ader ist zweimalhunderttausendmal dünner als ein Haar Deines Kopfes – und doch enthält sie Blut, das wie bei dem Menschen aus sichtbaren Kügelchen besteht.

Willst Du noch schönere Farben bewundern? Nimm aus diesem Spinngewebe das beinahe unsichtbare grüne Fliegchen, das das Schlachtopfer seines Feindes geworden ist. – Was ist des Diamanten Feuer gegen das Funkeln seiner Augen? Was der leuchtende Rubin gegen das glänzende Roth seines Brustschildes? Was der köstliche Smaragd gegen das grüne Gold seines Rückens? Was das feinste und vernünftigste Menschenwerk gegen das spitzenartige Gewebe seiner Flügel und dies schöne Oeffnen seiner Kopffedern?

Mein Sohn, der Mensch verachtet und verschmäht das kleine Fliegchen, und doch, wollte er nur sehen und begreifen, wie würde ihn die Betrachtung dessen, was er verachtet vor Schaam erröthen machen! Alle Vollkommenheiten der menschlichen Erzeugnisse, in einem einzigen gesammelt, können den Vergleich mit den kleinsten Gliedmaßen dieser Fliege nicht aushalten. – Eine Frau behängt sich mit Seide, Atlas und Spitzen und hebt stolz das Haupt über ihre Nächsten, weil sie andere an Pracht zu übertreffen hofft. Arme Unvernünftige! Die Spitze ist ein grobes Netz von dicken Fäden, der Atlas ist ein unordentliches Gewebe unregelmäßiger Stricke. Wie schön ist dagegen die Fliege, wie eben und glatt sind die Schilde ihres Körpers, wie rein glänzend ihre Federchen! Du, der Du noch gestern dachtest, daß der Mensch etwas an dem großen Werk Gottes verbessern könne, betrachte die Räder dieses Uhrwerks: es ist ein Meisterstück der Kunst! Wie findest Du diese schöne Arbeit?«

Als der Greis diese Worte sprach, legte er das Uhrwerk geöffnet vor mich. Die Räder schienen mir ungleich und hatten Stacheln, Krümmungen und Löcher. Der Anblick des Meisterstücks flößte mir nur Verachtung und Abscheu ein. Indem ich dies auf meinem Gesichte erkennen ließ, antwortete ich:

»O Vater, es ist eine bejammernswerthe Arbeit; sie scheint mir von einem ungeschickten Kinde gemacht zu sein!«

»So ist es auch,« fiel mein Lehrmeister ein. »Sieh nun daneben einen Flügel, einen Fuß oder ein Haar der Fliege. Hat der große Werkmeister sie nicht glatt gemacht und glänzend polirt? Bemerkst Du den geringsten Fehler daran? So unvollkommen sind alle Werke der Menschen, mein Kind; – so unbegreiflich vollkommen alle Werke Gottes!« Durch ein starkes Vergrößerungsglas betrachtet, sieht die feinste brüsseler Spitze aus, als wäre sie aus rohen Stricken und unpünktlich gewoben. Der Schnitt des Rasirmessers gleicht einer Säge, die so dick ist, als der Rücken eines Tafelmessers; eine feine Nadel einem rohen Stück Eisen ohne Spitze. Herr Backer erzählt in seinem Werke » Het Mikroskoop,« daß Boverick, ein englischer Uhrmacher, ihm ein Kunstwerk zeigte, das in einem Kern bestand. In diesem Steine waren drei verschiedene Tische, ein Spiegel, zwei Stühle, zwei Dutzend Teller, sechs Schüsseln, zwölf Messer, Gabeln, Löffel, zwei Salzfässer, ein Essig- und Oelgestell nebst einem Herrn, einer Frau und einem Diener. Und doch war in dem Kerne noch die Hälfte des Raumes leer.
Wie wunderbar fein dies Kunstwerk auch gearbeitet war, es zeigte sich durch ein Vergrößerungsglas als rau, uneben, ungestaltet und beinahe unkenntlich.
Man betrachte daneben tausendmal kleinere Naturgegenstände und man wird sie immer vollkommen finden.
So ist der Faden des Seidenwurms z. B. um so viel feiner, als der feinste Faden, den eine Frauenhand gesponnen, ein Tau an Feinheit übertrifft. Dessen ungeachtet ist der Faden eines Seidenwurms neun hundert und dreißig Fuß lang gefunden worden, obwohl er selbst schon aus zwei zusammengeflochtenen Fäden besteht. Dies ist aber nichts im Vergleiche mit der Feinheit der Fäden einiger kleinen Spinnen.

Der wunderbare Bau des Körpers der Fliege wird Dir einen Begriff von dem Baue der andern Insecten geben, obwohl sie Alle sehr verschieden sind; aber gerade in dieser Verschiedenheit liegen mannigfaltige Zeugnisse der höchsten Weisheit. Man kann sich kein Werkzeug denken, das nicht ein oder das andere Insect von Gott zum Geschenke erhalten. Das eine Geschlecht hat einen Rüssel, wie die Fliegen, das andre, wie die Schmetterlinge einen Sauger, der sich aufrollt und der Springfeder meiner Uhr gleicht; andere haben wieder Bohrer, Kellen, Messer, Scheeren, Schaufeln, Klauen, Zähne und noch andere Werkzeuge, denen man keinen Namen geben kann, die jedoch dem Thiere, das damit begabt ist, zur Erhaltung seines Lebens und zur Fortpflanzung seines Geschlechtes unentbehrlich sind.

Der alte Mann stand auf und sagte:

»Laß uns nun durch den Hof wandeln, um dem Fleiß und dem Verstande der kleinen Thiere nachzuspüren.«

Ich wollte ihm gehorchen, er gab mir jedoch ein Zeichen, daß ich wieder sitzen sollte. Dann zeigte er mir an einer der Latten der Laube eine Raupe, die beinahe unbeweglich dasaß und nur dann und wann den Kopf von der einen Seite nach der andern bewegte. Er sagte:

»Höre mir aufmerksam zu, mein Sohn, ich werde die Raupe fragen, was sie hier thut.«

Mein Geist vernahm die Laute des Thierchens und ich hörte, daß sie also sprach:

»Es ist lange her, daß ich, in einer engen Wohnung eingeschlossen, zum ersten Male einen Sonnenstrahl fühlte, der mich zum Leben erweckte. Damals war ich ein Ei, mit vielen andern Eiern von meiner Mutter an den Ast eines Baumes befestigt. Wie freudig nahm ich den schmeichelnden Strahl der Sonne auf: ich sollte leben, mein Theil an der Erde haben, saftige Kräuter essen, in der Freiheit mich bewegen … Ach, ach, ich wußte nicht, wie bitter das Leben ist! Kaum waren wir aus unsern Eierschalen gekrochen, als die Vögel auf uns losstürzten und mehr als die Hälfte meiner unglücklichen Schwestern ermordeten. Ich entging unsern zahlreichen Feinden nur durch Zufall; doch mein ganzes Leben war nichts desto weniger eine Aneinanderreihung der schrecklichsten Widerwärtigkeiten. Bald war es ein Unwetter, das mich in den Schmutz schleuderte und halb ertrunken an Orte führte, wo ich keine Nahrung fand; bald ein Sturmwind, der mich mit Gewalt zur Erde warf, dann machten mich die kalten Nächte erfrieren oder verbrannte mich die versengende Sonne. Ich erinnere mich noch, wie oft und wie lang ich, steif vor Kälte, erschöpft von Hunger, zitternd und halb todt, ohne ein armseliges Blatt, mich versteckt gehalten. Und dann, wenn ein schöner Tag über den Feldern lag, dann sah ich mich wieder von Feinden umringt; mein Loos war Leiden, Furcht, Beben und Zittern. – O Freude, es ist geschehen, meine Raupentage sind zu Ende! Es ist mir endlich vergönnt zu sterben! Sieh, ich spinne mir ein Grab, daß ich in meinem Ruheplatz behaglich schlafen kann …

Hier schwieg die Raupe – und ich seufzte mitleidig:

»Armes Räupchen, es ist so froh, daß es sterben kann. Wie unglücklich muß es nicht gewesen sein!«

Nach einer kurzen Pause begann das spinnende Thier wieder zu sprechen und sagte:

»Sterben ist für mich der erwünschte Uebergang zum Leben. In meinem unschönen Raupenkörper wohnt ein edleres Wesen, das einst aus meinem Grabe mit Pracht und Glanz bekleidet sich erheben wird. Darum freue ich mich des Todes! Sobald mein Grab gesponnen ist, werde ich mich darin einschließen und schlafen, mein Körper wird seine schwachen Raupenfüße und seine rauhe Haut abwerfen: bald werde ich aus meinem Grabe aufstehen, himmelan fliegen wie ein Vogel, der Bräutigam der Blumen werden, mich mit Honig nähren und das Auge entzücken durch meine Schönheit. Meine lichten goldenen Flügel, mit gagatschwarzen Rändern, werden mit Perlen von Silber, Lazur und Korallen besäet sein …«

Schon hörte ich nicht mehr auf die Sprache der Raupe. Ich schlug die Augen zu Boden und versank in tiefes Nachdenken. Als ich wieder aufsah, strahlte ein seliger Ausdruck auf meinem Gesichte. Der alte Mann erforschte die Ursache meines Gefühles und sagte:

»Ja, ja, mein Sohn, die Raupe hat Dir ein tröstliches Bild gezeigt!«

Nachdem er einige Augenblicke geschwiegen, fuhr er fort:

»Beinahe alle fliegenden Insecten verändern wie die Raupe dreimal ihre Form; sie kommen aus Eiern hervor, die ihre Mutter an einem günstigen Orte vorsorglich niedergelegt; aus dem Ei werden sie Raupen oder Würmer; der Wurm wird ein Püppchen oder eine Nymphe; aus dieser Form der Ruhe tritt, das Thier mit Flügeln und allen den Werkzeugen hervor, welche es zu seinem neuen Leben nöthig hat. Betrachte die Raupe: an ihrem Munde stehen zwei harte Messer, um die Blätter zu zerschneiden. Bei ihrem Auferstehen aus dem Grabe wird sie einen langen Rüssel haben, um ihre Nahrung aus den Blumen zu saugen. Glaube aber nicht, daß durch diese Veränderungen ein neues Thier geschaffen wird. In dem Körper der Raupe ist der Schmetterling bereits enthalten; aber er liegt wie gefangen unter einer zweiten Haut, die ihn hindert sich loszuwinden. Während des scheinbaren Schlafes der Nymphe setzt der Schmetterling seine Theile auseinander und bricht sein Grab, sobald diese wunderbare Naturarbeit vollbracht ist. Die meisten Insecten erleiden Gestaltsveränderungen. Sie werden von ihrer Mutter als Ei geboren, aus welchem ein Wurm hervorkommt. Diese Würmer haben verschiedene Namen: die fuß- und kopflosen Würmer nennt man »Maden,« die mit einem Kopf und sechs Füßen nennt man »Larven,« die mit mehr als sechs, aber weniger als sechszehn Füßen nennt man »Raupen.« In diesem Zustande frißt das Insect sehr viel, wächst schnell, wirft seine Haut mehre Mal ab und paart sich nicht. Daraus verändert es sich in ein Püppchen oder eine Nymphe und beinahe alle fressen in dieser Periode nichts. Dann kommt nach einiger Zeit das vollkommene Insect aus dem Püppchen hervor; seine Flügel und anderen Gliedmaaßen entfalten sich, seine Haut wird hart, und von da an wächst es nicht mehr. In dieser Periode paart es sich, legt Eier und stirbt.

Ich hatte während der Reden des Greises mein Auge auf die Raupe geheftet und etwas gesehen, was mir fremdartig vorkam.

»Vater,« sagte ich, »es ist nun zum dritten oder vierten Mal, daß ich ein und dieselbe Fliege an der Raupe vorbeifliegen sehe. Es scheint mir, daß sie dies nicht ohne Absicht thut. Seht, da fliegt sie wieder vorbei.«

»Wirklich es geschieht nicht ohne Absicht,« antwortete mein Meister. »Wenn die Fliege sich der Raupe nähert, wird diese sich zwar begraben und schlafen; aber sie wird nicht als Schmetterling aus ihrem Grabe sich erheben: es werden im Gegentheil Fliegen aus ihr hervorkommen. Bemerke wohl, daß das vorbeischießende Insect einen Bohrer an dem hinteren Theil seines Körpers trägt; und wisse, daß die Eier dieser Fliege nur in dem lebendigen Fleische der Raupe ausgebrütet werden können. Die zärtliche Mutter kennt, was ihrer Nachkommenschaft nützlich ist; sie fliegt umher und sucht Raupen, um Eier darein zu pflanzen: wenn sie eine solche Raupe findet, steckt sie ihr rasch den Bohrer in den Körper und läßt ein Ei durch jenen bis unter die Haut rollen. Die Raupe fühlt es beinahe nicht und spinnt mit unverdrossenem Fleiß ihr Grab: aber kaum hat sie sich darin eingeschlossen, so öffnet sich das Ei und es kömmt ein Wurm heraus, der sich mit dem Fleisch des armen Schmetterlings nährt, bis der Augenblick seiner eignen Gestaltsverwandlung erscheint. Dann wird er gleichfalls ein Püppchen, bekommt Flügel und verläßt die Ueberbleibsel des Schlachtopfers, das ihm seine Mutter zubereitet.«

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß die arme Raupe auch nach dem Ende ihrer zweiten Lebensperiode unglücklich werden sollte. Ich erhob mich deßhalb von meinem Platze, setzte mich zu ihr und verjagte die Fliege mit der Hand.

»Ich sehe gerne, daß Du mitleidig bist,« sagte der Greis, »aber wohin soll die arme Fliege nun ihre Eier legen. Gott wollte, daß es so geschehe, es ist also gut und nützlich, daß es so ist! – Ja, er hat selbst der Bohrfliege einen besonderen und wunderbaren Verstand geschenkt, um die Stoffe zu entdecken, in welche sie ihre Eier legen kann. Sieh, da ist die Bohrfliege wieder; jetzt scheint sie etwas Anderes entdeckt zu haben: es ist die Nymphe einer andern Raupe; gib nun wohl Achtung, was sie thun wird. Sieh, sie läßt sich nieder auf die Nymphe; sie streckt ihren Bohrer senkrecht hervor und sucht sorgfältig die Fugen der schuppenartigen Ringe, aus welchen der Leib der Nymphe zusammengesetzt ist; nun drückt sie ihren Bohrer kräftig dazwischen und zieht ihn wieder heraus. Sie hat bereits ein Ei in ihr lebendiges Nest gelegt. Diese Arbeit wird sie zwanzig Mal wiederholen und nun andere Nymphen suchen, um ihrer übrigen Nachkommenschaft für einen angenehmen und nahrungsreichen Aufenthalt zu sorgen. – Wenn nichts die Entwickelung ihrer Eier hindert, werden diese bald sich in Würmer verwandeln und der Schmetterling, der in der Nymphe ruht, sich zu regen beginnen. Viele Insecten legen auf solche Weise ihre Eier in die lebenden Raupen, Heuschrecken, Maden, Spinnen, Flohe u. s. w., sowie in die Eier und schlafenden Puppen. Man begreift die meisten derselben unter der Benennung Bohrfliegen, Schlupfwespen und Schlupfwespenartige. ( Ichneumonidae verae et Ichneumonidae adscitae.)

Bewundere auch den Verstand dieser kleinen neugeborenen Würmchen: sie wissen, daß, wenn der Schmetterling in seiner Nymphe zu früh stürbe, sie dann gleichfalls aus Mangel an Nahrung umkommen würden. Deßhalb hüten sie sich wohl, mit ihren Zähnen einen Theil zu berühren, der zu dem Leben des Schmetterlings nöthig ist; sie begnügen sich Anfangs damit, die fetten Stoffe und anderes Entbehrliche zu benagen. Inzwischen lebt und wächst der Schmetterling und erst wenn die Würmer die Zeit ihrer Gestaltsverwandlung nahen fühlen, tödten sie den Schmetterling.«

»Wie unbegreiflich,« rief ich aus. »Welch' feines Gefühl und welche Kunst der Zergliederung in diesen kleinen Würmern. Geschieht dies Alles innerhalb der Haut der Nymphe?«

»Ich glaube es nun nicht mehr,« antwortete der Greis. »Sieh, die große Bohrfliege hat die Nymphe verlassen, nun sitzt ein anderes Insect darauf. Was denkst Du, daß es da thut? Es ist auch eine Bohrfliege, doch von kleinerer Art. Während die andre damit beschäftigt war, ihre Eier in den Körper der Nymphe zu legen, saß diese irgend wo anders in der Nähe, sie zu beobachten. Kaum ist die große Fliege fortgeflogen, so hat diese kleine ihren Platz eingenommen und bohrt nun auch zwischen den Ringschuppen der Nymphe durch. Sie weiß, ohne einen Mißgriff zu machen, ihren Bohrer in jedes Ei der vorigen Fliege zu stecken und pflanzt nun ihre eigenen Eier hinein. Ihre Würmerjungen werden sich nicht mit dem Fleisch der Schmetterlinge nähren, sondern mit dem Stoff, der in dem Ei der großen Bohrfliege enthalten ist. Diese letzte hat sich also betrogen: ihre Nachkommenschaft ist todt, ehe sie lebte.«

»Die mörderischen Bohrfliegen flößen mir einen tiefen Abscheu ein,« bemerkte ich. »Warum legen sie ihre Eier nicht auf Pflanzen, wie andere Thierchen? Wozu kann diese schreckliche Vernichtung dienen?«

»Mein Sohn antwortete der alte Mann, »mache solche Fragen nicht mehr und sei ein für allemal überzeugt, daß alles in der Natur zu einem guten Zwecke dient. Die Würmer der Bohrfliegen haben keine Füße, wie die Würmer anderer Insecten; sie sind nicht im Stande, sich von der Stelle zu bewegen und ihre Nahrung zu suchen. Deßhalb müssen sie in reichlicher Nahrung selbst zum Leben erwachen und in dem Körper oder den Eiern von Raupen, Schmetterlingen, Heuschrecken und anderem Ungeziefer niedergelegt werden. Sie bleiben ziemlich lang Würmer und würden nicht in todten Stoffen leben können, obgleich ihnen schon ihre außerordentliche Zartheit einen geschlossenen Aufenthalt unentbehrlich macht. Diese Gründe sind Deinem menschlichen Geiste vielleicht nicht genügend: es scheint Dir wohl wenig an der Erhaltung des Geschlechtes der Bohrfliegen gelegen. Ich werde deßhalb andere Gründe geltend machen. Glaube meinem Worte, wenn ich Dir sage, daß, würden die Eier aller Schmetterlinge, Motten, Heuschrecken und Käfer unverletzt bleiben, wahrscheinlich einige Millionen Menschen und einige Millionen Thiere sterben müßten. Man kann sich keine Vorstellung von der ungeheuren Fruchtbarkeit der meisten Insecten machen. Eine Fichtelsägewespe ( Lophyris pini) legt jährlich 100 Eier; wenn die Nachkommenschaft eines einzigen solchen Wespchens zehn Jahre unbeschädigt fortlebte, wäre es im Stande, in einem Jahre alle Tannenwälder Deutschlands kahl zu fressen und zu vernichten. Der große Linné hat behauptet und bewiesen, daß wenige Fliegen ( musca carnaria) in kürzerer Zeit ein Pferd auffressen könnten, als ein Löwe dieses vermöchte. Ein Paar dergleichen Fliegen können in einem Sommer eine Nachkommenschaft von 500 Millionen hervorbringen. Es ist unzweifelhaft, daß wenn die Eier aller Insecten aufbrächen und die daraus hervorgehenden Thiere zu vollem Wachsthum kämen, Alles, was wächst, vernichtet wurde. Die Früchte der Erde würden verschlungen, die Kräuter in der Wurzel abgenagt, die Bäume der Blätter beraubt werden, – die schrecklichste Hungersnoth müßte die Völker wie mit einer blutigen Geißel schlagen; man würde die Einwohner der Städte sich über die Felder verbreiten, Frauen und Kinder dem Ungeziefer eine magere und schmutzige Nahrung streitig machen sehen – und erst in dem Augenblick, wenn die Erde kaum noch die unzähligen Leichen der Schlachtopfer aufzunehmen im Stande wäre und eine lange Hungersnoth sich über alles verbreitet hätte, würden die Heuschrecken und Raupen, nachdem sie alles verschlungen, sterben und verderben. Die schrecklichste Pest würde ihre Sense an dem Thron der Könige und an der Lagerstätte des Bettlers wetzen: nur Gott allein weiß, ob sie nicht alle Völker der Erde in den unermeßlichen Falten ihres Leichenkleides zur ewigen Ruhe schlafen legen würde! … Und nun, mein Kind, erhebe Dein anbetendes Auge zum Himmel, sage Dank dem Herrn, daß er auch die schlimme Bohrfliege geschaffen!«

Das Wort des Greises hatte mich tief gerührt; ich fühlte die Schläge meines Herzens sich verdoppeln und eine Thräne der Bewunderung mein Auge befeuchten. Einige Zeit lang herrschte tiefe Stille in der Laube, worauf mein Lehrmeister also fortfuhr:

»Alles, mein Sohn, was Du in der Natur geschehen siehst, ja, selbst jede Bewegung eines niedrigen Würmchens, ist ein nothwendiger Theil des harmonischen Lebens der Schöpfung: alle diese Theile wirken übereinstimmend zur Erhaltung des Ganzen und zur Handhabung des ewigen Gleichgewichtes, auf dessen Unerschütterlichkeit der Schöpfer sein Werk gebaut hat.«

»Aber Vater,« sagte ich, »wenn es weder Raupen, noch Heuschrecken gäbe, würden vielleicht die Bohrfliegen nicht nöthig sein. Die Natur würde dieses fürchterliche Schauspiel unaufhörlicher Metzeleien nicht darbieten und der Mensch könnte, ohne große Arbeit, im Ueberfluß leben. Verzeiht mir diese Worte: ich bin überzeugt, daß sie grundlos sind, aber ich wünsche eine Erklärung über etwas, was ich tief fühle, ohne es zu begreifen.«

»Mein Kind,« antwortete mein guter Lehrmeister, »die Raupen, ihre Nymphen, Schmetterlinge und Motten, sowie die Heuschrecken sind das unentbehrlichste Futter einer großen Anzahl Vögel, die sterben würden, wenn ihnen dies Alles mangelte, und in Folge dessen müßten auch alle Thiere, welche dieser Vögel selbst zu ihrer Nahrung bedürfen, aussterben und vergehen. Dies würde auch das Schicksal einer ganzen Reihe von Insectengeschlechtern, von Eidechsen, Fröschen, Kröten, Ratten und anderen Thieren sein, deren Verschwinden wohl auch das Bestehen der übrigen Weltbewohner unmöglich machte. Von einem andern Gesichtspunkt betrachtet, sind alle Insecten vielleicht für das Leben und Fortkommen der Pflanzen nützlich, welche sie benagen. Es ist unmöglich, die Geheimnisse des göttlichen Werkes ganz zu ergründen; aber gewiß ist, daß die Raupen und Heuschrecken einen nothwendigen Theil der Naturkette bilden, da es sonst weder Raupen noch Heuschrecken geben würde.«

»Wenn dem so ist, mein Meister, warum haben sie denn so viele Feinde, daß ihre vollständige Vernichtung möglich wäre?« fragte ich furchtsam.

»Du täuschest Dich, mein Kind,« antwortete der Greis, »doch ist dies nicht zu verwundern, da einer der deutlichsten Beweise der Allweisheit Gottes Deinem Blicke entgangen ist. Jedes Thiergeschlecht ist so gemacht und zusammengesetzt, daß es sich nie über ein gewisses Maß vervielfältigen und daß es nie unter eine bestimmte Zahl herabsinken kann. Die großen Thiere leben sehr lang und verbrauchen ein bedeutend Theil der Früchte der Erde zu ihrem Futter; sie sind stark gewappnet und im Stande, ihr ganzes Leben lang sich gegen ihre Feinde zu vertheidigen. Wenn sie dabei so fruchtbar wären, als die kleinen Wesen, so würden sie sehr zahlreich werden und die übrigen lebenden Thiere vernichten und verdrängen. Auf der andern Seite, wenn die kleinen Thiere nicht fruchtbarer als ihre großen Feinde wären, würden sie in wenigen Jahren ganz ausgerottet sein. Deßhalb hat der Schöpfer gewollt, daß die großen Thiere nur je nach Verlauf von einem oder mehren Jahren wenige Junge werfen, während er den Raupen, Heuschrecken und anderen geringeren Geschöpfen, die bestimmt sind, zur Nahrung für viele zu dienen, vergönnt hat, jährlich ihr Geschlecht durch Tausende von Jungen fortzusetzen, damit trotz der ewigen Verfolgung ihrer Feinde, immer noch eine gewisse Anzahl erhalten bleibe, um jeden Sommer auf der Erde, in der Luft und dem Wasser ein neues Geschlecht entstehen zu sehen. – Und so enthalten alle Wesen der Natur in sich selbst die Grundbedingungen des Antheiles, den sie an der Erhaltung des ewigen Gleichgewichtes haben.

Erhebe Dich nun, wir werden in dem Garten neben dem Beweise dieser Grundsätze noch manche andre Wunder antreffen. Wir brauchen dazu nicht weit zu gehen. Sieh hier auf diesem Rosenzweige das sonderbare Insect, das man die Rosenlaus Aphis rosae, die Rosenlaus. Beinahe alle Arten von Gewächsen dienen zur Wohnung und Nahrung einer besondern Art dieser Blattläuse. Jedermann kennt das kleine grüne Thierchen, das bisweilen die zarten Zweige der Pflanzen ganz besetzt und ihre Blätter zusammenrollen macht. In einem Haufen derselben gewahrt man geflügelte und ungeflügelte. nennt. Sie wohnt in großer Anzahl auf den jungen Schößlingen der Pflanzen, die bisweilen an ihrem äußersten Ende ganz davon bedeckt sind; einige haben Flügel, andere nicht. Betrachte sie genau, und Du wirst sie wunderbar geschaffen finden, wie klein sie auch ist. Ihr grüner Körper ist beinahe durchsichtig, mit dunkeln Ringen geziert und überall mit schwarzen Haaren bepflanzt; sie hat zwei schöne viereckige Augen, lange Hörner, an jedem Fuße einen doppelten Haken und hinten an dem Leibe zwei steife Röhren, woraus sie unaufhörlich eine honigartige Feuchtigkeit fließen läßt. Sie lebt von dem Safte der Pflanzen und hat einen Rüssel, um ihre Nahrung aufzusaugen.«

Aus meinem Gesichte leuchtete eine ungemeine Wißbegierde; der Greis betrachtete mich lächelnd, als fragte er nach den Gründen meiner Aufmerksamkeit.

»Vater,« sprach ich, »was sehe ich dort! Es scheint mir, als ob aus dem Körper der großen Pflanzenläuse bisweilen kleinere gekrochen kämen; sie stellen sich hinter ihre Mutter in Reihen auf und bleiben dann bewegungslos neben den übrigen Gliedern dieser sonderbaren Familie sitzen.«

»Was Du siehst, mein Sohn, ist die gewöhnliche Vermehrung der Blattlaus; sie bringt lebendige Junge und zwar an einem Tage oft deren zwanzig hervor; diese Jungen beginnen nach acht Tagen wiederum andere zu zeugen, welche letztren nach Verlauf von einer Woche gleichfalls des Gebärens fähig sind. Hier siehst Du einen sprechenden Beweis der Fruchtbarkeit der Thiere: die Nachkommenschaft von zehn Blattläusen würde am Ende des Sommers durch keine Zahlen auszudrücken sein und ihr Geschlecht in wenigen Jahren den ganzen Erdboden bedecken, wenn nicht allerlei Feinde das Gleichgewicht durch die Vernichtung des größten Theiles dieser immer gebärenden Thiere herstellen würden. Machen wir eine annähernde Berechnung ihrer Fruchtbarkeit. Eine dieser Pflanzenläuse legt heute zwanzig Junge; acht Tage darauf legen diese je zwanzig, zusammen vierhundert; diese nach Verlauf von einer Woche wieder je zwanzig, zusammen achttausend; diese inner derselben Zeit wieder je zwanzig, macht hundertsechszigtausend; diese wieder nach acht Tagen je zwanzig, macht drei Millionen zweimalhunderttausend; und endlich wird die sechste Woche von derselben Blattlaus vierundsechszig Millionen Junge sehen. Bemerke dabei, daß wir von jedem Geschlecht nur das Produkt eines einzigen Tages berechnet haben, während sie ihr ganzes Leben mit Gebären zubringen. Was würde es nicht für eine Zahl geben, wenn wir die in unserer Berechnung ausgebliebenen Jungen dazurechneten. Und selbst ohne dies, und die Vermehrung nur in gerader Linie fortgesetzt bis in das zwanzigste Glied, da die Mutterblattlaus in einem Sommer an der Spitze sovieler Geschlechter stehen kann, wird man doch eine Zahl bekommen, welche die Phantasie verstummen macht.

Sieh', ich schreibe diese Zahl in den Sand, damit Deine Augen sehen, was Dein Geist nicht berechnen kann.«

Mein Lehrmeister beugte sich über den Weg, in welchem wir standen, und schrieb folgende Reihe Zahlen in den Sand:

104, 857, 600, 000, 000, 000, 000, 000, 000.

Während ich sprachlos die Hände vor Erstaunen zusammenschlug, fragte der Greis:

»Erschrickt Deine Einbildungskraft vor den unaussprechlichen Millionen Kindern, welche nur ein kleiner Theil der Nachkommenschaft einer einzelnen Blattlaus sind?«

»Unbegreiflich!« seufzte ich, »mein Geist kann diese Vorstellung nicht fassen.«

»Nun begreifst Du gewiß,« fuhr der alte Mann fort, »wie es kommt, daß die kleinen Thiere seit den Schöpfungstagen, trotz ihrer zahlreichen und mächtigen Feinde, einer allgemeinen Vertilgung entgangen sind. Du wirst ferner begreifen, weßhalb die kleinen Thiere auf der Erde nicht mehr Platz einnehmen, als ihnen zwischen den übrigen Geschöpfen vergönnt ist. Sieh' hier an der andern Seite des Rosenzweiges einen gelben Wurm mit hellen Streifen auf dem Rücken; man nennt ihn den Löwen der Blattläuse. Dieser Wurm ist die Larve eines schönen Fliegchens, welches man Perlfliege nennt ( Hemerobius perla). Bemerke, wie er langsam fortkriecht und unterwegs alle Blattläuse verschlingt, ohne daß sie sich bewegen oder ihm entfliehen. Dieser Wurm frißt täglich einige hundert Blattläuse, bis er sich eine Puppe spinnt, um ein fliegendes Insect zu werden, welches den Namen Perlfliege trägt. Er ist jedoch nicht der einzige Feind der Blattlaus. Hier auf diesem Blatte sitzt ein schönes und glänzendes Thierchen, mit rothen Flügelschaalen und ganz bedeckt von gagatschwarzen Punkten. Du kennst es wahrscheinlich sehr gut: die Kinder nennen es Marienkäferchen ( Coccinella). Ehe es ein so schönes Kleid bekam, war es gleichfalls ein Wurm, der sich von Blattläusen nährte; es frißt noch nichts anderes. Sieh', rund um uns her schwärmt eine Art von Fliegen, die wie Bienen oder Wespen aussehen, obwohl sie nur zwei Flügel haben und der Stachel beraubt sind. Dies sind die Adler, die sich auf die Blattläuse werfen und um ihre Beute mit einer Anzahl anderer Insecten streiten. – So findest Du, mein Sohn, überall in der Natur eine unaufhörliche Vertilgung gegenüber einer unaufhörlichen Vermehrung; und wo die eine nicht ist, findet auch die andere nicht Statt.

Ehe wir unsre Blicke auf einen andern Gegenstand richten, muß ich Dir noch eine Eigenthümlichkeit der Blattlaus mittheilen. Sie erzeugt während des größeren Theils des Sommers lebendige Junge, wie Du siehst; und doch legt sie auch Eier, wenn die kalte Jahreszeit naht. Die Einsicht des Meisters der Natur ist hier zu offenbar, um Deinem Auge zu entgehen. Er wollte, daß die Blattlaus sich ungemein vermehre, um während des Sommers zahlreichen andern Thieren zur Nahrung zu dienen, – und deßhalb läßt er sie lebendige Junge erzeugen; wenn sie jedoch kein anderes Mittel hätte, um ihr Geschlecht bis zum folgenden Jahre fortzusetzen, so würde der Frost oder die Kälte in einem einzigen Winter alle oder die meisten Blattläuse tödten, – und darum hat er sie auch zum Eierlegen befähigt, weil die Eier der Insecten den Frost ertragen können, ohne des Lebenskeims beraubt zu werden. Du magst daraus schließen, mein Sohn, daß der Schöpfer alle Theile seines unermeßlichen Werkes gleich theuer achtet, da er für die Erhaltung der Blattläuse mehr der wunderbaren Mittel geschaffen, als für die Erhaltung der Löwen und Elephanten.«

Plötzlich wandte mein Meister sich um und sah in die Luft, als ob er ein fliegendes Thier entdecken wollte. Ich sah gleichfalls nach allen Seiten, aber bemerkte den Gegenstand nicht, der die Aufmerksamkeit des Greises auf sich gezogen.

»Was seht Ihr, Vater?« fragte ich.

»Es ist mir, als ob ich die Stimme eines Todtengräbers gehört hätte,« antwortete er.

Während ich überlegte, was eigentlich ein Todtengräber sein möchte, fuhr mein Lehrmeister fort:

»Ach, ich hatte mich nicht getäuscht. Da ist er wieder, mein Sohn; hier liegt eine todte Maus, ein Maulwurf oder eine andere Leiche. Der Todtengräber ( Necrophorus vespillo) kommt, ihn zu begraben. Du betrachtest mich mit Staunen und glaubst nicht, was ich sage. Und doch ist dem so: es liegt eine Leiche in der Nähe.«

»Vielleicht der Maulwurf, den unser Gärtner diesen Morgen getödtet hat? Ich weiß, wo er liegt.«

Mit diesen Worten führte ich den Greis zehn Schritte weiter und zeigte ihm die Leiche des Maulwurfs, der auf dem Rücken im Wege lag.

»Mein Sohn,« sprach er, »ich will nach Hause gehen und Dich bei der Leiche lassen, damit Du allein bei dem Begräbniß anwesend seist und Dich in der Betrachtung des Verstandes der Insecten übest. Bleibe hier stehen, verlasse den Platz nicht und beobachte alles genau, was Du sehen wirst. Ich gehe, denn da höre ich wieder die Stimme des Meister Todtengräbers, der die Leiche sucht. Auf Wiedersehen, mein Sohn.«

Kaum hatte mein Meister mich verlassen, als ich ein fliegendes Ungeziefer an mir vorübersurren hörte, das einen Augenblick später zurückkehrte und sich neben der Leiche niedersetzte. Dies Insect war mir nicht unbekannt; ich hatte es mehrmals zu todten Thieren kriechen sehen, glaubte jedoch, daß es dort seine Nahrung suche. Dasjenige, welches nun bei der Leiche seine Flügel faltete, war ein kleiner Käfer mit gelben Schuppen, die mit schwarzen Streifen, wie eine Todtenbahre, überzogen waren. Ich bemerkte an dem obern Ende seiner hintersten Füße etwas hornartiges und scharfes, was ihm wahrscheinlich dazu diente, in die Erde zu graben. Sobald er seine Flügel unter die Schutzschuppen verborgen hatte, begann er aufmerksam um den Maulwurf herzulaufen, kroch dann einmal hinauf, einmal hinab, sah umher, als wollte er sich den Ort merken, entfaltete seine Flügel und schoß durch die Luft. Lange Zeit wartete ich vergeblich und schon verzweifelte ich daran, mehr zu vernehmen, als plötzlich fünf Todtengräber zugleich sich bei dem Maulwurf niedersetzten. Den ersten meinte ich sehr gut zu erkennen, da die anderen mir alle ein wenig kleiner vorkamen und er nun als der Anführer seiner vier Kameraden ihnen den Weg zu zeigen schien. Die fünf Todtengräber liefen zuerst um die Leiche her, augenscheinlich um die Erde des Bodens und die Gegend zu untersuchen; dann krochen sie unter den Maulwurf und blieben einige Augenblicke unsichtbar. Als sie wieder zum Vorschein kamen, schienen sie sehr unruhig und in Verlegenheit: dies merkte ich an ihren rascheren Bewegungen. Der Anführer suchte den Boden des Weges mit seinen Füßen aufzugraben, aber die Härte desselben machte es ihm unmöglich, er blieb einen Augenblick in Nachdenken versunken stehen. Bald aber erhob er seine kleinen Hörnchen und wie auf ein Zeichen, das seinen Befehl ausdrückte, verschwanden alle Todtengräber plötzlich unter der Leiche.

Nicht lange darauf begann der Maulwurf zu meiner größten Verwunderung sich zu bewegen. Ich betrachtete aufmerksam den Gegenstand meiner Neugierde und bemerkte, daß die Leiche sehr langsam und mit beinahe unsichtbaren Stößen in der Richtung fortgeschoben wurde, die sie neben den Fußpfad und auf den losen Erdboden bringen mußte. Nach langer Zeit war der Maulwurf wohl eine Spanne weit gebracht. Aber hier stieß er an einen hervorstehenden Stein und konnte nicht weiter. Nach einigen fruchtlosen Versuchen kamen die Todtengräber zugleich unter ihrer Last hervor, und begannen umherzulaufen, um nachzusehen, was in dem Wege stehe. Sobald sie den ersten Stein bemerkt hatten, verschwanden sie wieder unter der Leiche. Aber wie machte mich die Klugheit dieser Thierchen staunen, als ich sah, daß sie den Maulwurf in eine andre Richtung und an dem Steine vorbei brachten, um ihn dann wieder nach dem Rande des Fußpfades zu schaffen. Nach langer Arbeit hatten sie endlich den Maulwurf auf grabbaren Boden gebracht und begannen sich nun an eine andere schwere Arbeit zu machen. Das Begräbniß nahm seinen Anfang: die fünf Todtengräber gruben mit ihren Füßen unter der Leiche die Erde los und warfen sie Sandkorn um Sandkorn auf die Seite des Grabes; unmerkbar sank der Maulwurf in die Erde, und als ich den Garten verlassen, um das Mittagmahl einzunehmen, war die Leiche mehr als zur Hälfte begraben. Nachmittags fand ich nichts mehr, was mir den Ort, wo der Maulwurf gelegen, hätte bezeichnen können, als ein wenig gekugelte Erde, mit welcher das Grab aufgefüllt schien. Wie lange ich auch aufmerksam in dem Fußpfad stehen blieb, ich entdeckte nichts mehr; ich glaubte nur noch eine leichte Bewegung unter der Erde zu bemerken. Der nutzlosen Betrachtung müde, verließ ich das geschlossene Grab, in der Hoffnung, mein Lehrmeister werde mir andern Tages die Erklärung der Arbeit dieser Thiere geben.


 << zurück weiter >>