Luis Coloma
Gottes Hand
Luis Coloma

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Kain.

I.

An einem schönen Nachmittage im Mai des Jahres 1869 ging ein älterer Mann, der eine Eselin vor sich her trieb, über die Landstraße, die von Jerez nach Puerta de Santa Maria führt. Auf einem gewöhnlichen Packsattel hockte eine Frau reiferen Alters und vergoß bittere Tränen, die sie von Zeit zu Zeit mit dem Zipfel ihres katalanischen Kopftuches trocknete. Der Mann sah noch bekümmerter aus, schritt mit gesenktem Haupte einher, drehte die Peitsche, mit der er die Eselin antrieb, in seinen Händen, und seine heißen Tränen rannen wie eine ätzende Säure in seinen durch Alter und Sorge gebleichten Bart. Darauf hieb er, als wollte er seinen Kummer verbergen, derb auf die Eselin ein und sagte barsch:

»Los, alter Esel, es ist keine Prozession!«

Das Tier ließ sich einschüchtern, spitzte die Ohren und beschleunigte seine Schritte: bald aber verfiel es wieder in seine alte langsame Gangart, ließ die Ohren hängen und schüttelte von Zeit zu Zeit mit dem Kopf, als nähme es Teil an dem Kummer seiner Herren. So zogen sie lange Zeit schweigend einher, bis der Mann auf ein mit Melonen und Tomaten besetztes Land am Wege wies mit dem müden Tonfall eines Menschen, der einen schweren Kummer dadurch verbergen will, daß er von gleichgültigen Dingen spricht und ausrief:

»Wie gut steht in diesem Jahre Juan Pitas Ernte!«

Die Frau hob nicht den Kopf, noch sprach sie ein Wort: es war, als hätte nichts für sie Interesse, das nicht in Beziehung zu ihrem Kummer stand. In demselben Augenblick trat ein Mann aus einer mit Gurken bepflanzten Anhöhe und schritt, zwei Körbe mit Tomaten am Arm, über den Graben längst der Landstraße, um unsere Wanderer einzuholen. Es war Juan Pita selbst.

»Gott schütze Euch, Herr Miguel, und Eure Begleiterin,« sagte er, sich zu ihnen gesellend.

»Holla, Juan,« entgegnete dieser, »gehst du nach Puerto?«

»Nein, Herr, ich gehe nach Jerez, um diese Tomaten zu verkaufen, denn diese sind die ersten, die es heuer am Platze gibt.«

»Mir geht's nicht so; die in meinem Garten werden nicht früher reif, als bis die Soldaten sie mir aufessen. Und wie verkauft Ihr sie?«

»Die, die jetzt noch grün sind, für 20 Quartos, und die reifen für eine Peseta oder ein Ochavo wenigstens.«

»Eine Peseta für Tomaten, die sich eher zum Schweinefutter als zur Suppe eignen« ...

... »Was wollt Ihr, Herr Miguel? Mit den diesjährigen Tomaten muß ich mir einen Esel verdienen.«

»Bedenkt, daß ein Esel schwer auf dem Gewissen lasten kann.«

»Das sind allzu fromme Bedenken, Herr Miguel. Bevor ich Gärtner wurde, war ich Advokat, und da habe ich das Rechnen gelernt.«

Und Juan Pita lachte zynisch, hob die linke Hand und schloß die Finger einen nach dem andern, – eine bezeichnende Geste, die überall das bedeutet, was das siebente Gebot verbietet. –

»Ist das nicht wahr, Frau Joaquina?« setzte Juan hinzu: »Ihr seid noch schweigsamer als ein Posten und sitzt so majestätisch auf Eurer Eselin wie ein Heiligenbild.«

Joaquina drehte den Kopf, und erst jetzt bemerkte Juan, wie bekümmert sie aussah.

»Donnerwetter,« stieß er hervor, uns blieb mitten auf dem Wege stehen. »Was fehlt Euch nur, Eure Augen sind ja rot wie die Tomaten in meinem Korb?«

Joaquina brach von neuem in Tränen aus, und Miguel verharrte schweigend.

»Aber was ist denn passiert, Herr Miguel?« fragte Juan Pita noch einmal. »Was ist nur passiert?«

»Was soll's geben?« schluchzte Joaqaina, »sie haben mir meinen Perico, meinen Augapfel, meinen geliebten Sohn unter die Soldaten gesteckt: er mußte heute nach Cadix.

»Gott schütze Euch! Davon habe ich nichts gewußt.« rief Juan erschreckt.

»Mein Sohn,« fuhr Joaquina weinend fort. – »man möchte es nicht für möglich halten und nicht glauben, was alles auf Gottes weiter Welt vorgeht. So zart wie er ist mein Junge. Das wird sein Tod sein, und ich werde ihn nie wiedersehen.«

»Frau, versuche Gott nicht,« verwies Miguel sie barsch, »der Junge ist wohl noch stärker als ein Manchegoer Esel.« Und sich an Juan wendend, fügte er hinzu: »Die Frau hat sich fest eingeredet, daß dem Jungen irgend etwas passiert, und deshalb weint sie und lebt in steter Sorge.«

»Schweig, Miguel, schweig,« rief Joaquino »Du weiß sehr wohl, daß es so ist, wie ich es sage. Deine Ruhe ist nur Verstellung. Ach Gott, und was für Kummer wird die Zukunft uns noch bringen,« klagte das unglückliche Weib. »Was wird aus uns armen Alten ohne unseren Perico, den wir so sehr vermissen?«

»Sennora Joaquina, so schwarz wie Sie das ansehen, ist das gar nicht,« entgegnete Juan Pita. »Seit Adams Zeiten dienen die Söhne dem Könige und kommen gesund wieder zurück; und inzwischen bleibt Euch ja auch Roque, das ist ja ein Bursche wie ein Baum.«

Ein bitteres Lächeln umspielte Miguels Lippen, das seinem Antlitz einen herben Ausdruck verlieh.

»Roque,« murmelte er bitter, »den läßt unser Kummer kalt.« –

»Das ist der andere Pfeil, den ich im Herzen trage, rief Joquina halb zornig, halb betrübt. »Dein Haß gegen deinen Sohn Roque, deine unfreundliche Art und deine Heftigkeit ihm gegenüber.«

»Das ist kein Haß, Joaquina.« erwiderte Miguel ernst, »aber ich bin kein blinder Vater. in diesem Burschen steckt kein guter Kern.«

»Mein armer Junge,« seufzte Joaquina, »was würde aus ihm ohne seine Mutter werden, die ihn so sehr liebt und keinen dem anderen vorzieht.«

»Das tus ich ebensowenig, aber ich weiß genau, was jedes meiner Kinder wert ist ... Wollt Ihr mir glauben, Juan, daß dieser böse Roque, als er hörte, daß sein Bruder Soldat würde, ihn aus dem Hause gehen ließ, ohne eine Träne zu vergießen und ohne diesen braven Jungen zu begleiten, wie seine Mutter und ich es getan: er blieb sorglos im Garten liegen wie frischer Salat.«

»Aber, Mann, sollte er denn vielleicht den Garten ohne Aufsicht lassen?« rief Joaquina. die wie alle Mütter stets eine Entschuldigung für die Vergehen ihrer Söhne fand.

»Ach was, er hat es schon oft genug getan, wenn er ins Dorf läuft, um zu spielen oder neue Schurkereien auszuüben ... Ich sage dir, Joaquina, es steckt kein guter Kern in dem Jungen, und er wird uns noch viel Tränen kosten.«

Die Mutter schwieg, als wüßte sie sehr wohl, wie recht Miguel mit seiner Behauptung behalten werde: dieser zog ein buntes Tuch aus der Schärpe, nahm den kastilischen Hut ab, tat, als wolle er sich den Schweiß abwischen, und trocknete sich dabei die dicken Tränen, die ihm die Wangen herunterrollten.

»Vorwärts, Molinera, vorwärts, ehe die Nacht anbricht,« sagte er, die Eselin antreibend.

Inzwischen hatte Pita, dem die unerwünschte Rolle, die er neben den beiden tiefbekümmerten Menschen spielte, unbequem geworden war, und der einsah, daß bei dieser Unterhaltung jeder Zeuge lästig werden mußte, das Schweigen, das auf Miguels Worte folgte, benutzt, um sich zu verabschieden. Er schlug nun den schmalen Fußpfad ein, der ihm den Weg nach Jerez, wo er seine Körbe mit Tomaten zu verkaufen gedachte, um ein ganzes Stück verkürzen sollte.

Das betrübte Ehepaar verfolgte schweigend seinen Weg, ohne daß man etwas anderes hörte, als Miguels und Molineras Tritte, die unterdrückten Seufzer Joaquinas, die Schellen des Viehes, das aus den verschiedensten Flecken in den Stall zurückkehrte, und in der Ferne die Stimme Juan Pitas, der mit der Gleichgültigkeit, die ein sorgloser Mensch Bekümmerten entgegen zu bringen pflegt, ein fröhliches Lied vor sich hin sang:

»In dem Schlosse eines Königs
Liegt 'ne Ratt' im hohen Fieber
Der dann eine schwarze Katze
Beförderte die Seel' hinüber.«

Miguel und Joaquina gingen in ihre traurigen Gedanken versunken, schweigend an den beiden Säulen – die Kreuze genannt – vorüber, die wie zwei Schildwachen am Rande des Weges stehen, und die erste zwischen Jerez und Puerto zurückgelegte Meile bezeichnen. Von hier aus ging ein Weg, den die Eselin, ihrem Instinkt folgend, einschlug, und der sich über einen trockenen Hügel schlängelt, unter dessen wucherndem Gestrüpp hin und wieder Reste von kahlen Mauern sichtbar wurden, als ragten die Knochen eines riesengroßen Skeletts aus dem ausgehöhlten Grabe hervor. Dies ist das Grab, das die Zeit dem Schosse von Sidueñas gegraben hat.

Auf dieser Stelle erhob sich ehemals eine mächtige Befestigung mit acht Türmen. Es geht die Sage, daß die kastilische Königin Danna Blanca de Bourbon in diesen Mauern bittere Tränen vergoß.

Heute steht dank einer schützenden Hand, welche die Überreste jener historischen Mauern wie in einem Reliquienschrein aufzubewahren verstand, noch einer jener acht Türme des Schlosses von Sidueñas, der Donna Blancas: ein Markstein früherer Zeiten, wie ein Kreuz auf einer Grabstätte. Hoch aufgerichtet wie auf steinernem Sockel steht er verlassen da: keine Blume, die ihn schmückt, kein Efeu, der ihn gleichsam umrankend stützt. In hoheitsvollem Ernst prangt er dort als Wahrzeichen eines Grabes, als letzte Zuflucht einer Königin: seine Spitze mit Wappen bedeckt, und an seiner Front ein Wappenschild, auf dem der kastilische Löwe mit den drei aragonischen Balken unter einer Marquiskrone ruht. Daher stammt der Titel des Marquisgeschlechts der Castillo del Valle de Sidueñas.

Jene: nackte kahle Hügel wird von blühenden Gärten eingefaßt wie eine Grabstätte, deren freundliche Umgebung die Schrecken des Todes mildert.

In einem dieser Gärten entspringt unter dem Fuße einiger Silberpappeln eine Quelle, die den schönen Namen »das Mitleid« trägt und die verschwenderisch und wohltuend wie ihr Name mit einem ihrer Arme die Gärten zu befruchten sucht, während der andere den Weg nach Puerto de Santa Maria verfolgt. Das Flüßchen hemmt seinen Lauf vor einer einsamen Klause, um die gefallene Majestät zu ehren und beim Anblick der Ruinen, empört über eine solche Vernachlässigung, die der Mensch verschuldet, Tränen zu vergießen, und setzt dann sorgenvoll seinen Weg fort. Die Klause, einsam, verlassen mit ihren zerstörten Mauern, ihrer Kapelle ohne Dach und Tür, ihrem Glockenturm ohne Kreuz, das ihn schmückte, und ohne Glocke, die ihm Sprache gebe, gerät sang- und klanglos in Verfall, sie ist wie ein Altar ohne Allerheiligstes, wie ein Körper ohne Seele, aber imposant wie ein König ohne Krone in der doppelten Majestät einer großen Vergangenheit und unglücklichen Gegenwart.

II.

Sieben Jahre waren vergangen, seitdem Miguel und Joaquina einen der Gärten gepachtet hatten: der Turm von Donna Blanca diente ihnen dabei als Wohnung. Miquel bearbeitet mit Hilfe seiner beiden Söhne Perico und Roque den Garten und diese verkauften die Früchte und Gemüse auf dem Markt von Jerez de la Frontera.

Perico, der ältere, besaß die Ehrlichkeit und Offenherzigkeit, die der Jugend so gut steht. Seine Eltern liebte er bis zur Überschwenglichkeit, wenn Überschwenglichkeit in der heiligen und pflichtgemäßen Kindesliebe, die die Natur fordert und die Dankbarkeit heiligt, überhaupt möglich wäre, und sah sein Glück nur darin, ihre Wünsche zu erfüllen, sie ruhig, zufrieden und glücklich zu wissen

Roque hingegen besaß den Egoismus, der im reifen Alter abstoßend wirkt wie ein Laster und in der Jugend erschreckt wie eine Verirrung; jenen Neid, der immer eine Verderbtheit des Herzens und eine Beschränktheit der Fähigkeiten verrät, große Seelen kennen nur eine Rivalität, – und das gab seinem Charakter eine grelle, häßliche Färbung, wie die Galle den Zügen gewisser Kranker. Er war ehrgeizig in dem beschränkten Gesichtskreise seiner Ideen: denn die modernen Revolutionäre, die sich der Armen nur als Werkzeug bedienen, hatten ihm jenes Gleichgewicht geraubt, das die Religion verleiht, und das selbst den Armen Kraft und Hoffnung gibt. Armes, verblendetes Volk, das den Balsam gering achtet, der seine Wunden heilen könnte. Arme Reiche! die den Sturm nicht aufzuhalten vermögen, dessen erste Donnerschläge schon widerhallen, und dessen erster Blitz schon zu zünden und zu zerstören anfängt.

Roque hatte wie alle Ehrgeizigen, sei es im Rock, sei es in der Joppe, für seine heimtückischen Pläne keinen andern Vertrauten als seinen Egoismus. Denn das Mißtrauen geht wie ein Spion im Heer mit offenen Augen und mit gespitzten Ohren seiner Mutter, dem Ehrgeiz, voran.

Miguels Leben floß in seiner Anmut ruhig dahin und der genügsame Mann teilte seine Liebe zwischen Frau und Kindern. Aber als Perico zwanzig Jahre geworden, wurde jene schöne Harmonie durch eine Unruhe unterbrochen, die so viel Müttern den Schlaf raubt, von einer schwarzen Wolke getrübt, die sich alljährlich zusammengeballt, sowohl über dem Haupte des Reichen wie über dem des Armen: der Aushebung nämlich. Nur was das Geld des einen verhindert, muß die Armut des andern ertragen. –

Perico, ein Muster kindlicher Liebe, auf den sich alle Hoffnungen stützten, wurde durch die Bestimmung des Loses von seinem Schicksal ereilt. Vergebens mühte der unglückliche Jüngling sich, Heiterkeit heuchelnd, seine Eltern zu trösten. Aber wer selbst des Trostes bedarf, ist ein schlechter Tröster, und der Schmerz dieser drei Wesen, die sich so innig liebten, bildete eine Fülle ewiger Tränen und erhielt durch die Gleichmütigkeit Roques, der sich um die Sorgen der andern nie kümmerte, nur noch neue Nahrung. Der schwere Kummer machte den unglücklichen Perico nur noch liebevoller und zärtlicher. Sein Bruder hingegen nahm ohne ein Wort der Liebe oder des Trostes die Umarmung des Angeworbenen hin, und als er ihn in Begleitung seiner Eltern verschwinden sah, zuckte er die Achseln und sagte höhnisch: »Vielleicht sehen wir uns mal wieder, wenn du Großvater geworden bist.«

Die Eisenbahnstation war damals der Schauplatz von Szenen, bei denen mitleidige Seelen angesichts des unabänderlichen Geschicks in Tränen ausbrechen. Tränen, die die letzte Zuflucht des Mitleids sind, und die, wenn sie auch nicht helfen, doch trösten, weil sie mit dem Trauernden trauern.

Jeder Ausgehobene hatte seinen Vater oder seine Mutter, seine Schwester oder Braut bei sich; von allen Seiten ertönten die Klagen der Zurückbleibenden und die Trostessprüche der Fortziehenden; auf der einen Seite Versprechen ewiger Treue, auf der andern Versicherungen ewigen Gedenkens. Als ob nicht hinter der Liebe die Gleichgültigkeit und hinter dem Gedenken das Vergessen stände!

Das alles wurde übertönt von dem einen Wort, das jedesmal Tränen entlockte, die dem Herzen entströmen wie der Regen den Wolken, ein Wort, das für alle, die einander lieben, einen herben Klang hat, weil es den traurigen Gedanken an Trennung wachruft, ein Wort des Schmerzes und der Trauer oder der Melancholie, die die Tochter des Schmerzes ist, der Trauer, die niemals weint, sondern nur schweren Herzens seufzt: »Lebe wohl!«

Wie viele dieser armen Ausgehobenen riefen es zum letztenmal!

In eines Ecke des Wartesaales 3. Klasse sah Perico und hielt die Hände seiner Mutter umklammert, während sie sich die Tränen trocknete, die ihrem bekümmerten Herzen entströmten und ihre welken Wangen vor der Zeit furchten. Vor ihnen stand Miguel, ein Felleisen, das elende Gepäck des Sohnes, in der Hand, und nur von Zeit zu Zeit versagte seine Kraft, und sein Schmerz machte sich Luft in Seufzer und Tränen. Joaquina hatte Perico ein Marienskapulier auf die Brust geheftet, das sich grell von der braunen Flanelljacke abhob, leuchtend wie ein Trost in Sorgen, wie eine Hoffnung in Schmerzen, wie ein Versprechen in der Not, wie eine Zuflucht in der Verzweiflung.

»Ach Mutter, sei nicht so traurig, drei Jahre gehen rasch vorüber,« erklärte Perico. sich zu einem Lächeln zwingend, während seine Augen sich mit Tränen füllten.

»Drei Jahre, ohne dich zu sehen, und ich soll nicht traurig sein? Wer wird mich indessen trösten, wer wird mir diese Sorge tragen helfen, wer wird mir sagen, daß ich dich wieder holen werde, wie ich dich jetzt fortbringe? Heilige, barmherzige Maria, was wird aus meinem Sohn werden?«

»Sie wird ihn schützen; mache dir keine Sorgen, Tränen machen das nicht besser,« entgegnete Miguel.

»Ja, ich will ihr vertrauen, ihr ganz vertrauen,« seufzte die Mutter demütig.

»Bete fleißig zu ihr, mein Kind, denn sie ist die Stütze der Armen und die Zuflucht der Unglücklichen!«

Die Glocke, die das Zeichen zur Abfahrt des Zuges verkündete, ertönte endlich und erfüllte aller Herzen mit den verschiedensten Empfindungen; die Türen öffneten sich, und der Schmerz und die Tränen all dieser Eltern und Kinder, die gleich einer Lawine im Dahineilen immer mehr anwachsen, finden immer wieder neue Nahrung. Schleppend und schnaubend, wie ein müdes Ungeheuer, nähert sich der Zug und macht halt, um neue Lasten in sich aufzunehmen und dann seine mühevolle Reise fortzusetzen. Joaquina sieht ihn herannahen und würde viel drum geben, wäre sie stark genug, ihn aufzuhalten; mit konvulsivischem Schluchzen klammert sie sich an den Arm ihres Sohnes, aber schon ist der Zug zum Abgehen bereit; schon werden die Coupétüren geschlossen, schon ertönt der verhängnisvolle Ruf: »Einsteigen!«

Joaquina umarmt ihren Sohn zum letztenmal und glaubt vor Schmerz zu vergehen.

»Mein Sohn, mein Sohn, mein geliebter Sohn,« ruft sie, verzweifelnd in Tränen ausbrechend. Miguel weint wie ein Kind, versucht auch, ihn zu umarmen, und schiebt ihm, ohne daß eines der beiden es bemerkt, dreißig Reales in die Rocktasche. Dreißig Reales! Seine ganzen Ersparnisse, die Frucht aller mühseligen Arbeit, die er im Schweiß seines Angesichts verrichtet, und so vieler Entbehrungen.

Heilige Elternliebe, die keine Grenzen kennt und dem Kinde freudig alles opfert!

Noch ein schriller Pfiff, der die Abfahrt des Zuges verkündet, und Perico reißt sich schweren Herzens von den Eltern los, um rasch einzusteigen, bevor der Zug sich in Bewegung setzt. Joaquina möchte ihn noch ein letztes Mal umarmen, aber zu spät, der Zug fährt davon; ohne zu überlegen, was sie tut, springt sie auf, klammerte sich an das Trittbrett und berührte noch ein letztes Mal die Stirne ihres Sohnes mit ihren Lippen. Dann versagten ihre Kräfte und wie ein lebloser Körper sinkt sie neben den Schienen nieder.

Aber was hatte das alles zu bedeuten, sie hatte ihrem geliebten Kinde noch einmal Lebewohl gesagt!

III.

Roque saß inzwischen auf einem Mühlstein und bemühte sich, einem Pudel, dem er Schwanz und Ohren abgeschnitten hatte, verschiedene Kunststückchen beizubringen.

»Da kommt der König«, sagte er zu ihm und hob drohend den Stock.

Und der Hund rannte wütend hin und her und bellte.

»Dort kommt ein Republikaner.« sagte Roque, den Stock wieder senkend.

Und das Tier sprang immer näher, knurrte behaglich und kauerte sich endlich zu seinen Füßen nieder.

Das Gesicht des Burschen drückte eine brutale Gleichgültigkeit aus, die ihm, von einem Mangel von Zartgefühl diktiert, die Frechheit wie ein Diadem auf die Stirne setzte, gleichwie das Laster den häßlichen Zynismus im Triumph wie ein Wappen vor sich her trägt. Wer ihn so an die Wand gelehnt dasitzen sah, den Gurt gelockert, den Hut im Nacken und unaufhörlich seinen Hund quälend, der hätte zweifellos in ihm eine gewisse Verwandtschaft mit den vier schmutzigen Männern gefunden, die unweit davon lagerten. Die kümmerten sich den Teufel um die stolzen Ruinen, auf denen sie ruhten, und diskutierten eifrig über die Nichtigkeit der menschlichen Eitelkeit und über die Freuden eines vornehmen Lebens, die wie das Schloß von Sidueñas schließlich doch zu Ende gehen: würdige Söhne einer Epoche, deren Ereignisse den heilsamen Einfluß guter Beispiele abschwächen und in der der Materialismus siegreich mit dem Idealismus kämpft.

Joaquina saß im Schatten der Türe, kernte einen Maiskolben aus und lächelte von Zeit zu Zeit über die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Roque die Geschicklichkeit des Hundes beobachtete.

»Was bist du nur für ein Faulpelz, Junge,« sagte sie endlich. »Wenn du vier Pfoten und einen Schwanz hättest, würdest du überhaupt nicht mehr aufstehen.«

»Du hast mich so geboren; das ist deine Schuld,« entgegnete Roque.

»Wahr ist's, daß ich dich geboren habe, mein Sohn, aber wenn ich sehe, wie du die Stunden totschlägst, ohne etwas Nützliches zu tun ...«

»Es macht mir Spaß,« unterbrach sie der widerspenstige Bursche.

»Du mußt selbst wissen, was du zu tun hast,« fuhr die geduldige Mutter fort, »aber ich sage es dir, weil dein Vater sich in der Orangerie fast tot arbeitet, während du herumlungerst und nichts tust ...«

»Und wer heißt ihn arbeiten? ... Wer sich zu Tode arbeitet, weiß genau, woran er gestorben ist.«

»Wenn der Arme aufhört zu arbeiten, muß er auch aufhören zu essen. Bei uns gibt es genug, die das Geld ausgeben, aber nur einen, der es verdient.«

»Wenn er nicht arbeiten will, soll er doch ins Armenhaus gehen, da wird er schon unterhalten werden.«

»Schweig, schweig, du verdienst, daß die Hunde dir die Zunge ausreißen, wenn du so von deinem Vater sprichst! ... Das lehrt dich wohl jener widerwärtige Mensch, der dich in die Schenken führt und der noch dich und uns ins Verderben stürzen wird? ...

»Ich tue das, wozu ich Lust habe, und du brauchst dich nicht darum zu kümmern, denn ich tue doch nur, was mir paßt.«

»Ich kümmere mich aber doch darum, und sogar sehr viel; denn dein ist nicht einmal das Hemd, das du trägst, und willst den großen Herrn spielen.«

»Laß mich in Frieden und schweig endlich,« erklärte Roque mit jener geringschätzenden Überlegenheit, die frühreifen Kindern eigen ist. und die allmählich aus den Städten auch ihren Weg aufs Land, gefunden hat.

»Geh, Kainsseele, dir werden sie in der Hölle die Messe lesen! Ungeratene Kinder leben schlecht und sterben noch schlechter.«

»Also eine Predigt, aber sprich nur zu, denn was bei mir in ein Ohr hineingeht, geht durchs andere wieder heraus,« erklärte Roque. ihr den Rücken zukehrend.

Und um seine Mutter zu ärgern, sang er im Fortgehen das Liedchen:

»Republikanisch ist die Sonne
Republikanisch ist der Mond,
Republikanisch meine Wonne,
Republikanisch nichts verschont.«

Die arme Mutter vollendete ihr Tagewerk, während ihr die Tränen, die der krasse Egoismus ihres Sohnes ihr unaufhörlich entlockte, langsam über die Wangen rannen; und die Erinnerung an den fernen, geliebten Sohn stimmte sie um so trauriger, da sie ihn unwillkürlich mit dem ungeratenen Roque verglich.

Er wird zurückkommen, sagte sie sich zuversichtlich; und die leise Hoffnung, die in einem zukünftigen Glück Trost findet, versüßte ihr dennoch die Erinnerung an den Abwesenden.

In so düstere Gedanken vertieft, bemerkte Joaquina das Herannahen eines großen hageren Mannes nicht, der den Hügel eiligst erstiegen hatte und der nun dicht vor ihr stehen blieb.

»Heil und Verbrüderung!« rief er hochtrabend aus

»Um Gottes willen,« rief Joaquina aufspringend, »wie habt Ihr mich erschreckt!«

»Bin ich so schrecklich, daß Ihr Euch fürchten müßt?« fragte der Ankömmling.

»Wenn es wahr ist, daß durch einen Schrecken der Schlucken besser wird, braucht Ihr nur die Nase herein zu stecken, – dann wäre einem gleich geholfen.«

Joaquina übertrieb nicht. Goya würde zweifellos jenen Mann mehr als einmal als Modell gewählt haben; er war der Typus des in einen Gehrock gekleideten Bummlers; jenes freche, gewöhnliche Gesicht, jene schielenden Augen, die das nosce te ipsum der Alten verkörpernd, von Zeit zu Zeit nach einem blicken, wie um sich zu prüfen. Dieser weite, fettige Rock, den er mit der Würde einer römischen Toga trug, jene Krawatte im Grün-rot-weiß der Republik, aber einer so farblosen Republik, daß das Grün der Hoffnung zur Enttäuschung, das Rot der Königswürde zum Ausdruck der Qual und das Weiß der Unschuld zur verlorenen Reinheit geworden; und dann endlich jener keulenartige Knüttel, auf den er sich mit derselben Sicherheit stützte wie ein friedlicher Bürger auf seine bürgerlichen Ehrenrechte: kurzum sein Äußeres entsprach ganz dem eines politischen Parteiführers, der seine Argumente niemals zu beweisen und ihnen nur mit der Faust Geltung zu verschaffen vermag. Von Joaquina wurde er gefürchtet, denn er war der Verführer, der ihrem Sohn gefährliche Ideen einflößte, ihm im Namen des Vaterlandes riet, seinen Eltern das Geld aus dem Beutel zu locken, das dann in seine abgrundtiefen Taschen floß.

So ist es nicht weiter zu verwundern, daß Joaquina ein Gesicht machte wie das, welches der heilige Antonius dem Teufel zeigte, als er ihn in der Wüste verführen wollte, und ärgerlich sagte:

»Welch böser Wind hat Euch hierher getrieben, mit dieser Krawatte, die der Hunger zusammengeschnürt hat?«

»Das Wohl des Vaterlandes!« entgegnete der Politiker pathetisch.

»Euer Gnaden ist hier nicht am Platze, sucht Euch lieber andere aus, um sie mit Euren Gütern zu überhäufen.«

»Madame,« rief er aus, anscheinend erschreckt, »genug der Spötteleien, sagt mir lieber wo Roque hingegangen ist, denn zu ihm komme ich.«

»Roque hat heute das Gemüse auf dem Markt zu verkaufen, er kommt vor Abend nicht nach Hause,« log Joaquina wie ein Diplomat.

»Dann werde ich ihn erwarten und wäre es bis zum Morgen.«

»Setzt Euch, damit Ihr nicht müde werdet,« entgegne Joaquina und erhob sich ungeduldig, und mit einem Stock trieb sie die verstreuten Hühner zusammen, um sie noch vor der Nacht im Hühnerstall unterzubringen.

Indessen spazierte der Politiker vorne vor dem Turm auf und ab, sah sich nach allen Seiten um, neigte den Kopf vor und spähte umher, Roques Rücklehr ungeduldig erwartend. Das Glück wollte, daß seine unsteten Augen auf einer weißen Marmortafel, die die Tür des Turmes schmückte, haften blieben, auf der die Worte standen: »Die Achtung vor dem Ruhme seines Geschlechtes veranlaßten den jetzt lebenden Marquis von Castillo, Seine Exzellenz Don Francisco Ponce de Leon Villavicenieo, zur Restauration dieses historischen Monuments.«

»O Eitelkeit der Reichen! wie bist du verächtlich! Man sollte hier keinen Stein auf dem andern lassen,« rief er aus, indem er den Haß und die Verachtung parodierte, mit dem Seneca die rachsüchtige Medea ausrufen läßt: »Medea super est.«

Aber sein Zorn wurde besänftigt durch die Stimme Joaquinas, die mit jener Bosheit und Anzüglichkeit, die dem andalusischen Spott eigen ist, vor sich hersang:

»Wend' ich den Blick zur Seite,
Seh' ich mehr als andere doch:
Ich kann mehr als andere Leute,
Denn ich sehe schielend noch.«

»Ihr wollt mich wohl zur Zielscheibe Eurer Witze machen!« rief der Politiker heftig aus, nachdem er den Sinn des Verses begriffen hatte.

»Natürlich weiß ich ganz genau, wo Euch der Schuh drückt; hier kann man auch das Sprichwort anbringen: ›Warum ißt er kein Brot? Weil sie ihm keins geben.‹«

»Ach was, weil er nicht will: wenn ich die Dachrinne meines Hauses zustopfe, dann habe ich auch ein Wappenschild,« entgegnete der Kazike. »Aber mir sind die elenden Lumpen, die mich bedecken, eben mehr wert als alle pomphaften Titel der Welt,« setzte er hinzu, sich fester in seinen fettigen Mantel hüllend.

»Mit allen Orden und was sonst noch dazu gehört?« fragte die pfiffige Joaquina und zeigte mit der Spitze ihres Stockes auf eine runde Metallplatte, die der Politiker wie ein Kreuz auf der Brust trug.

Jene Metallplatte, die eine Medaille vorstellen sollte, war mit blauem Papier beklebt; auf der Vorderseite stand »18. September« und auf der Rückseite »es lebe das souveräne Volk«. Sie hing an einem jener Bänder, die man »Hühnerdarm« nennt, und die lebhaft an den Satz erinnern: »Ich will wohl, aber ich kann nicht,« denn es prangte auf dem schmutzigen Mantel wie das ehrenvolle Kreuz auf der Brust des Veteranen.

»Jawohl, Madame, mit allen Orden und was sonst dazu gehört!« rief der Kazike wütend aus. »Diese Medaille ist das dauernde Monument, das die Erinnerung an die Revolution und den Heroismus des Volkes hochhalten wird.«

»Na ja,« erwiderte Joaquina schlau, »dann gebt nur acht, daß Ihr Euren Regenschirm nicht vergeßt; denn es braucht nur ein Regenschauer zu kommen, und das ganze Monument ist aufgeweicht.«

»Das tut nichts; denn ich bin ja da, um seine Lehren aufrecht zu erhalten.«

»Aber dann müßt Ihr schon auf einen Hof gehen, auf dem keine Menschen wohnen, wenn Ihr wollt, daß man Euch zuhört.«

»Madame, wo ich spreche, habe ich meine Zuhörer ganz so, wie ich sie mir wünsche.«

»Und warum laßt Ihr Euch denn nicht einen andern Rock machen und schickt den ins Armenhaus, damit sie ihn in einen Topf werfen und ihm das Fett auskochen?«

Wieder wollte der empörte Kazike eine erregte Antwort geben, aber die Ankunft Roques schnitt ihm das Wort ab; dieser trug einen Korb mit Bohnen, und ein halbes Dutzend Pfauen, die hungrig nach dem Korbe hackten, liefen hinter ihm her.

»Roque, mein Freund,« schrie der Kazike, auf ihn zu eilend »die Stunde ist gekommen, da wir rufen dürfen: Es lebe die Republik.«

»Glu, glu, glu, glu,« schrien die Pfauen, durch sein Schreien erschreckt.

»Gevatter, selbst die Pfauen rufen vivat.« entgegnete Roque, erstaunt, jene Genossen zu finden, die ihm mit Ausnahme des Gefieders als Zweifüßler überraschend ähnlich waren.

Als Joaquina bemerkte, daß der Politiker und Roque leise flüsternd hinter dem Turm verschwanden, folgte sie ihnen unbemerkt, verbarg sich zuerst hinter einem Heuhaufen und dann hinter einem Wagen, der wegen eines zerbrochenen Rades nicht mehr gebraucht werden konnte. Bei den ersten Worten des Kaziken fuhr sich Roque entsetzt mit den Händen in das Haar; dann gelang es jenem augenscheinlich, den Jungen zu etwas zu überreden, wogegen er sich sträubte, und der Wind trug die Worte: »Sache des Volkes ... Vaterland ... Despotismus der Reichen ... Verteilung der Güter ..« an Joaquinas Ohr.

»Und wenn sie mir mit einem scharfen Schuß zahlen?« erwiderte Roque auf diese Erwägungen.

Die arme Mutter überlief es eiskalt, als hätte eine Kugel bereits die Brust ihres Sohnes durchbohrt. Endlich schien Roque den Vorstellungen des Kaziken beizustimmen, denn dieser ergriff seine beiden Hände und rief begeistert:

»Daß du aber deine Flinte und die deines Vaters mitbringst.«

»Ja,« stimmte Roque zu, und mit gesenktem Haupte und schweigsamer Miene, als beschäftige ihn ein ernster Gedanke, schlug er den Weg zum Obstgarten ein, in dem unter einem schützenden Dach sein Bett stand.

Joaquina zögerte nicht lange: sie trat wieder in den Turm und gelangte fast unwillkürlich an die Stelle, wo Miguel seine Flinte aufzuhängen pflegte. Die Flinte war nicht da, und beim Fortgehen hatte Miguel sie nicht gehabt, – folglich hatte Roque sie. Unruhige Neugierde trieb die arme Mutter von einem Ort zum andern, endlich setzte sie sich auf die Schwelle der Türe und verharrte unbeweglich, den Kopf zwischen den Händen vergraben, den Blick starr auf den Boden geheftet. Ihre Phantasie verlor sich immer weiter und quälte das arme Mutterherz unsagbar, das bei all diesen entsetzlichen Vorstellungen ängstlich pochte.

Allmählich ging die Sonne unter, es begann zu dämmern und die Sterne wurden sichtbar: und je weiter der Schatten um sich griff, um so größer wurde auch Joaquinas Angst. Miguel kam von der Arbeit und legte sich nach dem Nachtessen zu Bett, ernst und schweigsam wie gewöhnlich.

Nun eilte Joaquina in den Garten und schritt schweigend über das Feld auf Roques Hütte zu. Ein Licht erhellte ihren Weg. Molinera schlief auf ihrer Lagerstätte neben dem durchwühlten Futter: Roque saß auf einem Baumstamm und goß Öl, das er aus einem Horn entnahm, auf das Schloß der Flinte, deren Läufe in den Strahlen des Lichtes erglänzten.

IV.

»Warum bist du um diese Zeit auf, mein Junge?« sagte Joaquina und trat in die Hütte.

Roque fuhr erschreckt empor, ließ die beiden Gewehre auf die Erde fallen und entgegnete erregt und erschreckt:

»Was kümmert dich das?«

»Aber, heilige Jungfrau, sage mir, was bedeutet das?« rief Joaquina entsetzt, mit dem Fuß die beiden Flinten fortschiebend.

»Um aller Heiligen willen, geh weg oder du weißt nicht, was geschieht.«

»Ich gehe nicht, ich gehe nicht,« rief die unglückliche Mutter und sank auf den Baumstamm, auf dem ihr Sohn vorher gesessen hatte.

Roque faßte sie, ohne ein Wort zu sagen, beim Arm und trieb sie mit einem heftigen Stoß weiter.

»Schurke ... Schurke,« stöhnte Joaquina, »ich werde deinen Vater rufen.«

»Ruf ihn nur, dann habe ich euch beide zugleich.« schrie Roque, ihr mit der Faust drohend.

»Jesus, Jesus,« murmelte Joaquina und lief davon, als fliehe sie von einem verpesteten Ort.

Miguel schlief schon eine Weile und hörte Joaquinas Nahen nicht. Sie warf sich angekleidet aufs Bett; aber der Schmerz und die Unruhe verscheuchten den Schlaf aus ihren Augen, und so sah sie, von Qualen und Sorgen geängstigt, die ersten Stunden der Nacht langsam dahinschleichen, deren jede eine Falte in ihrer Stirn und eine Wunde in ihrem Herzen zurückließ, und die fürchterlich und entsetzlich waren wie eine Gefahr, die man ahnt, errät und herannahen sieht, ohne sie abwenden zu können.

Sie warf sich so heftig in ihrem Bett herum, daß Miguel plötzlich erwachte; sein scharfes Ohr vernahm das Heulen von Roques Dachshund und dann flüchtige Schritte, die sich in der Ferne verloren.

»Was hast du nur? Warum liegst du denn nicht einen Augenblick ruhig?« fragte Miguel.

Und geduldig kauerte sich die arme Joaquina von neuem in ihrem Bett zusammen; man hätte die wilden Schläge ihres von Angst, Schmerz und höchster Not gequälten Mutterherzens hören können. Bald darauf schlief Miguel wieder ein, und Joaquina stand leise auf und schlich bis zur Türe, dann aber knarrte der Schlüssel im Schloß, und Miguel regte sich wieder in seinen Träumen, und so blieb die Unglückliche in höchster Todesangst wie gebannt an der Türe stehen.

Endlich ging sie aufs Feld hinaus, die Nacht war schwarz wie das böse Gewissen, und unsicher und hastig an Bäumen und Pflanzen vorbeitastend, gelangte Joaquina endlich an die Feldhütte ihres Sohnes. Noch hing die kleine Lampe am Nagel; aber ihr spärliches Licht erhellte einen leeren Raum.

»Roque, Roque,« rief Joaquina mit leiser, verhaltener Stimme, mit ihren weitgeöffneten Augen entsetzt nach allen Seiten spähend.

Niemand antwortete ihr, man hörte nur im Schweigen der Nacht das Fallen eines welken Blattes und das leise Wehen des Windes, der es vor sich hertrieb.

»Allmächtige Jungfrau! – wo ist mein Sohn«, mit diesen Worten stürzte sie wie eine Wahnsinnige in den Olivenhain. »Wundertätige Jungfrau, sei du mit ihm und verlasse ihn nicht.« Und wieder schrie sie: »Roque, Roque!«

»Roque! Roque!« antwortete das Echo aus dem Olivenhain mit so traurigem Ton, daß es wie eine Klage erscholl.

Joaquina rannte bis an die Chaussee und von dort zu den Kreuzen, und immer rief sie ihren Sohn, kehrte in die Feldhütte zurück, eilte von dort in die Klause und gelangte endlich wieder auf den Weg – und immer dasselbe grausige Schweigen, dieselbe drückende Ungewißheit. Bis zum Anbruch des Tages dauerte das ängstliche Suchen der armen Frau, der die Sorge Flügel, die Angst Kraft und die Unruhe Mut verlieh. Endlich hörte sie auf, kehrte zurück in den Turm und warf sich neben Miguel, der noch immer nicht erwacht war, aufs Bett. In ihrem erregten Hirn kam ihr der Gedanke, ihn zu wecken und ihn um Hilfe anzuflehen: aber sei es, daß sie Mitleid mit dem armen Alten hatte, sei es, daß ihre Lippen sich weigerten, den Sohn anzuklagen, sie fand jedenfalls die Kraft, allein zu leiden und zu warten, bis Miguel bei Tagesanbruch an die Arbeit ging.

Dann machte sie sich eilends auf den Weg nach Jerez; verschiedene Frauen und Kinder, die erschreckt geflohen waren, begegneten ihr auf dem Weg; einige trugen Matratzen, Bettdecken und andere nützliche Gegenstände.

Und dabei wußte die unglückliche Mutter, daß die Truppen sich seit der Vesperstunde mit dem Volk schlugen und daß das Kleingewehrfeuer, das nur während der Nacht aufgehört hatte, bei Tagesanbruch von neuem begann. Man erzählte ihr, daß ein Regiment von Malaga in Cadiz gelandet wäre und jeden Augenblick in den Kampf eingreifen sollte.

»Dort ist mein Perico,« schrie die unglückliche Mutter und griff mit den Händen an den Kopf. »Meine Söhne, meine geliebten Kinder! Eines gegen das andere,« rief sie und lief wie eine Wahnsinnige nach Jerez, nachdem sie endlich begriffen hatte, daß Roque auf den Barrikaden kämpfte.

Schnell wie der Blitz rannte Joaquina die Anhöhe, den Strand von San Telmo hinan und wandte sich unaufhaltsam dem alten Kreuz, dem Kampfplatze zu. Als sie die Straße von Galvon erreichte, versperrte ihr eine Barrikade den Weg; mehrere Bauern standen darauf, andere schleppten Munition herbei, während wieder andere Steine und Fliesen aufhäuften, die sie soeben aus dem Bürgersteig gerissen hatten, oder das Gewehr anlegten, im Begriff, Feuer zu geben.

»Frau, was wollt Ihr hier?« fragte sie einer und schob die unglückliche Mutter, die nur die Worte: »Meine Söhne! Meine Söhne!« herauszubringen vermochte, unsanft beiseite.

Darauf wandte Joaquina sich um und suchte auf einem Umweg auf die andere Seite der Barrikade zu gelangen. Die Nachbarn, die durch die halbgeöffneten Fenster und Türen den Verlauf des Kampfes beobachteten, blickten mit Befremden auf jene Frau, die fassungslos, verzweifelt weinend durch die Straßen eilte, ohne sich vor den Kugeln zu fürchten. Sie wußten nicht, wessen eine Mutter fähig ist

»Joaquina,« rief plötzlich eine weibliche Stimme, als diese in die Windmühlenstraße einbog.

Die unglückliche Frau stand mitten auf dem Damm, wandte ihre erstaunten Augen nach allen Seiten und nahm, nachdem sie vergebens ausgeblickt hatte, ihr verzweifeltes Suchen von neuem auf; aber eine Frau, die aus einem benachbarten Hause trat, hielt sie am Kleide fest und rief:

»Um Gottes willen! Was macht Ihr hier, jeden Augenblick kann Euch eine Kugel treffen!«

»Meine Söhne,« stammelte Joaquina. Und ohne daß sie ein weiteres Wort hervorbringen konnte, deutete sie mit zitternder Hand nach der Richtung, aus der dumpf und drohend der Lärm des Gewehrfeuers herüberdrang.

»Dazu hat man seine Söhne! Dazu hat man seine Söhne!« schrie jene Frau mit der Heftigkeit, die den Kindern des Volkes eigen ist.

»Da ist's schon besser, man ertränkt sie oder man stirbt gleich selbst, wenn man sie zur Welt bringt.«

Mehrere Nachbarsfrauen liefen zusammen und umringten Joaquina, die bitterlich weinend auf die Steinfliesen gesunken war.

»Kommt hierher, liebe Frau,« sagten sie zu ihr, »kommt um Gottes Willen von der Straße.«

»Ich habe keine Ruhe, bis ich sie gefunden habe!« seufzte Joaquina. »Die Kugel, die sie trifft, soll mich zuerst durchbohren!«

Und wie der Mensch im heftigen Schmerz alle Vernunftgründe vergißt, um sich ganz der Leidenschaft hinzugeben, die ihn hervorgerufen, riß sie sich mit Gewalt aus den Armen, die sie zurückzuhalten suchten. Eine der Frauen besaß in Cerro-Fuerto einen Obstladen, den sie gestern morgen, da der Kampf angefangen, im Stich gelassen hatte. Sie gab Joaquina den Schlüssel und riet ihr von dort, vor den Kugeln geschützt, nach ihren Söhnen auszuspähen. So machte sich das arme Weib auf den Weg, während die Nachbarn in dem mitfühlenden Schmerz, den Mütter für das Unglück anderer Mütter empfinden, bittere Tränen vergossen.

Jene elende kleine Bude lag nur zwanzig Schritt von einer Barrikade, die angelehnt an die herrliche Ruinen des Hauses Villapanes die Straße Cerro-Fuerte versperrte: diesseits standen die Soldaten und jenseits die Bauern.

Die Türen des Obstladens waren weit geöffnet, das armselige Hausgerät durcheinander geworfen, der Ladentisch zerbrochen und die Heiligenbilder an den Wänden zerrissen; nur ein Bild, – das der heiligen Jungfrau – hing an der Wand, und auf dieses richtete Joaquina einen verzweifelten Blick des Schmerzes, der, so lange christliche Entsagung ihn gefesselt hält, wenn Seufzer und Tränen verstummt sind, die Brust schweigend zusammenschnürt, um wild und gewaltig wie ein Lavastrom hervorzubrechen und alles zu zerstören, was sich ihm in den Weg stellt, wenn gottlose Verzweiflung ihm die Zügel schießen läßt.

Joaquina öffnete behutsam die Türe beim Knall der ersten Schüsse, spähte durch die Ritze, und von weitem sah und hörte sie das Getöse des Kampfes, der sich wütend entfachte, sah die Kämpfenden wie phantastische Schatten auf einander losgehen, in eine schwarze Rauchwolke gehüllt, die sich immer mehr verdichtete und dann wie ein schützender Vorhang jenes entsetzliche Schauspiel mitleidig verhüllte. Die Soldaten nahmen endlich die Barrikade, und einige Bauern erwarteten ihr Eindringen ruhig, um dann Brust an Brust mit ihnen zu kämpfen, während andere, feigere flohen, die Waffen, die sie als Empörer kennzeichneten, einfach zurücklassend. Als Joaquina hörte, wie der fürchterliche Kampfeslärm immer näher kam, eilte sie auf die Türe zu und fiel dort ohnmächtig zu Boden. Zwei Schritte von ihr ertönte das Knattern des Gewehrfeuers, das Fluchen der Kämpfenden, das Stöhnen der Verwundeten, das Aufschlagen der zu Boden fallenden Körper: zwei Kugeln zertrümmerten die morsche Türe und blieben in der gegenüberliegenden Wand stecken.

»Roque«, schrie plötzlich eine Stimme, mit der Angst eines Menschen, der sich dem Tode nahe weiß.

Joaquina sprang blitzschnell auf, totenblaß und steif wie ein aus dem Grabe Auferstandener.

»Roque, Roque, schieße nicht,« schrie dieselbe Stimme wieder, noch ängstlicher als zuvor.

Fast gleichzeitig krachte ein Schuß: ein lautes Stöhnen, das Aufschlagen eines Körpers und das Sausen einer Klinge wurde hörbar.

Joaquina stürzte auf die Tür und öffnete sie weit.

»Gott im Himmel!«

Perico, ihr geliebter und viel beweinter Sohn, lag leblos am Boden, mit dem Dolch in der Brust und einer Kugel im Herzen. Zu seinen Füßen stand Roque, das rauchende Gewehr noch in seiner Linken, die Rechte befleckt vom warmen Blute seines Bruders ... Als er seine Mutter erblickte, prallte er einen Schritt zurück. Mit der geballten Faust schlug er sich heftig an die Stirn. Ein Blutfleck blieb zurück.

»Kain, Kain! Du trägst das Zeichen an der Stirn!« schrie Joaquina mit der fürchterlichen Stimme einer Mutter, die einen Fluch spricht, die den wilden Schmerz empfindet, ihren geliebten Sohn tot – von Bruderhand hingemordet – vor sich zu sehen.


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