Luis Coloma
Gottes Hand
Luis Coloma

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Die Maus.

Diese Erzählung wurde für König Alfons XIII. geschrieben, als er acht Jahre alt war.

Säe in das Herz des Kindes eine Idee,
auch wenn es dieselbe noch nicht recht
erfaßt; mit bei Zeit wird ihm das Verständnis
dafür aufgehen und dann wird
sie in seinem Herzen Blüten treiben.

Von der Zeit, die zwischen dem Tode des wahnsinnigen Königs und der Thronbesteigung der Königin Mari Castana liegt, ist nur wenig bekannt, und wir finden in den Chroniken darüber nur einen kurzen Bericht. Trotzdem steht fest, daß zu jener Zeit ein König Buby I. lebte, der ein großer Freund der armen Kinder und ein getreuer Beschützer der Mäuse war.

Für die ersteren begründete er eine Puppen- und Schaukelpferdfabrik, und es ist erwiesen, daß aus dieser Fabrik die drei weißfüßigen Rappen hervorgingen, die der König Don Bermudo, der Diakonus, den Kindern Hissens I. nach der Schlacht von Bureva schenkte.

Der Überlieferung zufolge hat König Buby den Gebrauch von Mausefallen ernstlich untersagt und sehr kluge Gesetze erlassen, die die wildernden Instinkte der Katzen auf ihre Selbstverteidigung beschränken sollten, wofür der Beweis durch die ernsten Zerwürfnisse erbracht wird, die zwischen der Königin Dona Goto oder Gotona, der Witwe des Don Sancho Ordonnez, Königs von Galizien, und der Landvogtei von Ribas del Sil entstanden waren, weil man dort die Gesetze des Königs Buby auf die Katze aus dem Kloster von Pombeyro anzuwenden beliebte, wo jene Königin damals in Zurückgezogenheit lebte.

Der Fall war ernst und die Erinnerung daran unauslöschlich, denn mehr als ein Schriftsteller hat darüber berichtet und behauptet, daß die fragliche Katze sich Russef Dateo nannte, während andere sie einfach mit dem Namen Minimi bezeichneten. Jedenfalls steht die Tatsache fest, obgleich weder Vaseo etwas darüber berichtet, noch der Chronist Iriense, und der gute Lucas de Tuy möglicherweise aus Anstandsrücksichten vorgibt, die Angelegenheit ganz vergessen zu haben.

König Buby trat die Regierung in seinem siebenten Lebensjahr an unter der Vormundschaft seiner Mutter, einer sehr klugen, gottesfürchtigen Frau, die jeden seiner Schritte leitete und über ihm wachte, wie ein Schutzengel über allen guten Kindern.

König Buby war damals ein reizendes Kind, und wenn man ihn an einem Festtage mit seiner goldenen Krone und seinem reich gestickten Königsmantel schmückte, so war das Gold seiner Krone nicht glänzender als seine Locken und der Hermelin seines Mantels nicht weicher als seine Wangen und seine Hände. Er sah aus wie eine Sevresporzellanlampe, die man auf den Thron gesetzt hatte, statt sie auf den Kaminsims zu stellen.

Es geschah nun eines Tages, daß dem König, als er seine Suppe aß, ein Zahn zu wackeln anfing. Der ganze Hof geriet in Aufregung, und die Leibärzte erschienen einer nach dem andern. Der Fall war bedenklich, denn alles ließ darauf schließen, daß für Sr. Majestät der Augenblick des Zahnwechsels gekommen war.

Die ganze Fakultät wurde einberufen; man telegraphierte an Charcot für den Fall, daß es gefährliche Nervenerregungen geben sollte, und es wurde also beschlossen, Sr. Majestät den Zahn auszuziehen. Die Ärzte wollten den König chloroformieren, und der Präsident der Kammer billigte diesen Vorschlag, da er selbst so empfindlich war, daß es bei ihm sogar jedesmal geschehen mußte, wenn ihm die Haare geschnitten wurden.

Aber König Buby war tapfer und mutig und beschloß, der Gefahr trotzig die Stirn zu bieten. Vorher aber wollte er beichten, denn schließlich konnte die Seele ebensogut durch eine Lanzenwunde als durch ein von einem ausgezogenen Zahn entstandenes Loch entfliehen.

Man band ihm also einen dunkelroten Seidenfaden um den Zahn und der älteste der Arzte fing mit solcher Geschicklichkeit und Sorgfalt zu ziehen an, daß der König inmitten der Bemühungen aufsprang, und der Zahn, so zart und so weiß und so schön wie eine Perle ohne Fassung, zum Vorschein kam.

Ein edler Grande der Wache fing ihn in einer Schüssel auf und präsentierte ihn Ihrer Majestät der Königin. Diese berief sofort den Ministerrat und es wurden die verschiedensten Meinungen laut.

Der eine schlug vor, den kleinen Zahn in Gold zu fassen und ihn dem Kronschatz einzuverleiben. Andere waren der Meinung, man sollte ihn einem reichen Geschmeide anfügen und ihn der heiligen Jungfrau, der Schutzpatronin des Königreichs, als Opfergabe darbieten. Zweifellos wurden die höfischen Minister ebenso sehr von dem Wunsche beseelt, der Mutter zu schmeicheln als der Königin einen Dienst zu erweisen.

Aber die Königin, die allen Schmeichelreden mißtraute, war eine kluge Frau und eine Anhängerin alter Traditionen. Sie beschloß, der König Buby sollte der Maus Perez einen liebenswürdigen Brief schreiben und in dieser Nacht den Zahn unter sein Kopfkissen legen, wie das stets bei allen Kindern Sitte gewesen war, solange die Welt besteht, ohne daß man sich entsinnen konnte, daß die Maus je vergessen hätte, den Zahn abzuholen und dafür ein kostbares Geschenk zurückzulassen.

So machte es einst schon der gerechte Abel und sogar der große Sünder Kain legte seinen ersten Zahn, der gelb und häßlich war, unter das schwarze Fell, das ihm als Kopfkissen diente. Von Adam und Ena weiß man nichts, was niemand befremden kann, da sie als Erwachsene auf die Welt kamen und deshalb natürlich die Zähne nicht mehr wechselten.

König Buby war zu erschöpft, den Brief zu schreiben, aber endlich entschloß er sich doch dazu, wenn auch widerstrebend. Dann beschmutzte er sich nicht allein die fünf Finger an jeder Hand, sondern auch die Nasenspitze, das linke Ohr, den rechten Schuh und das ganze Lätzchen von oben bis unten mit Tinte.

Er ging an diesem Abend früher wie gewöhnlich zu Bett und befahl, daß im Alkoven sämtliche Lichter und Kandelaber nicht ausgelöscht werden sollten. Dann legte er den Brief mit dem Zahn darin unter das Kopfkissen und setzte sich darauf, fest entschlossen, die Maus Perez zu erwarten, wenn er selbst bis zum Morgengrauen warten sollte.

Die Maus Perez ließ auf sich warten und der König vertrieb sich die Zeit damit, daß er die Rede studierte, mit der er sie empfangen wollte. Bald riß Buby die Augen groß auf und kämpfte gegen den Schlaf, der sie zu schließen versuchte. Bald schlossen sie sich ganz; der kleine Körper hüllte sich wohlig in die warmen Decken ein und das Köpfchen sank auf das Kopfkissen, hinter dem Arm versteckt, wie die Vögelchen ihre Köpfchen unter ihren Flügeln verstecken.

Bald fühlte er, wie etwas Weiches seine Stirn streifte, mit einem Ruck wachte er auf, und was sah er? Auf seinem Kopfkissen saß eine kleine Maus mit einem Strohhut, einer goldenen Brille, Schuhen aus weichem Leder und einem roten Mantel.

König Buby blickte sie sehr erschreckt an, während die Maus Perez, als sie ihn erwacht sah, tief den Hut vor ihm zog und den Kopf nach Art der Höflinge vor ihm verneigte und in dieser ehrerbietigen Stellung darauf wartete, daß Se. Majestät sie anredeten.

Aber Se. Majestät sagten nichts, da er seine ganze Rede plötzlich vergessen hatte, und brachte nach langem Denken zögernd die Worte hervor:

»Guten Abend!«

Worauf die Maus Perez im Tone tiefster Ergebenheit antwortete:

»Gebe Gott, daß er für Ew. Majestät gut sein möge.«

Und nach diesen kurzen Höflichkeitsbezeigungen waren Buby und die Maus Perez die besten Freunde von der Welt. Es ließ sich keinen Augenblick verkennen, daß diese Maus eine Maus von guter Erziehung war, daran gewöhnt, auf weichen Teppichen zu gehen und mit hochstehenden Persönlichkeiten zu verkehren.

Ihre Unterhaltung war abwechslungs- und lehrreich und ihre Gelehrsamkeit bewundernswert. Sie war durch alle Röhren und Keller des Hofes gelaufen und hatte in allen Archiven und Bibliotheken genistet; allein in der Königlichen Akademie Spaniens hatte sie in weniger als einer Woche drei unveröffentlichte Manuskripte verzehrt, die ein berühmter Schriftsteller dort deponiert hatte.

Sie sprach auch von ihrer Familie, die nicht sehr zahlreich war: schon zwei verheiratete Töchter, Adelaide und Elvira, und ein erwachsener Sohn Adolf, der die diplomatische Karriere eingeschlagen hatte, und in demselben Schubfach wirkte, in dem der Staatsminister seine geheimen Papiere aufhob. Von ihrer Frau sprach sie weniger und nur vorübergehend. weshalb der kleine König auf die Vermutung kam, es seien hier vielleicht eine Mesalliance oder eheliche Zwistigkeiten im Spiel. Das alles hörte der König erstaunt, nur ab und zu die Hand ausstreckend, um sie zu streicheln.

Es war schon spät, und da König Buby, nicht daran dachte, sie zu verabschieden, erklärte die Maus Perez geschickt, ohne gegen die Etikette zu verstoßen, daß sie gezwungen sei, noch in dieser Nacht in die Jocometrezo Nr. 64 zu gehen, um den Zahn eines sehr armen Kindes, namens Gilito, in Empfang zu nehmen. Der Weg sei beschwerlich und gewissermaßen gefahrvoll, da in jener Gegend eine böswillige Katze mit Namen Gaiferos hause.

Es gelüstete König Buby, sie auf diesem Gange zu begleiten, und so bat er die Maus Perez inständig, ihm dies zu erlauben. Diese verharrte schweigend und strich sich über den Bart. Die Verantwortung sei sehr groß und außerdem seien sie gezwungen, sich auch in ihrem Haus aufzuhalten, um das Geschenk zu holen, das sie Gilito für seinen Zahn überreichen wollte, sagte sie ihm.

Darauf antwortete König Buby, daß er sich sehr geehrt fühlen würde, in einem so hochachtbaren Hause einen Augenblick ausruhen zu dürfen.

Die Eitelkeit siegte über die Maus Perez und sie beeilte sich, König Buby eine Tasse Tee anzubieten, um dadurch das Recht zu erwerben, Ketten vor das Tor ihres Hauses legen zu dürfen, was zu jenen Zeiten allen jenen erlaubt war, denen die Ehre zuteil geworden war, einen Monarchen zu bewirten.

Die Maus wohnte damals in der Arsenalstraße Nr. 8, in den Souterrainräumen von Carlos Prats, einem großen Stapel Schweizerkäse direkt gegenüber, der für die Familie Perez damals die größte und reichhaltigste Speisekammer war.

Außer sich vor Vergnügen sprang König Buby aus dem Bett und begann sich anzuziehen. Plötzlich hüpfte die Maus Perez auf seine Schulter und steckte ihm den Schwanz in die Nase; der König nieste heftig und durch ein Wunder, das sich bis zum heutigen Tage niemand hat erklären können, wurde er durch die Erschütterung des Niesens in die schönste und wunderbarste Maus verwandelt, von der jemals in Feenmärchen berichtet wurde.

Sie war glänzend wie Gold und weich wie Seide und hatte grünleuchtende Augen wie dunkel glänzende Smaragden.

Perez nahm ihn ohne große Zeremonie bei der Hand und verschwand mit ihm durch ein Loch unterhalb des Bettes, das unter einem Teppich versteckt war.

Der Weg war dunkel, feucht und schlüpfrig und sie stießen Schritt für Schritt mit Scharen winziger kleiner Tiere zusammen, die sie tastend bissen.

Zuweilen machte Perez an einem Kreuzweg halt und untersuchte das Terrain: und das alles machte den König Buby etwas nervös und übellaunig, da er von der Schnauze bis zur Schwanzspitze ein nervöses Erschauern zu empfinden begann, das ihm wie ein Vorläufer der Furcht erschien. Trotzdem erinnerte er sich:

»Daß die Furcht auch bei Klugen begreiflich ist.
Daß der Tapfere sie aber zu überwinden trachtet«

Und so überwand er und wurde tapfer aus Vernunft.

Nur einmal, als er einen fürchterlichen Lärm über seinem Kopfe hörte, der so klang, als ob zehn Omnibusse über ihn wegführen, fragte er die Maus Perez ganz leise, ob hier Don Gaiferos wohne. Perez antwortete ihm, indem er mit dem Schwanz ein verneinendes Zeichen machte, und sie gingen weiter.

Bald darauf kamen sie an einen geräumigen Flur, der auf einen breiten, mit Fliesen belegten Keller mündete, in dem eine feuchte, von Käsegeruch durchschwängerte Atmosphäre herrschte. Sie gingen um einen riesengroßen Käsestapel herum und sahen sich plötzlich einer großen Büchse Huntleyscher Cakes gegenüber.

Die Maus Perez stellte König Buby ihrer Familie als fremden Touristen vor, der dem Hof einen Besuch abstatten wollte, und die Mäuse empfingen ihn mit vornehmer Courtoisie. Die jungen Fräulein machten ihre Arbeiten mit ihrer Erzieherin Miß Old Cheese, einer englischen, sehr vornehmen Maus, und Frau von Perez stickte, vor einem brennenden Kaminfeuer sitzend, eine kunstvolle griechische Mütze für ihren Gatten.

Dem König Buby gefiel dies behagliche Familienbild, das in allen Details jene goldene Mittelstraße verriet, von der jeder Dichter sagt, daß sie am meisten dazu geeignet ist, dieses Leben friedlich und glücklich zu gestalten.

Adelaide und Elvira servierten den Tee in schönen Tassen aus Bohnenhülsen und musizierten dann ein wenig. Adelaide sang zur Harfe die Arie des Desdemona mit soviel Geschmack und Gefühl, daß König Buby entzückt war.

Adelaide war nicht hübsch, hatte aber ein sehr distinguiertes Wesen und ihr Schwanz glänzte mit einer gewissen melancholischen Koketterie, die zweifellos irgend einen geheimen Schmerz verriet.

Elvira hingegen war ausgelassen lustig, ja fast ein wenig gewöhnlich: aber aus ihren Augen leuchtete soviel Energie und Unternehmungslust, daß König Buby, als sie zum Klavier das Lied sang:

»Im Hospital des Königs
Lag eine fiebernde Maus,
Die einer maurischen Katze
Ihre Seele empfahl!«

eine Spartanerin vor sich zu sehen meinte, die die Hymne der Thermopylen vortrug.

Mittlerweile war Adolfo eingetreten, der aus dem Jockeyklub kam, wo er zum großen Leidwesen seiner Eltern Zeit und Geld vergeudete, indem er mit den der deutschen Gesandtschaft attachierten Mäusen Poker spielte.

Der lebhafte Verkehr mit diesen Diplomaten hatte ihn übermütig gemacht und dem Vaterhaus entfremdet, und er kannte kein anderes Gesprächsthema mehr als Polo und Lawn Tennis.

König Buby hätte seinen Aufenthalt mit Vergnügen verlängert, aber die Maus Perez, die für einen Augenblick verschwunden war. kehrte mit ihrem auf den Schultern geteilten Mantel zurück und benachrichtigte den König respektvoll, daß die Stunde der Trennung geschlagen habe.

König Buby machte nun mit großer Anmut Abschiedsverbeugungen, und Mutter Perez drückte ihm in einer Anwandlung spießbürgerlicher Herzlichkeit einen schallenden Kuß auf beide Backen. Adelaide streckte ihm die Pfote entgegen mit einem sentimentalen Augenaufschlag, der zu sagen schien:

»Auf Wiedersehen im Himmel.«

Elvira gab ihm einen festen Händedruck auf englische Art. Miß Old Cheese machte ihm eine formelle Verbeugung wie zur Zeit der Königin Anna Stuart und verfolgte ihn mit ihrer Schildpattlorgnette, bis sie ihn aus den Augen verlor.

Auch Adolfo war sehr gerührt, er begleitete sie bis an die Kellertür und machte Buby zum zweitenmal den Vorschlag, ihn in den Poloklub einzuführen, während er zum drittenmal den Gebrauch des Racketsa J Tate Nummer 12 oder höchstens 12 ½ empfahl. Nummer 13 sei für Mäusehände schon etwas zu schwer.

Der kleine König verabschiedete sich von Adolfo, den er sehr elegant fand, dessen Klugheit ihm aber zweifelhaft erschien.

Nun traten Buby und Perez ihren beschwerlichen Weg von neuem an und diesmal mit einem Aufwand von Vorsichtsmaßregeln, der den kleinen König in Erstaunen versetzte.

Vor ihm her schritt ein Haufen bewaffneter Mäuse, lauter Krieger, deren aufgepflanzte Bajonette mit einer scharfen Spitze hin und wieder in der Dunkelheit aufblitzten. Ihnen folgte ein zweiter Haufen, ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet.

Die Maus Perez beichtete ihm nun, daß sie sich zu dieser Expedition niemals entschlossen hätte, wenn sie die Person des jungen Monarchen, der sich ihr so sorglos anvertraut hatte, nicht durch jene Eskorte bewaffneter Jäger hätte schützen können. Plötzlich sah König Buby, wie die Garde in einem engen Loch verschwand, aus dem ein schwacher Lichtschimmer drang. Der Augenblick der Gefahr war gekommen, die Maus Perez, deren Schwanzspitze leicht zitterte, zwängte allmählich die Schnauze durch jene gefährliche Öffnung; zwei Schritte zurück entdeckte sie einen ihrer Begleiter, rückte darauf langsam weiter vor, und indem sie König Buby die Hand reichte, schwang sie sich mit der Schnelligkeit eines Pfeiles durch das Loch, durcheilte rasch wie ein Atemzug eine geräumige Küche und verschwand durch ein anderes gegenüberliegendes Loch hinter dem Herd.

Mit der Geschwindigkeit, mit der man heutigen Tages die Telegraphenstangen an einem Eisenbahnzug vorüberfliegen sieht, sah König Buby vor seinen Augen in blitzschnellem Flug das Quadrat jener geräumigen Küche vor sich ... Vor einem wärmenden, noch unter der Asche glühenden Feuer schlief der gefürchtete Don Gaiferos, ein riesengroßer Kartäuser-Kater, dessen aufgewirbelter Schnurrbart sich bei jedem Atemzug hob und senkte....

Die unbeweglichen schweigsamen Mäuse, die den Kartäuser fast berührten, behüteten jeden Schritt des Königs Buby, indem sie von dem schlafenden Gaiseros bis zu den Löchern des Eingangs und Ausgangs das gefürchtete römische Dreieck der Schlacht von Ecnomus bildeten.

Er war bestürzt und entsetzt.

Eine häßliche Alte schlief auf ihrem Stuhl, einen Strickstrumpf auf dem Schoß.

Nachdem das Ausgangsloch durchschritten, war die Gefahr überwunden, sie gelangten endlich in das Haus, in dem Gilito wohnte.

Alles war Eingang in diesem Landhause und allen Winden zugänglich, und die Mäuse überschwemmten es durch Ritzen. Spalten und Löcher, wie man eine verlassene Stadt bestürmt.

König Buby kletterte an dem Bein eines sitzlosen Stuhles, dem einzigen, den es gab, hinauf und konnte von hier aus das ganze Bild übersehen, das Bild eines entsetzlichen Elends, das er nie vor Augen gehabt, und von dem er sich nie eine Vorstellung hätte machen können.

Es war dies ein enger, schmutziger Raum, an dem das Dach und der Boden sich an der einen Seite trafen und an der andern auch nicht so weit auseinanderliefen, daß ein Mann aufrecht hätte stehen können. Durch die unzähligen Spalten blies eisig der Wind, der Morgen fing schon an zu dämmern, und unterhalb des Daches hingen große Eiszapfen.

Es gab hier keine anderen Möbel als den Stuhl, der König Buby als Beobachtungsturm diente, einen Brotkorb, der von der Decke herunterhing, und in einem Winkel, der Sturm und Regen am wenigsten ausgesetzt war, ein Bett aus Stroh, in dem Gilito und seine Mutter schliefen.

Die Maus Perez trat näher, König Buby an der Hand haltend, und als dieser den kleinen Gilito sah, der die erstarrten Händchen aus den Lumpen fest an der Brust der Mutter barg, um hier ein bißchen Wärme zu suchen, schnürte sich ihm das Herz vor Weh und Kummer zusammen und er fing bitter zu weinen an.

Er hatte ja etwas Ähnliches noch nie zu sehen bekommen!

Wie war es nur möglich, daß er bis jetzt noch nicht gewußt hatte, daß es arme Kinder gibt, die hungerten und froren, und die vor Elend in einer elenden Dachkammer starben? ... Er wollte keine Decke mehr in seinem Bett haben, solange nicht jedes Kind im Königreich drei Flanellhemden und einen warmen Anzug besäße.

Verstohlen trocknete auch Maus Perez eine Träne mit der Pfote ab und versuchte den Schmerz König Bubys zu lindern, indem sie ihm die schöne Goldmünze zeigte, die sie für dessen ersten Zahn Gilito unter das Kopfkissen legen wollte.

Währenddessen war Gilitos Mutter aufgewacht, und indem sie sich im Bett aufrichtete, blickte sie zärtlich auf das schlafende Kind. Der Tag begann schon zu grauen und zwang sie, sich zu erheben, um sich ihren elenden Tagelohn durch Waschen am Fluß zu verdienen. Sie umschlang Gilito mit ihren Armen und setzte den halbschlafenden Knaben auf die Knie vor ein Bildnis des Jesuskindes von Prag, das über dem Bett an der Wand befestigt war.

König Buby und die Maus Perez warfen sich ehrfurchtsvoll auf die Knie, und auch die Garde kniete in einem leeren Korb, in dem sie schweigend verharrte, andächtig nieder.

Das Kind fing an zu beten:

»Vater unser, der du bist im Himmel!«

König Buby war aufs höchste erstaunt, als er das hörte, und sah die Maus Perez mit offenem Munde an.

Diese verstand sehr wohl die Verwunderung des jungen Königs und richtet ihre durchdringenden Augen auf ihn, aber er sagte kein Wort. Zweifellos erwartend, daß er etwas sagen würde, traten sie die Rückreise an, und ein? halbe Stunde später betrat Buby mit der Maus Perez seinen Alkoven.

Dort steckte sie ihre Schwanzspitze dem König zum zweitenmal in die Nase, Buby nieste darauf wieder heftig und befand sich plötzlich wieder in seinem Bett, in den Armen der Königin, die ihn, wie jeden Morgen, mit einem zärtlichen Kuß weckte.

Er glaubte zuerst, daß alles ein Traum gewesen wäre, hob aber rasch das Kopfkissen auf und suchte nach dem Brief für die Maus Perez, den er am Abend vorher dorthin gelegt hatte. Der Brief war verschwunden.

Statt dessen entdeckte er ein kostbares Etui mit den Insignien des ersten Ordens, ganz mit Brillanten besetzt, ein herrliches Geschenk, das die großmütige Maus Perez ihm als Ersatz für seinen ersten Zahn gemacht hatte.

Aber der kleine König legte das schöne Etui achtlos auf die Bettdecke und verharrte lange grübelnd, den Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt. Dann sagte er plötzlich mit dem ernsten, nachdenklichen Ausdruck, den Kinder zuweilen haben, wenn sie nachdenken oder leiden:

»Mama – warum beten die armen Kinder dasselbe Gebet wie wir: Vater unser, der du bist im Himmel?«

Die Königin antwortete:

»Weil Gott auch ihr Vater ist, ebenso wie der deine.«

»Dann wären wir ja Brüder«, entgegnete Buby, noch nachdenklicher als zuvor.

»Ja, mein Sohn, sie sind deine Brüder.«

Die Augen des Kindes strahlten in wundervollem Glanz, und zitternd und mit tränenerstickter Stimme fragte er:

»Und warum bin ich König und habe alles und sie sind arm und haben nichts?«

Die Königin drückte ihn zärtlich an die Brust, und indem sie ihn auf der Stirn küßte, sagte sie:

»Weil du der älteste Bruder bist und König sein wirst ... verstehst du das, Buby? ... Gott hat dir alles gegeben, damit du dafür sorgst, das; deine jungen Brüder nichts entbehren, so weit es in deinen Kräften liegt.«

»Das wußte ich nicht.« erwiderte Buby, langsam den Kopf schüttelnd.

Und das Geschenk ganz vergessend, begann er wie alle Tage sein Morgengebet, und während des Gebetes war es ihm, als scharten sich alle armen und verlassenen Gilitos aus dem Königreiche um ihn, gleichfalls ihre Händchen zum Gebet erhebend, und als spräche er als ältester Bruder im Namen aller: »Vater unser, der du bist im Himmel!«

Und als König Buby schon ein erwachsener Mann und ein großer Krieger war und zu Gott um Gelingen seines Werkes betete und ihm für das Gelungene dankte, sagte er im Namen aller für alle seine Untertanen, ob reich oder arm, ob gut oder schlecht, jedesmal: »Vater unser, der du bist im Himmel!«

Und als König Buby in hohem Alter starb und seine gute Seele gen Himmel schwebte, kniete er auch dort nieder und betete wie immer: »Vater unser, der du bist im Himmel!«

Während er diese Worte sprach, öffneten ihm tausend und abertausend armer Gilitos, deren König, d. h. deren älterer Bruder er auf Erden gewesen war, weit die Pforten des Himmels.


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