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VIII.

Als ich nach meiner Unterredung mit Mrs. Clements wieder zu Hause anlangte, fiel mir eine Veränderung in Lauras Aussehen auf.

Die unveränderte Sanftmuth und Geduld, welche langes Leiden so grausam auf die Probe gestellt und nie überwunden hatte, schien sie jetzt plötzlich im Stiche gelassen zu haben. Gegen alle Bemühungen, welche Marianne machte, um sie zu besänftigen und zu unterhalten, unzugänglich, saß sie vor dem Tische, auf dem ihre vernachlässigte Zeichnung ungeduldig fortgestoßen war, mit niedergeschlagenen Augen da und bewegte ihre Finger unruhig auf ihrem Schooße hin und her. Marianne stand, als ich hereintrat, mit stillem Schmerze im Gesichte auf, wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Laura bei meiner Annäherung aufblicken werde, flüsterte mir zu: »Sieh' zu, ob du sie nicht besänftigen kannst« und verließ das Zimmer.

Ich nahm den von Mariannen verlassenen Platz, zog sanft die armen, abgemagerten, unruhigen Finger auseinander und faßte ihre beiden Hände mit den meinigen.

»Woran denkst du, Laura? Sage mir, mein Herzensliebling, woran du denkst?«

Sie kämpfte mit sich selbst und erhob ihre Augen zu den meinigen. »Ich kann nicht glücklich sein,« sagte sie, »ich kann nicht umhin, zu denken –« sie schwieg, beugte sich ein wenig vorwärts und lehnte ihr Haupt mit einer fürchterlichen stummen Hilflosigkeit an meine Schulter, die mir einen Stich in's Herz gab.

»Versuche mir's zu sagen,« wiederholte ich sanft, »versuche, mir zu sagen, warum du nicht glücklich bist.«

»Ich bin so nutzlos – ich bin eine solche Last für euch Beide,« antwortete sie mit einem müden, hoffnungslosen Seufzer. »Du arbeitest und verdienst Geld, Walter, und Marianne hilft dir. Warum kann ich nichts thun? Es wird damit enden, daß du Marianne lieber hast, als mich – gewiß, weil ich so hilflos bin! O, bitte, bitte, behandelt mich doch nicht wie ein Kind!«

Ich richtete ihr Haupt auf und glättete ihr Haar, das verworren über ihr Gesicht fiel, und küßte sie – meine arme, verblichene Blume! meine verlorene, schwer heimgesuchte Schwester! »Du sollst uns helfen, Laura,« sagte ich, »du sollst schon heute anfangen, mein einziger Liebling.«

Sie blickte mich mit einem fieberhaften Eifer und athemlosem Interesse an, das mich für das neue Hoffnungsleben, welches ich durch jene wenigen Worte erweckt hatte, erbeben ließ.

Ich stand auf, sammelte ihre Zeichenwerkzeuge und legte sie wieder neben ihr zurecht.

»Du weißt, daß ich mit Zeichnen Geld verdiene,« sagte ich, »und jetzt, da du solche Fortschritte gemacht hast, sollst auch du anfangen zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Versuche diese kleine Skizze so sauber und hübsch, wie du nur kannst, fertig zu machen. Dann will ich sie mitnehmen, und der Mann, der alle meine Zeichnungen kauft, soll auch diese kaufen. Du sollst dann deinen Verdienst in deiner eigenen Börse aufbewahren und Marianne soll ebenso oft von dir Geld fordern, wie sie deshalb zu mir kommt. Bedenke, wie nützlich du dich uns Beiden machen wirst, Laura, und dann wirst du bald so glücklich sein, wie der Tag lang ist.«

Ihr Gesicht belebte sich und erhellte sich zu einem Lächeln. In diesem Augenblicke, während sie den Bleistift wieder aufnahm, sah sie beinahe wieder wie die Laura vergangener Tage aus.

Ich hatte die Anzeichen eines neuen Erwachens in ihrem Geiste, welches sich unbewußterweise in ihrer Beobachtung der Beschäftigungen ausdrückte, welche Mariannens und mein Leben ausfüllten, richtig gedeutet. Marianne sah (als ich ihr erzählte, was sich zugetragen), wie ich, daß sie sich sehnte, ihren eigenen kleinen Platz der Bedeutung wieder einzunehmen und sich in ihrer eigenen Meinung, wie in der unsrigen wieder zu erheben – und von diesem Tage an unterstützten wir liebevoll den neuen Ehrgeiz, welcher uns das Versprechen einer glücklicheren Zukunft gab, die jetzt vielleicht nicht mehr ferne war. Ihre Zeichnungen, wie sie dieselben beendete oder zu beenden versuchte, wurden meinen Händen übergeben; Marianne empfing sie dann von mir und verbarg sie auf's Sorgfältigste und ich erübrigte von meinem Verdienste einen kleinen wöchentlichen Tribut, der ihr als der von Fremden gezahlte Preis für die armseligen, undeutlichen, werthlosen Zeichnungen übergeben wurde, die niemand kaufte außer mir. Es war zuweilen schwer, unseren harmlosen Betrug fortzusetzen, wenn sie stolz ihre Börse hervorzog, um ihren Antheil zu den Haushaltausgaben beizutragen und mit ernstem Interesse ihre Muthmaßungen darüber aussprach, wer von uns Beiden im Verlaufe der Woche am meisten verdient habe. Ich habe noch jetzt alle jene heimlich versteckten Zeichnungen in meinem Besitze: ich sehe in ihnen meinen größten Schatz, die Freunde vergangenen Mißgeschickes, von denen mein Herz sich niemals trennen wird.

Ich ergriff die erste Gelegenheit, die sich mir bot, um mit Mariannen allein zu sprechen und ihr den Erfolg der Nachfragen mitzutheilen, welche ich diesen Morgen gemacht hatte. Sie schien in Bezug auf meine beabsichtigte Reise nach Welmingham die Ansicht zu theilen, welche Mrs. Clements bereits gegen mich ausgesprochen hatte.

»Mir scheint, Walter,« sagte sie, »du weißt kaum genug, um hoffen zu dürfen, daß Mrs. Catherick dir ihr Vertrauen schenken würde? Ist es wohl gerathen, zu diesen äußersten Mitteln zu schreiten, ehe du wirklich alle sicheren und einfacheren Mittel zu deinem Endzwecke erschöpft hast? Als du mir sagtest, Sir Percival und der Graf seien die einzigen beiden Lebenden, die genau mit dem Datum von Lauras Abreise bekannt sind, vergaßest du sowohl wie ich, daß es noch eine dritte Person gibt, die sicher ebenso genau davon unterrichtet ist – ich meine Mrs. Rubelle. Wäre es nicht viel leichter und weit weniger gefährlich, ihr gegenüber auf ein Bekenntnis zu dringen, als Sir Percival ein solches abzwingen zu wollen?«

»Es mag möglicherweise leichter sein,« erwiderte ich, »aber wir wissen durchaus gar nicht, in welcher Ausdehnung Mrs. Rubelle sich an dem ganzen Komplotte betheiligt hat, und können daher nicht bestimmt sagen, ob das Datum ihrem Geiste so genau eingeprägt, wie dies jedenfalls bei Sir Percival und dem Grafen der Fall ist. Es ist jetzt zu spät, Zeit mit Mrs. Rubelle zu verlieren, wenn uns jeder Augenblick zur Entdeckung jenes einen angreifbaren Punktes in Sir Percivals Leben unschätzbar sein kann. Denkst du nicht vielleicht etwas zu sehr an die Gefahr, der ich mich aussetze, indem ich nach Hampshire zurückkehre, Marianne? Fängst du nicht an zu fürchten, daß ich am Ende doch Sir Percival nicht gewachsen bin?«

»Das befürchte ich nicht,« sagte sie mit Entschiedenheit, »weil er in seinem Widerstande gegen dich nicht mehr die Hilfe der undurchdringlichen Schlechtigkeit des Grafen hat.«

»Woraus schließest du das?« fragte ich ziemlich erstaunt.

»Aus meinen eigenen Erfahrungen in Bezug auf seine Hartnäckigkeit und seine Ungeduld über den Zwang, in welchem der Graf ihn hielt,« antwortete sie. »Ich bin der Ansicht, daß er darauf bestehen wird, dir allein gegenüber zu treten – gerade wie er Anfangs in Blackwater Park darauf bestand, für sich zu handeln. Die Zeit, wo man des Grafen Einmischung argwöhnen darf, wird die sein, wo du Sir Percival in deiner Gewalt haben wirst. Es wird dann sein eigenes Interesse in Gefahr sein und zu seiner eigenen Vertheidigung wird er mit einer furchtbaren Wirksamkeit handeln, Walter!«

»Wir könnten ihn vielleicht vorher seiner Waffen berauben,« sagte ich. »Einige der Einzelheiten, welche ich von Mrs. Clements erfahren, mögen gegen ihn in Anwendung gebracht werden und vielleicht besitzen wir noch andere Mittel, um uns gegen ihn zu befestigen. Es sind in Mrs. Michelson's Aussage Sätze, welche zeigen, daß der Graf es für nöthig erachtete, sich mit Mr. Fairlie in Verbindung zu setzen, und vielleicht gibt es Umstände, die ihn in diesem Verfahren compromittiren. Schreibe du an Mr. Fairlie, während ich fort bin, Marianne, und ersuche ihn, dir genau mitzutheilen, was zwischen ihm und dem Grafen vorging und was er bei derselben Gelegenheit etwa in Bezug auf seine Nichte erfahren hat. Sage ihm, daß man früher oder später auf seine Angabe, um die du bittest, bestehen wird, falls er irgendwie sich weigert, sie dir gutwillig zu machen.«

»Der Brief soll geschrieben werden, Walter.«

Am dritten Tage war ich bereit, meine Reise anzutreten.

Da es möglich war, daß sich meine Abwesenheit hinzöge, so kamen Marianne und ich überein, einander täglich zu schreiben. Solange ich regelmäßig von ihr hörte, sollte ich annehmen, daß Alles in Ordnung sei. Falls aber die Morgenpost mir keinen Brief brachte, so sollte ich mit dem nächsten Zuge nach London zurückkehren. Es gelang mir, Laura mit meiner Abreise auszusöhnen, indem ich ihr sagte, ich reise auf's Land, um neue Käufer für unsere Zeichnungen zu suchen, und verließ sie dann beschäftigt und glücklich daheim. Marianne folgte mir die Treppe hinunter bis an die Hausthür.

»Bedenke, welche sorgenvolle Herzen du hier zurückläßt,« flüsterte sie, als wir zusammen im Corridor standen, »denke an alle die Hoffnungen, die sich an deine sichere Heimkehr knüpfen. Falls sich auf dieser Reise seltsame Dinge ereignen, falls du und Sir Percival einander begegnen –«

»Was bewegt dich, zu denken, daß wir einander begegnen werden?« frug ich.

»Ich weiß es nicht. Ich habe Befürchtungen und Ideen, die ich nicht zu erklären vermag. Lache darüber, wenn du willst, Walter – aber ich bitte dich um Gotteswillen, bleibe ruhig, wenn du mit jenem Manne in Berührung kommst!«

»Fürchte nichts, Marianne; ich stehe für meine Selbstbeherrschung.«

Mit diesen Worten schieden wir.

Ich ging schnellen Schrittes nach der Station; in meinem Geiste regte sich eine zunehmende Ueberzeugung, daß meine Reise diesmal keine vergebene sein würde. Es war ein schöner, klarer, kalter Morgen; meine Nerven waren fest angespannt und ich fühlte die Kraft meines Entschlusses mich vom Kopf bis zu den Füßen durchdringen.

Ich langte Nachmittags zeitig mit dem Zuge in Welmingham an.

Ich erkundigte mich nach dem Wege, der nach dem Stadtviertel führte, wo Mrs. Catherick wohnte, und dort angelangt, fand ich, daß es ein Viereck von kleinen einstöckigen Häusern war. In der Mitte desselben war ein kahler kleiner Rasenplatz, den ein schlichtes Drahtgitter umzog. Eine ältliche Kinderwärterin und zwei Kinder standen in einem Winkel der Umzäunung und betrachteten eine magere Ziege, welche auf dem Grase angebunden war. Zwei Personen standen im Gespräche auf der gegenüberliegenden Seite der Häuserreihe und auf der dritten führte ein müßiger kleiner Bube einen müßigen kleinen Hund am Seile. Ich hörte in der Entfernung das matte Klimpern eines Claviers, begleitet von dem unausgesetzten Klopfen eines Hammers nahe bei. Dies war alles, was ich sah und hörte, als ich in das Viereck einbog.

Ich schritt sofort auf die Thür von Nummer 13 zu – die Nummer von Mrs. Catherick's Hause – und klopfte, ohne vorher zu überlegen, wie ich mich ihr am besten werde vorstellen können. Die erste Notwendigkeit war die, Mrs. Catherick zu sehen. Ich konnte dann nach meiner eigenen Beobachtung beurtheilen, wie ich am sichersten und leichtesten den Zweck meines Besuches würde zur Sprache bringen können.

Die Thür wurde von einer melancholischen Magd von mittleren Jahren geöffnet. Ich gab ihr meine Karte und frug, ob ich mit Mrs. Catherick sprechen könne. Die Karte wurde in das vordere Wohnzimmer gebracht und die Magd kam zurück, um mich zu ersuchen, ihr mein Anliegen zu nennen.

»Sagen Sie gefälligst, daß sich mein Anliegen auf Mrs. Catherick's Tochter bezieht,« sagte ich. Dies war der beste Vorwand, den ich im Drange des Augenblickes entsinnen konnte, um meinen Besuch zu erklären.

Die Magd ging in das Wohnzimmer zurück, kam wieder heraus und ersuchte mich diesmal mit einem Blicke finsteren Erstaunens, einzutreten.

Ich trat in ein kleines Zimmer mit einer grellen Tapete. Stühle, Tische, Sopha und Commode – Alles leuchtete von dem polirten Glanze billigen Hausrathes. Auf dem größten Tische mitten in der Stube lag eine schön gebundene Bibel genau im Centrum des Tisches auf einem gelb- und rothwollenen Bricken; und neben einem Tische am Fenster saß mit einem Strickkorbe auf dem Schooße und einem keuchenden, trübäugigen alten Wachtelhunde zu ihren Füßen eine ältliche Frau, welche eine schwarze Tüllhaube, ein schwarzseidenes Kleid und schieferfarbene Halbhandschuhe trug. Ihr eisengraues Haar hing in dicken Strähnen vom Scheitel zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab, und ihre dunklen Augen blickten mit einem harten, trotzigen, unerschütterlichen Stieren gerade vor sich hin. Sie hatte volle, hohe Backenknochen, ein langes, festes Kinn und dicke, sinnliche, farblose Lippen. Ihre Gestalt war corpulent und derb und ihre Manier hatte etwas Kampfgerüstetes. Dies war Mrs. Catherick.

»Sie kommen, um von meiner Tochter mit mir zu sprechen,« sagte sie, ehe ich noch ein Wort sagen konnte, »seien Sie so gut, zu sagen, was Sie zu sagen haben.«

Der Klang ihrer Stimme war so hart, trotzig und unerschütterlich, wie der Ausdruck ihrer Augen. Sie wies auf einen Stuhl und betrachtete mich aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen, als ich Platz darauf nahm. Ich sah, daß meine einzige Hoffnung dieser Frau gegenüber darin lag, daß ich in ihrem eigenen Tone mit ihr sprach und ihr gleich zu Anfang auf ihre eigene Weise entgegen kam.

»Sie wissen,« sagte ich, »daß Ihre Tochter verschwunden ist?«

»Ich weiß es vollkommen.«

»Haben Sie je die Befürchtung gehegt, daß dem Unglücke ihres Verschwindens das ihres Todes folgen könne?«

»Ja. Kommen Sie, um mir zu sagen, daß sie todt ist?«

»Ja.«

»Warum?«

Sie that diese merkwürdige Frage, ohne weder im Gesichte noch in der Stimme, noch in ihrer Manier die geringste Veränderung zu zeigen.

»Warum?« wiederholte ich. »Fragen Sie, warumich gekommen bin, Ihnen den Tod Ihrer Tochter anzuzeigen?«

»Ja. welches Interesse nehmen Sie an mir oder an ihr? wie kommen Sie dazu, überhaupt etwas von meiner Tochter zu wissen?«

»Auf folgende Weise: ich begegnete ihr in der Nacht, als sie aus der Anstalt entflohen war und war ihr behilflich, einen sicheren Zufluchtsort zu erreichen.«

»Da thaten Sie sehr unrecht.«

»Ich bedauere, von ihrer Mutter dies sagen zu hören.«

»Dennoch sagt es ihre Mutter. Woher wissen Sie, daß sie todt ist?«

»Ich bin nicht willens, Ihnen zu sagen, woherich es weiß – jedenfalls aber weiß ich es.«

»Sind Sie willens, zu sagen, auf welche Weise Sie meine Adresse erfahren haben?«

»Gewiß. Ich erfuhr Ihre Adresse von Mrs. Clements.«

»Mrs. Clements ist ein thörichtes Weib. Hat sie Ihnen gerathen, zu mir zu gehen?«

»Nein.«

»Dann frage ich Sie abermals: Warum sind Sie gekommen?«

Da sie so fest darauf bestand, eine Antwort zu haben, gab ich ihr dieselbe in den möglichst deutlichen Worten.

»Ich kam,« sagte ich, »weil ich vermuthete, daß Anna Catherick's Mutter ein natürliches Interesse daran nehmen möchte, ob ihre Tochter todt oder am Leben sei.«

»Richtig,« sagte Mrs. Catherick mit vergrößerter Ruhe. »Hatten Sie sonst noch einen Beweggrund?«

Ich zögerte. Es war nicht leicht, in einem Augenblicke hierauf die rechte Antwort zu finden.

»Falls Sie keinen ferneren Beweggrund haben,« sagte sie, indem sie sehr gelassen die schieferfarbenen Halbhandschuhe auszog und zusammenlegte, »so kann ich nur sagen, daß ich Ihnen für Ihren Besuch danke und Sie hier nicht länger aufhalten will. Ihre Nachricht würde befriedigender sein, wenn Sie sagen wollten, wie Sie zu derselben kamen. Indessen berechtigt sie mich vermuthlich dazu, Trauer anzulegen. Es ist nicht viel Veränderung in meiner Kleidung nöthig, wie Sie sehen.

Sie suchte in der Tasche ihres Kleides nach, nahm ein paar schwarzseidene Halbhandschuhe heraus, zog sie mit der größten Gelassenheit an und faltete dann ruhig ihre Hände auf ihrem Schooße.

»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen,« sagte sie.

Die trockene Verachtung ihres Benehmens brachte mich dermaßen auf, daß ich ihr geradezu bekannte, der Zweck meines Hierseins sei noch nicht erfüllt.

»Es führt mich allerdings noch ein anderer Beweggrund her,« sagte ich.

»Ach, das dachte ich mir,« bemerkte Mrs. Catherick.

»Der Tod Ihrer Tochter –«

»Woran starb sie?«

»An einem Herzleiden.«

»Gut. Fahren Sie fort.«

»Der Tod Ihrer Tochter ist benutzt worden, um einer mir sehr theuren Person ein bitteres Unrecht zuzufügen. Zwei Männer sind, wie ich ganz gewiß weiß, an diesem Unrechte betheiligt. Der eine von ihnen ist Sir Percival Glyde.«

»Wirklich?«

Ich schaute sie aufmerksam an, um zu sehen, ob sie bei der plötzlichen Erwähnung dieses Namens zucken werde. Sie bewegte keinen Muskel – das harte, trotzige Stieren ihrer Augen veränderte sich keine Secunde.

»Es nimmt Sie vielleicht Wunder, auf welche Weise das Ereignis von dem Tode Ihrer Tochter benutzt werden konnte, um einer anderen Person Unrecht zuzufügen?«

»Nein,« sagte Mrs. Catherick, »durchaus nicht. Dies scheint Ihre Angelegenheit zu sein. Sie interessiren sich für meine Angelegenheiten, aber ich interessire mich nicht im Geringsten für die Ihrigen.«

»Dann fragen Sie vielleicht, warum ich der Sache in Ihrer Gegenwart Erwähnung thue,« fuhr ich fort.

»Ja, das frage ich allerdings.«

»Weil ich entschlossen bin, Sir Percival Glyde für die Schändlichkeit, die er begangen, zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Was habe ich mit Ihrem Entschlusse zu thun?«

»Das sollen Sie hören. Es gibt in Sir Percivals Vergangenheit Ereignisse, mit denen genau bekannt zu werden zu meinem Zwecke nothwendig ist. Siekennen dieselben und deshalb komme ich zu Ihnen

»Was für Ereignisse meinen Sie?«

Endlich hatte ich durch die Verschanzung undurchdringlicher Zurückhaltung hindurch, welche sie zwischen uns aufrecht zu halten bemüht gewesen, das Innerste dieser Frau getroffen. Ich sah ihre Leidenschaft in ihren Augen glimmen – so deutlich, wie ich ihre Hände unruhig werden, sich auseinander falten und mechanisch ihr Kleid auf ihren Knieen glätten sah.

»Was wissen Sie von jenen Ereignissen?« frug sie.

»Alles, was Mrs. Clements mir darüber erzählen konnte,« antwortete ich.

Ueber ihr festes, massives Gesicht flog eine schnelle Röthe, und ihre Hände blieben plötzlich still liegen, was einen kommenden Zornesausbruch anzudeuten schien, in welchem sie sich vergessen mochte. Doch nein – sie bemeisterte ihre aufsteigende Wuth, lehnte sich in ihrem Sessel zurück, verschränkte ihre Arme über ihrer breiten Brust und sah mir so mit einem Lächeln grimmigen Spottes auf den dicken Lippen fester wie zuvor in's Gesicht.

»Ach! jetzt fange ich an, Alles zu verstehen,« sagte sie, indem sich ihr gut verhaltener Zorn bloß in dem gekünstelten Spotte ihres Tones und Benehmens verrieth. »Sie hegen einen persönlichen Groll gegen Sir Percival Glyde – und ich soll Ihnen helfen, denselben an ihm auszulassen. Ich soll Ihnen dies und das und jenes über Sir Percival erzählen, wie? Ja, versteht sich. Sie denken, Sie haben es mit einer verrufenen Frau zu thun, die hier nur geduldet und mit Bereitwilligkeit auf Alles eingehen wird, was Sie nur von ihr fordern mögen, damit Sie ihr nur nicht in der Meinung der Nachbarn schaden. Ich durchschaue Sie und Ihre kostbaren Pläne – das thu' ich! und es amüsirt mich. Ha! ha!«

Sie schwieg einen Augenblick mit fest über der Brust verschränkten Armen und lachte vor sich hin – ein hartes, rauhes, zorniges Lachen.

»Sie wissen nicht, wie ich in diesem Orte gelebt und was ich hier gethan habe, mein Herr Soundso,« fuhr sie fort. »Ich will's Ihnen sagen, ehe ich schelle und Sie hinausbringen lasse. Ich kam her als ein mit Unrecht beschuldigtes Weib – man hatte mir meinen guten Namen gestohlen und ich kam her, entschlossen, ihn mir wieder zu gewinnen. Ich habe viele Jahre daran gewandt und jetzt habe ich ihn wiedergewonnen. Ich bin den respectablen Leuten auf gleichem Boden frei und offen entgegengetreten. Falls sie jetzt etwas gegen mich sagen, so müssen sie es heimlich thun; sie können, sie dürfen es nicht öffentlich sagen. Ich stehe in der Meinung dieser Stadt hoch genug, um über ihre Angriffe erhaben zu sein. Der Pfarrer grüßt mich. Aha! das hatten Sie sich nicht träumen lassen, als Sie herkamen. Gehen Sie nach der Kirche und erkundigen Sie sich nach mir – Sie werden finden, daß Mrs. Catherick ihren Platz dort hat, wie die Uebrigen und dafür bezahlt, wenn die Miethe fällig ist. Gehen Sie nach dem Rathhause. Sie werden finden, daß dort eine Bittschrift liegt: eine Bittschrift der respectablen Einwohner des Ortes, daß man einer Kunstreitergesellschaft nicht gestattete, herzukommen und unsere Sitten zu verderben: ja! unsereSitten. Ich habe diese Bittschrift heute Morgen unterschrieben. Gehen Sie nach dem Buchhändlerladen. Es werden dort auf Subscription des Pfarrers Mittwochabendvorlesungen über »Der Glaube macht selig« herausgegeben, und mein Name steht auf der Liste. Des Doctors Frau legte nach der letzten Missionspredigt blos einen Schilling auf den Teller und ich legte eine halbe Krone darauf. Der Herr Kirchenvorsteher Howard trug den Teller herum und machte nur eine Verbeugung, vor zehn Jahren sagte er zu Pigrum, dem Apotheker, ich solle aus der Stadt gepeitscht werden. Lebt Ihre Mutter? Hat sie eine schönere Bibel auf ihrem Tische, als ich auf dem meinigen liegen habe? Steht sie sich besser mit ihren Kaufleuten, als ich mit den meinigen? Hat sie nie mehr ausgegeben, wie sie hatte? Ich bin nie über meine Mittel gegangen. – Ah! da kommt der Pfarrer den Platz herauf. Sehen Sie, Herr Soundso – sehen Sie gefälligst!«

Sie sprang auf mit der Gewandtheit einer jungen Frau, ging an's Fenster, wartete, bis der Geistliche vorbeikam, und grüßte ihn feierlich. Der Geistliche nahm ceremoniös den Hut ab und ging weiter. Mrs. Catherick kehrte zu ihrem Platze Zurück und blickte mich mit noch grimmigerem Hohne an.

»Da!« sagte sie. »Wie gefällt Ihnen das bei einer Frau mit einem schlechten Rufe? Wie mögen sich jetzt Ihre Pläne anlassen?«

Die sonderbare Art und Weise, in der sie ihre Stellung zu behaupten suchte, und ihre merkwürdige Rechtfertigung derselben den Ortseinwohnern gegenüber hatten mich dermaßen überrascht, daß ich ihr in schweigendem Erstaunen zuhörte. Ich war aber nichtsdestoweniger entschlossen, noch einen Versuch zu machen, sie außer Fassung zu bringen. Wenn die Frau sich einmal durch ihre rasende Leidenschaftlichkeit hinreißen und dieselbe gegen mich losließ, so sagte sie doch vielleicht noch Worte, welche mir den Schlüssel in die Hände liefern würden.

»Wie mögen sich jetzt Ihre Pläne anlassen?« wiederholte sie.

»Genau ebenso, als da ich zuerst in's Zimmer kam,« entgegnete ich. »Ich bezweifle durchaus nicht, daß es Ihnen gelungen ist, sich eine Stellung in der Stadt zu verschaffen und wünsche ebensowenig, dieselbe anzugreifen. Ich kam her, weil, wie ich bestimmt weiß, Sir Percival Ihr Feind ebensowohl ist, als der meinige. Falls ich Groll gegen ihn hege, so thun Sie ganz dasselbe. Sie mögen dies leugnen, wenn Sie wollen; Sie mögen mir mißtrauen, soviel Sie wollen und Sie mögen so zornig werden, wie Sie wollen – aber von allen Frauen in England sollten Sie, falls Sie sich im Geringsten das Ihnen zugefügte Unrecht vergegenwärtigen, die Frau sein, die mir beistände, jenen Mann zu Grunde zu richten.«

»Richten Sie ihn selbst zu Grunde,« sagte sie, »und dann kommen Sie wieder her und hören, was ich Ihnen sagen werde.«

Sie sprach diese Worte, wie sie bisher noch nicht gesprochen hatte – schnell, zornig, rachesüchtig. Ich hatte einen jahrelangen Schlangenhaß in seiner Höhle aufgestöbert – doch nur auf einen Augenblick.

»Sie wollen mir nicht trauen?« sagte ich.

»Nein.«

»Sie fürchten sich vor Sir Percival Glyde.«

»Meinen Sie?«

Die Röthe stieg ihr in's Gesicht und ihre Hände fingen wieder an, ihr Kleid zu glätten. Ich drang immer mehr in sie – ich fuhr ohne einen Augenblick des Verzuges fort.

»Sir Percival nimmt in der Welt eine hohe Stellung ein,« sagte ich, »es wäre daher nicht zu verwundern, wenn Sie ihn fürchteten. Sir Percival ist ein mächtiger Mann – ein Baronet – Besitzer eines schönen Landsitzes – Abkömmling einer hohen Familie –«

Sie setzte mich über alle Beschreibung in Erstaunen, indem sie plötzlich laut auflachte.

»Ja,« wiederholte sie im Tone der bittersten, unerschütterlichsten Verachtung; »ein Baronet – Besitzer eines schönen Landbesitzes – Abkömmling einer hohen Familie. Ja, versteht sich! Eine hohe Familie – namentlich von mütterlicher Seite.«

Es war keine Zeit, die Worte zu überlegen, welche sie sich hatte entschlüpfen lassen, sondern nur zu fühlen, daß sie wohl überlegt zu werden verdienten, sobald ich das Haus verlassen.

»Ich bin nicht hier, um über Familienfragen mit Ihnen zu streiten,« sagte ich. »Ich weiß nichts von Sir Percivals Mutter –«

»Und ebensowenig über Sir Percival selbst,« unterbrach sie mich spitz.

»Ich rathe Ihnen, dessen nicht zu sicher zu sein,« entgegnete ich. »Ich weiß einige Dinge über ihn – und habe ihn wegen vieler anderer im Verdacht.«

»Wessen haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich will Ihnen sagen, wessen ich ihn nichtim Verdacht habe. Ich habe ihn nichtim Verdacht, Annas Vater zu sein.«

Sie sprang auf und trat mit einem Blicke der Wuth auf mich zu.

»Wie können Sie sich unterstehen, über Annas Vater zu mir zu sprechen! Wie können Sie es wagen, zu sagen, wer Annas Vater war und wer nicht!« rief sie mit vor Wuth bebenden Lippen und bebender Stimme aus.

»Das Geheimnis zwischen Ihnen und Sir Percival ist nicht jenes Geheimnis,« fuhr ich beharrlich fort. »Das Geheimnis, welches Sir Percivals Leben verdunkelt, wurde nicht mit Ihrer Tochter geboren, noch ist es mit ihr gestorben.«

Sie that einen Schritt rückwärts. »Fort!« sagte sie und deutete auf die Thür.

»Es war kein Gedanke an das Kind weder in Ihrem Herzen, noch in dem seinigen«, fuhr ich fort, entschlossen, sie zu ihrer letzten Zuflucht zu treiben; »keine Bande sündhafter Liebe waren zwischen Ihnen und ihm, als Sie jene verstohlenen Zusammenkünfte hielten, wo Ihr Mann Sie vor der Sacristei flüsternd zusammen stehen fand.«

Ihre Hand fiel plötzlich an ihrer Seite herab und die tiefe Röthe des Zornes wich aus ihrem Gesichte, während ich sprach. Ich sah die Veränderung, die in ihr vorging. Ich sah das harte, feste, furchtlose, gefaßte Weib vor einem Schrecken erzittern, dem zu widerstehen ihre äußerste Entschlossenheit nicht im Stande war, als ich jene vier letzten Worte – der Sacristei der Kirche– sagte.

Eine Minute lang etwa standen wir Beide und blickten einander schweigend an.

Ich sprach zuerst.

»Weigern Sie sich noch immer, mir zu trauen?« sagte ich.

Sie konnte die Farbe, die aus ihrem Gesichte geflohen, nicht in dasselbe zurückbringen – aber sie hatte ihre trotzige Fassung wiedergefunden, als sie mir antwortete:

»Ja, ich weigere mich!«

»Wünschen Sie noch immer, daß ich gehe?«

»Ja. Gehen Sie – und kommen Sie niemals wieder.«

Ich ging zur Thür, zögerte einen Augenblick, ehe ich sie öffnete, und wandte mich dann nochmals zu ihr um.

»Ich mag Ihnen Nachrichten über Sir Percival zu bringen haben, auf welche Sie nicht vorbereitet sind,« sagte ich, »und in diesem Falle werde ich wiederkommen.«

»Es gibt keine Nachrichten über Sir Percival, auf die ich nicht vorbereitet wäre, ausgenommen – –«

Sie hielt inne; ihr bleiches Gesicht wurde finster, und sie schlich mit leisen, heimlichen, katzenartigen Schritten an ihren Platz zurück.

»Ausgenommen die Nachricht seines Todes,« sagte sie, indem sie sich wieder setzte, während ein höhnisches Lächeln um ihre grausamen Lippen zuckte und das heimliche Licht des Hasses tief in ihren bösen Augen lauerte.

Als ich die Thür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, schaute sie sich schnell nach mir um; sie betrachtete mich mit einem seltsamen, heimlichen Interesse vom Kopfe bis zu den Füßen – und eine unnennbare Erwartung lagerte sich boshaft über ihr ganzes Gesicht. Speculirte sie in der Tiefe ihres heimtückischen Herzens auf meine Jugend und Kraft, auf die Macht meiner beleidigten Gefühle und die Grenzen meiner Selbstbeherrschung? und berechnete sie etwa, wie weit ich mich fortreißen lassen würde, falls Sir Percival und ich jemals zusammentreffen sollten? Der bloße Gedanke, daß dies in diesem Augenblicke in ihrem Herzen vorgehe, trieb mich aus ihrer Gegenwart. Ohne ein Wort weiter von ihrer Seite oder der meinigen verließ ich das Zimmer.

Als ich die Hausthür öffnete, sah ich denselben Geistlichen, der schon einmal am Hause vorbeigegangen war, im Begriffe, auf seinem Rückwege nochmals an demselben vorüberzugehen. Ich wartete auf der Thürschwelle, um ihn vorbei zu lassen, und schaute mich dabei nach dem Wohnstubenfenster um.

Mrs. Catherick hatte in der Stille dieses einsamen Ortes seine Schritte herannahen gehört und sie stand bereits wieder am Fenster, in einer Stellung, die es für den Geistlichen eine Sache gewöhnlicher Höflichkeit machte, sie zum zweiten Male zu grüßen. Er nahm abermals den Hut ab. Ich sah das harte, fahle Gesicht hinter dem Fenster, durch befriedigten Stolz erhellt, milder werden und sah den Kopf mit der grimmigen schwarzen Haube sich feierlich zum Gruße neigen. Der Pfarrer hatte sie – in meiner Gegenwart – zweimal an einem Tage gegrüßt!

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